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Positive Leadership ist ein grundlegend neues Führungsverständnis, das Ergebnisse aus der Positiven Psychologie mit den Grundfragen und -praktiken der Führung verknüpft. Ziel ist die Förderung und Entwicklung des Besten in Mensch und Organisation, gegenüber dem traditionellen Führungsverständnis, das auf Kontrolle setzt und Fehler ahndet. Positive Leadership basiert auf den drei Prinzipien: Sinn - Stärken - Einfluss und liefert damit das Fundament für Zufriedenheit, bessere Leistungen und Sinnstiftung am Arbeitsplatz. - Grundlagen des Ansatzes - Einblicke in die Beratungspraxis der Autorin - Instrumente zur sofortigen Anwendung
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Seitenzahl: 332
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft - Steuern - Recht GmbH
[IV]Systemisches Management
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
E-Book
ISBN 978-3-7992-6707-2
ePub
ISBN 978-3-7910-5052-2
Bestell-Nr. 20525-0100
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
© 2014 Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH
www.schaeffer-poeschel.de
Einbandgestaltung: Dietrich Ebert, Reutlingen
Grafiken: Robert Six Design: [email protected]
Lektorat: Sabine Burkhardt, MAVIS, München
Satz: Marianne Wagner
Februar 2014
Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart
Ein Tochterunternehmen der Haufe Gruppe
»Positive Leadership ist ein mächtiges Tool, als Manager muss ich dafür sorgen, es nützlich einzusetzen. Aber ich habe keine anderen Mittel, um mein Team erfolgreich zu machen.«
Wolfgang Braunböck ist Senior HR Director bei Oracle. Er führt ein internationales Team von etwa 45 Mitarbeitern in Osteuropa, Russland, der Türkei, Israel und Afrika.
Vor einigen Jahren hat Wolfgang Braunböck eine Ausbildung für Positive Leadership bei mir besucht. Anschließend hat er begonnen, die Prinzipien von Positive Leadership, die er während der Ausbildung kennengelernt hat, konsequent in seinem wachsenden Team umzusetzen.
»Zuerst war es ein Kulturschock für mich. In der Schule wird man gedrillt, auf die Fehler zu schauen. Man ist immer schlecht, man muss immer besser werden. Ich habe lange gebraucht, um auf die Stärken zu schauen. Ich habe begonnen zu schauen, was entspricht meinen Stärken. Dasselbe mache ich jetzt mit meinen Mitarbeitern.«
Die Mitarbeiter von Wolfgang Braunböck sagen, die Kommunikation sei offener geworden, das Vertrauen sei gewachsen. Besonders die jungen Leute aus dem ehemaligen »Ostblock« gehen die Extrameile nur aufgrund von Wertschätzung.
»Für mich war es ein Aha, dass ich meine Kommunikation verändern muss. Kommunikation ist der Schlüssel, der Key-factor. Es hat anfangs Zeit gekostet, aber es lohnt sich.«
Wolfgang Braunböck wählt Mitarbeiter nach ihren Stärken aus, er fördert die laterale Kooperation in und zwischen den Regionen, für die er verantwortlich ist. Er baut die Organisation seines Bereichs rund um die Stärken seiner Mitarbeiter. Mit seinen 32 »Direct Reports« tauscht er sich regelmäßig über das »große Bild« der Organisation und über die gemeinsamen Aufgaben aus. Für seine Entscheidungen hat er seine Prinzipien definiert:
Kontinuität und Verlässlichkeit/Konsequenz,Transparenz und Nachvollziehbarkeit,Vertrauen/kein Mikromanagement.[VI]In seinem Umfeld hat er ein großes Netzwerk von Managern gebildet, was ohne Positive Leadership nicht möglich gewesen wäre. Er sagt, er habe sich durch Positive Leadership auch persönlich stark verändert:
»Ich selbst bin offener und positiver geworden. Ich fühle mich viel selbstbewusster.«
Meine Reise in das weite Feld von Positive Leadership hat im Mai 2000 begonnen. Die beiden Begründer von Appreciative Inquiry, David Cooperrider und Diana Whitney, stellten ihren Ansatz in einem fünftägigen Workshop erstmals in Europa einer Gruppe von etwa 100 Beratern und Beraterinnen aus der ganzen Welt vor. Ich erinnere mich noch sehr gut, dass ich etwa drei der fünf Tage in großer Skepsis zubrachte: rosarote Brille, typisch amerikanische Schönfärberei, nicht systemisch, einseitig auf der positiven Seite, wo bleibt die Balance?
Am Morgen des vierten Tages erlebte ich dann plötzlich ein wahres Feuerwerk an Ideen in meinem Kopf. Auf einmal sah ich Tausende Möglichkeiten, wo und wie ich diesen Ansatz einsetzen und umsetzen könnte. Ich war energiegeladen, optimistisch und voll Tatendrang.
Zurück bei meiner Arbeit begann ich sofort, meine alten Konzepte und Unterlagen zu durchforsten und zu überarbeiten. Meine Sprache änderte sich, meine Arbeit änderte sich. Sie wurde leichter und wirkungsvoller.
Im Jahr 2007 fuhr ich zu einem großen Kongress in die USA, wo David Cooperrider erstmals »das Feld« zusammenbrachte: Martin Seligman, der »Vater« der Psychologie der positiven Emotionen, Marcus Buckingham, einer der Gestalter von »Strengths-based Management«, und viele Praktiker stellten ihre Konzepte und Erfahrungen vor. Ich hatte Gelegenheit, eines meiner Projekte in einem Workshop vorzustellen. Bei diesem Kongress wurde mir klar, dass hier etwas Großes im Entstehen ist, größer als Appreciative Inquiry. Seit Jahren wird an renommierten Universitäten der ganzen Welt geforscht, es wird viel publiziert, es wird viel umgesetzt. Der Gedanke der radikalen Ressourcenorientierung verbreitet und entwickelt sich. Da ist eine neue Bewegung entstanden, ein neues großes Feld. Es ist ein Paradigmenwechsel, der sich in allen Bereichen der Wissenschaft und der Praxis vollzieht und der seinen Weg in die Organisationen und in die Führung findet.
In meinem »Dschungelbuch der Führung« war es mir wichtig, ein überschaubares Modell für systemische Führung vorzustellen. Das Thema Positive Leadership konnte ich nur noch kurz ans Ende des Buches stellen – als Marker, dass da noch mehr zu sagen ist. Dieses Buch setzt dort fort, wo ich im Dschungelbuch aufgehört habe.
[VII]In diesem Buch habe ich die Möglichkeit, das breite Feld von Positive Leadership vertieft vorzustellen. Es ist eine Reise zu den vielen Wurzeln, Konzepten und Instrumenten eines neuen Verständnisses von Führung und Organisationen, aufbauend auf einem neuen Menschen- und Weltbild – jenseits von Moral, aber im Rahmen einer Ethik.
Positive Leadership ist für mich eine konsequente Weiterentwicklung von systemischem Denken in Anwendung auf Führung. Die systemischen Prinzipien und Grundannahmen, das Welt- und Menschenbild, das Verständnis von Organisation sind die Basis für Positive Leadership. Positive Leadership ist weder rosarot noch esoterisch. Es ist ein Weg, wie Führung in Zukunft die Organisationen der Zukunft gestalten wird.
Wie schon im Dschungelbuch verspreche ich auch hier, wenig Neues zu erzählen. Für viele Leser und Leserinnen werden viele Gedanken und Instrumente bereits bekannt sein. Das Buch ist ein Versuch, einem interessierten Publikum einen Überblick darüber zu geben, welche Strömungen in das Feld Positive Leadership einfließen und die vielen Aspekte und Ideen dessen, was mittlerweile »Positive Leadership« heißt, zusammenzufügen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Ich bin eine Praktikerin, die auf dem Boden der Theorie steht. In den vergangenen Jahren bin ich tiefer in das Feld eingedrungen, habe Methoden und Konzepte entwickelt, habe viele Menschen und viele Organisationen mit dem »positiven Virus« infiziert. Zu allererst steckte ich meine eigene Beratungsfirma an, die sich seither auf diesen Ansatz im Zusammenhang mit Führung und Change Management spezialisiert hat. In meinen Kursen habe ich Manager auf den »positiven« Weg gebracht, immer mehr Organisationen fragen mich und mein Institut an, ihre Führungsprogramme an dem Konzept von Positive Leadership auszurichten. Unsere Arbeit im Rahmen von Change Prozessen ist konsequent an den Prinzipien von Positive Leadership ausgerichtet.
Davon will ich in diesem Buch erzählen. Das Buch soll eine Anregung zum Tun sein. Der größte Teil bietet viele Beispiele aus der Praxis, wie und mit welchem Ergebnis die Methoden von Positive Leadership in Unternehmen eingesetzt wurden.
Ich möchte mit diesem Buch das Thema »Positive Leadership« Fürhungskräften und Beratern vorstellen und nahebringen, um Impulse für ein neues Herangehen an Führung, Organisation und Veränderung zu geben. Sie sind herzlich eingeladen, zu kopieren, sich anregen zu lassen oder einfach nur neugierig zu sein.
Meine persönliche Leidenschaft für den Ansatz von Positive Leadership wurzelt in meiner Hoffnung, dass wir uns selbst und damit vielleicht die [VIII]Welt in eine gute Richtung verändern können, wenn wir mit Wertschätzung und Respekt mit uns selbst und der Welt umgehen. Gerade Führung hat hier eine große Aufgabe, und eine große Chance.
Ich hätte dieses Buch nicht ohne Hilfe schreiben können. Viele Menschen haben einen Anteil daran, dass dieses Buch geschrieben werden konnte: Matthias zur Bonsen, mit dem mich eine lange Kooperation verbindet und der David Cooperrider und Diana Whitney nach Riccione (Italien) holte; David und Diana selbst, die mir großartige Lehrer und Begleiter waren und sind; mein Kollege Christof Schmitz, der mir immer wieder neue Impulse gab und gibt und mit mir gemeinsam am Thema blieb; meine Kollegen in meiner Firma, die seit Jahren mit mir gemeinsam an der Weiterentwicklung des Themas und des Feldes arbeiten, und nicht zuletzt meine Kunden, die an diesem Thema Feuer gefangen haben. Sie boten mir Lernmöglichkeiten und Gelegenheit, das Konzept und die Instrumente in der Praxis zu erproben und weiterzuentwickeln.
Gerade beim Thema »Führung«, das so lange Zeit und so intensiv ein »Männerthema« war, ist es notwendig, die Seite der Frauen mit zu denken. Positive Leadership ist – wenn man/frau so will – eine »weibliche« Form der Führung. Dennoch habe ich mich aus Gründern der Lesbarkeit entschlossen, meine Sprache nicht zu »gendern«. Ich bitte alle Leserinnen und Leser um Verständnis.
Wien, Januar 2014
Ruth Seliger
»Durch zweitausend Jahre glaubte die Menschheit, dass die Sonne und alle Gestirne des Himmels sich um sie drehten. Der Papst, die Kardinäle, die Fürsten, die Gelehrten, Kapitäne, Kaufleute, Fischweiber und Schulkinder glaubten, unbeweglich in dieser kristallenen Kugel zu sitzen. Aber jetzt fahren wir heraus, Andrea, in großer Fahrt. Denn die alte Zeit ist herum, und es ist eine neue Zeit.«
Bertold Brecht: Galileo Galiei1
Ein Paradigma ist ein umfassendes Bild der Welt, das in einer Gesellschaft vorherrscht und das Denken und Handeln der Menschen bestimmt. Paradigmen bestehen aus vielen Annahmen über Zusammenhänge und Erklärungen und zahlreichen Prinzipien, an denen wir uns tagtäglich orientieren. Auf diese Weise lenken Paradigmen das Denken und Fühlen, die Wahrnehmungen, die Erklärungen und vor allem das Verhalten der Menschen in einer Gesellschaft. Sie werden über Generationen weitergegeben und verbinden die Menschen zu einer »Paradigmen-Gemeinschaft«, in der man ein nicht weiter hinterfragtes Bild über die Welt teilt. Ein Paradigma ist wie die Grammatik einer Sprache: man denkt nicht über sie nach, man verwendet sie, man denkt und spricht mit ihr und in ihr. Ein Paradigma ist schwer zu erkennen, ein blinder Fleck, den man zumeist erst dann erkennt, wenn er sich verändert.
Paradigmen bestehen überwiegend aus Erklärungsmodellen über die Welt, die tief in unserem Bewusstsein verankert sind und nur dann fallen gelassen werden, wenn sie an eine Grenzen kommen, wenn sie also ihren Nutzen, ihre Erklärungskraft für die Menschen verlieren oder durch neue Erkenntnisse verdrängt werden. So konnte beispielsweise das Paradigma des Mittelalters und der Katholischen Kirche, wonach die Erde der Mittelpunkt des Universums sei, erst durch die Entwicklung der Naturwissenschaften und die Möglichkeit, Planeten durch das Fernrohr zu beobachten, entkräftet und entmachtet werden.
An solch einer Wende stehen wir heute.
Und wie die meisten großen Veränderungsprozesse geht auch dieser Paradigmenwechsel mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, Konflikten und Krisen einher. Wir erleben diesen krisenhaften Wandel in unterschiedlichen Formen und mit unterschiedlichen Inhalten: als Finanzkrise, Demokratiekrise, [4]Vertrauenskrise, gesellschaftlichen Zerfall und verbreitete Sinnkrise, ökologische Krise, soziale Krise. Experten sprechen längst von einer »systemischen« Krise, denn alle diese Krisen sind miteinander verbunden, bedingen einander und sind nicht singulär lösbar.
Wer aufmerksam die Berichterstattung in den Medien verfolgt, könnte sich gut in eine veritable »Krisen-Hypnose« hineinsteigern und verzweifeln. Aber es wäre nicht die Rede von »Wandel«, wenn nicht im Schatten der »Krise« und des »sterbenden Paradigmas« erste Zeichen eines neuen Weltbilds, eines neuen Verständnisses vom Menschen und seinem Leben entstehen würden, die langsam an Kraft und Wirkung gewinnen.
Jeremy Rifkin, genialer Vordenker und Politikberater, interpretiert unsere Zeit als die »Dritte industrielle Revolution«.
»Wir befinden uns inmitten einer tiefgreifenden Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen, weg von hierarchischer, hin zu lateraler Macht.«2
Was Rifkin damit meint, kann man sich als eine Drehung unseres Weltbilds um 90 Grad vorstellen: von einer vertikalen (hierarchischen) zu einer horizontalen (kooperativen) Ordnung, aber auch als einen Wandel von einer differenzierenden zu einer integrierenden Weltsicht. Man kann sich gut vorstellen, wie sehr sich die Welt verändert, wenn man den Blick auf diese Weise um 90 Grad dreht.
Solche tiefgreifenden Veränderungen brauchen Zeit und sie machen Angst. Aber keine Angst, wir hatten das schon. Der derzeitige Paradigmenwechsel ist nicht der erste – und sicher nicht der letzte
Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt uns, dass solche Prozesse zu unserer menschlichen Gesellschaft dazugehören. Für jeden von uns ist klar, dass sich die Welt im Laufe der Jahrhunderte verändert hat; aber dennoch glauben wir, dass es jetzt so bleiben wird, dass unser Bild von der Welt Bestand haben wird. Und wir vergessen kollektiv, mit welchen Krisen frühere Paradigmenwechsel vor sich gegangen sind.
Unser derzeit noch vorherrschendes Paradigma ist geprägt vom naturwissenschaftlich-technischen Weltbild der »Moderne« des 15. und 16. Jahr[5]hunderts – ein Zeitraum, in dem die tausendfünfhundert Jahre währende Definitionsgewalt der Katholische Kirche über die (europäische) Welt gebrochen und durch Erkenntnisse der neuen Naturwissenschaften und Technik abgelöst wurde. Als Galileo Galilei 1610 durch ein Fernrohr blickte, die Bewegungen der Planeten beobachtete und erkannte, dass es die Erde ist, die sich um die Sonne dreht, und nicht umgekehrt, brach das kirchliche Weltbild von der Erde als Mittelpunkt des Universums schlagartig zusammen. Und es brauchte noch viele Jahrzehnte und Kämpfe, bis dieses Paradigma endgültig ein Ende fand.
Ab diesem Zeitpunkt zerbrach nicht nur das Paradigma von der Erde als Mittelpunkt des Universums, mit diesem neuen Weltbild veränderte sich vieles mehr: es war der Beginn der Definitionsgewalt der Naturwissenschaft über die Welterklärung. Die Abkehr vom »Glauben« und die Hinwendung zu einer naturwissenschaftlichen Sicht der Welt, dem »Wissen«, war ein paradigmatisches Erdbeben. Brecht lässt Galileo Galilei diesen Wandel beschreiben:
»Und es ist eine große Lust aufgekommen, die Ursachen aller Dinge zu erforschen: warum der Stein fällt, den man loslässt, und wie er steigt, wenn man ihn hochwirft. Jeden Tag wird etwas gefunden.«3
Nach den Jahrhunderten der Macht der Kirche und des Glaubens übernahmen Physik, Mathematik und Technik die führende Rolle bei der Konzeption der Welt. Diese wurde nun »sachlich« und »objektiv« untersucht, man versuchte, sie rational zu verstehen, indem man sie beobachtete, in kleine Teile zerschnitt, diese analysierte und anschließend wieder zusammensetzte. Immer bessere technische Möglichkeiten wurden entwickelt, um immer kleineren Elementen unserer Welt auf die Spur zu kommen. Dahinter steckte die Annahme, dass es ein ultimatives Kernelement gibt, das es zu finden, zu entdecken galt, um daraus Erkenntnis über das Ganze unserer Welt zu gewinnen.
Eine neue Werthaltung entstand: Rationalität, Vernunft und Logik wurden zur bestimmenden Grundlage des neuen Weltbildes und eines gesellschaftlichen Werts. Zugleich wurden die Methoden der wissenschaftlichen Forschung Teil unseres Weltbildes und unserer Realität.
[6]Das Differenzieren, das Zerteilen, Zerschneiden und dann wieder Zusammensetzen, das genaue Untersuchen von Einzelteilen eines Ganzen bilden heute immer noch die Grundlagen für unser Herangehen an die Welt, an Probleme und an Lösungen.
Rund um diese Ideen wurde unsere Welt gestaltet: Die Wissenschaft wurde in Fakultäten zerschnitten, die sich auf ihre jeweiligen Gebiete spezialisierten. Lehrstoff wurde in »Fächer« und Lernen in Schulen in 50-Minuten-Einheiten zerschnitten. Unsere Krankenhäuser sind Abteilungen für Einzelteile des Menschen geworden, unsere Arbeitsprozesse sind sauber getrennt, unser Leben ist in ein Arbeits- und ein Privatleben zerschnitten, das wir mühevoll »balancieren« müssen. Wir haben uns eine Welt der »Sachlichkeit« und der »Differenzierung« geschaffen, die uns täglich umgibt und die damit unser Denken permanent rückspiegelt und bestätigt. Wir können uns gar nicht mehr vorstellen, dass die Welt auch anders sein oder werden könnte.
Der Nutzen jedes Paradigmas liegt einerseits darin, dass wir darin Erklärungen für die großen Fragen der Welt bekommen: wie ist die Welt entstanden, wohin gehen wir alle? Der zweite Nutzen liegt darin, dass ein Paradigma uns die Welt einfacher darstellt als sie ist. Das Weltbild der Moderne war genauso wie das Paradigma des Mittelalters auf Vereinfachung und Reduktion von Komplexität ausgerichtet, um den Menschen Orientierung zu geben. Durch die Wissenschaft sollten eindeutige und klare Erkenntnisse und objektive Wahrheiten gefunden werden, die bis dahin die Kirche für sich beansprucht hatte. Man stellte sich also vor, dass es möglich sei, die Welt als einen »objektiven« – also von einem Beobachter unabhängigen »Gegen-Stand« – zu beobachten und über ihn Aussagen zu machen. Der »Wahrheit« der Kirche wurde damit eine neue »wissenschaftliche Wahrheit« gegenübergestellt.
Dieser neue »Glaube« an die »Objektivität«, an »Vernunft« und an »die eine Wahrheit« ist uns bis heute geblieben. Er dominiert unsere Wissenschaft, unser Weltbild, unser Handeln, unsere Werte.
Das zentrale Ziel der Wissenschaft aber lag in dem Versuch, durch »Verstehen« die Zukunft vorhersagen und die Welt schließlich kontrollieren zu können.
»Newtons Gesetze der Himmelsmechanik und Descartes’ Koordinaten, die es den Wissenschaftlern erlaubten, sich die Welt als ein riesiges Netz vorzustellen, erweckten den Anschein, als könnte alles in mathematischen und mechanischen Begriffen [7]beschrieben werden. Zur Zeit Napoleons konnte sich der französische Physiker Pierre Laplace allen Ernstes vorstellen, dass die Forscher eines Tages eine einzige mathematische Gleichung herleiten würden, die mächtig genug wäre, alles zu erklären.«4
Das Paradigma der Moderne war – ebenso wie das des katholischen Mittelalters – auf der Idee einer stabilen Weltordnung aufgebaut. Nur so konnte die Wissenschaft neue und anscheinend ewiggültige »Naturgesetze« formulieren und die Suche nach einer »Weltformel«, die alles erklärt, aufnehmen.
Unsere durch immer bessere Technik gestützte Fähigkeit des Differenzierens und Analysierens hat seit Beginn der Moderne unsere Wahrnehmung geschärft und unser Wissen über die Welt enorm bereichert. Aber mit der Liebe zum Unterscheiden haben wir leider auch den Blick für Zusammenhänge verloren. Zugleich hat das Paradigma der Moderne uns die Illusion der Vereinfachung einer komplexen Welt und die Idee einer »objektiven Wahrheit« gebracht. Die zentralen Elemente des naturwissenschaftlich-technischen Paradigmas beruhen auf »Glaubenssätzen«, wie etwa
die Möglichkeit, die Welt durch Beobachten und Analyse verstehen zu können,die Idee, über die Welt »objektive« Aussagen machen zu können,die Annahme einer stabilen Weltordnung, die in Form von Naturgesetzen erkannt werden kann,die Vorstellung von eindeutigen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen als Erklärungsmodell für alle Prozesse des Lebens, und schließlichden Glauben an eine hierarchische Weltordnung von den primitiven Geschöpfen bis zur obersten Seinsform (Gott).Solche Annahmen wurden in den vergangenen Jahrzehnten zutiefst erschüttert. Heute haben wir es mit einem Maß an Komplexität zu tun, das diese Form von Vereinfachung zu einem Problem macht. Wer heute versucht, Dinge einfach zu machen, liegt im Allgemeinen falsch.
Der Wechsel vom naturwissenschaftlichen zu einem neuen – postmodernen – Paradigma wurde erstaunlicherweise gerade durch jene Wissenschaften eingeleitet, die ihn hervorgerufen hatten: die Physik und die Mathematik.
Die Naturwissenschaft ging von einem stabilen Weltbild aus, das berechenbar und analysierbar war. Die Newton‘schen Gesetze beschreiben dieses Weltbild:
»Ein Körper verharrt im Zustand der gleichförmigen geradlinigen Bewegung oder der Ruhe, solange keine äußere Kraft auf ihn einwirkt; die Beschleunigung eines sich bewegenden Körpers ist direkt proportional der auf ihn ausgeübten Kraft, und er folgt geradlinig in der Richtung, in der die Kraft auf ihn einwirkt; und jeder Aktion entspricht eine gleich große, entgegengesetzt gerichtete Reaktion.«5
Der französische Mathematiker Henri Poincaré stellte Newtons ewige Gesetze des Universums – eine lineare Gleichung, mit der sich die Bahn des Mondes um die Erde genau berechnen ließ – infrage, indem er eine weitere Variable (etwa die Wirkung der Sonne) einführte, die auf diese Bahn Einfluss nehmen konnte. Und es zeigte sich, dass bereits bei Einführung nur einer weiteren Variable die Newton‘schen linearen Gleichungen unlösbar werden. Newtons lineare Gleichung war nur unter stabilen und reduzierten Bedingungen (zwei Faktoren) lösbar. Diese »Entdeckung« bedeutete eine tiefe Erschütterung der klassischen Physik und Mathematik. Es wurde bald klar, dass unsere Welt bei Einführung mehrerer Variablen unberechenbar wurde, denn die Wechselwirkungen aufeinander konnten in der Folge nicht mehr mit Sicherheit berechnet werden.
»Poincaré hatte eine Anarchistenbombe ins Newton‘sche Modell des Sonnensystems geworfen und drohte es zu sprengen. Wenn solche seltsamen chaotischen Bahnen wirklich vorkommen konnten, dann wäre ja das ganze Sonnensystem instabil.«6
Die Entdeckung Poincarés veränderte die Wissenschaft und wurde zur Initialzündung dessen, was wir heute als Paradigma der »Postmoderne« beschreiben (ein besserer Namen wird hoffentlich einmal gefunden werden).
[9]»Poincaré enthüllte, dass das Chaos oder die Möglichkeit des Chaos zum Wesen nichtlinearer Systeme gehört und dass selbst ein vollständig bestimmtes System wie die umlaufenden Planeten ungewisse Ergebnisse hervorbringen können. Er hatte einen Blick darauf erhascht, wie ein simples System explosionsartig in schockierende Komplexität übergehen kann.«7
Die Arbeit Poincarés wurde Grundlage für die moderne Quantenphysik und Einsteins Relativitätstheorie. Die berühmte Heisenberg’sche Unschärferelation stellte schließlich sogar die Möglichkeit einer genauen Messung der »Realität« radikal infrage: Licht zeigte sich in den Untersuchungen unter unterschiedlichen Beobachtungsbedingungen einmal als Teilchen und einmal als Welle.
Doch das naturwissenschaftlich-technische Paradigma hat tiefe Spuren in unserer Welt und in unserem Denken hinterlassen. Der Gehirnforscher Gerald Hüther führt aus:
»Was zu Beginn der Aufklärung als Erkenntnis über die Möglichkeiten der Entdeckung gesetzmäßig ablaufender, natürlicher Zusammenhänge und der aus diesen Erkenntnissen erwachsenden Gestaltbarkeit der uns umgebenden Lebenswelt begonnen hatte, ist zu einem zentralen Bestandteil unseres Selbstverständnisses geworden. Wir sind davon überzeugt, dass die äußere Welt erkennbar und nach unseren Vorstellungen gestaltbar ist. Erst jetzt, nachdem wir eine natürliche Ressource nach der anderen entdeckt, genutzt und dabei mehr oder weniger rasch aufgebraucht haben, nachdem wir den genetischen Code geknackt, die kleinsten Teichen gespalten und den Kosmos bis zum Urknall durchleuchtet haben, beginnt sich die Einsicht durchzusetzen, dass es wohl so etwas wie einer zweiten Aufklärung bedarf, um die Probleme zu lösen, die wir mit dem Einsatz des nackten Verstandes selbst geschaffen haben und die uns dank weltumspannender Kommunikationsmittel tagtäglich vor Augen geführt werden.«8
Diese »zweite Aufklärung«, das neue Paradigma wird vermutlich mit Phänomenen des Verbindens, Integrierens und Vernetzens ausgestattet sein, es wird uns neue Wege des Umgangs mit Komplexität weisen und uns Möglichkeiten aufzeigen, wie wir unsere Welt als lebenden Organismus voll Unberechenbarkeit und Überraschungen annehmen können.
»Wir brauchen nicht weniger als eine Revolution in der Wissenschaft: Alle Gesellschaftswissenschaften müssen zusammen dazu beitragen, das Glück zu untersuchen. Und wir brauchen eine politische Revolution: Glück muss das Ziel der Politik werden, und jedes Land muss die Entwicklung des Glücks genauso messen und bewerten wie die des Bruttosozialprodukts.«9
Dies sagt nicht etwa ein buddhistischer Mönch oder ein alternativer Esoteriker. Diese Aussage stammt von einem Ökonomen der London School of Economics. Die Zeit ist reif für den Wandel. Aber noch sitzen die alten Bilder sehr fest in den Köpfen. Wie kommt man zu neuen Bildern?
Jede große gesellschaftliche Veränderung entsteht durch zweierlei Impulse:
Impulse des Denkens, also der Theorie und des Wissen, welche neue Erkenntnisse bringen, unddurch konkrete Möglichkeit, eine neue Realität um uns herum zu schaffen.Werden Wissen und Handlungsmöglichkeiten miteinander verbunden, entstehen Möglichkeiten der Veränderung der Welt. Unser gegenwärtig stattfindender Paradigmenwechsel entstammt aus diesen beiden Quellen. Wir haben neue Erkenntnisse über die Welt und wir haben neue Technologien, um die Probleme, die wir im Zuge des Paradigmas der Moderne hervorgebracht haben, zu lösen. Der berühmte Satz Einsteins, wonach man ein Problem niemals mit derselben Logik lösen kann, mit der man es geschaffen hat, verweist uns auf diese besondere Herausforderung: wir können unsere »Krisen« nur lösen, wenn wir zugleich lernen, anders zu denken.
Jede Epoche hat ihre Leitwissenschaft. Das Altertum hatte die Philosophie, das Mittelalter hatte die Theologie, die Moderne hatte Naturwissenschaft und Technik. Heute haben Neurowissenschaften, Komplexitätsforschung, Kommunikationsforschung ihre Zeit. Es ist die Zeit der Wissenschaften über Lebende Systeme.
Viele Faktoren haben in den vergangenen Jahren zu einer Neuausrichtung der Wissenschaft geführt: technische Möglichkeiten eröffnen etwa neue Forschungen in den Neurowissenschaften. Wir können heute dem Gehirn bei der Arbeit zusehen und vollkommen neue Erkenntnisse gewinnen. Aber auch die zunehmenden Probleme mit unserem Ökosystem haben die Aufmerksamkeit [11]der Wissenschaft auf das sensible Zusammenspiel in der Natur gerichtet und die Biologie zu einer der neuen Leitwissenschaften gemacht. Die wachsende Komplexität unserer Gesellschaft hat Chaostheorie, Schwarmforschung (Kollektive Intelligenz) und Komplexitätsforschung als neue Themen der Wissenschaft etabliert. Zugleich verändert sich unsere »reale« Welt dramatisch: neue Kommunikationstechnologien und das Internet haben eine fundamentale Veränderung unseres Lebens, unserer Form des Arbeitens und damit auch der Formen von Organisationen und Führung hervorgebracht.
Rifkin spricht deshalb von einer »Dritten industriellen Revolution«10, die mehr verändert als nur unsere Art des Lebens: sie führt uns in einen Paradigmenwechsel, einen radikalen Wechsel unserer Art zu denken, ja zu fühlen.
Der Paradigmenwechsel heute vollzieht sich sowohl auf der Ebene des Denkens, der Werte, der Weltbilder als auch auf der realen und konkreten Ebene des Handelns. Es ist daher nicht überraschend, dass immer mehr Autoren den Begriff der »Revolution« verwenden.11
Führung ist immer ein Produkt des jeweiligen gesellschaftlichen Paradigmas und eingebettet in die Denkmuster seiner Zeit. Positive Leadership ist ein Teil des neuen Paradigmas. Wenn wir uns mit dem neuen Paradigma von Führung beschäftigen, dann sprechen wir von Führung im Rahmen von Organisationen, die wieder selbst in die Gesellschaft eingebettet sind. Die Bilder von Führung sind immer eng verbunden mit den Bildern der Gesellschaft und der Organisationen, in denen Führung stattfindet. Diese drei Begriffe sind also immer miteinander verbunden (vgl. Abb. 1).
Abb. 1
Es ist bereits eine Plattitüde zu sagen, dass sich unsere Welt dramatisch und vor allem sehr schnell verändert. Trend- und Zukunftsforscher12 liefern seit vielen Jahren ähnliche Befunde über Megatrends unserer Gesellschaft und zeigen damit ein Bild der Herausforderungen, denen wir uns alle stellen müssen. Dabei gibt es einige zentrale Treiber.
Als die wesentlichen Treiber der gesellschaftlichen Veränderungen werden einerseits die neuen technologischen Möglichkeiten der Kommunikation genannt, die Informationen »demokratisiert« haben. Dazu kommen die großen neuen Wanderbewegungen von Menschen, Organisationen und Kapital, die Internationalisierung und Globalisierung der Wirtschaft, und die Größe von Unternehmungen.
Mit diesen Veränderungen geht ein vollkommen neues Weltempfinden der Menschen einher:
Zeit und Raum verlieren ihre alte Bedeutung, wir können heute in »Echtzeit« über Kontinente hinweg kommunizieren;die Fragen von sozialen Zugehörigkeiten und Identität wandelt sich im »globalen Dorf« dramatisch;Macht ist anonymisiert – »die Märkte« bestimmen über die Politik; die »alte Ordnung« der Hierarchie ist einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft gewichen.All das vollzieht sich in einem Szenario von Umweltproblemen, Steuerungs- und Entscheidungsunklarheiten, neuen Konfliktachsen wie etwa zwischen dem konservativen Islam und dem Westen. Dazu kommen Finanzkrisen und ein gesättigter Markt im Westen mit aufstrebenden Schwellenländern. In diesem Umfeld müssen sich Organisationen bewähren.
Für Organisationen und Führung entstehen mit diesen Entwicklungen vollkommen neue Herausforderungen, die herkömmliche Managementkonzepte und -tugenden einerseits und das Bild von Organisationen und Kooperation andererseits radikal in Frage stellen. Vor allem die Notwendigkeit von Beweglichkeit, Anpassungsfähigkeit und Bereitschaft für stetige Veränderung und Er[13]neuerung verlangt von Organisationen neue Lebenskonzepte und neue Führungsmodelle.
Lebensentscheidende Fragen müssen beantwortet werden:
Wie können wir mit dem Tempo an Entwicklungen und Veränderungen Schritt halten?Wie halten wir Mitarbeiter, die Träger von Wissen und Erfahrung sind, in unserer Organisation?Wie binden wir Kunden an uns, die mehr Wahlmöglichkeiten haben?Wie gestalten wir Kommunikation und Identität unserer Organisation über den gesamten Erdball?Wie begegnen wir dem Bedürfnis der Menschen nach Sinn, Glück und Werten?Wie wird sich Arbeit grundsätzlich verändern und wie sind wir darauf vorbereitet?Wie leisten wir unseren Beitrag zum Wohl der Gesellschaft und der Natur?Wie gehen wir mit älteren Mitarbeitern um?Wie managen wir die Komplexität und Dynamik in unserer Umwelt?Wie können wir nachhaltig erfolgreich sein?Organisationen, wie wir sie heute kennen, haben ihren Ursprung im Militär, im römischen Heer, das zum Role-Model der katholischen Kirche und später von Industrieunternehmen wurde. Klare und starre Strukturen, hohe Stabilität und eine klar geregelte hierarchische Kommunikations- und Entscheidungsstruktur gaben diesen Organisationen einst ihre Langlebigkeit. Diese Vorbilder von Organisationen wurden am Beginn der Industrialisierung einfach für Produktionsbetriebe übernommen, möglicherweise aus Mangel an Phantasie und Alternativen, vermutlich aber aus einer Werthaltung heraus, die dem wissenschaftlichen Ethos der Moderne und der autoritären Kultur des 19. Jahrhunderts entsprach. Allerdings: das römische Militär konnte den Zerfall des Römischen Reichs nicht aufhalten und die katholische Kirche droht immer mehr an ihren inneren Widersprüchen und an ihrer Erstarrung zu zerbrechen. Das tayloristische Konzept des »wissenschaftlichen Managements« zu Beginn der Industrialisierung in den USA bewegte sich in dieser Form von Organisation und lieferte auch noch eine »wissenschaftliche« Grundlage dafür. Ziel war die Effizienzsteigerung von Arbeit durch das »Zerteilen und wieder Zusammensetzen« der Arbeitsprozesse. Zugleich herrschte das (gesellschaftliche) Bild von Führung als »Command and Control« vor, das hervorragend in diese militärische Konzeption von Organisationen passte. Dazu gehörte auch ein Menschenbild, das Mitarbeiter als inkompetente, unmotivierte und träge Wesen (Kinder, Untertanen) betrachtet, die genau so eine Führung brauchen, [14]ja verdienen. Und all das passte wieder gut in ein wirtschaftliches Umfeld, das über lange Jahre hinweg stabil, berechenbar und auf Wachstum ausgerichtet war. In dieser Welt war Veränderung eine Ausnahmeerscheinung und eher eine Störung.
Die Bilder von Organisation und Führung aus jener Epoche der Industrialisierung waren durch eine Reihe von Annahmen geprägt, die uns bis heute noch vertraut sind:
Hierarchie: die »oben« denken, die »unten« führen aus, und zwar, weil die »oben« klüger« sind als die »unten«Organisation funktioniert nur und Menschen arbeiten nur, weil und wenn »oben« geführt wird; nichts geschieht ohne Anstoß von außenOrganisationen und die in ihr ablaufenden Prozesse funktionieren wie gut geschmierte Maschinen, wo ein Rädchen ins andere greiftArbeit funktioniert dann am besten, wenn sie in möglichst kleine Einheiten, Handgriffe zerlegt wird, die den einzelnen (dummen) Arbeiter nicht überfordernKommunikation, Beziehungen und Emotionen sind Störungen der Organisation und zu kontrollieren oder am besten zu beseitigen. Kommunikation ist bestenfalls Einwegkommunikation: Befehlsausgabe.Prozesse können linear gesteuert werden, etwa durch das Einhalten des Management-RegelkreisesOrganisationen können sich unter stabilen Rahmenbedingungen immer noch ein wenig optimierenObwohl sich die Welt in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verändert hat, obwohl unsere Welt komplexer, dynamischer und immer unberechenbarer geworden ist, finden wir mehrheitlich noch immer Organisationen und Führungsverständnisse aus dieser alten Zeit vor. Besonders die großen alten Industrieunternehmen, aber auch moderne Technologie-Konzerne sind immer noch so gebaut.
Bereits in den 1980er-Jahren hat der Organisationsforscher Karl E. Weick die Komplexität von Organisationen erforscht und beschrieben und damit dieses Maschinenbild radikal infrage gestellt.13 Der ehemalige Shell-Manager Arie de Geus hat wenig später über die Verantwortung von Unternehmen ge[15]schrieben14 und Organisationen damit in eine neue Perspektive gerückt. Der Harvard Professor Chris Argyris15 mutet Organisationen sogar »Lernfähigkeit« zu und hat mit dem Begriff der »Lernenden Organisation« ebenfalls einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung neuer Bilder von Organisationen geleistet. Peter Senge spricht von einer »notwendigen Revolution«16 angesichts der sich verändernden Welt. Und heute sprechen wir von »Organization Design«, um neue Wege der Gestaltung von Organisationen rund um Prinzipien zu beschreiben.17
Aber nicht nur die Theorie von Organisationen, sondern auch neue Wege der Umsetzung neuer Konzepte und Prinzipien werden zunehmend in der Literatur vorgestellt. Die US-Beraterin Rosabeth Moss Kanter18 beschreibt zahlreiche Beispiele von Organisationen, die neue Wege eingeschlagen haben, um erfolgreicher, innovativer und verantwortungsvoller sein zu können. Sie spricht von »Vanguard-Organizations«19, also der Vorhut einer neuen Entwicklung von Organisationen.
Eines der meist beschriebenen Unternehmen der neuen Generation ist Gore.
Stellen Sie sich Folgendes vor:
Die Hierarchie ist extrem flach und wird nur situativ und temporär gebildet. Das Organisationsdesign ist ein Netzwerk von Teams, die in direkter Kommunikation miteinander stehen.
Führung wird »mit den Füßen« gewählt – und auch wieder abgewählt. Sie muss sich ihre Anhängerschaft suchen und sich laufend bewähren. »Wenn man eine Sitzung einberuft und Leute erscheinen, ist man ein Leader.«20
Führung wird ausschließlich über Leistung und den Beitrag zum Erfolg des Unternehmens ausgewiesen. Die Rolle der Führung ist die von Förderern und nicht die der Anweisung und Kontrolle.
[16]Kommunikation verläuft direkt von Person zu Person bzw. von Team zu Team. Es gibt keine formalisierten Kommunikationswege.
Die Größe der Einheiten ist daher auf ein Maß beschränkt, das diese direkte Kommunikation ermöglicht. Wenn Einheiten größer als 150 bis 200 Mitarbeiter werden, müssen sich diese »Zellen« teilen.
Arbeitszeit wird zu ca. 10 % darauf verwendet, neue Ideen zu entwickeln, also »unproduktiv« zu sein, zu sinnieren, zu experimentieren, sich auszutauschen.
Personalmanagement wird durch die Mitarbeiter selbst geleistet. Es gibt keine Assessment-Verfahren, Mitarbeiter wählen ihre Kollegen selbst aus. Es gibt keine standardisierten Karrierepfade und Beförderungsroutinen. Das Gehaltssystem ist an die Beiträge zum Erfolg gekoppelt.
Die Unternehmenskultur wird von vier festgeschriebenen Prinzipien bestimmt: Fairness, Freiheit, Commitment, Konsultation.21
Ja, und: das Unternehmen ist hoch erfolgreich und profitabel, die Mitarbeiter sind mit dem Unternehmen vollkommen identifiziert.
Sie sind bei Gore gelandet. Gore – bekannt durch die Marke Gore-Tex – ist ein Vorzeigeunternehmen für innovatives Management geworden und wird in der Fachliteratur immer wieder voll Bewunderung beschrieben.22
Das Unternehmen wurde 1958 von Wilbert (Bill) L. Gore gegründet, ist heute hoch erfolgreich, macht ca. 3 Milliarden Dollar Jahresumsatz, beschäftigt etwa 10.000 Mitarbeiter an 45 Standorten der Welt.
W. L. Gore hatte bei der Gründung des Unternehmens eine Vision: er wollte ein Unternehmen aufbauen, »in dem sich Einfallsreichtum und Eigeninitiative entfalten könnten. In dem chronisch neugierige Ingenieure völlige Freiheit genießen würden, um zu erfinden, zu investieren und Erfolg zu haben.«23
Gore warf sämtliche Glaubenssätze des »modernen« Managements über Bord und schuf eine Organisation mit den beschriebenen Merkmalen.
Gore ist nur eines von vielen Beispielen für eine Avantgarde von Organisationen, die neue Wege gehen und erfolgreich dabei sind. Google, IBM und dm sind weitere Beispiele, die immer wieder in der Literatur beschrieben werden.24 Wir kennen heute ein große Vielfalt und Vielzahl an Organisationen, [17]die eine echte und erfolgreiche Alternative zu den Organisationen alten Typs darstellen.
Manche dieser neuen Organisationen haben neue Werte und Prinzipien, wie etwa der Schuhzusteller Zappos25, wo Freude und Spaß an der Arbeit im Zentrum der Unternehmenskultur stehen, oder Southwest Airlines, die ihre Verbundenheit mit den Mitarbeitern als tragendes Prinzip leben und sehr erfolgreich damit sind. Andere haben neue Strukturen entwickelt, wie etwa Google oder Netzwerkorganisationen wie Gore; wieder andere haben andere Strategien, wie etwa die Svenska Handelsbanken, die sich vollkommen vom Ritual des Budgets verabschiedet haben.26
Diese Avantgarde-Organisationen bieten einen Blick auf künftige Entwicklungen, die alle Organisationen früher oder später nehmen werden müssen, um weiterhin zu bestehen.
Bereits 1997 hat sich Arie de Geus27 mit der Frage beschäftigt, wie es manchen Unternehmen gelingt, nachhaltig erfolgreich zu sein. Er untersuchte damals zahlreiche Organisationen, manche auch einige Jahrhunderte alt, und legte seinen Untersuchungen zugrunde, dass Organisationen lebende Systeme, genauer gesagt: Arbeitsgemeinschaften sind, die nach denselben Regeln »funktionieren«, wie andere lebende Systeme auch.
»Wenn wir uns ein Unternehmen als lebendes Wesen vorstellen, haben wir bereits den ersten Schritt getan, um seine Lebenserwartung zu erhöhen.«28
Die Untersuchungen von Moss Kanter zeigen, dass diese neuen Organisationen erfolgreich sind und »a new paradigm for business«29 darstellen. Sie sind Role-Models für künftige Organisationen. Moss Kanter empfiehlt, von diesen Organisationen zu lernen,
»how to build an enduring culture for the long term that enables continual change and renewal, as well as rapid response to crisishow to use values and principles as a guidance system, for self- and peer controlhow every step of the innovation process can be enhanced by a strong social purpose and connections with societyhow humanistic approaches can smooth the tensions of mergers and create productive new collaborations[18]how workplaces can incorporate tools and approaches of the digital age, including remote work from home and self-organized social networks, to unleash employee energy for both daily tasks and making a difference in the worldhow people of diverse origins, races, and ethnicities can be encouraged to find common ground while expressing rather than suppressing their identitieshow community service can build relationships and reputations and how business capabilities can contribute to the public agendahow to minimize the negative consequences of globalization and involve companies in addressing social problems while understanding the limits of reliance on the private sectorhow leaders and potential leaders can cultivate the skills to master the challenges of the globalizing world of the future.«30An den Organisationen »neuen Typs« lässt sich erkennen, dass der Wandel bereits im Gang ist. Den Kern des Paradigmenwechsels bildet dabei eine Reihe von Annahmen und Bildern über Organisationen und Menschen. Liest man sich durch die Literatur, die diese neuen Formen von Organisationen und Führung beschreibt31, dann stellt man fest, dass es einige Merkmale gibt, die immer wieder als entscheidende Erfolgsfaktoren beschrieben werden:
Das Bild, wonach Organisationen Maschinen sind, die sich einfach steuern ließen, die wie nach dem Bauplan einer Maschine in Form von Organigrammen aufgebaut sind, die stabil und berechenbar sind, dieses Bild ist in den vergangenen Jahrzehnten verblasst und durch das Bild der Organisation als lebender Organismus ersetzt worden.
Das Organisationsleben in dieser Avantgarde ist mehr dem Familienleben vergleichbar als dem gut geölten Zusammenspiel von Rädchen. In Organisationen findet formelle und informelle Kommunikation statt, es summt und brummt unentwegt. Das bedeutet aber auch ein hohes Maß an Unberechenbarkeit, Widersprüchlichkeit und Undurchschaubarkeit.
In der gesamten modernen Management-Literatur besteht in diesem Punkt Einigkeit: In Zukunft werden Organisationen dezentral strukturiert sein. Die auf einem Kontrollbedürfnis beruhende Pyramidenform von Organisationen hat zu viele negative Begleiterscheinungen, die ihre Vorteile – reduzierte Komplexität, klare Funktionen und Positionen – nicht aufwiegen:
Zentralistische Strukturen bringen zu lange Informations- und Entscheidungswege, hohen Informationsverlust, schlechte oder keine Entscheidungen, eine sinkende Motivation und Identifikation der Mitarbeiter, mangelnde Flexibilität, keine Umwelt für Innovation und vieles mehr.
Dezentrale Strukturen bedeuten andererseits einen höheren Kommunikationsaufwand und mitunter unklare Rollen und Funktionen, sie erhöhen aber zugleich das Engagement und die Lernfähigkeit von Organisationen. Dezentrale Strukturen bedeuten konkret: mehr Verantwortung und Entscheidungen an die »Peripherie« der Organisation zu verlagern, also dorthin, wo die »richtige« Arbeit geschieht. Das bedeutet: Empowerment für Mitarbeiter, schnelleres Lernen für die Organisation und höheres Commitment.
Wer die Literatur zu den Avantgarde-Organisationen liest, kann feststellen, dass darin immer wieder ein Menschenbild beschrieben wird, das dem Menschen hohe Fähigkeiten und gute Absichten unterstellt. Gleichsam blind gehen diese Organisationen auf Mitarbeiter zu und erhalten – den Gesetzmäßigkeiten der selbsterfüllenden Prophezeiung folgend – genau dies von den Mitarbeitern zurück: Vertrauen und Stärken. Das prinzipiell positive Bild ist der Beginn einer positiven »Kettenreaktion« und damit ein Kern des Erfolgs.
Vertrauen bedeutet, dass man Mitarbeitern im Voraus beste Absichten und Kompetenzen unterstellt, es bedeutet aber auch, dass man eine optimistische Zukunftsperspektive entwickelt und sich der Ressourcen und Potenziale bewusst ist, die für diese Zukunft genutzt werden können.
Vertrauen reduziert Komplexität und ist in der täglichen Arbeit die Grundlage jeglicher Kooperation. Alle Autoren stimmen darin überein.
