Predigt, Publikum und Seelenheil - Florian Grumbach - E-Book

Predigt, Publikum und Seelenheil E-Book

Florian Grumbach

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Beschreibung

Wie gestaltete sich in der Residenzstadt Berlin im 18. Jahrhundert – der Epoche der Säkularisierung und der Entstehung einer bürgerlichen Kultur – das Handeln lutherischer Geistlicher zwischen Gemeinde und Obrigkeit? Auf breitem Quellenfundament veranschaulicht Florian Grumbach die pastorale Praxis und die Routinen der Amtsarbeit der Geistlichen, etwa ihre Predigten und ihr Publikationsverhalten. Als Akteure im frühneuzeitlichen öffentlichen Leben speisten Pfarrer ihr Standesbewusstsein aus der Rolle als religiöse Experten, Lehrer und dem geistlichen Amt. Die pastorale Praxis dagegen unterlag nicht allein ihrem Zugriff, sondern ebenso den Einflüssen der Gemeindemitglieder und des landesherrlichen Kirchenregiments, die oftmals von der lutherischen Theologie abgekoppelte Erwartungen hegten.

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Über das Buch

Wie gestaltete sich in der Residenzstadt Berlin im 18. Jahrhundert – der Epoche der Säkularisierung und der Entstehung einer bürgerlichen Kultur – das Handeln lutherischer Geistlicher zwischen Gemeinde und Obrigkeit? Auf breitem Quellenfundament veranschaulicht Florian Grumbach die pastorale Praxis und die Routinen der Amtsarbeit der Geistlichen, etwa ihre Predigten und ihr Publikationsverhalten. Als Akteure im frühneuzeitlichen öffentlichen Leben speisten Pfarrer ihr Standesbewusstsein aus der Rolle als religiöse Experten, Lehrer und dem geistlichen Amt. Die pastorale Praxis dagegen unterlag nicht allein ihrem Zugriff, sondern ebenso den Einflüssen der Gemeindemitglieder und des landesherrlichen Kirchenregiments, die oftmals von der lutherischen Theologie abgekoppelte Erwartungen hegten.

Vita

Florian Grumbach ist Historiker.

Inhalt

Vorwort

I.Einleitung

1.Fragestellung

2.Aufbau der Arbeit und verwendete Quellen

3.Forschungsstand

II.Lutherische Kirche im Berlin des 18. Jahrhunderts

1.Die lutherische »Kirchenlandschaft« im Berlin des 18. Jahrhunderts

2.Weltliche, ökonomische und normative Hierarchien in der Kirchengemeinde

3.Die Kirchenadministration in Berlin und der Kurmark

4.Die geistlichen Amtsträger

5.Rekrutierung und Karrieren – Geistliche Elite in Berlin?

6.Zwischenrésumé

III.Die Kirchengemeinde als Repräsentationsraum

1.»wann der Struensee die Pfarr Stelle bekäm…« – Die Wahl von Pfarrern

2.Die Inklusivität und die Exklusivität der Abendmahlsgemeinschaft

3.Die Kirchenzucht in lutherischen Gemeinden. Ausschluss als Sanktion

4.Repräsentation von Herrschaft und Legitimität im sakralen Raum

5.Zwischenrésumé

IV.Konjunkturen der Religionspolitik

1.Die Folgen der Bikonfessionalität und die reformierte Konfessionspolitik

2.»Verbesserungen« des Religionswesens und Verdichtungen im Kirchenregiment

3.Phasen und Schwerpunkte. Pietismus, Aufklärung und Restauration

4.Zwischenrésumé

V.Publizieren als pastorale Praktik. Berliner Pfarrer als Schriftsteller

1.Konturen und Verteilungen des Publikationsverhaltens

2.Gelehrte Nischen

3.Kontexte des theologischen Publizierens

4.Predigten, Erbauungsliteratur und Gelegenheitsschriften

5.Zwischenrésumé

VI.Predigen in eigener Sache. Die Selbstrepräsentation der Berliner Pfarrerschaft

1.Die Rechtfertigung von Amt und Autorität

2.Die Einbettung von Gelegenheitspredigten in Gottesdienste

3.Exemplifizierung. Pfarrer als sittliche Vorbilder

4.Die andere Seite der Medaille. Die Logik von Schmähungen und Invektiven

5.Zwischenrésumé

VII.Die Horizonte pastoraler Praxis und die pastoralen Schlüsselpraktiken

1.Zielsetzungen pastoraler Praxis zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung. Erbauung als Metapher

2.»Sich nicht gemein machen« – Die Dialektik zwischen seelsorgerischer Nähe und ständischer Distanz

3.Konfessionelle Repräsentationen – Beichte und Gesang

4.Die Predigt als zentrales Kommunikationsmedium

5.Die Katechisation als Popularisierung theologischen Wissens

6.Schwache Sanktionen. Observanz- und Interventionspraktiken

7.Zwischenrésumé

VIII.Erosionen, Devianzen und Pluralisierungen des religiösen Lebens

1.Krisenwahrnehmungen

2.Deviante Frömmigkeit und Konventikel

3.Eigensinn. Die Vermeidung von Sanktionen

4.Erosion durch die theologische Aufklärung?

5.Zwischenrésumé

IX. Résumé

Abkürzungen

Quellen und Literatur

1.Quellen

Archivquellen

Brandenburgisches Landeshauptarchiv:

Evangelisches Landeskirchliches Archiv Berlin:

Geheimes Staatsarchiv – Preußischer Kulturbesitz

Landesarchiv Berlin:

Staatsbibliothek zu Berlin:

Gedruckte Quellen

2.Literatur

Monografien

Sammelbände

Einzelne Aufsätze aus Sammelbänden, Zeitschriften und Lexika

Digitale Ressourcen

Florian Grumbach

Predigt, Publikum und Seelenheil

Lutherische Pfarrpraxis im Berlin des 18. Jahrhunderts

Campus Verlag Frankfurt / New York

Vorwort

Bei diesem Buch handelt es sich um meine leicht überarbeitete Dissertation, die ich im Januar 2021 am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht und im Mai desselben Jahres verteidigt habe. Dass die Studie über die Jahre gedieh, habe ich verschiedenen Fügungen und Glücksfällen, vor allem aber zahlreichen Helfer:innen zu verdanken.

Die Beschäftigung mit lutherischen Pfarrern in der Frühen Neuzeit ergab sich für mich nicht biografisch, sondern geht in erster Instanz auf ein Seminar Prof. Dr. Wolfgang Neugebauers zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Brandenburg-Preußens zurück. Der Entschluss, aus den kleinen, religionsgeschichtlichen Studienarbeiten ein größeres Forschungsprojekt zu machen, reifte anschließend im Diskussionsraum seines Kolloquiums. Prof. Dr. Monika Wienfort danke ich zuvorderst und sehr herzlich für ihre geduldige Betreuung der Dissertation und die zahlreichen, hilfreichen Ratschläge, die sie mir über die Jahre gab. Prof. Dr. Matthias Pohlig danke ich ebenso für Rat, Tat und sein pointiertes Zweitgutachten.

Studium und Forschung sind von materiellen Grundlagen abhängig. Das ist besonders für jene Doktorand:innen weit mehr als ein Ärgernis, denen der sprichwörtliche silberne Löffel fehlt. Ich bin daher der Studienstiftung des deutschen Volkes zu besonderem Dank verpflichtet, die mich sowohl im Studium als auch in der Promotionszeit förderte. Die Humboldt Graduate School finanzierte mir eine sechsmonatige Exposéphase. Diese Stipendien haben mir die konzentrierte Arbeit an meiner Dissertation erst ermöglicht und mich in vielfacher Hinsicht privilegiert.

Lebendige Resonanz ist unabdingbar für die wissenschaftliche Arbeit. Ich danke deswegen Prof. Dr. Marian Füssel, Prof. Dr. Frank Göse, Prof. Dr. Matthias Pohlig, Prof. Dr. Alexander Schunka, Prof. Dr. Xenia von Tippelskirch und Prof. Dr. Dorothea Wendebourg für die Gelegenheit, meine Arbeitsergebnisse in ihren Kolloquien vorzustellen. Aber auch den Teilnehmer:innen dieser Runden, den Berliner Mitdoktorand:innen, den Kolleg:innen der Potsdamer Leibniz-Edition und meinen Freund:innen sei ebenfalls hier für die ungezählten Anregungen, Hinweise und Stichworte gedankt, die den zuweilen engen Kreis meiner eigenen Gedankengänge durchbrachen.

Schließlich gilt mein Dank den Herausgeber:innen von Religion und Moderne, Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger, Prof. Dr. Thomas Großbölting, Prof. Dr. Detlef Pollack und Prof. Dr. Ulrich Willems für die Aufnahme in ihre Schriftenreihe. Die großzügige Bereitschaft der Geschwister-Boehringer-Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften, der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und der Wissenschaftspreis des Vereins für die Geschichte Berlins gegr. 1865 halfen mir dabei, die Druckkosten zu schultern.

Heute wirken die Berliner Pfarrer des 18. Jahrhunderts auf mich vertraut und fremd zugleich. Im aufgeklärten Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Königlich Preußischen Landen (Berlin 1781, bei Mylius) hieß es in Lied Nr. 308: »Nichts hilft mein banges Sorgen vom Abend bis am Morgen, nichts meine Ungeduld.« Diese Forderung nach Gelassenheit erscheint trivial, ist aber schwer in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen – vielleicht umso schwerer für die prekär Promovierenden der Gegenwart. Glücklicherweise konnten die Arbeit zwischen den Rebstöcken meiner Eltern und das eine oder andere Glas ihres Weins so manche intellektuelle Verkrampfung lösen. Nichtsdestoweniger mussten andere meine bangen Sorgen und meine Ungeduld ertragen: Meine Frau Luise Hausweiler war in sorgenvollen und zweifelnden, arbeitsreichen und eifrigen Stunden immer mit endloser Geduld und bewundernswertem, munterem Gleichmut an meiner Seite. Ihr gilt meine tiefste Dankbarkeit.

München, Januar 2022

Florian Grumbach

I.Einleitung

Im Morgengrauen des 11. Januars 1710 schlich sich der Kürschnergeselle Erdmann Briesemann in das Zimmer seines Meisters, des Hof-Kürschners Martin Heinrichs, und erschlug den ruhig Schlafenden brutal mit einem Schlegel aus der Werkstatt. Die Wellen, die das Verbrechen nach sich zog, sollten sich bis auf die Kanzeln der Berliner Stadtkirchen ausbreiten und schließlich in einem öffentlichen Zerwürfnis zweier Berliner Pfarrer gipfeln.1 Und auch wenn es nicht die Absicht dieser Arbeit sein kann, die Geschichte des religiösen Lebens und der pastoralen Praxis im Berlin des 18. Jahrhunderts als histoire scandaleuse zu erzählen,2 bietet es sich an, mit den Vorgängen des Jahres 1710 zu beginnen.

Also zurück ins Haus Martin Heinrichs in der Königstraße,3 wo die Dienstmagd Katharina Mecklenburger den übel zugerichteten, leblosen Körper des Hausvaters fand. Sie alarmierte die städtische Obrigkeit: Zunächst ging man von einem Raubmord aus, denn Briesemann hatte Geld und Silber aus dem Haushalt verschwinden lassen.4 Die Magd Mecklenburger enthüllte jedoch Intimes: Der Geselle Briesemann habe ein ehebrecherisches Verhältnis mit der Gattin – nun Witwe – seines Meisters. Sogar belegen konnte sie diese Beschuldigung, denn Briefe der beiden waren im Haus versteckt. Natürlich fiel der Verdacht vor diesem Hintergrund sogleich auf den Gesellen und die Witwe, die darauf den Ehebruch eingestanden, den Mord aber hartnäckig leugneten. Briesemann ließ sich auch unter der Folter nicht zu einem Geständnis zwingen. Wogegen die Witwe Heinrich schließlich Pläne einräumte, ihren Gatten mit Alaun und Bittermandelöl zu vergiften, und letztlich ihren Geliebten zur Tat angestiftet zu haben.5

Die Beziehungstat hatte großes Aufsehen erregt und sich wohl schnell herumgesprochen. Der Prediger Heinrich Kahmann (1676–1736) von der St. Marienkirche, der Heimatgemeinde des Erschlagenen, behandelte die Tat schließlich auf der Kanzel. Dies stellte keine Seltenheit dar, wenn Kapitalverbrechen Aufmerksamkeit erregt hatten.6 In seiner Predigt ersparte er seinen Zuhörerinnen und Zuhörern keine grausigen Details, weder das Resultat der außergewöhnlichen Gewalt, die Briesemann aufwendete (»die Hirn Schaale zerschmettert und in Stücke zersprungen«), noch die letzten Todesregungen des Opfers (»O wie erbärmlich mögen die Beine gezappelt und die Hände gerungen haben«). Der Prediger erzeugte Abscheu und Erschütterung. Danach betonte er seine persönliche emotionale Involvierung: »Bedenke ichs recht, so gehet mir ein Schauer über die Haut […] und ich werde genöthiget [die Predigt] abzubrechen.« Rhetorisch betrachtet stellte Kahmann so eine emotionale Kohärenz zwischen sich und seiner Gemeinde her. Danach widmete er sich den Fragen, die er bei seinen Gemeindemitgliedern vermutete und die er mit Grundsätzlichem verquickte:

»Ob auch der gute Herr Heinrich habe seelig sterben können, da er so plötzlich, so schnell und unvermuthet das Leben eingebüsset und den bittern Tod geschmecket? da er wol so viel zeit und Raum in der Stunde seines schmerzhaften Todes nicht gehabt, daß er einen Seuffzer zu GOTT gethan und seine Seele in die Hände des Himmlichen Vaters hat befehlen können?«

Und schließlich erläuterte er auch die an die Theodizee anschließende Frage, warum einem frommen Mann wie Martin Heinrich ein solches Unglück geschehen konnte.7 Die Hoffnungen auf einen guten und bewussten Tod waren sozusagen exemplarisch am Kürschnermeister enttäuscht worden, denn »ein böser und plötzlicher Tod« sei mangels religiöser Vorbereitungen »niemahls ein seeliger«. Kahmann konnte und wollte die Zweifel nicht ausräumen, stellte jedoch klar: »non potuit male mori« – der Rechtgläubige könne nicht unselig gestorben sein.8

Dennoch endete die Episode nicht an dieser Stelle, nicht für die Schuldigen und auch nicht für die Prediger des Berlinischen Stadtkerns: Weil Briesemann seine Mordtat nicht gestand, wurden er und die Witwe Heinrich nicht, wie eigentlich geurteilt, hingerichtet, sondern unter allgemeinem Aufsehen in Festungshaft nach Peitz überstellt. Der König befahl sogar, in den Kirchen ein Gebet zu verlesen, »um GOtt zu bitten, daß er« den Täter »offenbahre«.9 Das nicht abschließend geklärte Verbrechen stellte ein öffentliches und religiöses Problem dar. Denn blieben Verbrechen ohne angemessene Sühne, so konnte der strafende Zorn Gottes jene Gemeinschaften zur Gänze treffen, die es versäumten, für Gerechtigkeit zu sorgen.10

Briesemann gestand sein Verbrechen erst fünf Jahre später und wurde gemeinsam mit der Witwe Heinrich 1716 hingerichtet. Er hatte jedoch, wie nun bekannt wurde, seinem Beichtvater, Andreas Schmidt (1672–1745) von der St. Nikolai-Kirche, sein Verbrechen vor längerer Zeit gestanden. Schmidt sah sich gezwungen, über den Fall zu berichten, um sich zu rechtfertigen: Er hatte den Kontakt zu Briesemann auch in der Haft aufrechterhalten und sah sich für ihn verantwortlich. Er stellte den Delinquenten als zutiefst menschlichen, von Gewissensskrupeln und Glaubenszweifeln gequälten Menschen dar, der innerlich mit sich gerungen und Reue empfunden habe: »Da merckte ich abermahl, daß eine Arbeit in seiner Seelen vorging«, so Schmidt, nachdem Briesemann zwar ein Geständnis verfasst, dieses aber wieder verbrannt hatte.11 Im Rahmen seiner seelsorgerischen Beziehung gab Schmidt sein Wissen über das Geständnis und die Täterschaft nicht weiter, denn er zog es vor, zunächst den inneren Konflikt Briesemanns zu lösen. Auch die Tat selbst sei unter Skrupeln geschehen. Denn der Mörder habe erst zuschlagen können, als das Opfer kurz erwacht sei und »Jesu!« ausgerufen habe.12 So habe der Täter seinem Opfer zumindest in Bezug auf sein Seelenheil noch die Gelegenheit zu einem letzten Stoßgebet gelassen. Zudem rechtfertigte er das Beichtgeheimnis, auf das er sich selbst konsequent berief.13

An der Causa Briesemann hatte sich ein öffentlicher Streit entzündet: Kahmann, immerhin ein Kollege Schmidts, leugnete, dass das Sigillum Confessionis bei Mord gelte, attackierte Schmidt scharf und deutete sogar seine Verdammung an. Er bezeichnete ihn als den »Prediger und Haußhalter, der stumm gewesen, da er hätte reden, und blind, da er hätte wachen sollen« und bekundete ironisch, er wolle nicht wissen, wie es ebenjenem Prediger »vor dem Richter alles Fleisches« ergehen möge.14 In einer handschriftlichen, frühen Berliner Zeitung wusste man sogar, wie Schmidt den Brief Briesemanns erhalten hatte und dass der Prediger Johann Lysius (1675–1716) in das Geständnis eingeweiht worden sei.15 Obwohl Schmidt unter Druck geriet, wurde sein Beharren auf dem Beichtgeheimnis nicht beanstandet – zumindest nicht von der städtischen und landesherrlichen Obrigkeit. Der öffentliche Streit der beiden Prediger jedoch konnte nicht toleriert werden. Besonders Kahmann hatte sich bereits durch seine Kompromisslosigkeit einen Namen gemacht und war vom Magistrat der Stadt gerügt worden, nachdem er einen verstorbenen Gerber namens Schön wegen seines unchristlichen Lebenswandels in einer Predigt unter die Verdammten gerechnet hatte – zum Kummer und zur Empörung der Witwe und Nachkommen Schöns. Diese sahen sich der geistlichen Verurteilung nicht hilflos ausgesetzt, sondern reichten wohl mit der Unterstützung eines Advokaten Beschwerde beim Magistrat ein.16 Schließlich war der Streit der beiden Prediger um das Beichtgeheimnis nicht nur stadtbekannt geworden, sondern wurde auch in Periodika aufgegriffen, wie in den Unschuldigen Nachrichten von Alten und Neuen Theologischen Sachen, die in Leipzig erschienen.17

Zur Vermeidung von Unruhe und weiteren Verwerfungen mussten sich Schmidt und Kahmann öffentlich vor der Gemeinde entschuldigen. Ihre Streitschriften wurden verboten.18 Schmidt erklärte dabei, die Sache sei »gottlob! Unter uns beiden abgethan«, »ehe wir einmal im Gerichte vorgestellet«, wogegen Kahmann erklärte, wegen des »harten Schrifftwechsels« nach königlichem Willen »öffentlich Abbitte« zu leisten.19 Doch Kahmanns Stellung in Berlin war nun gefährdet. Ursprünglich als außerordentlicher Prediger nur zur Vertretung auf eine niedere Pfarrstelle voziert,20 hatte er wohl eine Grenze überschritten. Bereits eine Woche nach seiner Entschuldigung schrieb er eine Supplik an den König und versuchte seine Versetzung nach Fahrland zu verhindern: Er »verstehe […] die Oeconomie auff dem Lande nicht“ und »werde mit den [S]einigen crepieren«, so Kahmann über sein zukünftiges Schicksal als ackerbauender Landpfarrer.21 Schmidt dagegen behielt seine Stelle, wohl, weil er »die große Liebe bey seiner Gemeinde« habe, wie die Geschriebenen Zeitungen kolportierten.22 Zwar versammelten sich wohl auch für Kahmann im Amt Unterstützer am Schloss und forderten dessen Verbleib, dies trug allerdings keinen Erfolg.23

Es lohnt sich, diese histoire scandaleuse genauer zu betrachten: Gleich drei Normbrüche waren geschehen. Zunächst hatte Briesemann in denkbar grausamer Weise gegen das Tötungsverbot verstoßen. Schließlich hatte Schmidt das Beichtgeheimnis eingehalten, wo er es – zumindest in den Augen Kahmanns – hätte brechen müssen. Und zuletzt hatte der öffentliche Streit der Prediger die Grenzen der Contenance hinter sich gelassen, sodass sich das Kirchenregiment zum Einschreiten genötigt sah. Die Geschehnisse verdeutlichen viel über Muster im lutherischen religiösen Leben und der Pfarrpraxis im Berlin des frühen 18. Jahrhunderts. Besonders klar tritt hervor, dass sich die Pfarrer einer Vielzahl an unterschiedlich gearteten sozialen Handlungserwartungen gegenübersahen.

Diesem Problemfeld, dem pastoralen Handeln im von Gemeinde, Obrigkeit und Pfarrern beeinflussten Spannungsraum des religiösen Lebens, widmet sich die folgende Arbeit. Sie begreift die pastorale Praxis als Ergebnis einer Aushandlung und erzählt die Geschichte der lutherischen Pfarrer Berlins entlang der beschriebenen Beziehung, aus welcher typische Praktiken, Handlungsformen und Diskurse entstanden. Dazu werden gesellschafts-, kultur- und ideengeschichtliche Perspektiven konsequent miteinander verknüpft und ein neues und differenzierteres Bild der frühneuzeitlichen lutherischen Pfarrerschaft gezeichnet, das die Geistlichen nicht monoperspektivisch entweder auf ihre Theologie, ihren Anteil an der bürgerlichen Modernisierung oder die Trägerschaft ihrer spezifischen Konfessionskultur reduziert. Schließlich können an vielen Punkten veraltete Ergebnisse und Sichtweisen der brandenburgisch-preußischen Kirchengeschichte revidiert, ergänzt und präzisiert werden. Als Gegenstand der historischen Forschung sind die pastorale Praxis und Pfarrer immer noch relevant, denn sie stellten ein einflussreiches Rollenmodell in Bezug auf soziale Arbeit und popularisierende Wissensvermittlung in einer vormodernen Öffentlichkeit dar. Gerade im 18. Jahrhundert und den sich abzeichnenden Wandlungsprozessen entstand zudem eine langanhaltende Spannung zwischen einer Abnahme der Bedeutung von Religion in der Gesellschaft, der Traditionalität pastoraler und kirchlicher Praktiken – beispielsweise der Liturgie – und den Versuchen der Geistlichen, sich an diese Entwicklungen anzupassen.

Um Mord und Totschlag, wie im Fall Briesemanns, wird es dabei nur selten gehen. Wurde jedoch ein solcher Fall publik, bezogen sich Geistliche darauf, indem sie die Verbrechen in einem christlich-moralischen Horizont deuteten. Sie warnten vor den Ursachen und eröffneten gegebenenfalls den Rahmen für den religiösen Trost der Angehörigen. Aber vor allem zeigten sich am Punkt des Konflikts Aspekte des religiösen Lebens, die sonst in relativer Verborgenheit blieben. Einerseits zog erst der Konfliktfall selbst die Produktion von Quellen nach sich. Die pastorale Praxis an sich war eine eher verbale Kultur – so wird man urteilen müssen – die vor allem bei Skandalen und Unregelmäßigkeiten schriftliche Quellen erzeugte. Sieht man von Predigten, Erbauungsbüchern und Theologica ab, produzierten Beichtgespräche, Gottesdienste und die allgemeine Seelsorge kaum Protokolle, Akten und Berichte. Es sei denn, ein Konfliktfall führte dazu, dass sich Beteiligte rechtfertigten mussten. Andererseits zeigten gerade die Konfliktfälle und Meinungsverschiedenheiten, wie Pfarrer sich gegenseitig beurteilten und um gemeinsame Normen rangen, am beschriebenen Beispiel um die so wichtigen Schlüsselpraktiken Predigt und Beichte.

Am Beginn – noch vor der Mordtat – stand die Beichtvater-Beziehung zwischen Schmidt und Briesemann. In Schmidts Lebensbeschreibung von Briesemann legte er besonderen Wert darauf, detailreich seine Seelsorgearbeit mit dem Mörder darzulegen und dessen hohen Bildungsgrad, seine gute Erziehung und die tiefe Religiosität seines Beichtkindes zu beschreiben. Durch die einfühlsame und respektvolle Charakterisierung erschien er trotz seines brutalen Verbrechens menschlich. Zudem legte die Detailkenntnis Schmidts dessen sorgfältige, zeitintensive Beschäftigung mit dem Inhaftierten und ein persönliches Vertrauensverhältnis nahe.24 Dies tat Schmidt nicht, um den Mord, die Schuld des Mörders zu relativieren oder seine Anwendung des Beichtgeheimnisses zu rechtfertigten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass er seine Beziehung zu dem Kürschnergesellen idealisierte, um seinen Anteil am schlussendlichen Geständnis und damit seine Fähigkeiten als Seelsorger hervorzuheben. Seine Arbeit mit dem Inhaftierten hatte dessen Seelenheil zum Ziel. Sie begleitete den Gewissenskampf, der schließlich zu Reue und öffentlicher Buße führte. Die Pflicht des Pfarrers und Ziel seiner pastoralen Praxis war nicht zuletzt das Seelenheil des Individuums und ihr Mittel war eine persönliche Beziehung, die auch im lutherischen Berliner Kontext oft als Beziehung zwischen einem Gemeindemitglied und einem »Beichtvater« bezeichnet wurde.

Darüber hinaus musste die Pfarrpraxis auf die Gemeinde als Ganzes ausgerichtet sein.25 Das Kollektiv der Kirchengemeinde war durch die Parochialgrenzen lose umzäunt, durch die Versammlungen im Kirchengebäude erhielt es ein Zentrum. Ordentliche Geistliche übernahmen Führung und Betreuung. Im beschriebenen Fall reagierten die beiden Prediger auf den Mord, der innerhalb der Gemeinden zu Aufmerksamkeit und Verunsicherung führte. In ihren Predigten gaben sie zunächst allgemeine Nachricht von den Geschehnissen, die sie schließlich im Rahmen eines lutherisch-christlichen Deutungsrahmens interpretierten. Auch als Schmidt sich vor der Hinrichtung Briesemanns dafür einsetzte, eine vom Delinquenten selbst verfasste Fürbitte in der Kirche abzulesen und ihn dadurch wieder mit der Gemeinde zu versöhnen,26 vermittelte er zwischen sich, Briesemann und dem Gemeindekollektiv im Sinne einer christlichen Versöhnung. Nicht selten äußerte die Gemeinde explizit oder implizit Anforderungen und Wünsche an die amtierenden Pfarrer, sah sie sich doch als Auftraggeberin der geistlichen Amtsträger. Dies nahm Kahmann vorweg, indem er den katechetischen Teil seiner Predigt damit einleitete, dass er die Frage nach der Seligkeit im Angesicht eines unvorbereiteten Todes ansprach, das »bedencken«, das »ohne Zweifel […] vorkommen möchte«.27

Objekte pastoraler Praxis waren also gleichermaßen Einzelpersonen und Kollektive. Dies zeigte sich auch in den beiden Schlüsselpraktiken, die im Beispiel eine zentrale Rolle spielten: die vieräugige Beichte und die Predigt. Nicht umsonst besteht das Bild von Pfarrern als manipulativen Akteuren, die bestimmte Praktiken nutzten, um als religiöse Expertenfiguren28 Einfluss auf Gemeinde und einzelne Menschen zu nehmen. Michel Foucault sprach in diesem Sinne von der Leitmetapher von Hirte und Herde: Aus der dem Christentum eigenen Vorstellung, dass bestimmte Personen die Kompetenz besäßen, anderen Menschen religiös zu dienen und sie zugleich religiös zu führen, ergab sich für Foucault eine »ganz eigentümliche Form der Macht«.29 Diese Pastoralmacht sei, so fasste der Soziologe Ulrich Bröckling jüngst zusammen, angewiesen auf die Bereitschaft der Herde, geführt zu werden,30 sie sei »nomadisch«, arbeite ohne Zwang, erzeuge ein Kollektiv, sei »sorgend und wohltätig« und schließlich »individualisierend«. Sie sei also erstens nicht an einen Ort der Machtausübung gebunden, zweitens schaffe sie jene Herde, über die der pastorale Hirte gebiete, begründe sich drittens im kollektiven Wohlergehen und richte sich – viertens – immer sowohl an das Kollektiv als Ganzes als auch an die einzelnen Individuen.31 Schließlich gehe aus der Pastoralmacht eine »fundamentale Ungleichheit« zwischen Herde und Hirten hervor, die jedoch nicht zu »gewaltsamer Unterwerfung und Ausbeutung« führe, sondern zur »Sorge«, was eine Verknüpfung von der Autorität des Hirten und dem Wohlergehen seiner Herde nach sich zöge.32

Doch die klare Gegenüberstellung der Foucault’schen Analyse, die eine starre Einteilung in handelnde Subjekte und erleidende Objekte konstruiert, greift hier zu kurz. Daraus ergibt sich eine Reduktion der pastoralen Arbeit auf die zwar fürsorgliche, aber doch manipulative Machtausübung, die letztlich im Kontext einer sozialen Disziplinierung zu sehen wäre. Selbstredend kann die Absicht von Pfarrern nicht geleugnet werden, christliche Normen- und Wertesysteme zu vermitteln und zu gesellschaftlicher Geltung zu bringen.33 Ein Disziplinierungsparadigma, besonders eines, das einem Top-Down-Modell folgt, verkennt jedoch die Einbettung der Akteure. Zur Leitkategorie bei der Deutung pastoraler Praxis taugt es daher nicht: Pfarrer waren in ihrer Arbeit stark in die sozialen und herrschaftlichen Verhältnisse an ihren Wirkstätten eingebettet. Sie standen auf der einen Seite einer Gemeinde gegenüber, die eigene Erwartungshaltungen trug, zuweilen formulierte und nicht selten einforderte, wie Kahmann bei der posthumen Schmähung des Gerbers Schön feststellen musste. Darüber hinaus sah das landesherrliche Kirchenregiment die Geistlichen als Staatsdiener, die seinen Maßgaben zu folgen hatten. Für lutherische Amtsträger in Berlin bedeutete dies, Untergebene eines reformierten Regenten und seiner Beamten zu sein. Es müsste also zunächst geklärt werden, wer wen diszipliniert und auf Grundlage welcher Normen, und ob nicht viel eher ein ständiger, zugegebenermaßen asymmetrischer Prozess der Aushandlung bestand.

Der Geistliche verfocht den Anspruch, seine eigenen Normen und Werte in einem hohen Maße selbstständig standesintern zu auszuhandeln. Das zeigte sich am Beispiel der kleinen kontroverstheologischen Debatte um das Sigillum Confessionis, die sich zwischen Kahmann und Schmidt entfaltete. Denn als Grundlage kam in protestantischer Tradition nur das Sola Scriptura in Frage, das eine umfangreiche akademisch-theologische Auslegungsarbeit erforderte, um pastoraltheologisches Wissen zu generieren. Dieses musste den geistlichen Aspiranten zunächst vermittelt werden, bevor es zum tatsächlichen Einsatz kam. Dabei kam es besonders seit dem Aufbrechen der lutherischen Orthodoxie am Ende des 17. Jahrhunderts vermehrt zu Kontroversen zwischen theologischen Strömungen, die jeweils unterschiedliche Schwerpunkte setzten und vielfach in Streitigkeiten gerieten. Dies alles geschah vor dem Hintergrund, dass die Theologie des 18. Jahrhunderts nicht nur auf den Lehrstühlen, sondern auch aus der Pfarramtsträgerschaft heraus gebildet wurde.34 Gerade an den Berliner Verhältnissen lässt sich allerdings ablesen, dass nur wenige, vor allem höherrangige Amtsträger sich in theologische Diskurse involvierten, während das Gros der lutherischen Pfarrer in dieser Hinsicht kaum in Erscheinung trat.

Damit sieht sich eine Studie über pastorale Praxis mit dem Problem konfrontiert, dass sich die Arbeit von Pfarrern in einem komplexen Gemenge vollzog, das sich kaum in ein einfaches Modell überführen lässt. So verführerisch stark schematisierte Perspektiven der Soziologie – wie Foucaults Perspektive auf die Hirtenmetapher35 – oder ein klassischer, staatszentrierter Blickwinkel auf die Verquickung von Religion und Staatsbildung sein mögen, so wenig werden sie den vielfältigen Verhältnissen in den Kirchengemeinden gerecht, die die Mikroperspektive offen legen. Es erscheint in dieser Hinsicht angemessen, auf funktionalistische Religionsbegriffe zu rekurrieren. Diese verweisen unter anderem darauf, dass Gesellschaften Institutionen oder Subsysteme ausbilden, die der Kulturerhaltung, respektive der Vermittlung von Wissen und Normen dienen. Im Durkheim’schen Sinne kann gar davon gesprochen werden, dass Religion Vergesellschaftung bezweckte.36 Es muss davon ausgegangen werden, dass diese Funktionen der Kirche als institutionalisierter Religion nicht als reiner Disziplinierungsprozess vonstattengingen, der von Geistlichen und Obrigkeit allein intendiert war. Er war nur durch die Unterstützung und Einforderung der Gemeinden möglich, seine Ausgestaltung folgte nicht selten komplexen Aushandlungsprozessen. Diese vollzogen sich im 18. Jahrhundert zunehmend vor dem Hintergrund einer langfristigen Abnahme der typischen frühneuzeitlich Akzeptanz von Widersprüchen und Ambiguitäten, die von der wachsenden Forderung nach normativer Eindeutigkeit abgelöst wurde.37

Daneben stellt sich die Frage der Technik, also die Frage nach dem historischen »Wie« und den Mitteln pastoraler Praxis. Die Antwort ergab sich für die Geistlichen des 18. Jahrhunderts nur ansatzweise aus der Bibel. Auf eine eigenständige Teildisziplin der Theologie konnte vor der Herausbildung der praktischen Theologie noch nicht systematisch zurückgegriffen werden.38 Dies wurde erst möglich, nachdem Friedrich Schleiermacher im protestantischen Bereich den Startpunkt gesetzt hatte.39 Darüber hinaus muss abgeschätzt werden, inwieweit eine einheitliche Konfessionskultur den Rahmen der geistlichen Arbeit vorgab und welche Handlungsspielräume die theologisch geschulten und sozialisierten Pfarrer tatsächlich bei der Vermittlung ihrer Ideen hatten. Dies führt nicht minder zu dem großen Problem der Wirksamkeit und Durchdringung von intellektuellen Ideen auf und in die Breite der akademisch nicht gebildeten Bevölkerung.

Damit verfolgt diese Arbeit einen anderen Zugriff auf Religion als die Kirchengeschichte.40 Diese ist besonders stark von der Theologie-, bzw. Dogmengeschichte beeinflusst und setzt tendenziell ein Primat der theologischen Lehre voraus, ohne nach der sozialen und kulturellen Basis zu fragen. Es ist nicht die Antwort dieser Arbeit, diesen Blickwinkel radikal zu drehen und die Basis als alleiniges Explanans für die Theologie heranzuziehen. Auch darf ein säkularhistorischer Ansatz sich nicht auf eine religiöse Institutionengeschichte beschränken.41 Ein zeitgemäßer Ansatz der Religionsgeschichte42 muss sowohl den Einfluss von theologischen Ideen – akademisch-theologischem und religiösem Wissen – anerkennen, als auch die kulturelle und soziale Bedingtheit von Frömmigkeit, Religiosität und Kirche berücksichtigen.

So gehört es nach wie vor zu den inhaltlichen Problemen der Kirchengeschichte, dass sie das 18. Jahrhundert und die angrenzenden Dezennien als Abfolge theologischer Strömungen auffasst – Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung, etwas später auch Supranaturalismus. Diese Begriffe stehen dann simultan für zeitliche Perioden, theologische Denkstile,43 personelle Netzwerke und nicht zuletzt Strukturen und Institutionen in der Forschung der Gegenwart. Sie umschließen damit ein disparates Bündel von Phänomen wie eine Klammer. Zudem besteht der Eindruck eines Zeitraumes, in dem nach Reformation, Konfessionsbildung und Orthodoxie verschiedene theologische Programme nebeneinander bestanden und damit das Bild der Pluralisierung und die Auffächerung des europäischen Protestantismus entstanden. Diese Pluralisierung wird aber nur selten zum Kennzeichen des 18. Jahrhunderts erklärt, sodass die Vorstellung vermeintlich homogener Konfessionsgruppen den Blick auf vielfältigeren Verhältnisse verstellt.44

Diese Etiketten, die der Systematisierung und Periodisierung der Theologiegeschichte entstammen, taugen daher vielfach nicht als maßgebliche, analytische Werkzeuge für die in den Quellen gezeichneten Verhältnisse. Diese waren vielfältig und komplex, woraus mitunter Trägheit und Resilienz gegen Veränderungen folgten. Natürlich kann nicht »der Pietismus« oder »die theologische Aufklärung« geleugnet werden, aber nichtsdestoweniger sind viele Berliner Pfarrer keineswegs einer theologischen Strömung zuzurechnen. Oder in den Gemeindearchiven fehlt jede Spur von Zäsuren, wenn orthodoxe Pfarrer durch pietistische Kollegen abgelöst wurden. Und das, obwohl wiederholt für Brandenburg-Preußen vertreten wurde, dass erst pietistische und später aufklärerische Pfarrer besonders gefördert wurden.45 Für eine Religionsgeschichte, die nicht in erster Linie an den akademischen Diskursen zwischen den großen Vordenkern der Theologie interessiert ist, eignen sich die Begrifflichkeiten daher nur mit gewissen Einschränkungen.

Darüber hinaus stellt die auch institutionell in der Forschung verfestigte Unterscheidung zwischen den verschiedenen Themenfeldern Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung ein Problem dar. Denn es wäre stärker gefordert, das Verhältnis der Strömungen zueinander zu beschreiben, wenn das 18. Jahrhundert nicht in voneinander unabhängige Phasen zerteilt werden soll. Gerade diese Verhältnisse sind es aber, die noch heute zu Schwierig- und Uneindeutigkeiten führen. Dies ist sowohl am Verhältnis zwischen Orthodoxie46 und Pietismus,47 als auch am Verhältnis zwischen Pietismus und Aufklärung48 spürbar. Betont wird, dass es sich um einander entgegengesetzte theologische Positionen handelte, die natürlicherweise in Konflikt miteinander traten. Im Detail folgte dem allerdings oftmals eine Nivellierung der Unterschiede und der Verweis auf Gemeinsamkeiten.49 Besonders in Bezug auf den Pietismus und die Aufklärung wurde das Problem der Bezüge zwischen den Phänomenen thematisiert, und Albrecht Beutel diagnostizierte eine Vielzahl von Begriffen, mit der gleichzeitig die Feindschaft der theologischen Schulen, aber auch ihre Verbindungen betont werden sollten.50 Speziell für Berlin hatte die immer noch maßgebliche, wenngleich veraltete Kirchengeschichte Walter Wendlands selbst die Frage gestellt, warum »es zu keinem scharfen Kampfe zwischen […] Pietismus und Aufklärung gekommen« sei. Wendland simplifizierte die Antwort auf diese Frage mit der zeitlichen und personellen Transformation des Pietismus in Aufklärung, also damit, dass »die Pietisten selber Aufklärer wurden.«51 Damit wäre selbstredend wenig erklärt und auch noch die neuere Forschung tut sich schwer, ambige Figuren wie den Berliner Propst Johann Gustav Reinbeck (1683–1741) zu kategorisieren. Dieser war zugleich irenisch, konfessionell durchaus dogmatisch und orthodox, aber auch befreundet mit dem pietistischen Propst Johann Porst, dessen Wohnung er lange teilte. Philosophisch war Reinbeck nichtsdestoweniger Wolffianer und Apologet des exilierten Professors.52

Auch der immerhin selten anzutreffende Begriff der »Übergangstheologie« löst dieses heuristische Problem nicht.53 Neben der Gefahr, eine Teleologie zwischen orthodoxer Theologie und Neologie vorauszusetzen, liefern diese Einteilungen keine Potentiale für die Beschreibung der theologiegeschichtlichen Dynamiken und Verflechtungen – von den säkular-religionsgeschichtlichen Entwicklungen ganz abzusehen.54 Am überzeugendsten ist daher kein theologiegeschichtlicher, sondern der medien- und kommunikationshistorische Ansatz Martin Gierls. Dieser macht Pietismus und Frühaufklärung als konflikthafte Auseinandersetzungen handhabbar, die sich unter Gelehrten in einer von der »religiösen« zur »qualitativen« sich wandelnden Öffentlichkeit vollzogen. Schließlich habe besonders der Pietismus den »orthodoxen Elenchus«, den Mechanismus des »Wahrheitsschutzes« unterlaufen.55 Dies ist vielleicht als eine Bedingung der Möglichkeit einer Pluralisierung aufzufassen, die im 18. Jahrhundert allmählich zum Tragen kam.

Die vorliegende Arbeit versucht daher nicht, die pastorale Praxis unter dem Primat einer theologiegeschichtlichen Fragestellung zu untersuchen und eine »Geschichte pietistischer« oder »aufgeklärter Seelsorge« zu erarbeiten. So kategorisch angewandt wären dies die falschen Begrifflichkeiten für eine Beziehungsgeschichte zwischen Pfarrern und Gemeinden. Es wird daher versucht, der Einbettung des Religiösen in soziale und politische Kontexte sowie in die Vielfalt der Einflussfaktoren, die auf die Amtsträger wirkten, Rechnung zu tragen. Daher gehört natürlich auch die theologische Prägung des geistlichen Personals, der jedoch Grenzen gesetzt waren. Diese Studie versteht sich daher als Beitrag zu einer säkularen Religionsgeschichte.

1.Fragestellung

Die folgende Schrift befasst sich mit der lutherischen pastoralen Arbeit und ihren amtsmäßigen Akteuren, evangelischen Pfarrern, die sie im Berlin des 18. Jahrhunderts ausübten. Sie beabsichtigt nicht, eine Geschichte der Pastoraltheologie zu erzählen, sondern versteht die pastorale Arbeit als soziale Praxis, denn natürlich kann sich die pastorale Arbeit nur auf Menschen beziehen. Pfarrer sind dabei die verantwortlichen, aber nicht die alleinigen handelnden Akteure. Pastorale Praxis richtete sich also letztlich von einer akademisch ausgebildeten Amtsträgerschaft an die frühneuzeitliche Bevölkerung, hier die lutherische Stadtbevölkerung der Doppelstadt Berlin-Cölln. Die Geistlichen des Untersuchungszeitraumes sahen sich zudem in einer grundsätzlich eigentümlichen sozialen Stellung, die einerseits an den Gelehrtenstand angrenzte, andererseits aber mit der Popularisierung katechetischen und theologischen Wissens zusammenhing. Nichtsdestoweniger war die gelehrte Wissensproduktion nicht Hauptaugenmerk, sondern die Amtstätigkeit als Pfarrer.

Wie das Eingangsbeispiel illustrierte, war pastorale Praxis eingebettet in Rahmenbedingungen, welche die Handlungsspielräume der geistlichen Amtsträger stark eingrenzten. Dementsprechend möchte die vorliegende Arbeit eine Beziehungsgeschichte ernst nehmen: Eine Beziehungsgeschichte, die sich maßgeblich zwischen den geistlichen Funktionsträgern und den lutherischen Berliner Stadtgemeinden zugetragen hat. Sie fragt nach dem Verhältnis und der pastoralen Praxis der Prediger zu den ihnen anvertrauten Gemeinden. Dies bedeutet, die Strukturen in den Blick zu nehmen, in die die Pfarrpraxis eingebettet war; die Praktiken zu untersuchen, die den Kirchenalltag formierten; und die Sozialtechniken, die aus den pastoraltheologischen Zielsetzungen und Selbstbildern des geistlichen Standes entwickelt wurden, näher zu beleuchten.

Der Überlieferungs- und Quellensituation entsprechend lässt es sich nicht vermeiden, diese Beziehungsgeschichte entlang des Archivmaterials zu erzählen, das vornehmlich von den Geistlichen selbst produziert wurde oder der Gattung normativer Quellen zuzuordnen ist. Sie rücken gewissermaßen dadurch in den Fokus des textuellen Brennglases, dass die pastorale Amtstätigkeit den Großteil des einschlägigen Aktenmaterials generierte. Diesem steht nur eine kleine Textproduktion und -Überlieferung durch einfache Gemeindemitglieder entgegen. Zudem zogen die gelehrte Selbstreflexivität und die pastoraltheologischen Diskurse56 des geistlichen Standes die Motivation für die Pfarrer nach sich, über die eigene Tätigkeit zu schreiben und in gedruckter Form zu kommunizieren. Dieses Ungleichgewicht in der Quellenproduktion ist bereits ein Beleg für die öffentliche Rolle, die Pfarrer wie kaum eine andere Gruppe der vormodernen Gesellschaft einnahmen. Hier zeigte sich ihre Neigung zu literarisch-gelehrten Kommunikationsformen und ein relativ freies, vielfältiges Handlungsfeld, das einen Gegensatz zu den eng durch Traditionen und Handlungserwartungen strukturierten Amtsverrichtungen bildete.

Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die konkrete Pfarrpraxis als Aushandlungsprozess zu sehen ist, der von den Geistlichen als gelehrten Akteuren in einem sozialen Rahmen vollzogen wurde. Die in der Reformationszeit kanonisierten, grundlegenden Bestimmungen der Confessio Augustana,57 die nach der Herausbildung des Landeskirchenregiments die normative Grundlage für die pastorale Arbeit legten, waren denkbar kondensiert und auf theologische Kerninhalte beschränkt: Sie sahen das Predigtamt als von Gott ermöglichte Institution zur Förderung des Glaubens, verlangten, dass ordentlich berufene Personen predigten und die Sakramente reichten und dass die Überzeugung zum Glauben durch das Wort, das heißt ohne physische Gewalt, zu erfolgen hatte.58 Dies führte dazu, dass es einen knappen und denkbar groben Kanon von Leitsätzen für die pastorale Praxis gab, der allgemeiner Konsens war und auf den konfessionellen Schriften und – in Brandenburg-Preußen – dem Kleinen Katechismus Luthers beruhte. Hinzu kamen die historisch gewachsenen Traditionen und Konkretisierungen der Kirchenordnungen aus dem 16. Jahrhundert. Über diese recht minimalen Bestimmungen hinaus bestand ein immenser Spielraum für die Aushandlung dessen, was konkret in den Stadtkirchen geboten werden sollte.

Für die Geistlichen bedeutete dies, dass sie sich als religiöse Dienstleister an drei Polen orientieren mussten: Erstens richteten sie ihre pastorale Praxis auf die Erwartungshaltung der Gemeinden aus, die sich selbst als Finanziers und kollektive Auftraggeber sahen – dies verdeutlichte schon die Wahl der Geistlichen durch die Gemeindemitglieder, die im Berlin des 18. Jahrhunderts üblich war. Oftmals verlangte die Gemeinde konsequent nach dem Grundgerüst der religiösen und sakramentalen Dienstleistungen (Taufe, Ehe, Eucharistie), sowie einem verlässlichen religiösen Unterricht (Predigt, Katechismusunterricht). Nicht selten kollidierten aber auch die religiösen und moralischen Handlungserwartungen der Geistlichen mit den Gewohnheiten der Gemeindemitglieder, sodass es zu Konflikten mit den Predigern kam. Im diachronen Vergleich des Anfangs und des Endes des 18. Jahrhunderts zeigt sich zudem eine subtile, aber unleugbare Interessenabnahme an bestimmten Angeboten des religiösen Lebens.

Zweitens übte das landesherrliche Kirchenregiment eine formale und judikative Hoheit über das Kirchenleben aus. Es interpretierte die Richtlinien der Kirchenordnung und der Augsburgischen Konfession, regulierte die Ausbildung und Berufung der Amtsträger und versuchte nicht zuletzt im bikonfessionellen Brandenburg-Preußen eine pro-reformierte Konfessionspolitik umzusetzen. Dabei betrachtete es die lutherischen Amtsträger de facto als weisungsabhängige Staatsdiener – eine Perspektive, die unter den Geistlichen teilweise auf Ablehnung stieß. Tatsächlich führte das Kirchenregiment im 18. Jahrhundert zu einer Vielzahl von formalisierten Regelungen, die der geistlichen Arbeit einen Rahmen gaben, aber noch unter vormodernen Vorzeichen im Lokalen modifiziert oder gar ignoriert werden konnten. Nicht zuletzt zeigt sich die Amtsträgerschaft Berlins sehr heterogen gegenüber der herrschaftlichen Involvierung; während einige Geistliche sich proaktiv an der Verdichtung des Kirchenregiments beteiligten, standen andere in sichtbarer Distanz zu König, Hof und Beamten. Obwohl die brandenburgisch-preußische Landesherrschaft wegen des bikonfessionellen Gegensatzes einen starken Zugriff auf lutherische Pfarrer und Kirche intendierte, blieb das vormoderne Kirchenregiment relativ durchsetzungsschwach. Dies lag auch an der ständischen und mentalen Eigenständigkeit der Geistlichen, die trotz aller lutherischer Obrigkeitsfreundlichkeit eine völlige Identifikation mit den reformierten Landesherren verhinderte.

Drittens definierten die theologische Programmatik und der individuelle Schwerpunkt, denen Geistliche anhingen, ihre Herangehensweise an die pastorale Arbeit. Nach den großen vereinheitlichenden Konfessionalisierungsprozessen der Reformationszeit und der Herausbildung einer lutherischen Orthodoxie stand das 18. Jahrhundert zudem unter dem Zeichen einer sich verbreiternden Strömungslandschaft innerhalb des Protestantismus. Die Ausprägung und Wirkung von Netzwerken dieser Theologien »à la mode« waren in der herrschaftsnahen Residenzstadt groß, denn die Wege zum Hof und dem Konsistorium sowie zu den Palais einflussreicher Gönner waren kurz und das königliche Patronatsrecht über zahlreiche Kirchen ermöglichte eine geistliche Personalpolitik.59 So waren phasenweise pietistische und aufklärerische Netzwerke besonders einflussreich bei der Vermittlung von Kandidaten in landesherrliche Pfarrstellen. Damit gingen auch spezifische Sichtweisen auf Frömmigkeit, Seelsorge, Liturgie und Normen einher.

Der städtische Predigerstand war jedoch zu keiner Zeit einheitlich, sondern vielmehr heterogen geprägt. Auch methodisch ist es eine Herausforderung, einzelne Geistliche in ihren Prägungen durch eine theologische Strömung hinreichend zu klassifizieren. Anzeichen können die besuchten Schulen und Universitäten, die publizierten Schriften oder die Korrespondenz mit bestimmten Persönlichkeiten sein. Doch oft zeichnen diese Aspekte kein klares Bild. Zudem sind die Konsequenzen dieser Zuordnung nicht immer klar. So verhielten sich auch die prononcierten Pietisten unter den Geistlichen Berlins zum Kirchenregiment ambivalent: Eine explizit pietistische Prägung konnte zum Konflikt mit dem Kirchenregiment und den Gemeindemitgliedern führen, wie das Beispiel des Diakons Johann Caspar Schade (1666–1698)60 illustriert. Beim Berliner Propst Johann Porst (1668–1728) zeigte sich dagegen eine verstärkte Zusammenarbeit mit den landesherrlichen Kollegien und Akteuren61 und Christoph Matthäus Seidel (1668–1723) verhielt sich vor seiner Berufung nach Berlin dermaßen kompromisslos, dass er als geistlicher Amtsträger für das Kirchenregiment kaum tragbar war, fiel in Berlin aber dahingehend nicht mehr auf.62 Man hat es hier mit einem Gegensatz zu tun: Auf den Berliner Kanzeln amtierten oftmals theologisch versierte, engagierte und bereits amtserfahrene Pfarrer, die von der kulturellen Gemengelage der Stadt und der Nähe zu Kollegen und den Gremien des Kirchenregiments profitierten. Ihre Wirksamkeit auf das religiöse Alltagsleben fiel jedoch verblüffend gering aus. Dies resultierte nicht nur aus der traditionalistischen Festfügung pastoraler Praktiken, sondern auch aus der Unübersichtlichkeit der Stadtgemeinden, die vom Bevölkerungswachstum herrührte. Hinzu kam der zunehmende Bedeutungsverlust der Kirchengemeinde als Einheit sozialer Ordnung und städtischer Öffentlichkeit.

Kurzum: Die Arbeit argumentiert, dass Pfarrer als Akteure im öffentlichen, religiösen Leben zu verstehen sind. Die Funktionen ihres Amtes und ihre religiöse Lehrautorität begründeten ihre ständische Selbstsicht. Dabei übten sie jedoch nie die alleinige Kontrolle über die pastorale Praxis aus. Diese unterlag den normativ-theologischen Grundlagen, aber auch den starken Einflüssen der Gemeindemitglieder und des landesherrlichen Kirchenregiments. Deren Erwartungshaltungen folgten einer eigenen, selbstständigen Logik und korrelierten nicht immer mit den Deutungen der lutherischen Theologen. In Verbindung mit Säkularisierungs- und Pluralisierungsprozessen, der Entstehung einer urbanen Kultur und Öffentlichkeit verlor die Kirchengemeinde für die Repräsentation der Stadtbevölkerung zunehmend an Bedeutung. Damit ging ein Statusverlust der Geistlichen einher.

2.Aufbau der Arbeit und verwendete Quellen

Die Arbeit befasst sich mit zwei schwerpunktmäßigen Themenbereichen: Zunächst untersucht sie die Strukturen, in denen die pastorale Arbeit der lutherischen Pfarrer eingebettet war. So soll im ersten Kapitel die Stadt Berlin als Gefüge beschrieben werden und wie sich der urbane Charakter des Dienstortes Berlin auswirkte. Dazu gehört die Beschreibung der Stadt als Zentrum der kirchlichen Verwaltung der Kurmark und die Nähe zum Hof, die dazu führte, dass eine relative Elite von geistlichen Amtsträgern zugleich in die kirchliche Eigenverwaltung und das Kirchenregiment eingebunden war. Im zweiten Kapitel soll auf die Rolle der Gemeinde als nachfragender Akteur religiöser Dienste hingewiesen und zugleich die Funktion der Kirche als sakralisierter Repräsentationsraum erläutert werden. Im dritten Kapitel erfolgt ein Blick auf das landesherrliche Kirchenregiment und die Rahmenbedingungen der sich verändernden Religionspolitik. Sein Ziel wird es sein, die unterschiedlichen Schwerpunkte der Religions- und Konfessionspolitik im 18. Jahrhundert zu beschreiben und eine Einschätzung zu liefern, wie sehr sich die Stadtgeistlichen darin involvierten. Dabei wird argumentiert, dass die Geistlichen nicht auf ihre Rolle als Staatsdiener reduziert werden dürfen.

Der zweite Schwerpunkt der Arbeit sind die pastoral-gelehrten Praktiken der Berliner Pfarrer. Zudem werden in diesem Kontext die die Geistlichen als eine soziale Gruppe beschrieben, die um die Vermittlung von Wissen bemüht war. Dies beginnt im vierten Kapitel mit einer Analyse der geistlichen Publikationstätigkeit, in welcher die Themengebiete und Verteilung der veröffentlichten Texte quantitativ ausgewertet werden. Es wird zu zeigen sein, warum und mit welcher Arbeitsteilung die Stadtgeistlichen eine immense Anzahl an Schriften publizierten und sich mit verschiedensten Themengebieten befassten. Anschließend werden die gemischt schriftlich-mündlichen Praktiken der Predigt und der Leichenpredigt untersucht und in geringerem Ausmaß auch andere Texte und Praktiken besehen, die der ständischen (Selbst-)Repräsentation dienten. Im folgenden siebten Kapitel werden seelsorgerische und pastorale Schlüsselpraktiken im Umgang mit der Gemeinde dargestellt und die Diskurse betrachtet, in denen diese von den Pfarrern und Predigern ausgehandelt wurden. Zuletzt soll ein Blick auf die Erosionserscheinungen und Devianzen63 in der Pfarrgemeinde als sozialer Organisationseinheit geworfen werden, eingedenk der Krisenwahrnehmungen, die der Pfarrstand im 18. Jahrhundert formulierte.

Die Arbeit gründet sich im Wesentlichen auf einen zweiteiligen Quellenkanon: die im lutherisch-kirchlichen Bereich im Berlin des 18. Jahrhunderts produzierten Archivquellen und die von Berliner Geistlichen durch Druck publizierten Schriften. Hinzu kommen punktuell Korrespondenzen. Persönliche Dokumente Berliner Pfarrer, die weder publiziert noch in den Gemeindearchiven überliefert wurden, sind nur in Ausnahmefällen auffindbar gewesen. Es muss in dieser Hinsicht davon ausgegangen werden, dass Nachlässe Berliner Pfarrer nicht geschlossen erhalten geblieben sind. Eine Ausnahme stellen lediglich die Briefwechsel von Philipp Jakob Spener (1635–1705), Johann Joachim Spalding (1714–1804) und anderen dar, die als einflussreiche Theologen oder spätere Professoren besonders hervorragten und im Rahmen von biografischen und historisch-kritischen Projekten berücksichtigt wurden.64

Die Archivalien wurden vornehmlich auf vier administrativen Ebenen produziert und umfassen jene Kontexte, in denen Pfarrer und nicht-geistliche Funktionsträger Texte verfassten oder solche, in denen über sie geschrieben wurden. Hierzu zählen an der unmittelbaren Gemeindebasis die Archive der Berliner Parochialkirchen, die Akten des Patronatsherrn, drittens die Unterlagen der kirchlichen Mittelbehörden, namentlich das lutherische (Ober-)Konsistorium, zuletzt wurden die Bestände des Geheimen Rats, des Geistlichen Departements (ab den 1730er-Jahren) und des Monarchen einbezogen.

Auf der administrativ untersten Ebene, der der Gemeindearchive, bildeten sich sehr heterogene Bestände aus, sowohl im Umfang als auch in der Qualität der vorhandenen Archivalien: So sind die Archive der beiden großen Stadtkirchen St. Nikolai und St. Petri relativ dicht erhalten, bei letzterer Gemeinde trotz mehrerer verheerender Brände. Als Propstkirchen umfassen sie darüber hinaus auch Inspektoratsakten und Dokumente, die Verfahren am Konsistorium zuzuordnen sind. Diese Provenienz erklärt sich vor dem Hintergrund, dass die Pröpste zumeist als Konsistorialräte agierten. Daneben sind die Bestände der Dreifaltigkeitskirche auf dem Friedrichswerder relativ dicht überliefert. Besonders bei kleinen Gemeinden, wie der Georgenkirche, ist der Bestand höchst lückenhaft und fragmentiert, teilweise liegen Kriegs- und sonstige Verluste durch die Aufteilung und Zusammenlegung der Gemeinden im 19. Jahrhundert vor. Generell ist festzustellen, dass die Bestände meist spätestens in der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzen, in der Sorgfalt der Aktenablage aber erheblich schwanken. So wurden eingehende Edikte nicht selten akkurat gesammelt und zu bestimmten Themen in sich geschlossene Teilbestände gebildet, wogegen sich zu anderen Themen lediglich lose zusammengeführte Mappen aus Zuschriften finden. Bezüglich der Ablagepraxis ist zweifelsohne festzustellen, dass Manuskripte, die aus der konkreten pastoralen Arbeit entstanden, beispielsweise Predigttexte, nicht in den Gemeindearchiven abgelegt worden sind und eher im privaten Umfeld verblieben. Notizen, Entwürfe und auch Bibliotheken der einzelnen Geistlichen wurden in der Regel nicht in der Parochialgemeinde eingepflegt.

Die retrospektiv in der archivalischen Fachsprache als Mittelbehörden bezeichneten Kollegien sind das lutherische Konsistorium der Kurmark und die drei Berliner Inspektionen (Alt-Berlin, Cölln, Friedrichswerder), später oft als Kirchenkreise bezeichnet. Letztere produzierten kein eigenständiges Archivmaterial. Die entstehenden Akten wurden in der Heimatgemeinde des Inspektors, der immer eine reguläre Pfarrstelle bekleidete, abgelegt. So finden sich beispielsweise Akten über Pfarrstellenbesetzungen der Umlandgemeinden, die zu den Stadt-Inspektionen gehörten, in den Pfarrarchiven von St. Nikolai und St. Petri. Trennungen des Archivmaterials gehen wohl auf spätere Sortierungen zurück.

Bereits im 17. Jahrhundert entstand die Überlieferung des kurmärkischen Konsistoriums, seit 1750 zugleich Oberkonsistorium, als eigenständig archivierter Bestand, der sich vor allem um Rechtsstreitigkeiten, die administrativen Alltagsgeschäfte, aber auch Disziplinarangelegenheiten, finanzielle Verwaltung und Personalfragen drehte.

Die landesherrliche Komponente des Korpus bilden die Akten des Geheimen Rates und des Geistlichen Departements zu den religiösen Angelegenheiten. Sie vereinen sowohl die Bestände zu Edikten und Kabinettsordern, die oft in Rücksprache mit geistlichen Funktionsträgern und dem Konsistorium erarbeitet worden sind, aus Suppliken, als auch Bestände zu Stellenbesetzungen und Verfahren, die aus Konflikt- und Disziplinarangelegenheiten entstanden. Dazu kommen die normativen Quellen – Edikte, Reskripte und weitere Rechtstexte – die in Teilen ediert vorliegen, so im von Christian Otto Mylius (1678–1760) herausgegebenen Corpus Constitutionum Marchicarum und den Acta Borussica.65 Eine Trennung zwischen der königlichen Patronatsverwaltung und der Administration der lutherischen Kirche auf der Territorialebene war in diesem Sinne kaum ausgeprägt. Lediglich die finanzielle Überwachung der königlichen Patronatskirchen war an das Amtskirchenrevenuendirektorium ausgelagert. Die Mehrzahl der Stadtgemeinden unterstand jedoch dem Patronatsrecht des Berlin-Cöllner Magistrats, dessen Akten ebenfalls eingesehen wurden.

Den Archivalien gegenüber stehen die gedruckt publizierten Quellen, welche von Berliner Geistlichen im Untersuchungszeitraum veröffentlicht wurden und die für diese Arbeit quantitativ und qualitativ ausgewertet wurden. Berücksichtigt wurden im Grundsatz alle Schriften, die Autoren publizierten, die zwischen 1690 und 1800 eine Pfarrstelle in Berlin hielten. Diese 198 Geistlichen publizierten – vor dem heutigen bibliothekarischen Erhaltungs- und Erschließungsgrad – mindestens 1072 Schriften. Die Bandbreite ist sowohl unter thematischen Gesichtspunkten als auch in der Verteilung der literarischen Formen recht groß und reicht von Predigten bis hin zur Belletristik, von theologischen Traktaten bis zu naturwissenschaftlichen Abhandlungen. Erwartbar ist die Häufung von Publikationen zu theologischen Fragestellungen, erbaulicher Literatur oder religiös-philosophischer Kontroverse, sowie in puncto »Genre« die immense Rolle der Predigt. Leichenpredigten stellten die größte Teilgruppe dar. Daneben weist der gehäufte Bestand von pädagogischen Werken und Schulbüchern darauf hin, dass manche Pfarr- mit Schulstellen parallel liefen und der Unterricht darüber hinaus ein häufiges Betätigungsfeld für Theologen darstellte. Eine sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts andeutende Verschiebung der Themenbereiche, zu denen publiziert wurde, weist dagegen auf Anpassungsleistungen der Pfarrer vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels hin.

Natürlich kann die recherchierte Publikationsliste trotz ihres Umfangs keinen Anspruch auf Vollständigkeit beanspruchen. Das Korpus neigt zudem zu unscharfen Rändern. In Berlin amtierende Geistliche publizierten bereits vor ihrer Ordination in der Residenzstadt, und auch danach, sofern sie die Stadt wieder verließen. Nichtsdestoweniger war das Amt in der Stadt ein Faktor, der Publikationstätigkeit beförderte. Nicht systematisch untersucht werden konnte, inwieweit die Berliner Pfarrer klandestin unter Pseudonymen oder völlig anonym veröffentlichten. Hier wurden dann Werke aufgenommen, wenn Bibliothekskataloge oder wissenschaftliche Literatur diese einem Berliner Pfarrer begründet zuschrieben.

Bestimmte Textgattungen entstanden kollektiv, beispielsweise die im sechsten Kapitel ausgewerteten Funeralschriften, die sich oft aus Gedichten, Würdigungen und Predigten zusammensetzten. In diesen Fällen ist nicht immer klar unterschieden, welcher Autor für welchen Beitrag verantwortlich war. Sofern die digitalen Verbundkataloge der Bibliotheken und weitere einschlägige Datenbanken diese Angaben handhabbar zur Verfügung gestellt haben, ist versucht worden, diese Daten einzubeziehen, ebenso, wenn in der Forschungsliteratur Pseudonyme und Bibliografien recherchiert wurden. Unter dem Strich liefert der entstandene Publikationskanon einen belastbaren Überblick über die für eine lesende Öffentlichkeit gedachte Textproduktion der Berliner Pfarrer. Er zeugt von der thematischen Breite, in der publiziert wurde, und stellt einen Kontrast zur parochialen Aktenbasis dar.

3.Forschungsstand

Vieles spricht dafür, sich der Geschichte von Pfarrern aus Sicht der Wissensgeschichte zu nähern und die geistlichen Amtsträger als soziale Figuren66 zu begreifen, die in ihrer Tätigkeit religiös-theologisches Wissen popularisierten und kulturelle und moralische Werte tradierten. Als akademisch geschulte Gruppe standen sie zudem den Gelehrten nahe; mitunter beschäftigten sich auch ordinierte Seelenhirten fortwährend mit gelehrten Themen und fühlten sich dem Gelehrtenstand zugehörig. Andere dagegen beschränkten sich auf die pastoralen Dienstleistungen, die Gemeinde und Landesherrschaft von ihnen forderten. Aufgrund dieser eigentümlichen Positionierung des geistlichen Standes findet seine Erforschung ihren Platz zwischen Wissens- und Gelehrten-, zwischen Religions- und Konfessionalisierungsgeschichte.

Ausgehend von Forschungen zur Entwicklung der frühneuzeitlichen Wissens- und Informationsgesellschaft und der sozialen Vergemeinschaftung gelehrter Personen bezog sich das Erkenntnisinteresse auf die Zirkulation67 von Wissen68 und die sozialen Praktiken des Gelehrtenstandes.69 Das 18. Jahrhundert stellte für diese Forschungen in vielfacher Hinsicht einen Wendepunkt dar: Erstens hatte sich die wissensgesellschaftliche Ökonomisierung von Wissen durch das Drucker- und Verlagswesen, das besonders von Peter Burke beschrieben wurde, verstetigt.70 Zweitens führte eine zunehmende Institutionalisierung von Forschung und Wissenschaft zur Einschränkung des universitären Bildungsmonopols und der Herausbildung von spezialisierten Forschungsinstituten und Forschern.71 Wogegen zuvor die gelehrte Wissensproduktion zwar identitätsstiftende Tätigkeit gewesen war, der Broterwerb aber von anderen Beschäftigungen und Dienstleistungen abhing.72 Spätestens im 18. Jahrhundert und mit der Verbreitung volksaufklärerischer Reformideen unter den Gelehrten entstand in wachsendem Maß das Bestreben, das gewonnene Wissen systematisch für breite Bevölkerungsschichten aufzubereiten und zu verbreiten.73

Die Gruppe der Gelehrten war, so die Ergebnisse Anne Goldgars, zwischen dem 17. Jahrhundert und der Aufklärung stark auf sich selbst bezogen.74 Die »Republic of Letters« erzeugte durch ihre eigenen sozialen Praktiken, Werte und Normen eine Kohäsion, die selbst religiöse und politische Distinktion in den Hintergrund rücken ließ.75 Gelehrte im 17. und 18. Jahrhundert, so Goldgar, hätten sich im Wesentlichen als Teil einer sie umfassenden Gesellschaft exkludierten, weitgehend egalitären Gemeinschaft gesehen.76 Besonders für die universitäre Gelehrtenkultur hat Marian Füssel diese Ergebnisse erweitert und spezifiziert und eine »symbolische Konstituierung politisch-sozialer Ordnung« konstatiert, sowie den unvollendeten Versuch der Gelehrten verzeichnet, sich rechtlich und symbolisch dem Adel anzunähern und eine »meritokratische Wissensordnung, in deren Zentrum der Erwerb und die Distribution von Wissen stand«, zu bilden.77 Dabei stehe jedoch, so Füssel, die Geltung des gelehrten Wissens immer mit dem sozialen Status des Trägers in Verbindung.78 Zuletzt stellt Füssel fest, dass die von ihm untersuchten Rangkonflikte vor dem Hintergrund des »kulturellen Wandels« des 18. Jahrhunderts abnahmen. Diese Veränderungen lassen sich jedoch nicht auf »Anpassungsleistungen des Sozialsystems der Gelehrsamkeit« reduzieren, sondern erwachsen multikausal durch ein Zusammenspiel von Mikro- und Makrofaktoren.79 Für das 18. Jahrhundert seien schließlich auf dem »Feld der Gelehrsamkeit« das »Aufbrechen kooperativer Hierarchien«, die »Intensivierung« von »marktförmigen Strukturen« und vermehrte Aufstiegsmöglichkeiten zu konstatieren, die neue »Distinktionsmechanismen« erforderten.80

Schließlich wurden auch Exklusionsmechanismen und Gegenstrategien der Gelehrtengesellschaft in den Blick genommen. Programmatische Arbeit leistete hier Martin Mulsow, der die Produktion von Wissen untersucht, das durch den prekären Status seines Trägers, den prekären gesellschaftlichen Status seines Urhebers oder die prekäre Sprecherrolle einer »machthabenden Elite« unerwünscht war.81 Davon ausgehend beschreibt Mulsow die Schattenseiten der Gelehrtenrepublik, beispielsweise Dissimulationsstrategien wie die Verschleierungen von Autorenschaft oder der »klandestine« Austausch von prekären Manuskripten.82 Statt eine egalitäre Gelehrtenrepublik vorauszusetzen, arbeitet Mulsow mit dem heuristischen Gegensatz von »Wissensprekariat« und „-Bourgeoisie«, die er jedoch nicht als feste Klassenzuschreibungen verstehen will, sondern als variable und situative Charakterisierungen »amorpher« Art.83 Der gesellschaftliche Status von ordinierten Geistlichen wäre in diesem Schema verhältnismäßig »bourgeois«, jedoch nicht unbedingt ihre Sprecherrolle, denn nicht zwangsläufig beteiligten sich Pfarrer an der meritokratischen Wissensproduktion. Im Vergleich zum verdienstvollen Mulsow’schen Projekt einer Ideengeschichte verborgenen und unterdrückten Wissens, muss sich die historische Erforschung des Pfarrstandes nicht mit den an den Rand gedrängten Philosophen, sondern den etablierten, nicht immer originellen Hirten befassen, die ein schmales, religiöses Wissensspektrum bewachten und amtsmäßig auf den Transfer dieses Wissens hinarbeiteten.

Generell ist die Rolle von Pfarrern in der Geschichte umstritten, schon die Abschätzung ihres Sozialstatus war kontroverser Forschungsgegenstand. Ökonomisch und habituell war maßgeblich entscheidend, ob der jeweilige Geistliche eine ärmliche Landpfarre bekleidete, die möglicherweise noch mit Ackerarbeit verbunden war, oder ob er ein besser vergütetes Stadtkirchenpatronat inne hatte. Die »Verbauerung« von Geistlichen in ruralen Lebensverhältnissen zog zumindest einen problembezogenen Diskurs im 18. Jahrhundert nach sich,84 auch wenn die Monetarisierung des geistlichen Salärs sich bereits im 17. Jahrhundert feststellen lässt.85 Doch auch die Sprecherrolle von Geistlichen variierte. Hatten zumindest alle Pfarrer und Prediger studiert und ein Examen zum Amt abgelegt, beteiligten sich manche frequent an theologischen und anderen gelehrten Debatten, während andere gar nicht publizierten. Es mag dieser breiten habituellen und ökonomischen Varianz geschuldet sein, dass sich die gesellschaftshistorische Forschung besonders mit der Zugehörigkeit des geistlichen Standes zum Bürgertum oder dem sich professionalisierenden Beamtenstand befasst hat.86 Dabei galt es auch, Zerrbilder, die sich aus der sogenannten Pfarrhausliteratur in wissenschaftliche Diskussionen hineinzogen, zu korrigieren.87 Schließlich war es im Rahmen der Modernisierungstheorie, der Bürgertumsforschung und dem auf die Staatsbildung bezogenen Fokus der Forschung von besonderer Bedeutung, die gesellschaftliche Positionierung des geistlichen Standes zu untersuchen. Man wird jedoch unter dem Strich nicht umhinkommen, dem geistlichen Stand ein erhebliches »Sonderbewusstsein« zuzusprechen, wie Luise Schorn-Schütte herausarbeitete.88 Ob es sich dabei um ein »politisches gerichtetes Selbstbewusstsein«89 handelte, ist fraglich, denn politischer Gestaltungswille ist am gewählten Gegenstand zumeist nur bei höherrangigen Amtsträgern zu erkennen, also wahrscheinlich kein ständisches Breitenphänomen.

Die Frage der Beziehung von Geistlichen zum vormodernen Staat ist nach wie vor ein interessantes Problemfeld. Es ist jedoch auch bereits häufig durchpflügt worden, jüngst von Wolfgang E. J. Weber, der in seiner Kulturgeschichte evangelischer Pfarrer im 17. Jahrhundert die selbstreflexiven Diskurse des geistlichen Standes untersuchte und die Entwicklung psychisch belastender Selbstdisziplinierungspraktiken sowie die enge Orientierung lutherischer Pfarrer am frühneuzeitlichen Staat konstatierte.90 Besonders im Kontext der brandenburgisch-preußischen Geschichte zeigte sich nicht selten der etatistische Zug einer Forschung, die sich für den Zusammenhang zwischen konfessionellen Mentalitäten und dem vormodernen Staat, für Militärgeistliche und Disziplinierung interessierte.91 An dieser Stelle sei daher darauf verwiesen, dass die Beziehung zwischen Geistlichen und Staat berücksichtigt wird, aber nicht im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses steht. Als von der Landesherrschaft eingesetzte Amtsträger und Mitglieder einer städtischen Gesellschaft partizipierten Geistliche selbstredend an den historischen Entwicklungen, die retrospektiv als Verbürgerlichung, Staatsbildung und Modernisierung erfasst werden. Als klar umgrenzter und auf besondere Weise geprägter Stand darf ihnen jedoch auch eine innere Eigendynamik und Selbstständigkeit nicht abgesprochen werden. In dieser Hinsicht mag es vielleicht ein Nutzen dieser Arbeit sein, die Sichtweise auf die brandenburgisch-preußische Religionsgeschichte zu »normalisieren«. Denn traditionell wurde dem Territorium ein durchgreifendes Staatswesen zugesprochen. In diesem Kontext mag es zu deuten sein, dass Land- und Militärpfarrer bereits gut untersucht wurden. Und es vermag natürlich nicht verwundern, dass in der Verwaltung und im Militär die sich modernisierende Verwaltung und militärische Disziplinierung zu erkennen sind. Die »vormodernen Relikte« und die Schwäche des vormodernen Staates, auch im Religionsbereich, bleiben dabei jedoch fast zwangsläufig außen vor.

In der neueren englischsprachigen Forschungsliteratur sind diese Bezüge seltener zu finden, wenngleich sich auch noch eine neuere Arbeit der »clerical profession« widmet und sich damit auf den Professionalisierungsbegriff der Bildungsbürgertumforschung bezieht.92 Wie in der deutschsprachigen Forschung scheint eine ausgeprägte Unterbelichtung der pastoralen Praxis vorzuliegen, die möglicherweise daher rührt, dass die Geschichte der Pastoraltheologie nur wenig erforscht ist und Pfarrpraxis darüber hinaus in der Vormoderne oftmals nur in Konfliktfällen Quellen produzierte.93 Die Parochie (parish) als kirchliche oder soziale Organisationsform ist besonders auf den britischen Inseln untersucht worden, ebenso wie bestimmte, von Kirchenhonorablen intendierte Reformen der pastoralen Arbeit.94 Diese Art der Kirchengeschichte wirft öfter einen Blick auf die Mikroebene und oftmals stehen einzelne Aspekte der pastoralen Arbeit dort im Blickwinkel. Darüber hinaus werden vereinzelt kultur- und religionsgeschichtliche Fragestellungen verknüpft,95 um die Verbindungen von sozialen Phänomen und konfessionellen Besonderheiten herauszuarbeiten: So hat der dänische Kriminalitätshistoriker Tyge Krogh in seiner Arbeit über religiös motivierte »Proxy-Suizide« im 18. Jahrhundert sich mit der lutherischen Betreuung von Strafgefangenen unter der Todesstrafe beschäftigt. Er sieht die lutherische Soteriologie als eine Ursache für eine Häufung von Morden, die von Täterinnen und Tätern begangen worden seien, um nach seelsorgerischer Betreuung und Gnadenzusage durch lutherische Geistliche hingerichtet zu werden.96 Einem materiellen Aspekt lutherischer Kultur und Frömmigkeit nimmt sich dagegen die kurze Studie von Avner Shamir über Bücher an, die wundersamerweise Brände überstanden und anschließend – nicht als Reliquien – aber doch als Devotionalien aufbewahrt und kontrovers diskutiert wurden.97

Explizit mit der Beziehungsgeschichte zwischen Pastoren und Gemeindemitgliedern im Rahmen der Pfarrarbeit beschäftigt sich eine Studie von Karen E. Carter. Die Arbeit untersucht anhand von umfangreichen Gerichtsakten aus dem katholischen, nordfranzösischen Dorf Mareuil-sur-Ay die Klage der Einwohner gegen ihren Priester und argumentiert an diesem Fall dafür, dass die Gemeindemitglieder in puncto Sakramenten und religiösen Verrichtungen ihre eigenen Agenden verfolgten und dies auch gegen die Kontrollversuche ihrer Geistlichen zur Geltung brachten.98 Bemerkenswert ist unter anderem an Carters Ergebnissen, dass die meisten von ihr herausgearbeiteten Standards, die die katholischen Gemeindemitglieder gegen ihre Priester einzuklagen pflegten – Sakramentenspendung, Katechismusunterricht, Amtsausübung persönlich durch den Ordinierten, Widerstand gegen Sanktionierungen – Streitpunkte waren, die auch im Berliner Kontext zu Konflikten führten.99 Es ist also davon auszugehen, dass die Erwartungshaltung nordfranzösischer Landbewohner an ihre katholischen Geistlichen durchaus vergleichbar mit denen lutherischer Stadtbewohner waren. Darüber hinaus fehlen die Auswirkungen inter- und innerkonfessioneller Flügelkämpfe in der Studie Carters, da in Mareuil-sur-Ay monokonfessionelle Verhältnisse herrschten.

Mit der Ausnahme von Tyge Krogh, der lutherische (Kriminal-)Seelsorge vor dem Hintergrund eines soziokulturellen, breiteren Phänomens betrachtet, fokussieren Studien über pastoral care besonders auf die Spendung von Sakramenten oder die Durchführung religiöser Dienstleistungen. Oft steht die Frage nach der Verweltlichung oder der Amtsvernachlässigung von Geistlichen in der späten Frühen Neuzeit im Hintergrund englischsprachiger Spezialliteratur. Die erwähnte Studie Karen E. Carters bewegt sich ebenso in diesem Bereich und denkt konsequent vom Geistlichen als Dienstleister und der Gemeinde als selbstbewusster Kundengruppe, die vor Beschwerden nicht scheute. Bei der Betrachtung von Sakramenten und ähnlichem bleibt allerdings eine Leerstelle: Gerade die liturgischen Praktiken verweisen nicht auf die Figur des Geistlichen als Lehrer. Der Transfer theologischen Wissens von einer gelehrten auf eine breite soziale Ebene sollte dahingehend ernster genommen werden. In dieser Hinsicht ist es besonders Renate Dürr zu verdanken, den Kirchenraum als einen Handlungs- und »Kommunikationsraum« interpretiert zu haben, der von Pfarrern, Obrigkeiten und den Gläubigen genutzt wurde. Dieser Raum sei eine »lokalpolitische Öffentlichkeit«.100 Damit vergleichbar ist durchaus, dass die Predigt im London des 18. Jahrhunderts als Medium interpretiert worden ist, welchem eine zentrale Rolle bei der Kommunikation zwischen Geistlichen und Laien zukam. Die Londoner Predigten seien sowohl ein Format der Gruppenbildung religiöser Gemeinschaften als auch des politischen Diskurses gewesen. Während die Rolle der Kontroverspredigt abgenommen habe, sei die Bedeutung der Prediger bei der Förderung und Bewerbung karitativer Vereine und Gesellschaften dagegen gewachsen.101 Vergleichbares lässt sich für die Berliner Verhältnisse sagen, wobei die politische Prägung der Predigt gering ausfiel.

Im Rahmen der Wissensgeschichte lässt sich dieser Transfer von Wissen unter dem Begriff der Popularisierung untersuchen. Der Gegensatz zwischen eigentlicher Wissenschaft, der Forschung, und Populärwissenschaft entstand jedoch erst im 19. Jahrhundert, ebenso wie die Kritik an populärwissenschaftlichen Unternehmungen.102 Zuvor hatte sich die Forschung noch nicht in dem Maße von der öffentlichen Verbreitung des gewonnen Wissens abgetrennt.103 Fest steht aber auch, dass in der Aufklärungsperiode die Motivation zur Verbreitung von pragmatischem und theoretischem Wissen maßgeblich anstieg. Dabei handelte es sich aber um ein forciertes, praktisches Reformprojekt der Volksaufklärung. Nach wie vor ist umstritten, wie ernsthaft und wie erfolgreich die Aufklärung diesen Anspruch auf die Popularisierung von Wissen tatsächlich gewesen ist.104 In der religiösen Sphäre, so darf vermutet werden, existierten bereits Muster und Diskurse der popularisierenden Wissensvermittlung wie Katechismusunterricht, Erbauungsliteratur und natürlich die häufige Verbindung von Pfarr- und Schulamt. Neu war dagegen, dass sich Pfarrer als Multiplikatoren für säkulare, pragmatisch-ökonomische und allgemein-ethische Wissensbestände betätigten. Dieses Engagement ist auch im Zusammenhang mit einer Legitimationskrise des geistlichen Standes in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu sehen.105

Es erscheint sinnvoll, sich dem geistlichen Stand und der pastoralen Arbeit unter dem Blickwinkel der historischen Praxeologie zu nähern. Die praxeologische Perspektive erlebte in den letzten Jahrzehnten eine rege Verbreitung und tendierte in Folge zu »einer Unüberschaubarkeit der Ansätze«,106 denen allerdings gemein ist, dass sie sich unter anderem auf die »Entstehung und Veränderung von sozialer Ordnung«, die »Strukturierung sozialer Beziehungen« und die »Regelmäßigkeit von Verhaltensweisen« beziehen.107 Auch im kulturhistorisch-religionsgeschichtlichen Bereich sind zahlreiche Arbeiten praxeologischer Prägung entstanden, die sich religiösen Praktiken widmeten, so der Liturgie oder der Erforschung der Natur.108 Ausgehend von Theodor Schatzkis Definition von Praktiken als »typisierten, routinierten und sozial verstehbaren Bündeln von Aktivitäten«,109 ist der Praktik-Begriff nach wie vor umstritten. Arndt Brendecke schlug in dieser Hinsicht vor, Praktiken als den »situierten Vollzug von Sprechakten und Handlungen im Zusammenspiel von Dingen und körperlichen Routinen von Akteuren« zu sehen,110 inkludierte also besonders drei Faktoren: einen sozialen Kontext, materielle Objekte111 und handelnde Personen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Praktiken »stabile Wiederholungsstrukturen«, »robuste Routinen […] des Alltäglichen«,112 also Strukturen einer »Sozialwelt«113 ausbilden. Der Praxeologie kann es bei alledem nicht darum gehen, in quasi neopositivistischer Manier dem strapazierten Ranke’schen »wie es eigentlich gewesen«114 ein ebenso positivistisches »wie eigentlich gehandelt wurde« entgegenzusetzen, sondern die »Instanz« zu untersuchen, »die im Damals Ordnung und Struktur schaffte, Alltag, Normativität, Stabilität und eine gewisse strukturelle Geregeltheit konstituierte […].«115

Unter diesen Prämissen kann sich das historische Erkenntnisinteresse der pastoralen Praxis nähern, ohne primär an äußeren Entwicklungen wie Modernisierung oder Verbürgerlichung von Pfarrern interessiert zu sein. Es ist offensichtlich, dass jene robusten, den Alltag strukturierenden, sozialen Routinen sich in der vormodernen Gesellschaft in den Kirchenräumen besonders zeigten, wo Liturgie auf jahrhundertealte Tradition zurückgreifen konnte. Allerdings erschöpfte sich die Pfarrpraxis nicht in liturgischen und seelsorgerischen Praktiken, sondern schloss auch administrative Handlungen mit ein, wie beispielsweise das Führen der Kirchenbücher oder das Verlesen von landesherrlichen Edikten. Neben der routinierten Geregeltheit des religiösen Alltags beinhalteten Pfarrpraktiken also auch Aspekte der Vermittlung von Wissen und auch der Sammlung desselben. Unter der pastoralen Praxis sollen schließlich im Folgenden alle Praktiken zusammengefasst werden, die im Rahmen der Amtstätigkeit angewandt wurden. Damit kann der praxeologische Ansatz wieder an den Bezug von Pfarrern zur Landesherrschaft anknüpfen, ohne den Ballast der etatistischen Fragestellungen vergangener Zeiten mitzutragen.

Seitens des landesherrlichen Kirchenregiments erfolgte im 18. Jahrhundert eine immer stärkere Einbindung der Geistlichkeit in den Kreis der vormodernen Staatsdienerschaft. So verwies bereits Otto Hintze darauf, dass mit den institutionellen Veränderungen der lutherischen Konfessionskirche in Brandenburg-Preußen der Keim für die Bildung der Landeskirche gelegt und zudem Pfarrer immer mehr als weisungsabhängige Beamte wahrgenommen wurden. Davor hatten sich die Lutheraner seit der reformierten Konversion Johann Sigismunds als besonders träge und widerständig gegenüber administrativen Veränderungen gezeigt.116 Diese Feststellungen sind im Kern nicht zurückzuweisen, beziehen sich aber vor allem auf das Problem der borussischen Staatsbildung – das Konzept einer Staatskirche taucht als Bewertungskategorie bei Pfarrern des 18. Jahrhunderts nicht auf. Wo der Fürstenstaat des 18. Jahrhunderts auf die Pfarrpraxis wirkte, fand dies unter dem Zeichen einer späten Konfessionspolitik statt, die am Beispiel der Universität Halle von Marianne Taatz-Jacobi beschrieben wurde.117 Damit durchaus vergleichbar kam die Dissertation Gabriel Almers zu dem Ergebnis, dass der »Narrativ vom säkularen Toleranzstaat« fehlerhaft sei und nach der gescheiterten »Zweiten Reformation« konfessionelle, konfrontative