Postkoloniale Mythen - Mathias Brodkorb - E-Book

Postkoloniale Mythen E-Book

Mathias Brodkorb

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Beschreibung

Die deutsche Kolonialgeschichte währte ganze 35 Jahre. Erst 1884 begann das Deutsche Kaiserreich, auf dem afrikanischen Kontinent sogenannte Schutzgebiete zu errichten, verlor diese aber bereits 1919 an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Mit dem Ende des Kolonialismus jedoch, so wollen uns postkoloniale Aktivisten und ihre universitären oder musealen Stichwortgeber weismachen, kamen Ausbeutung, Kunstraub, Versklavung und Rassismus keineswegs zu einem Ende. Sie leben angeblich im postkolonialen Zeitalter fort, nur raffinierter. Da gibt es viel wiedergutzumachen. Mathias Brodkorb hat sich auf den Weg begeben und die Hotspots der postkolonialen Wiedergutmachung im deutschsprachigen Raum aufgesucht, die ehemaligen Völkerkundemuseen. Statt ihrer Aufgabe des Sammelns, Bewahrens, Erforschens und Ausstellens nachzugehen, sind sie vorrangig mit der Verfertigung des eigenen guten Gewissens beschäftigt. Zu diesem Zweck werden nicht nur Fakten verschwiegen, die nicht ins Bild passen, sondern mitunter auch historische Dokumente verfälscht. Viele Museen sind zu »Ideologiemaschinen« geworden um den weißen Westen einer ewigen Schuld zu überführen.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Autor und Verlag finanzieren durch den Verkauf dieses Buches eine Spende zur Befreiung von zwanzig Sklaven im Sudan.

Christian Solidarity International (CSI)

https://csi-de.de/​laender/​sudan-suedsudan/

Mathias Brodkorb (geb. 1977), freier Publizist, studierte Philosophie und Altgriechisch und war Kultus- und Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern.

Mathias Brodkorb

POSTKOLONIALE MYTHEN

Auf den Spuren eines modischen Narrativs

© 2025 zu Klampen Verlag

Röse 21 · 31832 Springe · zuklampen.de

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Umschlaggestaltung: © Stefan Hilden, Hildendesign · München · hildendesign.de unter Verwendung eines Bildes vom Gedenkkopf eines Königs (Ethnologisches Museum Berlin, III C 8200, © Mathias Brodkorb)

Layout & Satz: Mathias Brodkorb

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

ISBN Print: 978-3-98737-032-8

ISBN E-Book-Epub: 978-3-98737-439-5

ISBN E-Book-Pdf: 978-3-98737-438-8

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text- und Data-Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

INHALT

Cover

Title

Impressum

GELEITWORTvon Andreas Schlothauer

EINLEITUNG„Auch Museen lügen.“

REICHSTAG„Eine Schande des Menschengeschlechts“

BENIN CITYStadt der Schädel und des Blutes

DAS POSTKOLONIALE NARRATIV

LEIPZIG„Erleichtert Euer Gewissen!“

BERLINEin Thron, ein Orchestrion und zwei Pferde

WIENMorbus Austriacus

HAMBURGAuf der Suche nach dem roten Faden

VENEDIGHistorische Gerechtigkeit und neo-völkisches Denken

DANKESWORT

GELEITWORT

Die Reise von Mathias Brodkorb durch die Ausstellungen vier deutschsprachiger Völkerkundemuseen und zur Biennale nach Venedig zeigt einen eigenartigen Gleichklang der dort präsentierten Botschaften: eine Ansammlung von Mythen und Legenden, ein Glaubensbekenntnis, das empirische Nachweise ablehnt, kontroverse Diskussionen für unzulässig erklärt und rassistischem Denken eine neue Variante hinzufügt – diesmal in gespiegelter Form: Weiß ist Böse und Schwarz ist gut. Die Realität wird – nach Belieben – verbogen und die Suche nach historischer Wahrheit auf dem Altar postkolonialer Moralvorstellungen geopfert.

Das Anlegen heutiger moralischer Überzeugungen und rechtlicher Maßstäbe an die Vergangenheit, ist – schreibt Brodkorb – „die moralische Kernoperation postkolonialen Denkens“. Dabei entgeht den selbst ernannten Richtern der historischen Gerechtigkeit, dass aus ihren Glaubenssätzen eine Wiedergeburt des völkischen als „neo-völkisches“ Denken resultiert. Ihre Haltung verhindert nicht nur das Verstehen des Vergangenen, sondern auch die Erkenntnis der Realitäten in jenen Ländern, als deren Fürsprecher sich die Advokaten des postkolonialen Denkens gerne gebärden – häufig in paternalistischer Manier und ohne die Legitimation durch die jeweilige indigene Gemeinschaft.

Wenn das bloße Fühlen der Suche nach der Wahrheit vorgezogen wird, sind weder neue Erkenntnisse noch sachliche Grundlagen für die Rückgabe (Restitution) von Kulturgütern möglich. Ohne Ergebnisoffenheit ist es keine Forschung, sondern Ideologie.

Brodkorb ist kein rigoroser Gegner der Rückgabe von kulturellen Objekten an ehemalige Kolonien. Er begründet dies auch damit, dass deren Zahl in Deutschland so groß sei, dass die Museen daran regelrecht „ersticken“. Das ist jedoch kein zwingendes Argument.

Adolf Bastian, erster Direktor des Berliner Völkerkundemuseums, bezeichnete 1877 das Völkerkundemuseum als „Lesehalle für das inductive Studium“. Durch Bastian inspiriert, entstanden daraufhin riesige Objekt-Bibliotheken, und es geht – wie in den Buch-Bibliotheken – um das Lesen in den Beständen. Es schlummern in den Depots „Schätze“, die zunächst studiert werden müssen, um überhaupt sinnvoll präsentiert werden zu können. Die radikale Restitutionsdebatte zeigt daher das grundlegende Missverständnis derjenigen auf, die nur Bücher lesen, aber nie Objekte studiert haben.

Wurde jemals beklagt, dass sich in Bibliotheken zu viele Bücher befinden, nur weil diese brav in den Regalen ruhen und auf Leser warten? Auch die vollen Depots der Völkerkundemuseen sind eine weltweite Aufforderung, die Bestände zu nutzen, und nicht, sie durch willkürliche, politisch motivierte Verteilung zu zerstören. Sie wurden gesammelt und bewahrt, weil in der Zukunft wichtig sein könnte, was heutigen Generationen nichts bedeutet.

Brodkorb analysiert nüchtern und bisweilen bissig den gegenwärtigen Zustand der Völkerkundemuseen. Er erzählt von den Ursprüngen des postkolonialen Denkens, von dessen Eindringen in Museen, Kunstwelt wie Politik, und er zeigt die Auswirkungen: In den Ausstellungen werden meist jene Fakten verschwiegen, die das schwarz-weiße Bild der Geschichte des Kolonialismus stören. Logisch und präzise seziert er Ausstellungstexte und Literatur, findet Unvollständiges, benennt Unstimmiges und Widersprüchliches, bisweilen entlarvt er auch Lügen – beschreibt das Scheitern der postkolonialen Ideologie an ihren immanenten Widersprüchen. Das macht das Buch für alle zu einem packenden und manchmal amüsanten Leseerlebnis, die sich seit Jahren fragen, was es mit dem postkolonialen Denken auf sich hat. Es könnte der Beginn einer kontroversen öffentlichen Debatte sein.

Andreas Schlothauer

EINLEITUNG „Auch Museen lügen.“

Auf der Flucht ergriffener Sklave (Königreich Bamum, Kamerun)© Grassi Museum für Völkerkunde zu Leipzig, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Archiv

Häuptling Mareale war ein afrikanischer Sklavenhändler. Er lebte am Fuße des Kilimandscharo im heutigen Tansania. Als er gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf einem Liegestuhl sitzt und selbstbewusst dreinblickt, steht auf der anderen Seite der Kamera der Afrikaforscher Hans Meyer. Der Sohn einer berühmten Verlegerfamilie aus Leipzig drückt im richtigen Moment auf den Auslöser.

Mareale und Meyer waren Freunde. Der Afrikaner half dem Deutschen einst dabei, den höchsten Berg Afrikas zu besteigen. Mehrere Jahre später reiste Meyer erneut zu seinem Freund. Der war inzwischen damit beschäftigt, ein zweistöckiges Steinhaus nach dem Vorbild der deutschen Kolonialisten zu errichten. Aber der Bau war ins Stocken geraten. Die Deutschen hatten den Sklavenhandel eingeschränkt und Mareale deshalb kein Geld mehr.

In deutschsprachigen Museen für Völkerkunde werden seit ungefähr zehn Jahren ganz andere Geschichten erzählt: Weiße sollen ausschließlich koloniale Täter sein und Schwarze ausschließlich unschuldige Opfer. Seinen Höhepunkt findet dieses Denken im antirassistischen Diskurs der Gegenwart, denn „nur Weiße können rassistisch sein“1. Es wird an postkolonialen Mythen gestrickt. Das soll auch der moralischen Begründung dienen, weshalb Kulturgüter aus Afrika in ihre Heimat zurückzubringen seien. Die „koloniale Schuld“ (colonial guilt) soll in eine „postkoloniale Scham“ (postcolonial shame) verwandelt werden.2 Und die dafür erforderliche Schamarbeit durch Rückgabe von Kulturgütern einen Zustand der „Versöhnung“ (reconciliation) herbeiführen.3

Im Zentrum dieser Debatte steht die Weltgeschichte der Sklaverei. In ihr soll die weiße Urschuld schlummern, die sich als Erbsünde nahtlos auf die heutigen Generationen übertragen hat. So wurde aus dem Kolonialismus angeblich der Postkolonialismus. Es sei demnach ein „Fehlschluss“ anzunehmen, die „Ungleichgewichte der kolonialen Epoche“ hätten heute „ihre Bedeutung eingebüßt“4. Auch an der anhaltend schwierigen Lage Afrikas soll der Westen schuld sein. Und umgekehrt soll Afrika den heutigen Reichtum des Westens „erst möglich gemacht“ haben.5

Häuptling Mareale in einem Liegestuhl (1887)Deutsche Fotothek/Hans Meyer

Blinde Flecken

Im Jahre 1973 machte der Anthropologe Claude Meillassoux eine erstaunliche Beobachtung: „Während der europäische Sklavenhandel Gegenstand zahlreicher Studien war, ist die Sklaverei in afrikanischen Gesellschaften ein so wenig erforschtes Feld der Ethnologie, dass man an ihrer Existenz zweifeln könnte.“6 Die Sklaverei-Forschung hat seitdem Fortschritte gemacht. Das öffentliche Bewusstsein nicht.

Noch im Jahre 2022 konnte die Historikerin Rebekka Habermas folgenlos behaupten, dass die Sklaverei erst „durch Europa in Afrika eingeführt wurde“7. Sie bestritt nicht einmal, dass Afrikaner am Sklavenhandel beteiligt waren. Aber sie bezeichnete es als „perfide“, hierauf auch nur hinzuweisen.8 Denn ausgelöst worden sei die Sklaverei auf dem afrikanischen Kontinent durch Weiße. Selbst die afrikanischen Sklavenhändler wurden so zu Opfern umgedeutet. In diesem Buch wird dieser Mythos den Namen Postkoloniales Narrativ tragen. Er bestimmt bis heute den Zeitgeist.

Im weißen Westen ist die Vorstellung dessen, was Sklaverei ist, vor allem von Bildern in Ketten gelegter schwarzer Sklaven auf US-amerikanischen Plantagen geprägt, die von Weißen betrieben werden: „Sklave. Kaum nimmt man es in den Mund, schwemmt das Wort eine Bilderflut herbei (…). (…) Was Sklaverei ausmacht, meinen wir auf Anhieb zu wissen. Aber woher eigentlich?“9

Hierzu haben nicht nur Kinderbücher wie Onkel Toms Hütte von Harriet Beecher Stowe oder Filme wie Django Unchained von Quentin Tarantino beigetragen, sondern auch eine geografische Verschiebung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderte das Zentrum der Diskussion über afrikanische Kunst und Kultur von Europa in die USA ab. Dort sickerte sie in die schwarze Bürgerrechtsbewegung ein, die politisch die gesamte Welt beeinflusste. Und so „brachte die Begegnung mit der afrikanischen Kunst die Geschichte der Sklaverei in Erinnerung“10.

Aber selbst auf dem amerikanischen Kontinent stimmen die Proportionen des Erinnerns nicht. Der islamischen Sklaverei fielen rund 17 Millionen Afrikaner zum Opfer, der von Weißen betriebenen zwölf Millionen.11 Darin nicht enthalten ist in beiden Fällen die „ungeheure Anzahl von niedergemetzelten Verteidigern und abgeschlachteten Greisen und Säuglingen“, die nicht zu Sklaven taugten.12

Von den seinerzeit zwölf Millionen nach Amerika verbrachten Afrikanern landeten 45 Prozent in der Karibik und 41 Prozent in Brasilien – vor allem auf Zuckerrohrplantagen.13 Nur eine deutliche Minderheit wurde an jenen Orten ausgebeutet, die heute das westliche Bild der Sklaverei prägen: in den Südstaaten der USA. Es herrscht eine deutliche Diskrepanz zwischen historischer Erinnerung und historischen Fakten, was sich wohl nur als Echoeffekt der Selbstreflexion einer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Weltmacht das 20. Jahrhunderts erklären lässt.

Es ist aber falsch, dass erst der weiße Mann die Sklaverei nach Afrika gebracht hat. Der afrikanische Sklavenhandel mit Arabien und Persien erreichte bereits ab dem zehnten Jahrhundert seine „erste Blüte“ und war schon zuvor betrieben worden.14 Arabischstämmige und indigene Afrikaner organisierten den Sklavenhandel auf dem schwarzen Kontinent lange vor der europäischen Kolonisation. Es waren „Afrikaner (…), die versklavte Afrikaner verkauften“.15 Der Historiker Albert Wirz spricht mit Blick auf die späteren amerikanischen Sklaven-Plantagen denn auch zynisch von einem „kolonialen Technologie-Transfer“16. Bis heute gebe es ein regelrechtes „Stockholm-Syndrom afrikanischer Art“, das die „Verschleierung“ eines Völkermordes zur Folge habe, ist außerdem der im Senegal geborene Anthropologe Tidiane N’Diaye überzeugt.17 Er erklärt sich das andauernde Beschweigen der durch Araber verursachten Sklaverei in Afrika mit „einer gewissen religiösen oder ideologischen Solidarität“ der ethnisch-afrikanischen mit den arabischen Muslimen.18 Der islamische Kolonialismus hinterlässt auf dem afrikanischen Kontinent bis heute seine Spuren.

Cervantes als Gefangener in Algier Quelle: Fondo Antiguo de la Biblioteca de la Universidad de Sevilla

Und die Weißen waren nicht ausschließlich als Täter in Afrikas Sklavenhandel und Sklaverei verstrickt, sondern mitunter auch als Opfer. Diese Vorgeschichte des französischen Kolonialismus im heutigen Algerien wird von dessen Kritikern indes meist nicht erzählt.

Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert erzielten die nordafrikanischen „Barbaresken-Staaten“, darunter auch Algier, erhebliche Einnahmen aus der Kaperei.19 Sie überfielen europäische Schiffe, raubten sie aus, nahmen die Besatzungen gefangen und erpressten Lösegeld. Mehr als eine Million Weißer soll damals davon betroffen gewesen sein. Wo kein Geld floss, „galten die Gefangenen als Sklaven“20. So fand sich auch der Autor des Don Quijote, Miguel de Cervantes, einst auf dem Sklavenmarkt von Algier wieder. Fünf Jahre nach seiner Verschleppung kam er im Jahre 1580 neben 185 weiteren weißen Sklaven gegen Zahlung eines Lösegeldes wieder frei.21 Selbst Johann Wolfgang von Goethe berichtet in seiner Italienischen Reise von Straßensammlungen zum Freikauf von Sklaven.22 Er musste seinen Lesern nicht erklären, dass es dabei um weiße Sklaven ging. Damals war das in ganz Europa bekannt. Heute hingegen blickt man auf ein längst „vergessenes Kapitel in der Geschichte“ zurück.23 Zu diesem gehört, dass damals auch „christliche Piraten“ Muslime jagten.24 Und dass in Hamburg und Lübeck mit Beginn des 17. Jahrhunderts Sklavenkassen eingerichtet wurden, also im Grunde Versicherungsanstalten zum Freikauf versklavter weißer Seeleute.25

Und Weiße versklavten Weiße. Nicht nur die alten Römer und Griechen hatten Sklaven, sondern auch die Germanen und Wikinger26. Die Ungarn überfielen im Jahre 911 Köln und versklavten Gefangene. Friesische Händler importierten „Sklaven irischer und englischer Herkunft aus London, um sie in den Binnenhäfen Westeuropas und Deutschlands zu verkaufen“. Und Slawen wurden „durch Bayern über die Alpen nach Venedig“ verbracht, um sie in die islamische Sklaverei zu veräußern.27 Das heutige Weltkulturerbe zählte einst zu den wichtigsten Sklavenumschlagplätzen Italiens. Der Ort des Geschehens: die berühmten Märkte am Rialto.28 Also genau dort, wo heute Touristen aus aller Welt ihre Souvenirs kaufen. Die „Welten der Sklaverei“29 bilden ein „Feld komplexer Widersprüche“30 und ein überaus differenziertes Bild: Auch „Afrika ist nicht eins, es ist vieles.“31 Das gilt auch für seine eigene Sklaverei.

Das bunte Bild der Sklaverei

Sklaverei war keine uniforme Täter-Opfer-Beziehung, sondern trat in verschiedenen Formen auf. Sie konnte der Gewinnung von Menschenopfern dienen und bis in verwandtschaftsähnliche32 Sozialbeziehungen reichen. Sie war ein „gleitender Status“.33 Es wäre somit ein Fehler, das „Bild des Sklaverei-Systems aus dem Süden der USA“ nahtlos auf die afrikanischen Verhältnisse zu übertragen.34

Unterschieden werden kann die afrikanische Sklaverei zunächst nach der Art des Erwerbs.35 Sklaven konnten durch Kauf, Raub, kriegerische Gefangennahme oder infolge der sexuellen Reproduktionsordnung entstehen. In den Hochebenen Westkameruns, dem berühmten Grasland, sollen rund 0,5 Prozent der eigenen Bevölkerung Jahr für Jahr den Weg in die Sklavenkarawanen gefunden haben.36 Das lag an der Reproduktionsordnung. Im 19. Jahrhundert hatte so mancher Häuptling (mfon) des Graslands „zwischen fünfzig und einhundertfünfzig Frauen“, andere „führende Persönlichkeiten“ mehr als zehn.37 Das führte zu einem eklatanten Frauenmangel unter sozial weniger hochgestellten Männern. Junggesellen galten aber sozial weiterhin als „Kinder“. Auch sie wurden deshalb nicht selten als Sklaven verkauft. Der „betrügerische Verkauf von Verwandten“ gehörte in Teilen des Graslands zum „Herzstück der sozialen Reproduktion“ und damit auch der Produktion von Sklaven.38

Kettengefangene vor der Hinrichtung (1886/1911)Deutsche Fotothek/Hans Meyer

Sodann konnte sich in Afrika die Verwendung der Sklaven stark voneinander unterscheiden. Sie wurden in der Landwirtschaft eingesetzt, im Handel, in der Kriegswirtschaft, als Haussklaven oder wurden als Handelswaren verkauft. Und es gab Fälle, in denen sie Verwaltungstätigkeiten wahrnahmen: „Vor allem Eunuchen findet man (…) in derartigen Elitepositionen.“39 Weibliche Sklaven dienten zudem als Konkubinen. Auch konnten Sklaven an Stelle ihrer Herren getötet werden, falls diese sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatten. Und im Königreich Benin wurden Sklaven mitunter gemeinsam mit ihren Herren bei lebendigem Leibe begraben, „gleichsam als Grabbeigaben (…) damit diese auch im Jenseits über Personal verfügen“ konnten.40

Von der Art des Erwerbs und der jeweiligen Verwendung der Sklaven hing wiederum ihre soziale Stellung ab. Für Douala (Kamerun), das in diesem Buch noch eine wichtige Rolle spielen wird, sollen sklavistische Menschenopfer bis hin zu kannibalistischen Akten belegt sein. Aber es gab auch afrikanische Sklavereigesellschaften, in denen Konkubinen zu Frauen ihrer Eigentümer und damit zu Familienmitgliedern aufsteigen konnten. Oder solche, in denen sich Sklaven wirtschaftlich betätigen durften, dadurch beachtlichen Wohlstand anhäuften und teils selbst Sklaven hielten. Das Bild der Geschichte der innerafrikanischen Sklaverei ist so unübersehbar bunt wie das der Weltgeschichte insgesamt.41

Der Selbstbetrug des postkolonialen Denkens

Die historische Ehre, das Ende der modernen Sklaverei in die Wege geleitet zu haben, kommt Dänemark zu. Dessen König verfügte im Jahre 1792 binnen zehn Jahren die Abschaffung der Sklaverei in seinen Herrschaftsgebieten. „Weltpolitisch gewichtiger“ war das British Empire. Es verbot im Jahre 1807 zunächst den Sklavenhandel und 25 Jahre später auch die Sklaverei.42 Der französische Ethnologe Jean-Pierre Warnier kam daher mit Blick auf Afrika schon vor Jahrzehnten zu einer überaus unangenehmen Schlussfolgerung: „Ohne (…) die Eroberung durch die Europäer ist es theoretisch denkbar, dass diese vielfältigen Systeme (…) bis weit in das 20. Jahrhundert hinein fortbestanden hätten“43. Möglicherweise würden ohne den europäischen Kolonialismus in Afrika auch heute noch ganz offiziell Sklavenhaltergesellschaften existieren. Inoffiziell ist das ohnehin der Fall, wie in diesem Buch gezeigt werden wird.

Dieser Text kann und soll keine Geschichte der innerafrikanischen Sklaverei liefern. Dennoch ist sie unweigerlich der moralische Dreh- und Angelpunkt der Debatte über den Postkolonialismus sowie für den Wunsch vieler westeuropäischer Museen, sich von Teilen ihrer Sammlungsbestände zu trennen. Deshalb ist die Frage nach der historischen Wahrheit essentiell. Das Postkoloniale Narrativ verkürzt die vielschichtigen historischen Ereignisse aber auf eine einfache Täter-Opfer-Dualität. Der „antikoloniale Diskurs“ leugne – davon ist der Althistoriker Egon Flaig überzeugt – mehrere fundamentale Tatsachen: „nämlich dass sämtliche Hochkulturen (…) sklavistische Systeme waren; dass (…) die weltweite Abschaffung der Sklaverei eine westliche Errungenschaft ist; dass sämtliche Eroberer diverse Formen von Kolonialismus praktizierten (…) dass Rassismus ein ubiquitäres Phänomen und in sklavistischen Gesellschaften geradezu unvermeidbar ist, und dass der hautfarbige Rassismus eine arabische Kreation ist.“44

Damit werden die Gründe für die Rückgabe von Kulturgütern moralisch fragwürdig. Rechtliche Gründe, so wird im letzten Kapitel dieses Buches zu lesen sein, gibt es für all das meist ohnehin nicht, sondern allein moralische. Moralisch fundierte Forderungen nach Wiedergutmachung setzen jedoch voraus, dass sich die historischen Rollen von Opfern und Tätern eindeutig auf bestimmte historische Akteure verteilen lassen. Mit der Verstrickung Afrikas in seine eigene Gewalt- und Sklavereigeschichte löst sich diese Eindeutigkeit des moralischen Urteils in Luft auf.

Ein Denken in Schwarz und Weiß

Die Geschichten, die westliche Völkerkundemuseen heutzutage erzählen, laufen nicht selten auf ein schwarz-weißes Denken im doppelten Sinne hinaus. Historische Schuld und Unschuld werden erneut auf Hautfarben verteilt und zugleich die historischen Ereignisse ihrer Komplexität entkleidet. Behandelte der Westen Afrika und andere Weltregionen einst als Teile der „primitiven Menschheit“45, mit deren Hilfe man über eine „Art Fenster in frühere Entwicklungsphasen“46 und in diesem Sinne auf ein „Kinderland“47 blicken konnte, tun ethnologische Museen der Gegenwart heute dasselbe nicht selten mit ihren Besuchern. Kann man aber Museumsbesuchern die komplizierte Geschichte des Kolonialismus tatsächlich nicht zumuten? Muss man sie wirklich wie kleine Kinder behandeln?

© freepik.com

Dieses Buch konzentriert sich auf Episoden aus den ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika. In der moralischen Konfrontation zwischen dem „weißen Westen“ und dem „schwarzen Kontinent“ lauert die angebliche Alleinschuld des Westens am Unbill der Weltgeschichte. Auch in den ethnologischen Museen von heute stehen die Geschichten über Afrika ausdrücklich als „partes pro toto“48 der gesamten Geschichte des westlichen Kolonialismus. Die Sprache des Antirassismus stellt „den Weißen“ ohnehin zuverlässig die BIPoCs (Black, Indigenous and other People of Color) gegenüber.

In diesem Buch soll es anstelle eines schwarz-weißen Denkens aber um die Komplexität und Widersprüchlichkeit menschlicher Geschichte gehen. Untersucht wird, wie die Völkerkundemuseen Hamburg, Berlin, Leipzig und Wien ihr koloniales Erbe aufarbeiten und welche Geschichten sie dabei ihren Besuchern erzählen. Und wie diese Diskurse Künstler auf der weltweit bedeutendsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst – der Biennale von Venedig – in der Gegenwart beeinflussen und umgekehrt.

Auch die Auseinandersetzung mit der Gegenwartskunst in diesem Buch hat ihren guten Grund. Zur Verankerung des postkolonialen Schuldbewusstseins wird im weißen Westen eine kommunikative Kette in Gang gesetzt. Ihren Ausgang nimmt sie im wissenschaftlichen Feld. Sie wird sodann in Museen und der Kunstwelt in leichter verdaubare Häppchen zerlegt und beeinflusst von dort aus publizistische Öffentlichkeit und politische Diskurse.

Es geht in diesem Buch also nicht um eine theoretische Fragestellung. Die Museen für Völkerkunde und die Kunstwelt gestalten durch ihre Interventionen den öffentlichen Raum mit. Sie spielen nicht selten die Begleitmusik zu neuen außenpolitischen Ambitionen. Dabei sind die Grenzen zwischen Wissenschaft, Kunst, Museen und Politik längst bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Die Debatten über Restitution und Postkolonialismus sollen ganz ausdrücklich ein „Nachbeben“ in allen „Sparten der Beziehungen zwischen Afrika und Europa“ zur Folge haben – also auch in „Wirtschaft, Politik, Gesellschaft“49.

Im ersten Kapitel dieses Buches werden Reichstagsdebatten der Jahre 1884 und 1888/89 nachgezeichnet. Von Anfang an war die Bekämpfung der Sklaverei ein wesentliches Motiv deutscher Kolonialpolitik. An ihrer Spitze standen Reichskanzler Fürst von Bismarck und Kaiser Wilhelm II.

Das zweite Kapitel ist der Debatte um die Benin-Bronzen gewidmet, dem wohl bekanntesten Beispiel für die Wiedergutmachung historischen „Unrechts“ durch Rückgabe von Kulturgütern. Die in diesem Buch untersuchten Museen verfügen über die größten Benin-Sammlungen des deutschsprachigen Raums – und auch auf der Biennale von Venedig des Jahres 2024 ist das ehemalige Königreich präsent. An allen Standorten werden aber unliebsame Fakten weggelassen oder moralisch uminterpretiert, um das Narrativ von der Alleinschuld des weißen Mannes zu stabilisieren.

Aber warum verabschieden sich die Völkerkundemuseen von der Suche nach der Wahrheit? Die Antwort findet sich im Postkolonialen Narrativ. Dessen Leitideen werden zunächst anhand von Texten des französischen Philosophen Jean-Paul Sartre und des algerischen Intellektuellen Frantz Fanon skizziert. Daran schließt sich unter Rückgriff auf zwei postkoloniale Theoretiker der Gegenwart der Nachweis an, dass das Postkoloniale Narrativ noch immer aktiv ist.

Im dritten Kapitel wird das Völkerkundemuseum Leipzig erkundet. Es entführt den Leser auf eine Reise nach Tansania und auf den Kilimandscharo. Berichtet wird nicht nur von der Freundschaft zwischen dem deutschen Afrikaforscher und Verleger Hans Meyer und dem Sklavenhändler Häuptling Mareale. Es wird auch erklärt, warum der höchste Berg Afrikas bis zum Jahre 1964 Kaiser-Wilhelm-Spitze hieß. Und warum heute in Leipzig 40.000 Euro gesammelt werden, um einen kleinen Stein als postkoloniale Wiedergutmachung auf den Kilimandscharo zurückzubringen.

Dann geht es ins größte Völkerkundemuseum Deutschlands, das Ethnologische Museum in Berlin. Im Jahr 2022 wurde von ihm eine Puppe an Namibia zurückgegeben, die niemals geraubt worden war. Um diesen Vorgang dennoch moralisch zu legitimieren, musste der Inhalt historischer Dokumente verfälscht werden. Der Leser begegnet in Berlin sodann dem einstigen Sultan von Bamum (Kamerun). Er schenkte im Jahre 1908 Kaiser Wilhelm II. seinen Thron. Ob es wirklich ein Geschenk war, ist bis heute umstritten. Und auch, ob er zurückgegeben werden muss.

Weiter geht es ins Weltmuseum Wien. Die Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand hat den Ersten Weltkrieg ausgelöst. Was er und die Habsburg-Monarchie mit dem Kolonialismus zu tun haben sollen, veranschaulicht besonders deutlich die absurden Wirkungen des Postkolonialen Narrativs: Das Kaiserreich war nie eine echte außereuropäische Kolonialmacht. In Wien möchte man trotzdem unbedingt mitschuldig sein. Das ist der Kern des Morbus Austriacus.

Ihren Abschluss findet unsere Museumsreise in Hamburg. Dort wird die unglaubliche Geschichte des Rudolf Duala Manga Bell erzählt. Der afrikanische „King“ wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland ausgebildet. Er musste sterben, weil er seinen Kolonialherren zu ähnlich geworden war. In Hamburg kann man außerdem erahnen, wie verwickelt die Weltgeschichte mitunter ist: Ohne den Sultan von Bamum und Franz Ferdinand wäre wohl auch Duala Manga nicht getötet worden.

Im Schlusskapitel wird die Biennale von Venedig besucht und gezeigt, dass es für die Rückgabe von Artefakten aus dem kolonialen Kontext oft keinerlei Rechtsgründe gibt. Legitimiert wird sie stattdessen moralisch – und damit politisch wirkmächtig. Allerdings sollten öffentlich finanzierte Museen vor allem der historischen Wahrheit dienen. Andernfalls verwandeln sie sich in „Ideologiemaschinen“50. Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy behauptete einst: „Auch Museen lügen.“51 Das ist inzwischen auf ganz andere Art wahr geworden, als sie es gemeint haben dürfte.

An dieser Stelle möchte der Autor des vorliegenden Buches ausdrücklich betonen, dass er den westlichen Kolonialismus weder zu verharmlosen noch zu rechtfertigen trachtet – kurios genug, dies angesichts der grausamen Kolonialgeschichte überhaupt betonen zu müssen. Der Afrikanist Robin Law aber stellte einmal mit Blick auf Menschenopfer im ehemaligen Königreich Benin fest: „Das Problem der Menschenopfer ist für uns heute (…) keine moralische, sondern eine historische Frage: Wir sollten nicht versuchen, sie zu billigen oder zu verurteilen, sondern sie zu erklären.“52 Wer einen wissenschaftlichen Blick auf die menschliche Geschichte wirft, muss zunächst zu verstehen versuchen, was im historischen Kontext die Gründe der handelnden Akteure für ihre Taten waren. Erst wenn die Faktenlage und die Beweggründe unserer Vorfahren für ihre Handlungen herausgearbeitet wurden, können wir Heutigen daraus zu lernen versuchen.

Sich auf das erklärende Verstehen zu beschränken und zugleich auf das rückblickende Verurteilen zu verzichten, könnte dabei helfen, den eigenen Horizont zu erweitern. Wenn sich unsere postkolonialen Zeitgenossen zu moralischen Aposteln der Weltgeschichte aufschwingen und generös Noten an die eigenen Vorfahren verteilen, droht ihnen ironischerweise, durch ihre Nachfahren das gleiche Schicksal zu widerfahren. Dieses Buch ist ein Plädoyer gegen die moralistische Hybris, mit der die westlichen Gesellschaften auf ihre eigene Geschichte blicken. Und nichts weiter.

Nachweise und Anmerkungen

1 Diangelo, Robin (2020): Wir müssen über Rassismus sprechen. Was es bedeutet, in unserer Gesellschaft weiß zu sein, Hamburg, S. 54.

2 Gilroy, Paul (2001): Joined-up Politics and Postcolonial Melancholia, in: Theory Culture Society 18, London/Thousand Oaks/New Delhi, S. 151–167, S. 162. Alle Übersetzungen in diesem Buch verantwortet der Autor. Unterstützend kamen teils KI-gestützte Sprachmodelle zur Anwendung.

3 Milevska, Suzanna (2016): Introduction, in: dies. (Hrsg.): On Productive Shame, Reconciliation, and Agency, Wien, S. 10–41, S. 25 ff. Im Jahre 2022 gehörte das von Milevska herausgegebene Buch, das sich explizit auf Gilroy stützt, zu den Ausstellungsstücken des Leipziger Völkerkundemuseums.

4 Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini (2013): Einleitung, in: Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini/Römhild, Regina (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts-und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main/New York, S. 32–63, S. 46.

5 French, Howard W. (2023): Afrika und die Entstehung der modernen Welt. Eine Globalgeschichte, Stuttgart, S. 23.

6 Meillassoux, Claude (1975): Introduction, in: ders. (Hrsg.): L'esclavage en Afrique précoloniale: 17 études présentés par Claude Meillassoux, Paris, S. 11–26, S. 11.

7 Habermas, Rebekka (2022): Europa am Pranger. Die koloniale Geschichte Europas ist keine Neuentdeckung, Quelle: https://www.zeit.de/​2022/​44/​kolonialismus-geschichte-sklaverei-europa-imperialismus; zuletzt aufgerufen am 31. Juli 2024.

8 Ebd.

9 Ismard, Paulin (2023): Einführung. Welten der Sklaverei, in: ders.: Welten der Sklaverei, Berlin, S. 13–28, S. 14. Die präzise Klärung der Frage, was Sklaverei eigentlich ist, würde diese Einleitung sprengen. Siehe stattdessen Flaig 2011, S. 13–32, Patterson, Orlando (2023): Sklaverei in Antike, Mittelalter und Neuzeit, in: Ismard 2023, S. 1107–1122, insbes. S. 1110–1112 sowie Meillassoux, Claude (1989): Anthropologie der Sklaverei, Frankfurt am Main/New York, S. 11–42.

10 Probst, Peter (2024): Was ist afrikanische Kunst? Eine kurze Geschichte, Konstanz, S. 183.

11 Wirz hingegen schätzte 1984 das Ausmaß des transatlantischen Sklavenhandels auf etwa zwölf bis 15, des orientalischen auf zwölf Millionen Personen. Damit sei der „orientalische Sklavenhandel kaum kleiner“ gewesen (Wirz, Albert [1984]: Sklaverei und kapitalistisches Weltsystem, Frankfurt am Main, S. 44). In jüngeren Publikationen hat er sich Positionen, wie sie von Austen vertreten werden, jedoch angeglichen (Wirz, Albert (2003): Sklavenhandel, Sklaverei und legitimer Handel, in: Grau, Inge/Mährdel, Christian/Schicho, Walter (Hrsg.): Afrika. Geschichte und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Wien, S. 70–86, S. 71).

12 Flaig, Egon (2011): Weltgeschichte der Sklaverei, München, S. 148.

13 Ebd., S. 179.

14 Ebd., S. 101 und 105. Wirz verweist auf entsprechende Belege bereits für das 2. Jahrhundert (Wirz 1984, S. 42).

15 Flaig 2011, S. 218.

16 Wirz 1984, S. 14.

17 N’Diaye, Tidiane (2010): Der verschleierte Völkermord, Reinbek, S. 198.

18 Ebd., S. 215.

19 Sumner, Charles (1847): White Slavery in the Barbary States, Boston.

20 Wirz 1984, S. 41.

21 Bono, Salvatore (2009): Piraten und Korsaren im Mittelmeer. Seekrieg, Handel und Sklaverei vom 16. bis 19. Jahrhundert, S. 267.

22 Goethe, Johann Wolfgang von (2020): Italienische Reise, Eintragung vom 12. April 1787, Hamburg, S. 358 f.

23 Bono 2009, S. 19.

24 Ebd., S. 248 ff. sowie Meillassoux 1989, S. 22.

25 Ressel, Magnus (2012): Zwischen Sklavenkassen und Türkenpässen. Nordeuropa und die Barbaresken in der frühen Neuzeit, Berlin — Boston.

26 Raffield, Ben (2023): Gefangene, Sklavenhandel und Sklavenmärkte: Sklaverei in der Wikingerzeit, in: Ismard 2023, S. 119–124.

27 Flaig 2011, S. 153 f.

28 Ebd., S. 160 sowie Karsten, Arne (2023): Geschichte Venedigs, München, S. 37.

29 Siehe zur Weltgeschichte der Sklaverei Ismard, Paulin (Hrsg.) (2023): Welten der Sklaverei, Berlin.

30 Wirz 1984, S. 216.

31 Sonderegger, Arno (2024): Kurze Geschichte des Alten Afrika. Von den Anfängen bis 1600, Wiesbaden, S. 8.

32 Diese relativierende Formulierung ist eine Reminiszenz an die These Meillassouxs, dass die Sklaverei geradezu die „Antithese der Verwandtschaft“ sei (siehe Meissalloux 1989, S. 34–37). Meillassoux sieht genau deshalb in Verpfändeten keine Sklaven, weil sie ihren Verwandtschaftsstatus nicht verlieren und jederzeit in die alten sozialen Verhältnisse zurückkehren können (ebd., S. 41). Bei Sklaven ist das anders. Sie sind „Tote auf Bewährung“ (ebd., S. 99–114).

33 Wirz 1984, S. 216.

34 Köfler, Barbara (2002): Oscar Baumann. Die wechselseitige Beziehung zwischen Forschungs- und Kolonialinteressen, in: Sauer, Walter (Hrsg.): k. u. k. kolonial. Habsburgermonarchie und europäische Herrschaft in Afrika, Wien, S. 197–223, S. 209.

35 Für die folgende Kurzdarstellung siehe Warnier, Jean-Pierre (1995): Slave-Traiding without Slave-Raiding in Cameroon, in: Paideuma 41, 1995, S. 251–277.

36 Ebd., S. 255.

37 Ebd., S. 261.

38 Ebd., S. 262. Zumindest dieser Fall extrusiver Sklavenproduktion lässt sich folglich nicht als Akt der „Entsolidarisierung“ infolge von empfundener politischer Ohnmacht erklären (vgl. Flaig 2011, S. 173).

39 Wirz 1984, S. 46.

40 Harding, Leonhard (2010): Das Königreich Benin. Geschichte — Kultur — Wirtschaft, München, S. 179.

41 Diese Vielfalt ist ein direktes Ergebnis der erheblichen Machtasymmetrie innerhalb der Sozialbeziehung namens „Sklaverei“: „Je größer das Machtpotential des Überlegenen ist, desto unterschiedlicher können diese Situationen sein. In der Sklaverei ist es am größten, weshalb der Herr den Sklaven auf vielfältigste Weise gebrauchen kann.“ (Flaig 2011, S. 21)

42 Wirz 1984, S. 185.

43 Warnier 1995, S. 265.

44 Flaig, Egon (2022): Schuldig gesprochene Vergangenheit, in: FAZ vom 11. Oktober 2022, S. 11. Für einen Kurzüberblick über die Globalgeschichte des Rassismus siehe Conrad, Sebastian (2013): Globale Geschichte. Eine Einführung, München, S. 240–247.

45 Weule, Karl (1916): Der Krieg in den Tiefen der Menschheit, Stuttgart, S. 16.

46 Eisenhofer, Stefan (2001): Blutfetisch, Identitätssymbol oder Weltkunst? Einhundert Jahre Bewertung und Instrumentalisierung der „Alterthümer“ aus dem Reich Benin (Nigeria), in: Prussat, Margrit/Till, Wolfgang (Hrsg.): „Neger im Louvre“. Texte zu Kunstethnographie und moderner Kunst, Dresden, S. 351–371, S. 353.

47 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1848): Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Berlin, S. 113.

48 Schölnberger, Pia (2021): Editorial, in: dies. (Hrsg.): Das Museum im kolonialen Kontext. Annäherungen aus Österreich, Wien, S. 11–23, S. 16. Das war selbst in der DDR schon so. Als dort im Jahre 1975 die Bücher über Pippi Langstrumpf erscheinen sollten, wurde in einem Verlagsgutachten empfohlen, die „Reise ins ‚Taka-Tuka-Land‘ und rassistische Begriffe zu streichen“. Das vertrage sich nämlich nicht mit der „Afrika-Politik der DDR“. Die Geschichten der Pippi Langstrumpf spielen aber gar nicht in Afrika (Kokott, Jeanette/Wild, Johanna (Hrsg.): Pippis Papa und eine wirklich wahre Geschichte aus dem Pazifik, Hamburg 2024, S. 155, S. 158).

49 Sarr, Felwine/Savoy, Bénédicte (2019): Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, Berlin, S. 166.

50 Lehmann, Harry (2024): Ideologiemaschinen: Wie Cancel Culture funktioniert, Heidelberg.

51 Savoy, Bénédict (2023): Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage, München, S. 198.

52 Law, Robin (1885): Human Sacrifice in Pre-Colonial West Africa, in: African Affairs, Vol. 84, No. 334 (Jan., 1985), S. 53–87, S. 56.

REICHSTAG „Eine Schande des Menschengeschlechts“

„Unser Stolz“ Kladderadatsch 1884, Wilhelm Scholz

Am 22. November 1888 trat Kaiser Wilhelm II. anlässlich seiner Thronrede vor den Reichstag und betonte, die „Bekämpfung des Negerhandels und der Sklavenjagden“ müsse der Auftakt dafür sein, Afrika für eine „christliche Gesittung zu gewinnen“1. Für heutige Ohren höchst wunderliche Äußerungen. Das Deutsche Kaiserreich war zu diesem Zeitpunkt erst seit ungefähr vier Jahren staatliche Kolonialmacht gewesen. Dieser Zustand sollte bis zum Jahre 1919 andauern, also rund 35 Jahre. Während des Erstens Weltkriegs verlor das Deutsche Kaiserreich zwar erste Teile seiner Kolonien. Aber erst mit dem Versailler Vertrag fielen sie endgültig in die Hände der „alliierten und assoziierten Hauptmächte“2.

Kaiser Wilhelm II. reagierte mit seiner Thronrede auch auf die damalige öffentliche Debatte. Zu dieser trugen neben Kolonialenthusiasten Berichte von Afrikareisenden bei.3 Georg Schweinfurth war für mehrere Jahre zum afrikanischen Kontinent aufgebrochen und veröffentlichte seine Erinnerungen im Jahre 1874 auf über 1.000 Buchseiten. Ein stets wiederkehrendes Thema seiner Schilderungen ist der Kannibalismus auf dem afrikanischen Kontinent.

Er selbst habe das Volk der Monbuttu4 zweimal dabei überrascht,

„Menschenfleisch als Speise herzurichten. Das eine mal stiess ich auf eine Anzahl junger Weiber, wie sie eben damit beschäftigt waren, (…) die ganze untere Hälfte eines Cadavers durch Brühen mit kochendem Wasser von seinen Haaren zu säubern. Durch diese Behandlung war die schwarze Hautfarbe einem fahlen Aschgrau gewichen. Der ekelhafte Anblick erinnerte mich lebhaft an das Abbrühen unserer Mastschweine. Ein anderes mal fand ich in einer Hütte den noch frischen Arm eines Menschen über dem Feuer hängend, um ihn zu dörren und zu räuchern.“5

Der Kannibalismus habe sich Schweinfurth auf dem afrikanischen Kontinent „auf Schritt und Tritt“ gezeigt.6 Er habe schließlich eine „grosse Sammlung der ihren Mahlzeiten entlehnten Schädel“ erstanden und sie dem „anatomischen Museum zu Berlin“ übergeben, um „die Wahrheit“ seiner Angaben zu verbürgen.7 Der Anatomieprofessor Andreas Winkelmann bestätigt gegenüber dem Autor dieses Buches die Existenz zumindest zweier Monbuttu-Schädel in der historischen anatomischen Sammlung der Staatlichen Museen Berlin. Er schätzt aufgrund der spärlichen Aktenlage, diese seien „vermutlich“ in den 1870er Jahren nach Berlin gelangt: „Das würde also passen.“ Es ist indes unwahrscheinlich, dass diese Schädel aus kannibalistischen Akten stammen. Schweinfurth jedenfalls behauptet, die Monbuttu hätten Angehörige anderer Ethnien „verspeist“ – und nicht die eigenen Landsleute.

Erst spät begann das Deutsche Kaiserreich seine offizielle Kolonialpolitik in Afrika. Ihr vorausgegangen waren vor allem im 19. Jahrhundert private Niederlassungen. Hierzu zählten Missionarstätigkeiten der christlichen Kirchen ebenso wie Handelsstationen oder Ansiedelungen. Aber erst im Jahre 1884 wurde die Kolonialpolitik zu einer staatlichen Angelegenheit im eigentlichen Sinne erhoben, genauer gesagt in der Reichstagsdebatte vom 26. Juni 1884.

Damals stand der Handels-, Freundschafts- und Schiffahrtsvertrag mit dem Königreich Korea auf der Tagesordnung. In die Debatte griff auch Reichskanzler Otto von Bismarck ein und erläuterte erstmals seine Kolonialpolitik. Zuvor hatte er dies stets vermieden. Stattdessen lotete er in vertraulichen Gesprächen mit England dessen Kolonialinteressen aus.

Konkret ging es damals um den offiziellen Schutz des Reiches für die sogenannte Lüderitzbucht (Angra Pequena) an der Küste des heutigen Namibia. Der Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz hatte im Jahre 1883 Besitz an afrikanischem Land erworben und sich mit der Bitte um Schutz an die Reichsregierung gewandt. Erst als sich der Reichskanzler sicher war, dass die Briten an der Lüderitzbucht kein Interesse hatten, trat er an die Öffentlichkeit.8

Bismarck betonte damals vor dem Reichstag, dass er eigentlich schon immer „gegen Kolonien“ gewesen sei. Gemeint war damit nicht die vollständige Ablehnung kolonialer Politik. Er wendete sich gegen das „französische System“, die Beherrschung fremder Landstriche durch den Staat mit Hilfe des eigenen Militärs. Bismarck erschien diese Option geopolitisch zu risikoreich und auch zu kostspielig. Er verstand unter deutscher Kolonialpolitik etwas anderes: „Unsere Absicht ist, nicht Provinzen zu gründen, sondern kaufmännische Unternehmungen (…) zu schützen“9. Das Deutsche Reich sollte als staatliche Schutzmacht privat betriebener Initiativen tätig werden.

Seit dem Jahr 1884 entstanden daraufhin in kurzer Abfolge auf dem afrikanischen Kontinent vier „Deutsche Schutzgebiete“: Togo, Kamerun, Deutsch-Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika. Und sie wandelten sich ab Ende der 1880er Jahre dann doch schrittweise in Kolonien unter staatlicher Verwaltung um. Die deutschen Privatleute hatten sich als unfähig erwiesen, der Lage vor Ort Herr zu werden. Das Deutsche Kaiserreich wurde so kurzzeitig das „viertgrößte europäische Kolonialreich“10.

Deutsche Verwaltungsbeamte sowie „Polizei- und Schutztruppen“ sollten die öffentliche Sicherheit in den Kolonien garantieren und zugleich die Interessen des Kaiserreiches wahren. Sie bestanden überwiegend aus Einheimischen oder anderen Söldnern vom afrikanischen Kontinent und „nur einer Handvoll“ Deutscher.11 Im Jahre 1900 verfügte die „Schutztruppe“ Kameruns über etwa eintausend Mann. Neunzig Prozent von ihnen waren afrikanischer Herkunft (Askari).12 Ohne Akte der Kollaboration wären weder der transatlantische Sklavenhandel noch die Abschaffung der Sklaverei oder der deutsche Kolonialismus möglich gewesen.13 Genau das war ja der Kern der Bismarck’schen Idee: Die Kolonien sollten mit dem geringstmöglichen Aufwand betrieben werden, auch personell.

Deutsche Kolonialsoldaten am Eingang zu einer Boma Deutsche Fotothek/Hans Meyer

In der ersten großen Parlamentsdebatte über deutsche Kolonialpolitik des Jahres 1884 spielte der Kampf gegen die Sklaverei noch keine relevante Rolle. In der Regierungspraxis schon. Bereits im November 1884 lud Reichskanzler Otto von Bismarck nach monatelangen Vorberatungen zu einer internationalen Konferenz nach Berlin ein. Die anschließenden Verhandlungen sollten bis zum Februar 1885 dauern und mit der Ratifizierung der Kongoakte durch 14 Signatarstaaten enden. Der Vertrag regelte nicht nur den Freihandel vor Ort. Im Kern ging es um eine völkerrechtliche Regelung zur Aufteilung Afrikas unter den Kolonialmächten.14

Kern des Vertrages war somit die vorsorgliche Einhegung außenpolitischer Konflikte zwischen den vor allem westlichen Kolonialmächten. Bismarck schwang sich diplomatisch geschickt zum Mediator der Verhandlungen auf und wurde so der „Geburtshelfer des modernen, nationalstaatlich organisierten Afrika“15. Den beteiligten europäischen Staaten, den USA sowie dem ebenfalls an den Verhandlungen teilnehmenden Osmanischen Reich galt Afrika als ein Niemandsland (terra nullius).16 Die Afrikaner waren für die Kolonialisten bloß Bewohner von Landstrichen, die angeblich niemandem gehörten.

Die Vertragsparteien verständigten sich aber zugleich darauf, „an der Unterdrückung der Sklaverei und insbesondere des Negerhandels mitzuwirken“. Hierzu seien alle „zu Gebote stehenden Mittel“ zu ergreifen – einschließlich der Bestrafung der Sklavenhändler.17 Egal also, ob bloß vorgeschoben oder tatsächlich ernst gemeint: Die Bekämpfung von Sklavenhandel und Sklaverei auf dem afrikanischen Kontinent war von Beginn an eines der offiziellen Leitmotive des deutschen Kolonialismus.18

Die Thronrede des Kaisers löste parlamentarische Geschäftigkeit aus. Nur fünf Tage später brachte der Abgeordnete Ludwig Windthorst von der Deutschen Zentrumspartei eine Resolution zum Zwecke der Bekämpfung des Negerhandels und der Sklavenjagden19 in den Reichstag ein. Er betonte in seiner Einbringungsrede ausdrücklich, die Worte des Kaisers hätten ihn hierzu veranlasst. Eigentlich war es unschicklich, eine Thronrede zum Gegenstand parlamentarischer Initiativen zu machen. Aber angesichts der noch immer anhaltenden „Sklavereizüchtung“ in Afrika müsse „jedes menschliche Herz gerührt sein“. Der überzeugte Katholik und Anhänger einer humanistisch motivierten Kolonialpolitik schloss seine Rede mit einem flammenden Appell: „Hier müssen wir uns einig sein, damit endlich diesem fluchwürdigen Sklavenhandel und dieser fluchwürdigen Sklavenjagd ein Ende gemacht wird.“20 Der Antrag Windthorsts wurde noch vor dem Weihnachtsfest des Jahres 1888 mit großer Mehrheit angenommen.

Weniger als vier Wochen später ergriff dann im Januar 1889 Reichskanzler Otto von Bismarck die Initiative und legte dem Parlament den Entwurf eines Gesetzes, betreffend Bekämpfung des Sklavenhandels und Schutz der deutschen Interessen in Ostafrika21 vor. Der gewiefte politische Taktiker nutzte den vorweihnachtlichen Beschluss für noch ganz andere als bloß humanitäre Zwecke aus. Um das zu verstehen, muss man eine kleine Geschichte erzählen.

Im April des Jahres 1885 gründete Carl Peters die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft (DOAG).22 Es handelte sich um eine jener privaten Aktivitäten auf dem afrikanischen Kontinent, die es bereits vor der offiziellen deutschen Kolonialpolitik gegeben hatte. Ihr Zweck: Handel und Plantagen in Ostafrika zu betreiben für den Anbau und Vertrieb von Kaffee, Kakao, Tabak, Baumwolle und Gewürzen.