Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? - Mathias Brodkorb - E-Book

Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? E-Book

Mathias Brodkorb

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Beschreibung

Trotz aller Skandale, in die das Bundesamt für Verfassungsschutz im Laufe seiner Geschichte verwickelt war, genießt es in der deutschen Medienöffentlichkeit großes Vertrauen. Wer als »Beobachtungsfall« oder gar als »gesichert rechts- oder linksextrem« eingestuft und damit an den Pranger gestellt wird, ist öffentlich stigmatisiert und wird tendenziell vom demokratischen Diskurs ausgeschlossen. Da der deutsche Inlandsgeheimdienst keine exekutiven Befugnisse hat, ist er für die Gesinnungsprüfung der von ihm Beobachteten zuständig. Mathias Brodkorb analysiert in seinem neuen Buch die rechtlichen Grundlagen, Struktur und Aufgaben des deutschen Inlandsgeheimdienstes und zeigt in sechs Fallstudien, wie der Verfassungsschutz nicht nur oftmals von seiner Aufgabe hermeneutisch überfordert ist, sondern sich zunehmend politisch instrumentalisieren lässt. Mitunter agiert er dabei selbst verfassungswidrig. Demokratische Willensbildung beruht auf freiem Diskurs, der von keiner staatlichen Instanz politisch gelenkt wird. Der Verfassungsschutz aber deutet legitime Grundrechtsausübung häufig als gefährlichen politischen Extremismus. Seit der Corona-Pandemie gilt selbst robust vorgetragene Kritik an der Regierung als Fall für den Inlandsgeheimdienst. Damit wird er zur Gefahr für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft. Eine grundlegende Reform oder gar Auflösung der skandalträchtigen Behörde scheint dringend geboten.

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Mathias Brodkorb

Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?

Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik

Sechs Fallstudien

© 2024 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe · zuklampen.de

Covergestaltung: Stefan Hilden · München · hildendesign.de

Covermotiv: © HildenDesign

unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com

Satz: Germano Wallmann · Gronau · geisterwort.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

cpidirect.cpi-print.de

ISBN Print 978-3-98737-016-8

ISBN E-Book-Pdf 978-3-98737-405-0

ISBN E-Book-Epub 978-3-98737-406-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Inhalt

Geleitwort von Prof. Dr. Volker Boehme-Neßler

Vorwort

Verschwörungstheoretiker im Auftrag des Staates

Der Verfassungsschutz als »Kampfinstrument« des demokratischen Verfassungsstaates

Der Fall Bodo Ramelow: »Frühstücksdirektor der Komsomolzen«

Der Fall Rolf Gössner: »Justizielle Reinwaschung eines Linksextremisten«

Der Fall Schnellroda: »Superspreader von Hass und Gewalt«

Der Fall Martin Wagener: Staatlicher Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit

Der Fall AfD: Und ewig grüßt der Volksbegriff

Der Fall Volkserziehung: »Eine rechtsstaatliche Sauerei«

Vom Hautgout der »wehrhaften Demokratie«

Anmerkungen

Geleitwort

Es sind keine einfachen Zeiten für Rechtsstaat und liberale Demokratie. Aber eigentlich sind die Zeiten für diese zutiefst zivilisatorischen Errungenschaften nie einfach. Sie müssen immer wieder neu verteidigt, sogar erkämpft werden. Der Firnis der Zivilisation ist dünn. Und der Zeitgeist ist oft illiberal, wenig rechtsstaatlich und nicht wirklich demokratisch.

Das Buch von Mathias Brodkorb will den Rechtsstaat und die liberale Demokratie verteidigen. Vordergründig ist sein Thema der Verfassungsschutz. Auf einer grundsätzlicheren, tieferen Ebene verteidigt er den Rechtsstaat und die freiheitliche Demokratie gegen eine autoritäre Behörde, die sich zunehmend mehr Kompetenzen selbst verschafft. Im demokratischen Rechtsstaat ist die Freiheit, sind die Grundrechte der Normalfall. Die Einschränkung der Freiheiten, die das Grundgesetz garantiert, ist die Ausnahme, die sorgfältig begründet werden muss. Es ist das Verdienst von Mathias Brodkorb, diese Selbstverständlichkeit immer wieder zu betonen. Ein Geheimdienst denkt zwangsläufig anders. In seinem Fokus steht die Sicherheit, Grundrechtsverletzungen werden schnell zu unvermeidlichen Kollateralschäden. Das kann in einer liberalen Demokratie nicht sein.

Der Ausgangspunkt des Buches ist eine interessante Feststellung: Der deutsche Verfassungsschutz ist eine international einmalige Einrichtung. In westlichen Demokratien ist es nicht normal, dass eine staatliche Behörde sich mit der Gesinnung der Bürger beschäftigt. Und das hat natürlich gute Gründe, die das Buch mit hoher Präzision und teilweise atemberaubender Schärfe herausarbeitet.

Mathias Brodkorb illustriert seine Grundsatzkritik am Verfassungsschutz mit unterschiedlichen Fallbeispielen. Eines haben die Fälle gemeinsam: Sie sind skandalös, und sie sind in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Sie zeigen, wie der Verfassungsschutz seine Grenzen rechtsstaatswidrig überschreitet und tief in wichtige Grundrechte eingreift – sowohl auf der politischen Linken als auch auf der Rechten. Legitime Grundrechtsausübung deutet der Geheimdienst schnell in gefährlichen politischen Extremismus um, der dann bekämpft wird. Brodkorb geht es nie um politische Parteinahme. Er sympathisiert weder mit den Linken noch mit den Rechten. Seine Perspektive ist die des neutralen, kühlen Beobachters, der sich Sorgen um die Demokratie macht und für den Rechtsstaat des Grundgesetzes kämpft. Dahinter steht eine ganz einfache, aber grundlegende Erkenntnis des Verfassungsdenkens: Die Regeln der Verfassung gelten immer und für jeden, völlig unabhängig vom politischen oder weltanschaulichen Standpunkt.

Was Mathias Brodkorb akribisch an Material zusammenträgt, ist oft unglaublich, nicht selten erschreckend. Wie kann so etwas im Rechtsstaat möglich sein? Wer das Buch gelesen hat, versteht, wie der Autor zu seinem Fazit kommt. Er hält eine Reform des Verfassungsschutzes für sinnlos. Er plädiert ganz klar für eine Abschaffung dieses Geheimdienstes. Damit ist er nicht der Einzige und nicht der Erste. Aber kaum ein kritischer Denker hat diese Forderung so klar hergeleitet und logisch begründet.

Dieses Plädoyer ist völlig unzeitgemäß. Das weiß Mathias Brodkorb auch. In Deutschland stehen die Zeichen auf Sicherheit, nicht auf Freiheit. Und der Verfassungsschutz verspricht scheinbare Sicherheit. Dass dabei reale Freiheit auf der Strecke bleibt, interessiert kaum. Wenn die Geschichte eines lehrt, dann das: Freiheit stirbt immer zentimeterweise. Sie muss immer, immer, immer wieder verteidigt werden, im Kleinen und im Großen, auch und gerade, wenn es dem Zeitgeist widerspricht. Deshalb ist das Buch von Mathias Brodkorb wichtig und verdienstvoll.

Das Thema ist natürlich sehr stark vom Recht, insbesondere vom Verfassungsrecht geprägt. Eigentlich ist es deshalb ein typisches Thema für Juristen. Mathias Brodkorb ist kein Jurist, er ist studierter Philosoph, ehemaliger Politiker und aktuell Journalist und Zeitkritiker. Typisch deutsch möchte man fragen: Darf er sich überhaupt ernsthaft mit einem so juristischen Thema beschäftigen? Die Antwort ist natürlich klar: Selbstverständlich darf er das. Die Zeiten, als Recht eine Geheimwissenschaft für Spezialisten war, sollten vorbei sein. Dass er kein Jurist ist, fördert möglicherweise sogar die Erkenntnis. Sein Blick von außen ist weniger betriebsblind – und deshalb schärfer.

Prof. Dr. Volker Boehme-Neßler

Vorwort

Vorliegendes Buch beansprucht, eine Analyse der Arbeit des deutschen Inlandsgeheimdienstes aus einseitiger, zugleich aber parteipolitisch neutraler Perspektive zu sein. Einseitig ist sie insofern, als es ihr nicht um eine allumfassende Würdigung der Arbeit des Verfassungsschutzes geht, sondern allein um die Kritik von Fehlentwicklungen. Es wird dabei eine strikt rechtsstaatlich orientierte und keine weltanschaulich eingefärbte Perspektive eingenommen – ein Anspruch, den der Verfassungsschutz zwar an sich selbst stellt, an dem er aber oft genug scheitert. Wer daher als politischer Aktivist in diesem Buch Material sucht, um seine politischen Gegner noch besser bekämpfen zu können, wird und soll enttäuscht werden. Wer hingegen Rechtsstaat und liberale Demokratie verteidigen will, mag hilfreiche Informationen und Argumente in ihm finden.

Der Autor ist verschiedenen Personen zu Dank verpflichtet. Dieser richtet sich zunächst an seine Gesprächspartner, die oder ihre Organisationen allesamt Gegenstand der Beobachtung durch den Verfassungsschutz waren oder sind: Dr. Caroline Sommerfeldt-Lethen, Dr. Erik Lehnert und Götz Kubitschek aus dem Umfeld des »Institut für Staatspolitik« (IfS); Dr. Alice Weidel, Dr. Maximilian Krah, Roman Reusch, Stefan Möller und Stephan Brandner von der AfD. Ebenfalls danke ich Prof. Dr. Martin Wagener, Dr. Rolf Gössner und Ministerpräsident Bodo Ramelow für ihre Gesprächsbereitschaft. Erwartungsgemäß weigerten sich die zuständigen Behörden, fallbezogene Fragen zu beantworten.

Zu Dank verpflichtet bin ich deshalb einigen ehemaligen wie aktiven Mitarbeitern deutscher Verfassungsschutzbehörden aus dem ganzen Bundesgebiet. Die Kontakte zu ihnen kamen unter teils filmreifen konspirativen Bedingungen zustande. Sie haben das Manuskript vor Drucklegung kritisch mit mir diskutiert. Verwundern kann dabei nicht, dass meine Gesprächspartner nicht das Ergebnis teilen, der Verfassungsschutz müsse zum Wohle von Rechtsstaat und Demokratie am besten abgeschafft werden. Sie alle waren sich aber in der Einschätzung einig, dass die Erfindung des Beobachtungsobjektes »Delegitimierung« unter der Führung des VS-Präsidenten Thomas Haldenwang einen verfassungsrechtlichen Skandal darstelle. Niemand brachte das besser zum Ausdruck als einer meiner Gesprächspartner mit VS-Hintergrund, der seinen Unmut darüber bereits zu Beginn der ersten Kontaktaufnahme kaum bändigen konnte: »Die Leibwächter drohen zu Geiselnehmern zu werden.« Besser kann man das Thema des vorliegenden Buches kaum auf den Punkt bringen.

Sich wie der Autor als Nicht-Jurist in verfassungsrechtliche Gefilde zu wagen, ist ein riskantes Unterfangen. Den Staatsrechtlern Prof. Dietrich Murswiek (Freiburg), Prof. Gerd Morgenthaler (Siegen), Prof. Claus-Dieter Classen (Greifswald) und Prof. Volker Boehme-Neßler (Oldenburg) bin ich daher für die Prüfung des Manuskriptes in verfassungsrechtlicher Hinsicht sowie für manche Präzisierung zu Dank verpflichtet. Ebenso gilt mein Dank Prof. Christoph Möllers (Berlin) für seine geduldige und freundliche Bereitschaft, einige seiner Thesen mit mir zu diskutieren. Von der Möglichkeit, das auch ihn betreffende Kapitel vor Drucklegung kritisch zu kommentieren, hat er keinen Gebrauch gemacht. Auch Herrn Staatssekretär a. D. Dr. Jost Mediger danke ich für zahlreiche, der Präzision des Textes dienliche Hinweise.

Für eine kritische Durchsicht des Manuskripts aus politikwissenschaftlicher Perspektive gilt mein Dank Prof. Uwe Backes (TU Dresden). Bei allem gegenseitigen Verständnis für den jeweiligen Standpunkt des Anderen kann er mit dem Ergebnis dieses Buches nicht zufrieden sein. Sodann danke ich den Gräzisten Prof. Dr. Wolfgang Bernard und Dr. Steffen Kammler (Rostock), der Pädagogin Prof. Dr. Katja Koch (Rostock), dem Althistoriker Prof. Dr. Egon Flaig (Berlin) sowie den Neuzeit-Historikern Prof. Dr. Ronald Asch (Freiburg) und Prof. Dr. Peter Hoeres (Würzburg) für zahlreiche sachhaltige Hinweise zum Text. Ebenso danke ich Dr. Hans-Georg Maaßen als ehemaligem Chef des deutschen Inlandsgeheimdienstes für die Bereitschaft zur Erörterung manch verfassungsschutzrechtlicher Frage.

Für ihre Bereitschaft, den Text als allgemein interessierte Probeleser kritisch zu prüfen, gilt mein besonderer Dank Sabine Runze. Ebenso danke ich Stefan Bruhn und Christiane Frühling für wertvolle Anregungen. Der größte Dank geht an meine stets kritischste Leserin, meine Frau Conny Proske. Bei ihr stehe ich freilich noch aus ganz anderen Gründen in tiefer Schuld.

Mein letzter Dank geht an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des wundervollen Gutshauses Stellshagen im Klützer Winkel. Ihrer Fürsorge und Gastfreundschaft hat die Entstehung des Textes manches zu verdanken.

Für eine Kontaktaufnahme mit dem Autor, auch in vertraulicher Form, stehen folgende Möglichkeiten zur Verfügung:

Mail: [email protected]

Messenger: EFCJ27BX (Threema-ID)

Verschwörungstheoretiker im Auftrag des Staates

Der deutsche Verfassungsschutz ist eine einmalige Einrichtung. In keiner anderen westlichen Demokratie existiert so wie in der deutschen eine Behörde zur Prüfung der politischen Gesinnung ihrer Bürger, um diese – weit vor jeder rechtswidrigen Handlung – öffentlich an den Pranger stellen zu können. Dass es in der noch jungen Bundesrepublik zur Gründung dieser Behörde kam, erscheint im Rückblick zwar verständlich. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch immer Millionen von nationalsozialistischen Tätern und Mitläufern. Einen präventiven, niedrigschwelligen Verfassungsschutz zu etablieren, mag daher einst aus historischen Gründen verständlich gewesen sein. Aber heute leben wir nicht mehr im Jahr 1949. Die Demokratie ist trotz aller Herausforderungen nicht mehr gefährdet wie einst. Jene Umstände, die seinerzeit zu einem paternalistischen Sonderweg in der westlichen Welt führten, sind heute nicht mehr gegeben.

Das vorliegende Buch will weder die teilweise eklatante Ineffektivität des deutschen Inlandsgeheimdienstes noch seine zahlreichen Skandale aufarbeiten. Es geht also nicht um Fälle wie den, dass erst das Spitzel-System des Verfassungsschutzes im Jahr 2003 das NPD-Verbotsverfahren zu Fall brachte. Die Richter konnten seinerzeit nicht mehr beurteilen, ob die vom Verfassungsschutz vorgelegten Beweise am Ende nicht durch diesen selbst produziert worden waren. Auch die Honorarzahlungen an seine V-Leute, durch die der Verfassungsschutz mit Millionenbeträgen den Aufbau von Neonazi-Strukturen mitfinanziert haben dürfte, sollen nicht thematisiert werden. Ebensowenig werde ich mich damit beschäftigen, dass die Spitzel des Verfassungsschutzes selbst dann vor der Polizei und den Staatsanwaltschaften geschützt werden, wenn sie Straftaten begehen. Auch die Frage, warum der Inlandsgeheimdienst 1978 zwei Kriminelle engagierte, um ein Loch in die Außenmauer eines Niedersächsischen Gefängnisses sprengen zu lassen, ist nicht Gegenstand dieses Buches. Schließlich gehe ich auch nicht der Frage nach, warum es über Jahre hinweg hunderten Sicherheitsbeamten nicht gelang, die Mord-Serie des NSU-Komplexes aufzudecken oder gar zu verhindern. Dies alles ist an verschiedenen Stellen bereits hinlänglich aufgearbeitet worden.1

Es geht in diesem Buch allein darum, den Verfassungsschutz auch jenseits aller Skandale als eine für die Demokratie unwürdige Institution zu analysieren. Es bestehen gute Gründe dafür, warum keine andere westliche Demokratie bisher dem deutschen Vorbild gefolgt ist. Das liegt nicht an der Genialität der deutschen Sicherheitsarchitektur. Es liegt an einer grundsätzlichen Fehlkonstruktion, die sich allein durch den Schrecken der Nazi-Diktatur erklären lässt. Der deutsche Inlandsgeheimdienst ist aus der Sicht entwickelter Demokratien jener Geisterfahrer, der sich darüber wundert, warum ihm so viele Fahrzeuge entgegenkommen. Er hat sich von der Lösung eines Problems zu dessen Mitverursacher gemausert. Nicht ohne Grund wurde ihm im Jahre 2016 der »Big-BrotherAward« verliehen – für sein »Lebenswerk«.2

Die Wahrheit ist eine Lüge

Es ist ein verregneter Tag im Herbst des Jahres 1984. Erneut muss Winston Smith ein und dasselbe historische Dokument korrigieren. Immer wieder verlangt die Partei von ihm, die Geschichte umzuschreiben, weil sich die Gegenwart geändert hat. Immer geht es dabei um den Ruhm der Partei und ihres »Großen Bruders«. Die Geschichte soll rückblickend wie ein Strom erscheinen, der sich logisch und notwendig in die Errungenschaften des Englischen Sozialismus ergießt. Und dafür haben Mitarbeiter des Wahrheitsministeriums wie Winston Smith zu sorgen.

Aber die Mission ist heikel. Wahrheiten eignen sich als Herrschaftsinstrumente nur, wenn sie geglaubt werden. Das gilt vor allem für die Mitarbeiter des Wahrheitsministeriums selbst, sie dürfen den Wandel der Wahrheiten keinesfalls verraten. Und das geht am besten, wenn sie selbst an ihn glauben. Deshalb kümmert sich die Gedankenpolizei um den Seelenzustand jener, die es an unbedingtem Gehorsam fehlen lassen. Sie soll der Glaubensbereitschaft nachhelfen, notfalls mit Gewalt. Dabei gilt es nicht erst als Verbrechen, wenn jemand verrät, dass die Wahrheit manipuliert wird, sondern schon, wenn er bloß daran denkt, die offensichtliche Lüge könne vielleicht gar nicht die Wahrheit sein. Es sind die nackten Gedanken, die staatlicherseits unter Kontrolle gebracht werden sollen.

In Ozeanien ist man davon überzeugt, dass man die Sprache regulieren muss, um die Gedanken zu kontrollieren. Also wird eine komplett neue Sprache aus der alten extrahiert, das Neusprech (newspeak): »Neusprech sollte den Gedankenspielraum nicht erweitern, sondern einengen, und dieser Zweck wurde dadurch unterstützt, daß man die Auswahl an Wörtern auf ein Minimum zusammenstrich.«3 Es war das ausdrückliche Ziel, dass ketzerische Gedanken »buchstäblich undenkbar« werden sollten, »insoweit wenigstens, als Denken an Worte gebunden ist«4. In jedem Jahr wurde der Wortschatz deshalb weiter reduziert, um die bloße Möglichkeit von Gedankenverbrechen aus der Welt zu schaffen. Am Ende sollte jedes Parteimitglied die gewünschten Wahrheiten so automatisch ausspucken können »wie ein Maschinengewehr Kugeln«.5

Die Tätigkeit des deutschen Inlandsgeheimdienstes mit Orwells Roman »1984« in Verbindung zu bringen, ist weder neu noch originell. Bereits im Jahre 1976 beschrieb der Psychologe Peter Brückner Parallelen zwischen dem Verfassungsschutz und dem Roman. Aufgabe des Verfassungsschutzes sei es, Gefährder der Demokratie ausfindig zu machen. Das Dilemma: Gerissene Feinde der Demokratie geben sich als solche nicht unbedingt zu erkennen. Im Stillen zu agieren, nicht fassbar zu sein für staatliche Behörden und die Öffentlichkeit, gilt geradezu als notwendige Erfolgsbedingung des Umsturzes. Also kann es nicht nur darum gehen, rechtswidrige Handlungen aufzuspüren und zu bekämpfen. Man muss bereits in deren Vorfeld tätig werden. Die Handlungen sind bloß der Rauch, der auf das Feuer folgt. Es gilt, bereits das Feuer auszutreten. Und das Feuer, das sind die Gedanken. Dadurch aber, so Brückner, entstehe eine »Atmosphäre des universellen Verdachts«6. Im Grunde werde dem Staat so »jeder verdächtig«7.

Der Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen kann schon dadurch entstehen, dass ein unbescholtener Bürger Kontakt zu einem offiziell Verdächtigen unterhält. Wie ein infizierter Staffelstab wird dann der staatliche Verdacht von Bürger zu Bürger weitergereicht. Die sogenannte »Kontaktschuld«8 ist für den Verfassungsschutz bis heute Anhaltspunkt, um seine Untersuchungsfelder auszuweiten. Ziel der Operation ist es, durch Öffentlichkeitsarbeit die Verdächtigen gesellschaftlich zu isolieren. Wenn man die Existenz von Extremisten schon nicht vollständig verhindern kann, sollen diese und ihr Denken zum Schutze der Demokratie zumindest vom Rest der Gesellschaft abgekapselt werden: »Berührungsfurcht soll sich (…) nicht nur an Personen, Einrichtungen und Aktionen heften, sondern auch an Begriffe. Kontaktschuld gibt es (…) auch gegenüber der Sprache.«9 Die Einschränkung des öffentlichen Diskurses ist also das ausdrückliche Ziel der hauptamtlichen Verfassungsschützer, die »Philosophie des Verdachts«10 ihre DNA.

George Orwells Dystopie aus dem Jahre 1948 ist aktueller, als man gemeinhin denken mag. Denn dort, wo nicht erst rechtswidrige Handlungen zum Anhaltspunkt für Verfassungsfeindlichkeit dienen, sondern bereits angeblich festgestellte antidemokratische »Bestrebungen«, können schnell Grenzen überschritten werden. Der demokratische Rechtsstaat steht dann unweigerlich in Gefahr, regelmäßig an sich selbst und seinen Bürgern Unrecht zu verüben.

Immer dann, wenn jemand ohne schlüssige Beweise und gegen die Realität an einer Unterstellung festhält, nennt der Verfassungsschutz dies eine »Verschwörungstheorie«11. Anhänger von Verschwörungstheorien sind für ihn letztlich Menschen mit einem intellektuellen Defekt. Da sich ihre Ambitionen zugleich gegen das demokratische Gemeinwohl richten sollen, tritt ein moralischer hinzu. Beide Bestimmungsmomente haben wissenschaftliche Vorbilder. Eingeführt wurde der Begriff der Verschwörungstheorie im Jahre 1945 durch Karl Popper als »Verweltlichung eines religiösen Aberglaubens«12. Echte Verschwörungen müssten aber außerdem zum »Nachteil der Allgemeinheit«13 betrieben werden. Ihr Motor sei letztlich ein »perfider Plan«14. Neben die epistemische Überforderung des Begriffes tritt so eine normative. Bereits die Absprachen der Hitler-Attentäter um Claus Schenk Graf von Stauffenberg könnten so aber gar nicht mehr als (politische) Verschwörung erfasst werden. Das ist offenkundig unplausibel. Dieser auch im Alltagsverständnis etablierte Begriff von Verschwörungstheorie entpuppt sich als rhetorische Floskel zur Markierung einer moralisch überlegenen Erkenntnisposition und führt zu in der Sache unhaltbaren Konsequenzen.

Eine Verschwörung ist stattdessen das zielgerichtete Handeln eines Personenzusammenschlusses auf der Grundlage eines geheimen Planes: »Eine Verschwörungstheorie ist entsprechend der Versuch, (wichtige) Ereignisse als Folge derartiger geheimer Absprachen und Aktionen zu erklären.«15 Diese strukturell angelegte Definition hat Konsequenzen: Erstens ist der Inlandsgeheimdienst somit selbst dazu verdammt, sich als verschwörungstheoretische Behörde zu betätigen. Ausdrücklich geht es ihm darum, nicht auf »bloße Lippenbekenntnisse«16 zur Demokratie hereinzufallen, sondern hinter die mitunter »vorgespiegelte Fassade«17 der Staatsgefährder zu blicken und deren tatsächliche Absichten zu »entschlüsseln«18. Das ist kein Defekt, sondern der gesetzliche Auftrag. Verfassungsschützer sind Verschwörungstheoretiker im Auftrag des Staates. Und zweitens müssen Verschwörungstheorien nicht notwendig falsch oder irrational sein. Sie können ein solches Ausmaß an methodischer Komplexität erreichen, dass sie zu echten wissenschaftlichen Theorien aufsteigen. Sie haben dort ihre Berechtigung, wo die Vermutung der Existenz einer Verschwörung als wahr bewiesen werden kann.19

Der menschliche Alltag ist in Wahrheit voll von Bündnissen, in denen Personen gemeinschaftlich einen geheimen Plan verfolgen. Verschwörungen sind letztlich ein »typisches soziales Phänomen«20. Darunter fällt begrifflich bereits der Fall, dass sich Vater und Mutter zu einer erzieherischen Maßnahme gegenüber ihrem Kind entschließen, die dahinter stehende Absicht aber nicht offenbaren. Auf das Private oder Öffentliche abzielende Verschwörungen weisen zwar bedeutsame Unterschiede auf. Aber dies führt nicht zur Auflösung ihrer begrifflichen Einheit.

Die Aufgabe des Verfassungsschutzes ist es daher, präziser gesprochen, berechtigte Verschwörungstheorien über tatsächliche Staatsfeinde zu verfertigen.21 Unberechtigte Verschwörungstheorien unterscheiden sich von berechtigten dabei entweder durch die erwiesene Falschheit ihrer Unterstellungen oder die anhaltende Nichtnachweisbarkeit ihrer Richtigkeit. Eine Verschwörungstheorie kann somit paradoxerweise unberechtigt sein, obwohl sie wahr ist. Das ist genau dann der Fall, wenn sie nicht als wahr nachweisbar ist.22 Es ist ein Erkennungsmerkmal unberechtigter Verschwörungstheorien, dass diese an ihren Unterstellungen selbst dann festhalten, wenn sich deren Richtigkeit gerade nicht belegen lässt. Die Verschwörung gilt dann gerade durch Abwesenheit eines Beweises als bewiesen. Wer so argumentiert, befindet sich allerdings »auf halbem Weg zum Wahn«23.

Berechtigte Verschwörungstheorien sind somit nichts anderes als legitime Hypothesenbildungen zur Erklärung der Welt und unverzichtbares Handwerkszeug auch des Inlandsgeheimdienstes. Die Beziehung zu dessen Beobachtungsobjekten entpuppt sich allerdings als »mimetische Rivalität«24. In dem Versuch, den gerissenen Verfassungsfeind durch noch mehr Gerissenheit zu entschlüsseln und zu übertrumpfen, kann es zur Anverwandlung an das eigentlich zu bekämpfende Objekt kommen. Wird dieser Kipppunkt überschritten und das Feld ungerechtfertigter Verschwörungstheorien betreten, sind wahnhafte Schlussfolgerungen unvermeidlich. Man blickt dann auf eine spezifische déformation professionnelle. Das Grundgesetz verpflichtet die Staatsbürger aber nicht zum angemessenen Gebrauch ihrer Vernunft. Es ist nicht verfassungswidrig, irrational zu agieren oder verrückt zu sein. Genau deshalb aber taugen nicht einmal unberechtigte Verschwörungstheorien als Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen.

Eine unzeitgemäße Behörde

Der Inlandsgeheimdienst deutscher Prägung passt aus doppeltem Grund nicht mehr in die Zeit. Die Demokratie ist trotz aller aktuellen Krisen nicht so labil und gefährdet, wie sie es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst war. Auch im Jahr 2023 zählen Experten Deutschland zu den erfolgreichsten demokratischen Systemen der Welt.25 Der Verfassungsschutz aber schwingt sich immer mehr zu einer Sprach- und Gedankenpolizei auf und schreckt dabei auch vor ungerechtfertigten verschwörungstheoretischen Methoden nicht zurück. Dies ist immer dann der Fall, wenn er an seiner Verfolgungsabsicht entgegen der Beweislage festhält. Es gibt nachweislich Fälle, in denen der Verfassungsschutz selbst die Nichtexistenz von Beweisen zu einem Beweis umdeutet und sich in wahnhaften Operationen verfängt.

Dass diese Einschätzung aus Gründen der Anschaulichkeit zwar zugespitzt, aber in der Sache richtig ist, soll in diesem Buch gezeigt werden. Dazu ist es nötig, zunächst die gesetzliche Kernaufgabe des Verfassungsschutzes herzuleiten und vor allem die begrifflichen Instrumente der Behörde zu analysieren. An ihnen entscheidet sich, ob der deutsche Inlandsgeheimdienst seinen gesetzlichen Auftrag korrekt abarbeitet oder verfassungswidrig überdehnt. Diese begrifflichen Analysen bietet das erste Kapitel. Grundsätzlich sind dabei alle Kapitel dieses Buches jeweils für sich verständlich. Wer sich der begrifflichen Analyse entziehen will, kann alle anderen Kapitel auch in der jeweils individuell bevorzugten Reihenfolge lesen. Allerdings verzichtet, wer so vorgeht, letztlich auf ein tieferes Verständnis der Materie.

Nach dem ersten Kapitel wird in sechs Fallstudien auch anhand interner Unterlagen des Verfassungsschutzes gezeigt, mit welchen teils manipulativen Methoden die Behörde arbeitet und dabei Ergebnisse fabriziert, die sich rechtsstaatlich kaum noch rechtfertigen lassen. Grenzüberschreitungen betreffen dabei nicht nur die politische Linke (Bodo Ramelow und Rolf Gössner) oder Rechte (Institut für Staatspolitik, Martin Wagener und die AfD). Inzwischen kann aufgrund der Beliebigkeit der Arbeitsbegriffe buchstäblich jeder Bürger Beobachtungsobjekt des deutschen Inlandsgeheimdienstes werden. Dafür genügt im Zweifel schon eine robust formulierte kritische Meinung zum Regierungshandeln. Die Wahrnehmung des Bürgerrechts auf Meinungsfreiheit und Regierungskritik nennt der Inlandsgeheimdienst dann verklausuliert, aber wortgewaltig die »verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates« (Kapitel 7). Sie ist der vielleicht größte, weil allumfassendste Skandal in der Geschichte des deutschen Inlandsgeheimdienstes. Von den etablierten Medien wird er indes auf erstaunliche Weise ignoriert.

Die Auswahl der in diesem Buch verhandelten Fallbeispiele hat verschiedene Gründe. Zunächst ist auf ein ausgewogenes Bild des politischen Meinungsspektrums von links bis rechts geachtet worden. Sodann wurden Fälle ausgewählt, die über eine besondere politische Relevanz verfügen. Das betrifft insbesondere die AfD, Schnellroda sowie den Fall »Delegitimierung«. Wo möglich, wurden zudem Fälle ausgewertet, in denen eine höchstrichterliche Rechtsprechung existiert und die Fehlleistungen des Verfassungsschutzes allein deshalb offen zutage liegen (Ramelow und Gössner). Und schließlich kann einer kritischen Prüfung nur das unterzogen werden, was überhaupt bekannt ist. Die meisten Aktivitäten des deutschen Inlandsgeheimdienstes finden naturgemäß im Verborgenen statt. Nur durch Zufall oder dann, wenn der Verfassungsschutz selbst öffentlich das Gefecht eröffnet, werden sie bekannt. In diesem Buch kann daher nur die Spitze des Eisbergs ausgeleuchtet werden. Dass in den Archiven des Inlandsgeheimdienstes noch viele groteskere Fälle schlummern, ist mehr als wahrscheinlich.

Im Schlusskapitel schließlich soll es um die Zukunft des Verfassungsschutzes gehen. Während ich selbst lange ein glühender Anhänger der Behörde war, bin ich heute mit Claus Leggewie und Horst Meier davon überzeugt, dass sie es nicht einmal »verdient, reformiert zu werden«26. Der Verfassungsschutz ist kein Teil der Lösung mehr, sondern selbst ein Teil des Problems. Er gehört abgeschafft.

Der Verfassungsschutz als »Kampfinstrument« des demokratischen Verfassungsstaates

Eine kritische Analyse der Arbeit des Verfassungsschutzes kann sich dem Verfassungsrecht und Begriffsanalysen nicht entziehen. Der Schutz der Verfassung ist das Kerngeschäft der Behörde. Ohne zu wissen, was genau der Verfassungsschutz eigentlich verteidigt, kann seine Arbeit nicht verstanden werden. Fehler können sich dann ergeben, wenn die engen Grenzen der Verfassung überschritten werden. Das Dilemma des Verfassungsschutzes besteht dabei darin, dass Verfassungsfeinde ihre Verfassungsfeindlichkeit für gewöhnlich nicht offen bekennen. Keine extremistische Partei wird im Regelfall ohne Not die Abschaffung der Demokratie, die Außerkraftsetzung der Geltung der Menschenwürde oder der Unabhängigkeit der Gerichte fordern. Es sind viel konkretere und scheinbar unverfängliche politische Ziele, die den Inlandsgeheimdienst im Sinne eines Verdachtsmomentes auf den Plan rufen. Es müssen somit über viele Stufen hinweg Interpretationen vorgenommen werden, um die konkreten politischen Forderungen mit abstrakten Verstößen gegen die Verfassung zu verknüpfen. In diesen komplexen logischen Ketten reicht ein einziger kleiner Fehler, um das gesamte Konstrukt zum Einsturz zu bringen. Es bedarf daher einer klaren Begrifflichkeit. Ohne sie gerät das gesamte Interpretationsgefüge zu intellektuellem Brei. Bleiben die Begriffe vage, droht sich der Verfassungsschutz selbst als eine verfassungswidrig arbeitende Behörde zu betätigen. Dann kommt es zu illegitimen Grundrechtseingriffen des Staates gegen unbescholtene Bürger und damit zu einem Schaden am Rechtsstaat. Von der Klärung der Begriffe hängt im Hinblick auf den Verfassungsschutz daher zwar nicht alles, aber doch Entscheidendes ab.

»Wehrhafte Demokratie« und »präventiver Demokratieschutz«

Der nachrichtendienstliche Sicherheitsapparat der Bundesrepublik Deutschland besteht im Wesentlichen aus drei Institutionen. Der Bundesnachrichtendienst (BND) hat die Aufgabe, die Regierung mit wichtigen Informationen über sicherheitsrelevante Geschehnisse im Ausland zu versorgen. Der Militärische Abschirmdienst (MAD) überwacht verfassungsfeindliche Bestrebungen, Spionage- und Sabotageaktivitäten innerhalb der Bundeswehr und gegen sie. Und die Verfassungsschutzämter (VS) des Bundes und der Länder dienen hauptsächlich der Überwachung der eigenen Bevölkerung.27 In Paragraf drei des Bundesverfassungsschutzgesetzes sind deren Aufgaben näher spezifiziert. Zu den vier Hauptaufgaben gesellen sich fünf Teilaufgaben.28

Ich verzichte darauf, Entstehungsgeschichte, gesetzliche Grundlagen, den gesamten Aufgabenkatalog, die Arbeitsmethoden des Verfassungsschutzes, dessen zahlreiche Skandale sowie regionale Eigenarten erschöpfend darzustellen.29 Für das Kernanliegen dieses Buches ist dies nicht nur entbehrlich, es wäre auch unnützer Ballast. Hier geht es nur um ein einziges Thema, nämlich die Hauptaufgabe des Verfassungsschutzes im engeren Sinne. Im diesbezüglichen Gesetz heißt es hierzu, die Aufgabe der Verfassungsschutzämter sei »die Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sach- und personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen« und zwar über »Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (…) gerichtet sind (…).«30

Eine solche oder auch nur ähnliche Aufgabenbeschreibung für einen Inlandsgeheimdienst findet sich in keinem anderen westlichen Industrieland. Zumindest darin sind sich Anhänger wie Kritiker des Verfassungsschutzes einig:31 »Nirgendwo sonst in Europa konzentriert sich die nachrichtendienstliche Berichterstattung so sehr auf extremistische ›Bestrebungen‹, nirgendwo sonst geht die Berichterstattung so weit in die ›Vorbereitung‹ gewaltfreier Aktivitäten, nirgendwo sonst werden die veröffentlichten Berichte so ausführlich diskutiert, und nirgendwo sonst haben sie so große Auswirkungen auf die Praxis des Demokratieschutzes.«32 Während sich die Inlandsgeheimdienste westlicher Demokratien für gewöhnlich darauf konzentrieren, gegen politisch motivierte Straf- und Gewalttaten vorzugehen, weist der deutsche Verfassungsschutz zwei Besonderheiten auf: Erstens darf er nur Informationen sammeln, auswerten und unter besonderen Voraussetzungen veröffentlichen. Er selbst verfügt im Unterschied zum Bundesverfassungsgericht und zu anderen staatlichen Behörden über keine weiteren Eingriffsmöglichkeiten.33 Er darf also tatsächliche oder angebliche Verfassungsfeinde zum Beispiel weder anklagen noch verhaften. Er scheint im Grunde ein machtloses staatliches Instrument zu sein. Und zweitens richtet sich die Tätigkeit des Verfassungsschutzes ausdrücklich nicht gegen rechtswidriges Handeln. Er soll vielmehr seit seiner Gründung Informationen über bloße »Bestrebungen« sammeln und auswerten und damit im Sinnes eines »präventiven Demokratieschutzes«34 weit im Vorfeld strafbarer Handlungen tätig werden. Und das gibt es in dieser Form in der Tat in keiner anderen westlichen Demokratie: Staatsverfolgung ohne Straftat und auf mehr oder weniger begründeten Verdacht hin.

Als Bestrebungen gelten gemäß geltender Rechtslage dabei vor allem »politisch bestimmte, ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluß«35, also eine Organisation. Jedes zielgerichtete Handeln setzt bei dessen Trägern aber eine bestimmte, zumindest rudimentäre Ideologie voraus. Nur diese kann einer Betätigung zweckgerichtete Dauerhaftigkeit verleihen und sie so zu einer tatsächlichen Bestrebung machen. Der Verfassungsschutz ist aufgrund seines präventiven Auftrags dabei dazu gezwungen, aus bloßen Indizien auf »Bestrebungen« von vermeintlichen Verfassungsfeinden und damit auf das zu schließen, was diese in Zukunft vielleicht tun könnten. Es muss also nicht einmal der Status einer objektiven Gefahr erreicht sein, damit er tätig werden kann und muss. Es reicht bereits der »begründete Verdacht einer Gefahr«36 hin. Ob ein Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes aber tatsächlich eine verfassungsfeindliche »Bestrebung« verfolgt oder nicht, weiß dieses mit Gewissheit am Ende nur selbst. Keine noch so raffinierte Behörde ist in der Lage, in menschliche Seelen zu blicken.

Genau dieses Erkenntnisproblem macht die Arbeit des deutschen Inlandsgeheimdienstes so fehleranfällig. Er ist von Gesetzes wegen dazu verpflichtet, bereits aus Meinungsäußerungen, Personenkontakten und gewissen Handlungen auf angebliche oder tatsächliche Umsturzbestrebungen zu schließen. Das macht »den bloßen politischen Verdacht zur allgemeinen Geschäftsgrundlage des Verfassungsschutzes.«37 Die »Bestrebungen«, die er registriert, sind keine objektiven Tatsachen, sondern mehr oder weniger gut begründete behördliche Konstruktionen mit prognostischem Charakter. Schießen die zuständigen Mitarbeiter hierbei über das Ziel hinaus, kann aus einem scheinbar begründeten Verdacht auch schnell eine haltlose Unterstellung werden.

Diese international einmalige Konstruktion hat historische Gründe. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hielten es nach der Nazi-Diktatur für erforderlich, einen präventiv arbeitenden Inlandsgeheimdienst zu errichten, um die junge Demokratie vor ihren Gegnern effektiv schützen zu können. Zugrunde lag dem die Überlegung, dass sich »jener nicht auf die Grundrechte berufen« dürfe, »der von ihnen Gebrauch machen will zum Kampf gegen die Demokratie und die freiheitliche Grundordnung.« Der SPD-Abgeordnete Carlo Schmid nannte dies im Jahre 1948 die »immanente Schranke«38 der Grundrechte. Die Verfassung sollte sich im Sinne einer »wehrhaften Demokratie« stets gegen ihre Feinde zur Wehr setzen können: »Wehrhafte Demokratie bedeutet nichts anderes als die Inanspruchnahme des Rechts auf Selbstverteidigung durch den demokratischen Staat.«39 Als Folge dieser Überzeugung wurde in Artikel 87 des Grundgesetzes die Rechtsgrundlage für die Errichtung eines Inlandsgeheimdienstes geschaffen. Ihn tatsächlich zu gründen, war dabei eine bloße Möglichkeit und ausdrücklich keine Rechtspflicht. Aber die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten sich dabei zugleich strikt von der Nazi-Vergangenheit Deutschlands abgrenzen und keine zweite Geheime Staatspolizei (Gestapo) mit weitreichenden exekutiven Befugnissen schaffen. Dies ging auch zurück auf entsprechende Anforderungen der Alliierten. Im »Schreiben der Militärgouverneure zum Grundgesetz« vom 14. April 1949 heißt es ausdrücklich, die Einrichtung einer Stelle zur Sammlung von Informationen über umstürzlerische Tätigkeiten »soll keine Polizeibefugnis haben«.40 Auch durch dieses »Trennungsgebot« entstand ein scheinbar stabiler Kompromiss zwischen Sicherheit und Freiheit. Die gesetzliche Bestimmung, bereits »Bestrebungen« und nicht erst rechtswidrige Handlungen von Bürgern in den Blick zu nehmen, war der Versuch, einen entscheidenden Fehler der Weimarer Republik nicht zu wiederholen: das viel zu zögerliche Einschreiten gegen die Feinde der Demokratie. Dem Inlandsgeheimdienst zugleich weitreichende exekutive Funktionen zu versagen, wurde ausgleichend als Schutz vor der Errichtung eines Polizeistaates verstanden: »Weil die Polizei vergleichsweise enge Ermittlungsspielräume hat, darf sie sehr weitgehende Mittel einsetzen. Weil hingegen die deutschen Nachrichtendienste sehr weitgehende Ermittlungsspielräume haben, sind ihnen ›polizeiliche Befugnisse‹ gerade versagt.«41

»Politischer Pranger des Informationszeitalters«

Rudolf van Hüllen und Thomas Grumke, zwei ehemalige Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, beklagen vor diesem Hintergrund den Wust an bürokratischen Vorschriften. Sowohl das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und damit den Datenschutz als auch das Trennungsgebot halten sie für wesentliche Hemmnisse in dessen Arbeit. Verteidigend stellen sie fest: »Der Extremismus soll weder ›ausgerottet‹, noch verboten werden (…). Er soll in erster Linie transparent gemacht werden und es sollen belastbare Daten über seine Gefährdungspotenziale erhoben werden – notfalls auch gegen den Willen der Extremisten. Diese Hauptaufgabe der Verfassungsschutzbehörden ist weit weniger ›repressiv‹, als den Behörden von ihren Gegnern üblicherweise unterstellt wird.«42 Was hier so selbstbewusst daherkommt, ist ein Teil des Problems. Während die rechtlichen Grundlagen und die tatsächliche Arbeit der Verfassungsschutzbehörden ganz ausdrücklich in der bloßen Sphäre des mehr oder weniger gut begründeten Verdachts verharren, steht für Grumke und van Hüllen immer schon fest, dass sich der Inlandsgeheimdienst bloß um tatsächliche Extremisten kümmert. Eine folgenschwere Fehleinschätzung.

Zusätzlich spielen sie den repressiven Charakter des Verfassungsschutzes herunter.43 Unter einer »repressiven« Funktion verstehen sie ausdrücklich bloß Maßnahmen wie Verbote von Organisationen oder die Strafverfolgung. Tatsächlich kann der Verfassungsschutz niemanden verhaften, einsperren, anklagen oder mit Ordnungsmaßnahmen überziehen. Aber er hat eine mächtige Waffe. Er unterrichtet nicht nur die Regierung und staatliche Behörden über seine Erkenntnisse, sondern gemäß Paragraf 16 Bundesverfassungsschutzgesetz »mindestens einmal jährlich in einem zusammenfassenden Bericht«44 auch die Öffentlichkeit. Das ist kein bloßes Recht des Inlandsgeheimdienstes, sondern dessen Pflicht. Und genau hier beginnt das Problem. Es berührt den Kern der repräsentativen Demokratie.

In der deutschen Verfassungsordnung ist die Quelle legitimer politischer Herrschaft nicht der Staat, sondern das Volk. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes gingen wie selbstverständlich davon aus, dass die Staatsbürger über vorstaatliche Rechte verfügen, die sie bloß treuhänderisch in die Hände des Staates legen.45 Die Grundrechte sind im Kern deshalb auch keine Handlungsverpflichtungen der Bürger, sondern umgekehrt deren Abwehrrechte gegen den Staat. Es bedarf »in der freiheitlichen Demokratie (…) der hoheitliche Eingriff in ein Grundrecht der Rechtfertigung; nicht ist umgekehrt die Ausübung von Grundrechten rechtfertigungsbedürftig«46. Sie sollen als unmittelbar geltendes Recht verhindern, dass der Treuhänder seine Macht missbraucht. Die auf der Volkssouveränität aufbauende Herrschaftsordnung ist in Deutschland dabei als repräsentative Demokratie ausgestaltet. Die meisten Wahlbürger sind darauf beschränkt, in regelmäßigen Abständen darüber zu befinden, wer sie im Parlament vertreten soll. Mit diesem Mechanismus treten souveränes Volk und Herrschende symbolisch und faktisch auseinander und drohen sich voneinander zu entfremden. Aus Gründen der dauerhaften Legitimität und damit letztlich der Stabilität des politischen Systems müssen deshalb Kommunikationsräume zwischen Volk und Herrschenden existieren, deren Gesamtheit wir »Öffentlichkeit« nennen. Sie dient einerseits der Kontrolle der Herrschenden durch den eigentlichen Souverän und andererseits der argumentativen Einflussnahme der Herrschenden auf den Volkswillen und umgekehrt. Es handelt sich um ein Wechselstromverfahren, das die beiden auseinanderstrebenden Teile zusammenhalten soll.

Den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates war diese demokratietheoretisch wie -praktisch herausragende Stellung der Öffentlichkeit noch vollauf bewusst. Erneut war es der Abgeordnete Carlo Schmid, der in der sechsten Sitzung des Parlamentarischen Rates vom 20. Oktober 1948 dafür die passenden Worte fand. Parlamentarische Demokratie bedeute nämlich nicht »nur Abstimmung zur Feststellung der Majoritäten, sondern bedeutetDiskussion und Öffentlichkeit (…). Ohne Öffentlichkeit fehlt der besten sachlichen Arbeit die Weihe und die Legitimität demokratischer Geburt. Auch Kabinettspolitik kann zu guten sachlichen Ergebnissen führen, nur ist sie eben keine Demokratie.«47 Ohne funktionierende Öffentlichkeit ist legitime repräsentative Herrschaft unter den Bedingungen der Volkssouveränität denk-unlogisch.48

Diese Erkenntnis scheint sich ausgerechnet im 21. Jahrhundert und damit im Zeitalter allumfassender digitaler Öffentlichkeit verflüchtigt zu haben. Als der französische Politiker und Publizist Alexis de Tocqueville Mitte des 19. Jahrhunderts seine Eindrücke aus einer Amerika-Reise zu Papier brachte, war das noch anders. Er machte eindringlich darauf aufmerksam, dass es keiner gewaltsamen staatlichen Tyrannei bedarf, um Menschen zu Aussätzigen zu machen: »Ketten und Henker sind die groben Werkzeuge, mit denen die Tyrannei vorzeiten arbeitete; heutzutage aber hat die Zivilisation sogar den Despotismus noch vervollkommnet, (…). Der Machthaber sagt hier nicht mehr: ›Du denkst wie ich, oder du stirbst‹; er sagt: ›Du hast die Freiheit, nicht zu denken wie ich; Leben, Vermögen und alles bleibt dir erhalten; aber von dem Tage an bist Du ein Fremder unter uns. Du wirst dein Bürgerrecht behalten, aber es wird dir nicht mehr nützen (…). Du wirst weiter bei den Menschen wohnen, aber deine Rechte auf menschlichen Umgang verlieren. (…) Gehe hin in Frieden, ich lasse dir das Leben, aber es ist schlimmer als der Tod.‹«49 Was Tocqueville seinerzeit als Gefahr beschrieb, deckt sich von der Intention her nicht nur mit Auftrag und Arbeitsweise des deutschen Inlandsgeheimdienstes, sondern hat durch den multiplen Strukturwandel der Öffentlichkeit dramatisch an Bedeutung gewonnen.50 Sie ist jenes Instrument, ohne das soziale Isolation nicht möglich ist. Erst die nachhaltige Beschädigung des öffentlichen Rufes führt zum Verlust des gewohnten menschlichen Umgangs.

Zuerst entstanden im 20. Jahrhundert Massenmedien, die die Eingriffsbreite und -tiefe der Öffentlichkeit historisch auf ein neues Niveau gehoben haben. Sie breitete sich wie ein Krake aus und kroch mit Hilfe von Fernsehen und Radio selbst in die entlegensten Winkel der Republik. Mit der Erfindung des Internets und seiner Weiterentwicklung zu einem sozialen Netzwerk wurde die Öffentlichkeit schließlich so uferlos, dass die Grenzen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten nicht nur fließend wurden, sondern nahezu verschwanden. Heute können auch noch so private Informationen oder Fehlleistungen in Sekundenschnelle zu einer öffentlichen Tatsache werden und im Zweifel zur sozialen Vernichtung führen.

Man muss sich diese Tatsachen vor Augen halten, wenn man das einzig wirksame Instrument des Verfassungsschutzes, die Information der Öffentlichkeit, unter demokratietheoretischen wie -praktischen Aspekten angemessen beurteilen will. Der Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek hat auf die diesbezügliche Macht des Verfassungsschutzes eindringlich aufmerksam gemacht. Gerade weil moderne Demokratien aus historischen wie technischen Gründen Gesellschaften mit allumfassenden Öffentlichkeiten sind, kann die Informationsarbeit des Verfassungsschutzes schärfere Einschnitte in das Leben von Menschen hervorrufen als ordnungs- oder gar strafrechtliche Maßnahmen. Murswiek spricht im Zusammenhang mit dem Informationsauftrag des Verfassungsschutzes daher auch nicht ohne Grund von einem »politischen Pranger des Informationszeitalters« oder einem »Schandpfahl der aufgeklärten demokratischen Gesellschaft«51. Die öffentliche und vom Staat veranlasste Einschätzung, eine Person sei »extremistisch«, führe zur Ausgrenzung dieser Person und ihrer Meinung aus der Öffentlichkeit. Sie könne den Verlust des Arbeitsplatzes zur Folge haben, zur weitreichenden gesellschaftlichen Isolierung führen usw. Murswiek kommt zu dem Ergebnis: »Die amtliche Einstufung einer Person oder Organisation als ›extremistisch‹ und die öffentliche Verkündigung dieser Einstufung sind wegen der einschneidenden Folgen für die Betroffenen die Zufügung eines Übels, das sich mit einer Kriminalstrafe durchaus vergleichen läßt. Sie ist keine solche, belastet die Betroffenen aber unter Umständen viel schwerer, als dies etwa eine Geldstrafe oder eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe tun würde.«52 Angesichts dieser Tatsachen die repressive Funktion des Inlandsgeheimdienstes herunterzuspielen oder gar ganz zu bestreiten, ist nur möglich, wenn man die fundamentale Bedeutung der Öffentlichkeit für das Funktionieren der zeitgenössischen Demokratie sowie deren uferlose Ausbreitung in Zeiten des Internets mindestens unterschätzt.53

Innerstaatliche Feinderklärung in Verrufsabsicht

Im Unterschied zu Verwaltungsakten des Staates weisen die Interventionen des Verfassungsschutzes eine bemerkenswerte Besonderheit auf. Eigentlich gehört es zu den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit, dass von staatlichen Maßnahmen Betroffene zuvor ein Recht auf Anhörung haben. Dies dient unter anderem dem Zweck zu überprüfen, ob die vom Staat angenommenen Sachverhalte zutreffend sind oder nicht, und so zu einer sachgerechten Entscheidung zu gelangen. Anders ist es hingegen beim Verfassungsschutz. Vor Veröffentlichung entsprechender Einschätzungen über Personen oder Organisationen werden diese nicht angehört. Sie haben nicht einmal das Recht, vollumfänglich Einsicht in die sie belastenden Akten zu nehmen.54 Letztlich bleibt allein die Möglichkeit, sich nach Eintreten des Schadens an Gerichte zu wenden und einen meist viele Jahre andauernden Rechtsstreit zu beginnen. Wer dieses Risiko und die damit verbundenen Kosten scheut, ist den Maßnahmen und Einschätzungen des Verfassungsschutzes ausgeliefert.

Die durch die Maßnahmen des Verfassungsschutzes eintretenden Folgen sind keine Kollateralschäden, die sich zugunsten höherer Zwecke nicht vermeiden ließen. Sie sind durch und durch beabsichtigt. Nicht umsonst spricht der Verfassungsschutz allenthalben von »Verfassungsfeinden«. Er ist jene staatliche Behörde, die innerstaatliche Feinderklärungen auszusprechen beansprucht.55 Ausdrücklich schließen sich Thomas Grumke und Rudolf van Hüllen der von Jürgen Seifert eigentlich kritisch gemeinten Einschätzung an, der Verfassungsschutz betreibe letztlich »hoheitliche Verrufserklärung«56. Es geht also wortwörtlich darum, die Betroffenen öffentlich in Verruf zu bringen, sie auszugrenzen und zu isolieren, um ihren politischen und gesellschaftlichen Wirkungsgrad auf diese Weise zu minimieren: »Mit einem Feind diskutiert man nicht; man bekämpft ihn. Dies ist nicht nur die faktische Wirkung der Erwähnung einer Organisation im Verfassungsschutzbericht; es ist ihre beabsichtigte Funktion.«57 Oder wie der Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt sich selbst ausdrückt: »Die Verfassungsschutzbehörde informiert mit (…) (ihrem, M. B.) Bericht nicht einfach nur die Öffentlichkeit, sondern will die darin erwähnten extremistischen Bestrebungen bewusst aus der gleichberechtigten Teilhabe an der politischen Meinungsbildung ausgrenzen.«58 Die Berichte der Verfassungsschutzbehörden richten sich also nicht in erster Linie an die tatsächlichen oder vermeintlichen Extremisten, sondern als Warnung an die »informierte Öffentlichkeit«59.

Das hat eine kuriose Pointe. Für gewöhnlich gilt den Verfassungsschützern jegliche Bezugnahme auf den Juristen Carl Schmitt als Indiz für eine möglicherweise verfassungsfeindliche Position. Er fungiert geradezu als Zeigerpflanze für extremistische Bestrebungen.60 Das hat auch damit zu tun, dass Schmitt für den Begriff des Politischen die »Unterscheidung zwischen Freund und Feind«61