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Die Predigtstudien sind eine bewährte Arbeitshilfe für die qualifizierte und fundierte Predigtvorbereitung. Sie enthalten praxisorientierte Anregungen für die Predigt und die Gestaltung des Gottesdienstes. Jeder Predigttext wird von zwei Theologinnen/Theologen aus Gemeindearbeit, Kirchenleitung und Wissenschaft bearbeitet. Dieser Dialog verbindet wissenschaftliches Niveau mit homiletischer Praxis.
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Seitenzahl: 501
Veröffentlichungsjahr: 2025
Predigtstudien
Herausgegeben von Birgit Weyel (Geschäftsführung), Johann Hinrich Claussen, Wilfried Engemann, Doris Hiller, Christopher Spehr, Christian Stäblein und Manuel Stetter
Im Jahr erscheinen zwei Halbbände
für das Kirchenjahr 2025/26
Perikopenreihe II – Erster Halbband
Herausgegeben von Birgit Weyel (Geschäftsführung), Johann Hinrich Claussen, Wilfried Engemann, Doris Hiller, Christopher Spehr, Christian Stäblein und Manuel Stetter
Redaktion: Fritz Röcker
Darstellungsschema
A-Teil: Texthermeneutik
I Eröffnung
II Erschließung des Textes
III Impulse
Was veranlasst zu einer Predigt mit diesem Text?
Welche Überzeugung vertritt der Verfasser des Textes? Welche existenziellen Erfahrungen ruft der Text auf? Wie
verstehe
ich heute den Text?
Was folgt aus meiner Textinterpretation für das Thema und die Intention der Predigt? Vorschläge für Predigt und Gottesdienst!
B-Teil: Situationshermeneutik
IV Entgegnung
V Zur homiletischen Situation
VI Predigtschritte
Wo ich A
nicht
folgen kann! Was leuchtet mir ein? Was sehe ich kritisch?
Welche existenziellen Erfahrungen und exemplarischen Situationen habe ich bei meiner Predigt mit diesem Text im Blick?
Was folgt aus meiner Interpretation der Situation für das Thema und die Intention der Predigt? Vorschläge für Predigt und Gottesdienst!
© Verlag Kreuz in der Verlag Herder GmbH, Freiburg 2025
Alle Rechte vorbehalten
www.kreuz-verlag.de
Umschlagkonzeption und -gestaltung: wunderlichundweigand, Schwäbisch Hall
Satz: Arnold & Domnick GbR, Leipzig
E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISSN 0079-4961
ISBN Print 978-3-451-03459-6
ISBN E-Book PDF 978-3-451-84021-0
ISBN E-Book E-PUB 978-3-451-84020-3
EssayPredigen als intertextuelle PraktikBirgit Weyel
30.11.2025 1. AdventRömer 13,8–12Im Licht der DämmerungSara Egger/David Plüss
07.12.2025 2. AdventLukas 21,25–33»Heißa, dann ist Weltuntergang!«Ursula Roth/Martin Vorländer
14.12.2025 3. AdventLukas 3,(1–2)3–14(15–17)18(19–20)Rosige Zeiten? Mit dem Täufer auf die Welt schauenWiebke Köhler/Cornelia Coenen-Marx
21.12.2025 4. Advent2Korinther 1,18–22Ja oder Nein – ohne Wenn und AberChristina Weyerhäuser/Sonja Beckmayer
24.12.2025 Heiligabend (Christvesper)Ezechiel 37,24–28»in meins Herzen Schrein« (EG 24,13)Georg Raatz/Johannes Greifenstein
24.12.2025 Heiligabend (Christnacht)Sacharja 2,14–17Die innere Mitte vor-findenThomas Schlag/Ralph Kunz
25.12.2025 1. Weihnachtstag (Christfest I)Titus 3,4–7Krippen-EpiphanieSven Petry/Helmut Aßmann
26.12.2025 2. Weihnachtstag (Christfest II)Matthäus 1,18–25Vom konstruktiven Durcheinanderbringenlassen der Lebenspläne und FamilienbilderLukas Grill/Christiane Renner
28.12.2025 1. Sonntag nach dem ChristfestIjob 42,1–6Stroh und Asche – Hiob an der KrippeUte Niethammer/Markus Engelhardt
31.12.2025 Silvester (Altjahrsabend)Hebräer 13,8–9bIm gekrümmten Weltenraum – sich selbst unterbrechenChristian Stäblein/Manuel Stetter
01.01.2026 NeujahrstagJohannes 14,1–6Neujahrswege. Nicht zweifellos, aber gewissStefanie Wöhrle/Nina Spehr
04.01.2026 2. Sonntag nach dem ChristfestJesaja 61,1–3(4.9)10–11Die Sehnsucht nach Normalität und das Beunruhigende des GlaubensDaniel Hoffmann/Elis Eichener
06.01.2026 EpiphaniasEpheser 3,1–7Gottes Geheimnis: GemeinschaftClaudia Tietz/Johannes Weidemann
11.01.2026 1. Sonntag nach EpiphaniasMatthäus 3,13–17Die Fülle der GerechtigkeitJoel Klenk/Inga Kreusch
18.01.2026 2. Sonntag nach EpiphaniasJeremia 14,1(2)3–4(5–6)7–9Trotzdem Hoffnung!Christof Jaeger/Margrit Wegner
25.01.2026 3. Sonntag nach EpiphaniasApostelgeschichte 10,21–35Der Himmel öffnet sich. Grenzen werden weitAlexander Arno Heck/Regina Fritz
27.01.2026 Tag des Gedenkens an die Opfer des NationalsozialismusKohelet 8,10–14.17WeitererzählenHeinz-Dieter Neef/Birgit Weyel
01.02.2026 Letzter Sonntag nach EpiphaniasOffenbarung 1,9–18Zumutung statt Trost?Tobias Sarx/Jennifer Marcen
08.02.2026 2. Sonntag vor der Passionszeit (Sexagesimä)Ezechiel 2,1–5(6–7)8–10; 3,1–3»Gottes Wort in Raum und Leib«Kay-Ulrich Bronk/Friedemann Magaard
15.02.2026 Sonntag vor der Passionszeit (Estomihi)Lukas 18,31–43Gehalten, hinzuschauen, worauf wir zugehenAngelika Behnke/Sebastian Feydt
22.02.2026 1. Sonntag der Passionszeit (Invokavit)1Mose 3,1–19 (20–24)The coming of age von Adam und EvaMichael Kösling/Claas Cordemann
01.03.2026 2. Sonntag der Passionszeit (Reminiszere)Römer 5,1–5(6–11)SoulsurfingWibke Janssen/Fabian Maysenhölder
08.03.2026 3. Sonntag der Passionszeit (Okuli)Lukas 9,57–62Du hast die WahlSusanne Wolf/Martin Vetter
15.03.2026 4. Sonntag der Passionszeit (Lätare)Jesaja 66,10–14Glanz und Gloria mitten im LeidenInge Kirsner/Harald Schroeter-Wittke
22.03.2026 5. Sonntag der Passionszeit (Judika)Hebräer 13,12–14Durchkreuzte HoffnungSonja Keller/Nicole Grochowina
29.03.2026 6. Sonntag der Passionszeit (Palmarum)Markus 14,(1–2)3–9Von Kopf bis Fuß auf Leben eingestelltDoris Hiller/Wiebke Bähnk
02.04.2026 Gründonnerstag2Mose 12,1-4(5)6-8(9)10-14Erinnerung und KlageAlbrecht Grözinger/Elisabeth Grözinger
03.04.2026 Karfreitag2Korinther 5,(14b–18)19–21Die Liebe Christi drängt dazu, Botschafter der Versöhnung zu werdenNorbert Schwarz/Andreas Hinz
04.04.2026 Osternacht2Timotheus 2,8–13Treue zum LebenHelmut Schwier/Stephan Winter
05.04.2026 Ostersonntag1Korinther 15,(12–18)19–28Das Unglaubliche glaubenDieter Beese/Johann Hinrich Claussen
06.04.2026 OstermontagLukas 24,36–45Wiedererkennen, was keiner je gesehenChristoph Karle/Marie-Luise Karle
12.04.2026 1. Sonntag nach Ostern (Quasimodogeniti)Jesaja 40,26–31Vom Kraftfeld der HoffnungCarolyn Decke/ Heiner Kücherer
19.04.2026 2. Sonntag nach Ostern (Misericordias Domini)1Petrus 2,21b–25Der Ernstfall des GlaubensMichael Tilly/Jan Peter Grevel
26.04.2026 3. Sonntag nach Ostern (Jubilate)Johannes 15,1–8Was mich hält und trägtHelge Martens/Martin Böger
Perikopenverzeichnis
Anschriften
Über den Autor
Über das Buch
Birgit Weyel
Wer sich auf das Predigen einlässt, hat es mit Texten zu tun. Eine Predigt setzt sich in der Regel mit einem biblischen Text auseinander. Und sie tut dies in einer Weise, dass sie selbst einen Text »produziert«. Die Predigt selbst ist ein Text. Und in nicht seltenen Fällen betreten in dem Text-Stück Predigt neben ihrem Bezug auf den biblischen Text noch weitere Texte die Bühne der Kanzel: Gedichte, die zitiert werden; Geschichten, die erzählt werden; Zeitungsberichte, die in Erinnerung gerufen werden. Auf diese Weise ist jede Predigt ein mehr oder weniger sorgfältig gestaltetes, ein mehr oder weniger gründlich reflektiertes Textgewebe oder Textgespinst. Wo immer wir uns auf Predigt einlassen, treffen wir auf Texte.1
Wer predigt, bezieht sich in der Regel auf (biblische) Texte. Im liturgischen Ablauf eines Gottesdienstes folgt die Predigt auf die Verlesung biblischer Texte, die Schriftlesungen. Dieser Zusammenhang ist nicht nur ein zufälliger, zeitlicher, sondern ist im Protestantismus mit starken (normativen) Zuschreibungen verbunden. Auch im Evangelischen Gottesdienstbuch klingt dieser Aspekt an, wenn es heißt, dass die Predigt eine der Lesungen zur »Grundlage«2 haben soll. Eher beschreibend dagegen ist die Rede davon, dass die Predigt in der Regel auf einen biblischen Text bezogen3 ist. Auf die Fragen der Normativität und Autorität, die sich mit dem Textbezug verbinden, soll hier nicht ausdrücklich eingegangen werden. Sie sollen an dieser Stelle einmal eingeklammert werden, um den Blick darauf zu richten, wie sich Predigten auf Texte beziehen und was es heißt, den Textbezug der Predigt als eine intertextuelle Praktik zu fassen.
Wenn man nicht abstrakt und generalisierend von »der Predigt«, sondern vom Predigen als einer Praktik spricht, dann rücken die Handlungen in den Blick, die zusammenfassend als Predigen angesprochen werden können. In einer ersten Annäherung bedeutet der Perspektivwechsel, das, was unter dem Begriff der Predigt firmiert, näher anzuschauen, indem man es als Handlung bzw. als eine Kette von Handlungen betrachtet. Ein komplexes Konzept (»Predigt«) wird »aufgemacht«4, indem man zu beschreiben versucht, aus welchen Handlungen es sich zusammensetzt und als solches hervorgebracht wird. Ein einmaliger Akt des Predigens macht noch nicht »die« Predigt. Zur Bildung eines Konzepts von Predigt gehört die Wiederholung. Praktiken können als kulturell zirkulierende Repertoires verstanden werden, auf die zurückgegriffen wird, wenn wir ein konkretes Handeln bzw. eine Kette von Handlungen als etwas, in diesem Fall als Predigen, verstehen und bezeichnen wollen. Die Intertextualität von Predigten kann im Einzelnen unterschiedlich5 durchgeführt werden, in der Regel aber sind intertextuelle Praktiken für das, was wir Predigt nennen, stilbildend. Drei kurze Beispiele, die aus einem größeren Forschungsprojekt6 stammen, möchte ich im Folgenden gerne vorstellen und einige Beobachtungen teilen, die intertextuelle Praktiken als Handlungsvollzüge beleuchten.
01 hört wOrte (.) aus dem Ersten joHANnesbrief; (.)
02 im vIErten kaPItel. (4.8)
03 dort HEIßT es, (.) (Räuspern) (.)
Die Ankündigung7 des Predigttextes beginnt mit einem Imperativ (»hört«) und der Angabe der Bibelstelle. Darauf folgt eine lange Pause, die Spannung erzeugt, eine weitere Ankündigung und ein Räuspern, bevor der Predigttext gelesen wird (1Joh 4,11–19). Die meiste Zeit blickt der Pfarrer auf das vor ihm liegende Buch und blickt nur kurz auf, wenn Adhortative (Appelle zur Liebe) gelesen werden. Das Vorlesen wird durch den konstanten Blick auf die Textvorlage inszeniert und mit einem Amen (des Liturgen) abgeschlossen. Darauf folgt mit veränderter Sprechweise, die dem alltäglichen, beiläufigen Sprechen nachempfunden ist, eine Regieanweisung: »Wir hören nun das nächste Lied [...]«
Die Ankündigung und die Verlesung des Predigttextes werden der Predigt vorangestellt. Erst durch die Bezugnahme in der Predigt auf den zuvor gelesenen Text wird dieser Text zum Predigttext. Die Aufmerksamkeit ist strikt auf die Textvorlage gerichtet: Der Prediger als Fokusperson macht in der Interaktion mit den Hörerinnen und Hörern deutlich, dass er einen schriftlich vorliegenden Bibeltext vorliest. Die Bibelstelle wird nicht nur sorgfältig genannt, so dass man unter Umständen später den Text wiederfinden und nachlesen kann, sondern sie wird auch feierlich, nach einer langen Pause von fast 5 Sekunden und nach einem Räuspern, vorgetragen. Das Amen am Ende setzt einen Schlusspunkt und grenzt die Lesung distinkt nach hinten ab. Während Zitate und Anspielungen den Gottesdienst wie ein Gewebe durchziehen und häufig sowohl die Herkünfte als auch die Ränder der eingespielten Texte unkenntlich bleiben, wird der Predigttext (im Rahmen der Schriftlesungen) mit einer genauen Quellenangabe verbunden und dadurch hervorgehoben. Christian Walti hat in Sequenzanalysen in reformierten Gottesdiensten Stilelemente von Lesungen herausgearbeitet, etwa die deklarative Lesungsansage mit Angabe der Bibelstelle und Sprechpause. »Der Umstand, dass präzise angegeben wird, wo das Gelesene steht, deutet darauf hin, dass die Inszenierung […] auf ein übersituationales überzeitliches Traditionsgut zurückzuführen ist, das von allen auch in anderen Situationen im exakt gleichen Wortlaut wiedergefunden werden kann.« Es zeigt »philologische Präzision« und »Sorgfalt im Umgang mit dem Text an«.8 Dabei hat dieses Verfahren deutliche Parallelen zu wissenschaftlichen Praktiken des Vortragens. Es gehört zu den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis, Zitate kenntlich zu machen und Autorschaft zu markieren, um eigenes und fremdes Gedankengut voneinander erkennbar abzugrenzen und nicht etwa ineinanderlaufen zu lassen. Praktiken des Zitierens bilden strukturell einen Zusammenhang mit Auslegungs- und Interpretationspraktiken, wie man sie auch aus akademischen oder aus juristischen Kontexten kennt.
Mehrfach spricht der Prediger von »unserem Predigttext«. In einer praxistheoretischen Perspektive verstehe ich die Rede von unserem Text als Verweis auf gemeinsame, geteilte Wissensbestände, einen common ground. Eine community of practice wird konstituiert, ganz unabhängig davon, ob alle Angesprochenen über ein entsprechendes Wissen verfügen oder die impliziten Überzeugungen teilen. Das Lesen und Auslegen von Texten ist ein kommunikatives Handeln, das wesentlich über die Textbezüge moderiert wird. Dabei handelt es sich teilweise um Praktiken der Relationierung, die zugleich als Hervorhebung der Texte beschrieben werden können. In den von mir untersuchten Trauerfeiern wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass der Ehemann der Verstorbenen den Predigttext ausgesucht habe oder dass der Predigttext zugleich der Hochzeitsspruch des Verstorbenen und seiner Frau war. Der Predigttext wird besonders gemacht, indem er in eine Beziehung zu den vom Kasus betroffenen Personen gerückt wird. Die Semantiken unterstreichen die Besonderheit: Das Aussuchen kann verstanden werden als ein Prozess, der mit Sorgfalt und Mühe verbunden ist. Das Ehepaar hat den Hochzeitsspruch bekommen, so wie man Geschenke bekommt. Im Unterschied zu einem Sonntagsgottesdienst gehört es stilbildend zu Kasualien dazu, dass hier einzelne Personen im Mittelpunkt stehen. In den Predigten werden aber auch Beziehungen durch die Texte konstituiert, wie sie in nicht-kasuellen Gottesdiensten vorkommen. »Der erste Johannesbrief erinnert daran, dass wir die Liebe nicht aus uns selbst heraus produzieren können.« Durch die Erinnerung werden der zitierte Brief, zeitgenössische Leser und »wir« zueinander in Beziehung gesetzt. Der Text enthält ein Wissen, das mit dem Anspruch kollektiver Orientierung aufgerufen wird.
Die Predigt wird man in literaturtheoretischer Perspektive als eine kommunikative Gattung bezeichnen können, weil ihre Intertextualität den Autor:innen und den Rezipient:innen bewusst und durch den institutionellen Rahmen explizit gemacht wird. Predigen kann als eine Praktik der Textvernetzung bezeichnet werden, weil sie sich nicht nur (interpretierend und kommentierend) zu einem Text verhält, sondern viele Texte miteinander verweben kann. Der Situationsbezug der Predigt wird wesentlich über Texte hergestellt. Das gilt nicht nur für den B-Teil der Predigtstudien, wie Albrecht Grözinger beschreibt: »Und in nicht seltenen Fällen betreten in dem Text-Stück Predigt neben ihrem Bezug auf den biblischen Text noch weitere Texte die Bühne der Kanzel: Gedichte, die zitiert werden; Geschichten, die erzählt werden; Zeitungsberichte, die in Erinnerung gerufen werden.«9 In diesem Zusammenhang können viele produktive Fragen gestellt werden, die man sich selbst oder auch an Predigten anderer stellen kann. Welche Texte treten neben den (biblischen) Text, auf welche Kontexte spielen sie an, wie werden sie eingerahmt und in einen neuen Text eingepasst? Nach meiner Beobachtung, die nicht repräsentativ sein muss, ist die Zahl der Zitate und Referenzen, die in den Predigten aufgerufen werden, sehr groß. Damit sind die intertextuellen Bezüge sehr viel komplexer, als wenn nur die Referenz auf den (einen) Predigttext im Blick ist. Zugespitzt formuliert: Es macht einen prinzipiellen Unterschied, ob man in der Predigt eine Predigtperikope auslegt und in diesem Zusammenhang auf weitere Texte anspielt bzw. diese einspielt oder ob die Predigt als ein vielschichtiges intertextuelles Gewebe10 zu betrachten ist. Auf den ersten Blick sind mit dieser Beobachtung auch andere rhetorisch-argumentative Plausibilisierungsstrategien verbunden. Inwiefern ändert sich durch die Vervielfältigung von Textreferenzen der Textbezug einer Predigt auch in qualitativer Hinsicht? Das ist eine offene Frage, die, je nachdem wie man sie beantwortet, auch als ein Beitrag zur Frage nach der Schriftbindung der Predigt verstanden werden kann.
1Albrecht Grözinger, Homiletik (LPrTh 2), Gütersloh 2008, 136.
2 Evangelische Gottesdienstbuch, Leipzig 1999, 32.
3 Ebd.
4 Der Begriff verweist auf eine prozesstheoretische Heuristik, wie sie, wenn auch mit Blick auf ein anderes Thema, von Stefan Hirschauer entfaltet wird: Undoing differences revisited. Unterscheidungsnegation und Indifferenz in der Humandifferenzierung, in: Zeitschrift für Soziologie 49 (2020), 318–334, 318.
5 Vgl. dazu: Ursula Roth, Predigtspezifische Intertextualitätsmuster. Biblische Textbezüge in Predigten der Gegenwart, in: ZRGG 75, 4 (2023), 340–355.
6 Im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe 2828: De/Sakralisierung von Texten. Die Predigt zu 1Joh 4, die ich im Folgenden mehrfach heranziehe (Signatur Be_k_01), ist Teil meiner Sammlung von Bestattungsreden, die im Rahmen des Projekts ausgewertet werden.
7 Einzelne Passagen wie diese wurden lautsprachlich transkribiert. Zu den verwendeten Regeln siehe: https://gat-to.uni-jena.de/modul2.html (zuletzt abgerufen am 01.05.2025).
8Christian Walti, Der Gottesdienst als Interaktionsritual, Göttingen 2016, 298.
9 Siehe oben Anm. 1.
10 Vgl. dazu Kirsten Adamzik, Textsortennetze, in: St. Habscheid (Hg.), Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen: Linguistische Typologien der Kommunikation, Berlin/Boston 2011, 367–385.
A
Römer 13,8–12
Im Licht der Dämmerung
Sara Egger
Der erste Advent ist voll beladen mit freudiger Erwartung. An diesem Sonntag beginnt im Kirchenjahr die Zeit des Wartens auf die Geburt Jesu Christi. Das Licht der Welt wirft, noch bevor es zur Welt kommt, seine Strahlen voraus. Zugleich erinnern wir uns an diesem Sonntag auch an den Einzug Jesu nach Jerusalem. Dort wird er überschwänglich als Prophet und Messias angekündigt und gefeiert. Wir haben – rund 2000 Jahre später – einen Wissensvorsprung darüber, dass diese euphorische Stimmung der Anhänger*innen Jesu nicht von langer Dauer sein wird. Aber der Moment des Einzugs ist erfüllt von Hoffnung und Vorfreude. Endlich kommt er, der lange erwartete Messias. Jetzt wird alles gut. Paulus bleibt demgegenüber in seinem Brief an die Christ*innen in Rom nüchterner. Aber auch mit seinen wohlüberlegten Worten schürt er Erwartungen: Die Erwartung, dass bald eine Zeitenwende ansteht. Es ist jetzt die Zeit der Dämmerung – das Licht des an Ostern bereits angebrochenen neuen Tages scheint in die langsam schwindende Nacht. Die Wende von der Weltzeit zur Heilszeit steht unmittelbar bevor.
Am ersten Sonntag des Kirchenjahrs schichten sich die frohen Erwartungen durch diese verschiedenen biblischen Bezüge auf. Wie bei den Vorbereitungen auf ein großes Fest kommt die Energie langsam auf ihren Höhepunkt. Nur noch letzte Handgriffe, letzte Kontrollblicke – bald ist es so weit.
Die Perikope Röm 13,8–12 ist eingebunden in den größeren Zusammenhang von Röm 12,1–15,13. In diesen Kapiteln führt Paulus aus, welche ethischen Grundsätze aus den im Brief zuvor ausgeführten Glaubensgrundsätzen für die Lebensführung folgen. Dabei nimmt er sowohl das Zusammenleben der Christ*innen untereinander, wie auch das Leben mit der nichtchristlichen Umwelt in den Blick. Unsere Perikope bildet den Abschluss der allgemeinethischen Ausführungen des Paulus, bevor er in 14,1–15,13 auf Herausforderungen eingeht, die sich – so ist Paulus zu Ohren gekommen – unter den Christ*innen in Rom stellen. Die V.8–10 sind dabei eine Hilfestellung dazu, den Willen Gottes für verschiedene Situationen zu prüfen, wie Paulus dies in der Prämisse zu seinen ethischen Ausführungen in 12,1f. von seinen Adressat*innen verlangt. Die V.11f. perspektivieren die zuvor dargelegten Grundsätze zum Zusammenleben neu: Mit Ostern ist die Zeit des Heils bereits angebrochen und bald wird Christus wiederkommen und das Reich Gottes vollends anbrechen. Noch herrscht zwar die Zeit des Unheils. Aber durch die Taufe haben Christ*innen bereits Anteil an der neuen Zeit. In ihrem Leben laufen zwei Zeitrechnungen parallel. Sich darin zu bewähren, ist die Herausforderung, mit der Paulus die Christ*innen in Rom konfrontiert und zu deren Bewältigung er sie ausrüsten will.
Röm 13,8–10: Unmittelbar vor unserer Perikope verhandelt Paulus in 13,1–7 das Verhältnis der Christ*innen zur staatlichen Obrigkeit. Der Diskurs um die Auslegung dieser Verse ist komplex und kontrovers. Wenn auch seine Motive im Einzelnen unterschiedlich bewertet werden, ist jedoch klar, dass Paulus die Christ*innen in Rom dazu auffordert, ihrer Steuerschuld nachzukommen. Von der finanziellen Schuld leitet er nun mittels der Mehrfachbedeutung des Wortes opheilein (V.8) über zur ethischen Pflicht, die für Christ*innen aus ihrem Glauben erwächst (Theobald, 101): die Liebe zum Nächsten. Paulus zählt in V.9 Gebote aus dem Dekalog auf. Dass er nur einige Gebote aus dem Dekalog explizit aufnimmt, zusammen mit der Formulierung »und was es sonst noch für ein Gebot gibt« (Übersetzung nach Wolter, 330), deutet darauf hin, dass er als »Gebote« nicht nur den Dekalog im Blick hat, sondern die ganze Tora. (Starnitzke, 309) Dies wird weiter bekräftigt durch die Verwendung des Begriffs nomos (V.10): Das ganze Gesetzeskorpus ist in der Liebe erfüllt. Dass die unübersichtliche Menge der Gebote im Gebot der Nächstenliebe aus Lev 19,18 vereint sind, ist keine Erfindung des Paulus. Auch im hellenistischen Judentum war dies ein verbreiteter Gedanke. (Wolter, 333f.; Theobald, 99–101) In den jüdischen Schriften ist zu erkennen, dass dieser summarische Gebrauch des Liebesgebotes vor allem missionarischen Zwecken diente. (Theobald, 101) Im Röm ist es dagegen nicht das missionarische Anliegen, welches im Vordergrund steht. Vielmehr dient das Liebesgebot als »hermeneutischer Schlüssel« (Theobald, 102.106): Nicht alle ethischen Problemstellungen, denen Christ*innen begegnen, können durch Gebote – und seien es noch so viele – reguliert werden. Deswegen dient das Liebesgebot als oberstes Prinzip dazu, für einzelne Situationen zu prüfen, »was der Wille Gottes« und damit, was das »Gute und Wohlgefällige und Vollkommene« ist (Röm 12,2). Anhand dieser Ausdeutung von Röm 13,8–10 wird deutlich: Es geht Paulus nicht darum, die Gebote der Tora durch das Liebesgebot zu ersetzen oder dieses Gebot gegen die vielen Gebote der Tora gar auszuspielen. (Theobald, 105f.; Wolter, 334f.) Durch Leben und Lehre Jesu Christi ist für Paulus jedoch deutlich geworden, dass die Liebe zum Nächsten Kern der Gebote sein soll, nach dem man sich zu richten hat (vgl. dazu auch die entsprechenden Zeugnisse in den Evangelien zum Doppel- bzw. Dreifachgebot der Liebe: Mk 12,29–31; Mt 22,34–40).
Röm 13,11f.: Durch 13,11f. erfahren die ethischen Ausführungen des Paulus ab 12,1 eine neue Perspektivierung. Der Rückbezug auf die vorangegangenen Ausführungen wird durch die Wiederaufnahme der Rede von der Zeit deutlich. In 12,2 war es die aktuelle Zeit/der Zeitgeist (aiōn houtos), in 13,10 ist es nun der kairos, ein besonderer Zeitpunkt, welcher durch die Formulierung hōra ēdē + Infinitiv verstärkt wird: Es ist an der Zeit. Mit den letzten beiden Versen unserer Predigtperikope verleiht Paulus so den Ausführungen zwischen diesen beiden Verweisen auf die Zeit (12,3–13,10) eine besondere Dringlichkeit. Denn die Wiederkunft Christi und das Gericht Gottes über die Welt kommen näher. Noch ist es nicht ganz so weit. Noch vermischen sich die Finsternis der Zeit des Unheils mit dem Licht der Zeit des Heils. Noch ist im Grau der Dämmerung der Unterschied zwischen Gut und Böse nicht immer deutlich. Noch ist nicht klar zu erkennen, was gottgefällig ist. Aber bald! Der Moment kommt näher. Und deswegen erinnert Paulus hier die Christ*innen in Rom mit Nachdruck (Wolter, 337ff. spricht von einem »Weckruf«), wozu sie sich bei ihrer Taufe entschieden haben: die Werke der Finsternis abzulegen und die Waffen des Lichts anzuziehen (V.12). Der Bezug zur Taufe ist in diesem Vers implizit über die Wortwahl »anziehen« und »ablegen« gegeben. Paulus greift hier die Metaphorik des Ablegens und Anziehens eines Gewandes auf, welche er auch Gal 3,27 als Symbol für die Taufe verwendet. Noch deutlicher wird der Taufbezug Röm 13,14. (Wolter, 343) An diese Glaubensentscheidung will Paulus seine Adressat*innen erinnern und sie anspornen, wach zu bleiben in ihrem Verstand, die richtigen Verhaltensweisen zu wählen und ein Gott wohlgefälliges Leben zu führen.
Whitney Houston besingt in ihrem Song »My Love Is Your Love« die Stärke der Liebe zu einer nahen Bezugsperson (je nach Interpretation die Liebe zu ihrer Tochter oder eine romantische Liebe), nicht die Nächstenliebe aus dem Glauben heraus. Aber sie fragt sich, was es für sie und ihre Liebe bedeuten würde, wenn am nächsten Tag das Jüngste Gericht bevorstünde (»If tomorrow is judgement day …«). Es ist diese Spur, die in einer Predigt zum ersten 1. Advent verfolgt werden könnte: Was würde es für mich bedeuten, wenn ich wüsste: Morgen begegne ich Gott? Und was würde ich sagen »if the Lord asked me what I did with my life«. Oder, um es mit einem der für diesen Sonntag vorgesehenen Lieder aus dem Kirchengesangbuch zu sagen: »Wie soll ich dich empfangen und wie begegn‘ ich dir?« (EG 11/RG 367) Nehmen wir die Aufforderung des Paulus in Röm 12,2: »Fügt euch nicht ins Schema dieser Welt, sondern verwandelt euch durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr zu prüfen vermögt, was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene« ernst, so wird es auf diese Fragen keine vorgefertigten und allgemeingültigen Antworten geben. Was mit dem »hermeneutischen Schlüssel« des Gebotes der Nächstenliebe als der Wille Gottes interpretiert werden kann, wird von (Lebens-)Situation zu (Lebens-)Situation verschieden sein. Und jede*r einzelne wird für sich und das eigene Leben prüfen müssen, was sie*er daraus ableitet. Eine Predigt, die diese Überlegungen einbeziehen möchte, könnte Raum geben für solche Selbstreflexion. Sie könnte Gelegenheit bieten, zu fragen: Wenn ich den Vorschein der Gottesbegegnung in der Parusie auf mein Leben leuchten lasse, was sehe ich da? Was tritt klar zu Tage und was verschwindet eher etwas im Schatten? Und welche Konsequenzen möchte ich daraus ziehen?
Literatur: Dierk Starnitzke, Die Struktur paulinischen Denkens im Römerbrief. Eine linguistisch-logische Untersuchung (BWANT 163), Stuttgart 2004; Michael Theobald, Römerbrief. Kapitel 12–16 (SKNT 6/2), Stuttgart 1993; Michael Wolter, Der Brief an die Römer. Teilband 2: Röm 9–16 (EKK VI/2), Ostfildern/Göttingen 2019.
Internet: Whitney Houston, My Love Is Your Love: https://www.youtube.com/watch?v=kxZD0VQvfqU (zuletzt abgerufen am 22.04.2025).
B
David Plüss
Es ist eine bemerkenswert dürre Epistel, die uns an diesem Ersten Advent zugemutet wird. Die Geschichte des Einzugs Jesu in Jerusalem mit großem Hallo wird im Gottesdienst zwar gelesen und die Predigerin wird wohl darauf Bezug nehmen. Aber der primäre Referenztext der Predigt ist weder narrativ noch bildstark, sondern wirkt zunächst moralinsauer. Er kommt im Imperativ daher: »Seid niemandem etwas schuldig …« Es folgen Begründungen, Dekalog-Gebote und deren Zusammenfassung.
Umso stärker wirkt das Bild der Dämmerung. Ich mag die Dämmerung. Ich mag es, früh aufzustehen und das Erwachen des Tages zu erleben. Besonders intensiv erfahre ich es in den Bergen, wenn ich für eine Bergtour noch im Dunkeln aufbreche. Bei gutem Wetter und offenem Himmel. Von Osten kommt das Licht, erst nur zögerlich, dann immer deutlicher, und drängt das Dunkel der Nacht zurück, sachte und kraftvoll zugleich. Im Tal ist es noch düster, aber die Gipfel sind bereits hell. Die Silhouetten der Berge am Horizont und der Grate in der Nähe werden scharf. Aus Dunkel wird Grau. Der Boden vor den Füßen gewinnt an Sichtbarkeit. Die Farben erwachen, intensiviert durch das Morgenlicht. Es sind Momente des Glücks, aber auch der Anspannung und Aufregung: Finden wir den Weg? Schaffen wir die Tour? Wird alles gut gehen heute?
Erhellend ist für mich die Unterscheidung zwischen dem neuen Äon in Röm 12,2 und dem Kairos in Röm 13,10, auf die A hinweist, zwischen der neuen Zeit und der Zeitenwende: der Schwellenzeit, der Zeit der Entscheidung, der Krisenzeit. Über beides würde ich in der Predigt mit der Gemeinde gerne nachdenken wollen: über die beiden Zeit-Qualitäten, illustriert an Beispielen, Erfahrungen, Konkretisierungen.
Überaus anregend finde ich die Verbindung von Paulus mit Whitney Houstons gesungener Erwägung: »[I]f the Lord asked me what I did with my life …« Sie provoziert Lebensbilanzen, wie sich diese etwa bei einer Bestattungsfeier aufdrängen oder wenn das eigene Leben in die Krise gerät. Vor allem aber provoziert sie Positionierungen, Entscheidungen, kleine und große Konversionen. Dabei scheint es mir angebracht, den von Paulus ins Feld geführten Kairos nicht nur individuell und in Bezug auf meine Nächsten zu interpretieren, sondern ihn weiter zu fassen: zeitgeschichtlich, gesellschaftlich, politisch, wie dies bei A in den Überlegungen zu Röm 12,2 anklingt.
Die von Paulus mit dem Kairos angesprochene Erwartung hat sich zu seiner Zeit nicht erfüllt. Zumindest nicht so erfüllt, wie es die ersten Christengemeinden erwartet hatten. Christus ist nicht als Weltenrichter wiedergekommen. Dennoch hat die Metapher der Morgendämmerung die Christenheit geprägt, bis heute. Sie wurde aufgenommen in zahllosen Gebeten und Gesängen, die wir heute noch beten und singen. Es ist die Metapher der Differenz zwischen dem Vorfindlichen und dem Erhofften, zwischen den über weite Strecken ungerechten und inhumanen Verhältnissen der jeweiligen Gegenwart und dem Gottesreich, um dessen Kommen Christenmenschen beten. Auf dieser Schwelle bewegt sich der Glaube. Er ist ein Schwellenwesen.
Wenn dies zutrifft, dann handelt es sich hier um eine durchaus politische Metapher. Sie klingt in Kurt Martis Gedicht an: »das könnte manchen herren so passen / wenn mit dem tod alles beglichen / die herrschaft der herren / die knechtschaft der knechte / bestätigt wäre für immer // das könnte manche herren so passen / wenn sie in ewigkeit / herren blieben im teuren privatgrab / und ihre knechte / knechte in billigen reihengräbern // aber es kommt eine auferstehung / die anders ganz anders wird als wir dachten / es kommt eine auferstehung die ist / der aufstand gottes gegen die herren / und gegen den herrn aller herren: den tod.« (Marti, 29) – Für Marti folgt aus dem Kairos der Morgendämmerung der Einspruch, der politische Protest, die Positionierung in der Predigt.
Während ich diese Zeilen schreibe – es ist Palmsonntag 2025 –, provoziert Donald Trump den lange angekündigten Zollstreit. Seit seinem Amtsantritt hält er mit einschneidenden Entscheidungen die Welt in Atem. Andere Staatspräsidentinnen und -präsidenten, die dem Rechtspopulismus zuneigen, tun es ihm gleich, wenn auch in kleinerem Maßstab. Die Welt scheint in vielerlei Hinsicht auf einer Schwelle zu stehen: in Bezug auf die politische Ordnung und die internationale Zusammenarbeit, in Bezug auf Kriegshandlungen ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, in Bezug auf das Klima und das Artensterben, in Bezug auf technische Revolutionen wie die artificial intelligence. Paulus’ Metapher der Morgendämmerung lässt sich heute so leicht ins Politische und Kulturelle wenden wie schon lange nicht mehr. Doch scheint sich die Hoffnung auf das Gottesreich in eine Dystopie zu pervertieren. Die Gegenwart zeigt sich immer unübersichtlicher und vertrauensunwürdiger. Seit dem Zweiten Weltkrieg aufgebaute Friedensordnungen kollabieren. Die Universalität der Menschenrechte wird offen in Abrede gestellt und durch Nationalismen, Partikularinteressen und einen verblüffend populären Elitarismus ersetzt. Für Geschlechtergerechtigkeit, gegen Klimaerwärmung und für eine humane Migrationspolitik Engagierte begegnen Verachtung und Anfeindungen. In der nationalen und internationalen Forschungsförderung werden Klimaziele durch solche der Wehrfähigkeit ersetzt.
Die Hoffnung auf den nahenden Tag und den Aufgang der Sonne, die alles Dunkel vertreibt und die Welt in Licht und Farbe verwandelt, kann den Widerstand befeuern, aber auch naiv und brandgefährlich sein. Wie kommt es, dass viele unserer Zeitgenoss:innen den Ernst der Lage zwar sehen und ihr privates Leben moderat umstellen, indem sie weniger Fleisch essen und Auto fahren, aber nicht gewillt oder imstande sind, sich zu positionieren und in zivilgesellschaftlichen Gruppen wie Kirchen und Parteien verbindlich zu engagieren? Ist ihnen, ist uns der Glaube daran abhandengekommen, dass sich die gegenwärtige Übersichtlichkeit und Düsternis überhaupt noch aufhellt? Oder dass wir dazu noch irgendetwas beitragen können? Es gab in der Christentumsgeschichte immer wieder apokalyptische Bewegungen, die aus dem vermeintlich unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang Identität und Hoffnung für die eigene Gruppe schöpften, die Welt dem Bösen und Dunkeln überließen und folglich keine Notwendigkeit sahen, dem Rad in die Speichen zu fallen und sich für den nahenden Tag zu engagieren.
Paulus drängt dagegen zu radikaler Umkehr. Er ruft dazu auf, das eigene Leben umzukrempeln, sich dem neuen Äon gemäß zu verwandeln »durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr zu prüfen vermögt, was der Wille Gottes ist: Das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene« (Röm 12,2). Dafür ist es höchste Zeit. Der Kairos ist heute. Die scheinbar moralinsaure Epistel ist tatsächlich ein Weckruf zur Umkehr und eine konkrete Leitlinie dafür. »Bleibt niemandem etwas schuldig, außer dass ihr einander liebt« klingt zunächst harmlos und kleinbürgerlich. Einander ja nichts schuldig bleiben, sondern Geschenke, Einladungen und Hilfeleistungen möglichst zeitnah erwidern, ist eine Maxime, die viele – gerade auch kirchennahe Menschen – verinnerlicht haben. Ich will sie hier nicht schlechtreden. Geschenke und Großzügigkeit sind nie harmlos und selten selbstlos, sondern oft verbunden mit unausgesprochenen und unbewussten Erwartungen und sorgfältig gepflegten Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen. Aber Paulus meint etwas anderes. Angesichts des anbrechenden Gottesreiches sollen sich die Christ:innen nicht mit der Obrigkeit anlegen. Sie haben andere, gewichtigere Aufgaben.
Wenn Paulus die Liebe als Leitlinie und Habitus propagiert, um die Tora Gottes zu erfüllen, setzt er diese damit nicht außer Kraft. Sie gilt. Anständiges, humanes, großzügiges Verhalten ist heute so grundlegend und notwendig wie in der Antike. Ob unser Handeln tatsächlich anständig, human und großzügig ist, bemisst sich jedoch am Geist, in dem gehandelt wird. Es bemisst sich an der Liebe.
Die dürre Epistel verwandelt sich bei intensiver Betrachtung zum Leuchtturm in düsteren, dystopisch anmutenden Zeiten. Der beginnende Advent und die drohende Apokalypse sind die (nur scheinbar?) widersprüchlichen und herausfordernden Kontexte, in dem die Predigerin mit den Zuhörenden über das Gottesreich ins Gespräch kommt. Diese Kontexte muss sie der Gemeinde nicht in Erinnerung rufen. Sie sind ihr nur allzu vertraut. Aber es scheint mir angezeigt, ohne Scheuklappen hinzuschauen, das heraufziehende Unheil weder zu verschweigen noch schönzureden. Dies ist eine durchaus anspruchsvolle Aufgabe, die der Predigt aufgetragen ist. Denn nur wenn wir aufmerksam hinschauen, finden wir einen Stand für unsere Füße und Schritte, können Probleme und Abgründe erkennen und benennen, uns orientieren und werden handlungsfähig. Welches Verhalten dem Kairos und dem neuen Äon entspricht, ist weder generell und für alle zu beantworten noch dem:r Einzelnen anheimzustellen und damit zu privatisieren. Vielmehr sollte die Predigerin mit den Zuhörenden darüber ins Gespräch kommen, wie unser der Tora gemäßes Handeln hier und heute aussehen könnte, exemplarisch und zeichenhaft. Und zwar so, wie es dem Geist der Liebe entspricht, der die, die sich »nicht dieser Welt gleichstellen«, sondern ihren Sinn erneuern lassen, »auf dass [sie] prüfen könn[en], was Gottes Wille ist« (Röm 12,2), erfüllt. Ein Geist der Liebe, der sie hoffentlich in Bewegung setzt und ihnen Courage verleiht, über den sie aber an keiner Stelle verfügen und darum anderen immer auch schuldig bleiben.
Literatur: Kurt Marti, Ihm glaube ich Gott. Über Jesus, hg. v. B. Hauser/A. Mauz, Zürich 2024 (Erstveröffentlichung in: Kurt Marti, Leichenreden, Darmstadt 1969. Rechte: Kurt Marti Stiftung).
A
Lukas 21,25–33
»Heißa, dann ist Weltuntergang!«
Ursula Roth
Noch zwei Mal eine neue Kerze am Adventskranz anzünden, noch 17 Türchen am Adventskalender öffnen, noch 17-mal schlafen – »Heißa, dann ist Weihnachtstag!« (aus: »Morgen, Kinder, wird’s was geben«). Die Adventszeit ist längst nicht mehr Fasten- und Bußzeit, sondern ist eine Zeit der organisatorischen und emotionalen Vorbereitung auf das Weihnachtsfest (geworden). Dabei kann der Weihnachts-Countdown nicht nur verheißungsvoll, sondern auch bedrohlich anmuten – besonders dann, wenn die wachsende Vorfreude auf das Fest verbunden ist mit immer neuen, ebenfalls wachsenden To-do-Listen der Festvorbereitung. Maßgeblich sind dabei organisatorische Grundentscheidungen: Wie feiere ich, wie feiern wir als (Groß)Familie bzw. als Paar mit wem (Eltern, Kinder, Großeltern, Enkeln, Freundeskreis), wann, wo (ggf. individuelle/ familiäre Festagenda) und wie (Menüpläne, Geschenke, Baum?, Weihnachtskrippe, Deko? etc.). Die Perspektive der Adventszeit ist insgesamt klar: Der Blick ist fest auf das kommende Weihnachtsfest gerichtet, das als integrales Setting alle Aufmerksamkeit okkupiert.
Und doch erfährt diese Perspektive durch die vom Weihnachtsfest selbst ausgehende Blickregie eine charakteristische Umlenkung. Einem Rückspiegel ähnlich lenkt das Fest den Blick in die Vergangenheit. Das gilt bereits für die Gestaltung weihnachtlicher Festroutinen. Der Blick auf Weihnachten ist mit der Rückerinnerung an und der Rücksichtnahme auf teils jahrzehntelange und bisweilen sakrosankte (Familien-) Festtraditionen verbunden.
Vor allem aber wirkt das Weihnachtsfest durch seine inhaltliche Prägung wie ein umfassender, heilsgeschichtlich fundierter Rückspiegel. Er lenkt den Blick auf eine weit zurückliegende Vergangenheit: An Weihnachten feiern Christinnen und Christen, dass Gott Mensch wurde – zum Heil der Welt. »Welt ging verloren, Christ ist geboren« (EG 44,1). Der Blick geht zurück auf die Krippenszenerie als sinnbildlichen Ort für die Geburt Jesu – Maria und Josef mit dem Neugeborenen, der Stall zu Bethlehem mit Futterkrippe, Ochs und Esel, davor und drum herum die Hirten und die Weisen aus dem Morgenland. Der Blick auf die Menschwerdung Gottes ist so gesehen immer auch ein Blick auf ein (etwa) 2025 Jahre zurückliegendes Ereignis. Dessen konkrete Umstände lassen sich historisch zwar nicht im Einzelnen rekonstruieren. Aber grundsätzlich gilt als unstrittig: Jesus wurde geboren, und sein Leben wirkt bis heute nach.
Lk 21,25–33 ist Teil der sogenannten synoptischen Apokalypse (Lk 21,5–38), also jener endzeitlichen Rede, die Jesus nach Darstellung der synoptischen Evangelien in Jerusalem kurz vor seiner Passion gehalten hat. Im Lukasevangelium ist sie die letzte öffentliche Rede Jesu im Jerusalemer Tempel. Die darin angekündigten Zeichen für die Endzeit entsprechen traditionellen apokalyptischen Motiven der Schriftprophetie (Krieg, Erdbeben, Hungersnöte, Epidemien). (vgl. Bovon, 178) Sie spiegeln zugleich – solche Doppeldeutigkeiten sind für das Lukasevangelium typisch (aaO., 185) – das Leid und die Bedrängnis, denen Christen im 1. Jahrhundert ausgesetzt waren: die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n. Chr. (aaO., 184) sowie Verfolgung und Anfeindung. Konkret ist zu denken an »soziale Verdrängung, administrative Schikanen, Denunziation an die lokalen oder römischen Behörden, Prozesse und Lynchjustiz«. (aaO., 178)
Der Textausschnitt V.25–33 lässt sich in zwei Abschnitte unterteilen. In V.25–28 kündigt Jesus zunächst erschütternde Ereignisse am Himmel, auf Erden und im Meer als endzeitliche Zeichen an. Die Völker werden »nicht mehr ein noch aus wissen«, sie sind kopflos, in Dauerverwirrung (en aporia). (aaO., 186) In Erwartung dieser kosmischen Katastrophe und Konfusion werden sich unter den Menschen Erschöpfung und Furcht breit machen. Daraufhin (tote/dann) wird, für alle sichtbar, der Menschensohn kommen (V.27).
Dass diese Ereignisse für Christinnen und Christen kein Anlass für Furcht oder Schrecken sind, wird durch den allein hier im Lukasevangelium gebotenen Zusatz in V.28 hervorgehoben. Statt der erwartbaren paränetischen Mahnung ergeht an die Leserinnen und Leser der Aufruf zu Freude und Hoffnung. Denn dann sei Zeit, sich aufzurichten und hoffnungsfroh auf die nahende Erlösung zu blicken. Die verheißene Befreiung (apolytrōsis) ist – dem lukanischen Verständnis von »Heil« entsprechend (vgl. das Magnifikat Lk 1,46–55) – umfassend zu verstehen. Es geht um die »persönliche und soziale Befreiung, die Erneuerung von Leib und Seele, das Ende der Ungerechtigkeiten und der Unterdrückungen, die Errichtung von Gerechtigkeit und Frieden, sowie die Umkehrung der Verhältnisse«. (Bovon, 191)
Das Gleichnis vom Feigenbaum (V.29–31) bestätigt mit dem Bild vom Baum und den jungen Blättern den Zusammenhang von Zeichen und Ereignis: Das Reich Gottes ist nah. Die beiden Sentenzen in V.32f. ordnen all das zeitlich ein (»dieses Geschlecht«) und autorisieren die Worte durch den Verweis auf die bleibende Dauer der Worte Christi. Die Angabe »dieses Geschlecht« übernimmt Lukas aus seinen Quellen. Angesichts des lukanischen Grundanliegens, Geschichte und Eschatologie zusammenzudenken und einer unmittelbaren Naherwartung zu wehren, schlägt Bovon vor, die zeitliche Verortung im Sinn von »dieses Zeitalter« zu begreifen.
Lk 21 irritiert, ja: stört mit seiner apokalyptischen Perspektive die vorweihnachtliche Optik erheblich. Der Text erinnert kurz vor dem Weihnachtsfest daran, dass die Vollendung des Heils noch aussteht – jetzt, vor dem Fest, und dann, nach dem Fest. Auch während der Festtage sind die Nachrichtenkanäle voll von Berichten über Krieg und Gewalt, Unrecht und politische Willkür, Naturkatastrophen und Unglücksfälle. Auch im privaten Kontext lassen sich die Verwerfungen und Risse in Partnerschaft und Familie an Weihnachten womöglich überspielen, aber nicht auflösen. Sie sind weiterhin schmerzlich spürbar. Die Welt bleibt erlösungsbedürftig – auch nach Christi Geburt.
Lk 21 positioniert mich neu: zwischen Christi Geburt und seiner Wiederkunft, zwischen Menschwerdung Gottes und der Vollendung des Heils. In dieser Zwischenzeit bin ich herausgefordert, neu auf Weihnachten zu schauen. Lk 21 lädt mich dazu ein, Weihnachten nicht nur im Rückblick auf Bethlehem, sondern in Vorfreude auf Christi Wiederkunft zu feiern. Den Blick gen Zukunft gerichtet, nach vorne offen, im Wissen und im Schmerz um das Unheil und Leid in der Welt. Anders als in der Bibel stelle ich mir vor: Der Stern von Bethlehem zieht weiter. Die Weisen machen sich wieder auf den Weg. Vielleicht packen mit ihnen dieses Mal auch die Hirtinnen und Hirten ihre sieben Sachen und kommen mit. Und folgen dem Stern, der einladend allen die Richtung weist.
Lk 21 mahnt mich, das jährlich gefeierte Erinnerungsfest an die Geburt Christi nicht zum Anlass zu nehmen, mich mit dem Zustand der Welt zufrieden zu geben und das Leid in den Kriegsgebieten und auf den Flüchtlingsrouten der Welt, in den Dürregebieten und Erdbebenzonen, die Demütigungen und die Gewalt in den privaten vier Wänden als Normalzustand zu akzeptieren. Die Krippe ist erst der Anfang. Wir warten weiter – denn die Erlösung steht noch aus. Am 2. Advent möchte ich in die Welt hinausrufen, dass das Unheil und das Leid ein Ende haben, nicht von Dauer sein werden. Dann wird es heißen: aufschauen, sich (und auch sich gegenseitig) aufrichten, den Blick heben, denn die Erlösung ist nah.
Das Warten geht weiter. Die Türchen im Adventskalender, die Kerzen auf dem Adventskranz können auch nach Weihnachten in die christliche Praxis des Wartens, in eine adventliche Existenz einüben. Und dann merke ich: Mein Adventskalender ist entschieden zu kurz. Es braucht noch mehr Türchen. Mehr Adventskerzen. Und ich stelle mir vor: Wie wäre es, den eigenen Jahreskalender als Adventskalender zu nutzen? Die Felder oder Spalten, mit denen im Jahreskalender die einzelnen Tage markiert sind, als Adventskalender fortzuführen – nur in Gedanken oder auch tatsächlich: mit Bleistift, Kugelschreiber oder den Tools des Online-Kalenders. Ab und zu in die Felder des Kalenders mit zwei schnellen kleinen Strichen symbolisch eine kleine Türklinke oder mit kreativer Lust einen prächtigen Torbogen einzeichnen. Oder die Tagesfelder mit dem Inhalt eines geöffneten Türchens füllen: einem Stern, einem Herz, einem Engel oder einer roten Christbaumkugel. Und dann wäre jede Kerze, die ich entzünde – ob im Wohnzimmer, auf dem Balkon, als kleines Teelicht im Stövchen oder als ewiges Licht auf dem Friedhof – eine Adventskerze, die mich daran erinnert, dass wir auf Christus warten.
Jedes Türchen im Jahreskalender und jede entzündete Kerze wären eine Einladung, mich auf das hoffnungsfroh, unbeirrbar und beherzt tätige Warten einstimmen zu lassen. Und jeden Tag neu zu fragen: »Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?« (EG 7,4)
Literatur: Franҫois Bovon, Das Evangelium nach Lukas (EKK III/4), Neukirchen-Vluyn/Düsseldorf 2009;
Internet: »Morgen, Kinder, wird’s was geben, https://de.wikipedia.org/wiki/Morgen,_Kinder,_wird%E2%80%99s_was_geben (zuletzt abgerufen am 20.04.2025).
B
Martin Vorländer
A schreibt: »Lk 21 irritiert, ja: stört mit seiner apokalyptischen Perspektive die vorweihnachtliche Optik erheblich.« Das wirkt harmlos formuliert angesichts des Weltuntergangs, den Lk 21 in Aussicht stellt. »Störfall« ist zu schwach, um auf den Begriff zu bringen, womit der Predigttext rechnet. Bei einem Störfall gibt es ein Vorher und ein Nachher. Ein Störfall erschüttert, doch die Erde wird sich weiterdrehen, wenn auch anders.
Lk 21 ist mehr als eine Disruption des Bisherigen, und sei sie noch so negativ und heftig. In der lukanischen Apokalypse verkehrt sich die Schöpfung in ihr Gegenteil. Der Kosmos stürzt zurück ins Chaos. Das Meer rebelliert gegen die ihm gesetzten Grenzen. Es herrscht Tohuwabohu wie vor der Schöpfung. Die Kräfte des Himmels geraten ins Wanken. Das jagt selbst ansonsten unerschrockenen Galliern wie Majestix Angst und Schrecken ein, der wie seine Landsleute bekanntlich nichts mehr fürchtet, außer dass ihm der Himmel auf den Kopf fällt. Aber die, zu denen Jesus hier spricht, dürfen ihre Häupter erheben. Sie können sich freuen, »weil sich eure Erlösung naht« (V.28). »Die ganze Glut der Enderwartung liegt in diesem Worte.« (Büchsel, 354)
Heißa, Weltuntergang! Und das am 2. Advent. Apokalypse & Adventskranz. Da gibt es streng genommen kein »&«. Die beiden verbindet erst einmal nichts. Die Adventszeit läuft auf einen Anfang zu – auf die Geburt des Heilands. Apokalypse hingegen bedeutet Ende der Welt. Das steht in keinem Adventskalender. Das pustet jede Adventskerze aus. Aber es facht die ultimative Freude an, meint Lukas. Wir steuern nicht ins Nichts, selbst wenn Himmel und Erde vergehen. Der Menschensohn wird kommen als Retter, nicht als der Gerichtsvollzieher, der in die ewige Verdammnis stößt.
Wie A schreibt: Die lukanische Apokalypse kommt ohne »paränetische Mahnung« aus. Kein »Jetzt ist noch Zeit. Kehre um! Tue Buße!« Stattdessen ein pures »Kopf hoch! Erlösung voraus!« Das ist wie eine kleine apokalyptische Körperübung im Advent: mich in der Kirchenbank aufrecht setzen, den Kopf heben und mir vor Augen führen, wie ich mir Erlösung ausmale. Was sollte endlich einmal ein Ende haben? Da fällt mir einiges ein. Dem Autor des Lukasevangeliums auch, der sich von Anfang an eine Umkehrung der Welt vorstellt. Das deutet A an mit dem Hinweis auf das Magnifikat Lk 1,46–55: Gewaltige stößt Gott vom Thron und erhebt die Niedrigen. Wer hat, bekommt nicht immer noch mehr. Stattdessen füllt Gott die Hände der Habenichtse. Das bricht mit dem Kommen Jesu an. Lukas bringt Apokalypse und Advent tatsächlich zusammen: Das Ende steht noch aus. Aber es wirkt schon hinein in die Zeit. Die Spannung zwischen der Wucht der Apokalypse und ihrer adventlichen Wirkung für das Hier und Jetzt will ich in der Predigt nicht auflösen, sondern halten.
Apokalypse ist nicht der Stoff, aus dem die Weihnachtsfilme sind. Aber Apokalypse fasziniert und erschreckt. Die Lust am Weltuntergang ist ein Evergreen. Vielleicht ist es der Luxus einer Wohlstandsgesellschaft, sich an Szenarien mit Flutwellen, Meteoriteneinschlägen und Klimakatastrophen zu ergötzen. In vielen Filmen sorgt die Menschheit selbst für ihr Aussterben durch einen Atomkrieg und vernichtet den Planeten gleich mit. Es bereitet wohlige Schauer, sich hineinzuversetzen, wie es ist, auf den Untergang zuzusteuern – ob in den letzten Tagen von Pompeji, auf der Titanic oder in Babylon Berlin.
Eine Ahnung davon haben die vergangenen fünf Jahre beschert mit Pandemie, Kriegen, Wetterextremen. Hinzu kommen politische Erschütterungen und Veränderungsdruck, der viele unter Stress setzt, erschöpft oder aggressiv macht. Was lange Bestand hatte, gerät ins Wanken. Da kann man schon mal an die Vorzeichen der Endzeit denken, wie sie die Bibel beschreibt: »Ein Volk wird sich erheben gegen das andere […] und es werden geschehen große Erdbeben und hier und dort Hungersnöte und Seuchen«, steht ein paar Sätze vor dem Predigttext (Lk 21,10–11). Diese Realität kennt, wer nicht ohne Angst zum Himmel schauen kann, weil es daraus jederzeit Bomben hageln kann. Schon ein kurzer Blick in die Geschichte lehrt: Das gab es immer. Aber es führt jeder Generation neu vor Augen: Das Gefüge der Welt, wie wir sie kennen, ist nicht selbstverständlich. Nichts ist unendlich.
Es gibt auch die kleinen persönlichen Apokalypsen. Für den/die Einzelne:n, die es trifft, fühlt es sich an, als ginge eine Welt unter. Wenn eine große Liebe oder langjährige Beziehung scheitert und nichts mehr ist, wie es vorher wahr. Wenn eine Krankheit alles unter das Vorzeichen stellt: Ich könnte daran sterben. Wenn der Berufsweg, auf den ich mich verlassen habe, in eine Sackgasse führt.
Der Predigttext intoniert Apokalypse ganz anders. Nicht als schreckliches Drama, sondern als Happy End: »Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht« (V.28). Woher kommt die Freude aufs Ende? Apokalypse bietet einen Trost, wenn ich an der Welt leide. Welches Schicksal auch immer mich trifft, welche selbstherrlichen Herrscher auch immer sich daran machen, die Welt in Trümmer zu legen, nichts und niemand hat unbegrenzte Macht. Auch ihre Zeit wird einmal zu Ende gehen. Am Ende kommt der Menschensohn, kommt Erlösung.
Das hilft, die heutigen Schreckensverbreiter auf die Plätze zu verweisen. Es stärkt die Kraft, sich von den Möchtegerngroßen nicht einschüchtern zu lassen. Statt sich wegzuducken, das Haupt erheben und aufrecht leben. »Weil sich eure Erlösung naht.« Damit ist ein Begriff gefallen, der meine Hoffnung ist: Nähe. Ich wünsche mir Gottes Nähe, wenn Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen. Ich setze auf Gottes Nähe, wenn den Völkern bange wird. Ich vertraue auf Gottes Nähe, wenn die Kräfte des Himmels ins Wanken geraten. Und ich will mich freuen können, wenn dieses anfängt zu geschehen. Weil der Menschensohn kommt mit großer Kraft und Herrlichkeit. Wer immer der Menschensohn ist – Jesus? –, das lässt der Predigttext offen. (Zeller, 7f.) Jedenfalls kommt der Menschensohn von oben, von Gott. Wie ein Feigenbaum im Frühling zeigen die Zeichen, »dass das Reich Gottes nahe ist« (V.31). Mit dem Feigenbaum, der ausschlägt, sind wir bei den kleinen Zeichen, die A ans Herz legt, sc. der Vermerk im Kalender: Da kommt noch was. Die Kerzen am Adventskranz und jede Kerze, wo immer ich eine anzünde, die dafür leuchtet: Wir gehen nicht ins Nichts, sondern ins Licht.
Der Einstieg lässt sich literarisch mit einem Song oder einem Podcast wählen. Literarisch würde der Predigteinstieg in das »Restaurant am Ende des Universums« von Douglas Adams versetzen. Dorthin gelangt man per Zeitreise. Die Preise der Speisen sind exorbitant. Man kann sie sich leisten, wenn man vor Reiseantritt einen Cent anlegt. Angekommen in der Apokalypse hat sich der Cent zu einem Vermögen angereichert. Unter dem Gejohle der jeweiligen Bewohner:innen implodiert eine Galaxie nach der anderen. Douglas Adams inszeniert die Schaulust am eigenen Untergang, den man genießt, solange man ihn sicher in einer Zeitkapsel verfolgen kann. Aber was, wenn die Apokalypse wirklich wird?
Die positive Vision einer Zeit, in der die Grundübel der Menschheit ein Ende gefunden haben, entwirft Bodo Wartke, der Klavierkabarettist – Sie wissen schon, der mit »Barbaras Rhabarberbar«. In seinem Lied »Überwunden« singt er: »Wir haben den Rassismus überwunden, er findet endlich nirgendwo mehr statt. Und nach und nach verheilen all die Wunden, die er Jahrtausende lang geschlagen hat.« Und weiter: »Auch den Faschismus haben wir überwunden, es wird keine Minderheit mehr unterdrückt. Wir brauchten dafür ein paar Ehrenrunden, aber mittlerweile ist es überall geglückt.« Was weiter wüssten wir gern überwunden? Lieber früher als später. Das ist die Naherwartung von Lk 21. »Apokalypse & Filterkaffee« heißt der Nachrichtenpodcast des Fernsehmoderators Micky Beisenherz. Er hat ihn im April 2020 gestartet – zu Beginn des ersten Corona-Jahrs. Spätestens seitdem haben viele Nachrichten etwas Endzeitliches. Und doch konsumiert man sie so alltäglich wie Filterkaffee. Apokalypse trifft Alltag. Auch im Predigttext, der das Weltende und einen Feigenbaum zusammenbringt.
Im Mittelteil trifft Apokalypse auf Advent. Er skizziert den Graben zwischen Zimtsternen und Zeitenende, die Faszination und das Erschreckende an Apokalypse (siehe V).
Wie im Predigttext kommt zum Schluss das Erstaunen darüber, dass Apokalypse hier als Anlass zur Freude vorgestellt wird. Was, wenn das Weltende kommt und das wird schön? Ich würde enden mit Gefühl. Mit dem Gefühl von Nähe. Wer will, macht aus dem Song »Stand by Me« von Ben E. King ein Adventslied: »If the sky that we look upon, should tumble and fall or the mountains should crumble to the sea, I won‘t cry, I won‘t cry, no, I won‘t shed a tear just as long as you stand, stand by me.« Solange Gott bei uns ist und kommt.
Lieder: O Heiland, reiß die Himmel auf (EG 7); Der Himmel, der ist (EG 153); So sei es, Herr: die Reiche fallen (EG 266,5).
Literatur: Douglas Adams, Das Restaurant am Ende des Universums. Band 2 der fünfbändigen »intergalaktischen Trilogie«, Zürich 2017; Hermann M.F. Büchsel, Art.: apolytrōsis, ThWNT IV (1942), 354–359.
Internet: Dieter Zeller, Art.: Menschensohn, WiBiLex 2011, https://bibelwissenschaft.de/stichwort/51995;Bodo Wartke, Überwunden, https://www.facebook.com/reel/548456634710977 (beide zuletzt abgerufen am 06.05.2025).
A
Lukas 3,(1–2)3–14(15–17)18(19–20)
Rosige Zeiten? Mit dem Täufer auf die Welt schauen
Wiebke Köhler
Der dritte Advent: Sonntag »Gaudete«, liturgische Farbe Rosa, in römisch-katholischer Tradition. Ich assoziiere damit immer den Besuch in einer Domschatzkammer, in der wunderbare, fünfhundert Jahre alte Messgewänder aus Seide, Gold- und Silberstickerei ausgestellt waren – die Schauseite »ex oriente«, also mit dem Rücken zum Kirchenvolk. Die Seide in perfektem Zustand und rosigstem Rosa glänzt aus der Vitrine. Es sieht aus wie eine Aufforderung zum Tanz in eine rauschende Ballnacht hinein. Und dazu passt genau der Ausspruch von Papst Franziskus: »Il carnevale e finito, eh?«, als er direkt nach der Papstwahl sich die Hermelin-besetzte Mozzetta nicht umhängen lassen wollte. Rosa ist aber auch die unweihnachtlichste Farbe, die man sich vorstellen kann. Das zu sagen ist vielleicht ein charmanter Auftakt, bevor die harten Worte des Predigers in der Wüste fallen. Am Ende des Gottesdienstes jeder und jedem eine zart-rosa Rose zu überreichen, könnte den ermutigenden Kontrast sichtbar machen und eine eindrückliche Duftnote setzen.
Spirituell aufmerksam: Noch zehn Tage bis Heiligabend. Der dritte Advent verlangt in seinen Texten spirituelle Aufmerksamkeit, Johannes der Täufer bereitet uns auf Jesu Ankunft vor. In welcher Verfassung sind wir? Welches schuldhafte Versagen, welche Bosheit, welche Scham lässt uns nicht los? Wovon wollen wir befreit werden, wo wäre Buße eine Erleichterung? Wie können wir neue, gangbare Wege schaffen, Hindernisse der Angst bereinigen? Wir sind getauft, aber bringen wir »rechtschaffene Früchte der Buße«? Selbstvervollkommnung kann nicht gemeint sein.
Im Gottesdienst am dritten Advent könnte es auch politisch werden. Die Perikope eignet sich dazu, mit den Ansprüchen des Täufers auf die Gegenwart zu sehen.
Lukas verortet Johannes sorgfältig in den historischen und geopolitischen Zusammenhängen, die ihm zur Verfügung stehen. Daraus lassen sich als Zeitpunkt für das erste Auftreten des Täufers die Jahre 28/29 n.Chr. annehmen. Johannes wird von Lukas nicht als Asket dargestellt. Er sieht ihn vielmehr als den Buß-Prediger, der mit der Taufe einen neuen Sitz im Leben für die prophetischen Worte des Reflexionszitats aus Jes 40 schafft: Der Ort seiner Predigt muss wie bei Jesaja die Wüste sein, in der die Berufung stattfindet, der Ort für die Taufe findet im Jordan-Wasser statt. Beide Orte stehen für unterschiedliche Aspekte: Die Taufe muss ein reinigendes, tief existentielles Geschehen sein, ebenso kann in der Wüste flammende und konsequente Buße thematisiert und erlebbar werden.
Die aggressive Wucht der Predigt des Johannes zeigt sich in den Metaphern von der »Schlangenbrut«, den »Steinen« und der »Axt an der Wurzel der Bäume«. Ein exklusives Gottesverhältnis, das von den Anforderungen der Buße entlastet, kann von den Anwesenden nicht in Anspruch genommen werden. Abrahams Kind zu sein, ist kein Privileg des jüdischen Volkes gegenüber Gott, angesichts von Sünde und Versagen untereinander und im Verhältnis zu ihm. Als Teil der Schöpfung sind die Abrahams-Kinder vergänglich wie alle Menschen und können den Zorn Gottes herausfordern. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Buße (3,7–9). Buße wird zur Grundstruktur der Existenz vor Gott. Sie entlastet, sie ermöglicht Neuanfänge vor dem Hintergrund von Schuld. Buße ermutigt zum Nachfragen.
»Was sollen wir denn tun?«, fragen die Anwesenden und unter ihnen die besonders hervorgehobenen Gruppen der Zöllner und Soldaten (3,10–14). Die rechtschaffenen Früchte der Buße, die Johannes fordert, sind sowohl elementar als auch unspektakulär: teilen, einander helfen, nicht betrügen, keine Gewalt anwenden, Gerechtigkeit und Genügsamkeit. Es geht darum, immer wieder aufs Neue basale menschliche Verhaltensregeln zu etablieren.
Die Abgrenzung der Perikope in der Auswahl der Verse macht deutlich, dass es am 3. Advent um die Figur des Täufers und seine Bußtheologie gehen soll. Der Abschnitt 3,15–17 wird deshalb ausgelassen und V.18 dient als Schluss. Eigentlich zielt die Perikope ab 3,21 auf die Taufe Jesu und den Empfang des Heiligen Geistes. Das Evangelium des dritten Advents ist das Benedictus, der Gesang des Zacharias anlässlich der Geburt seines Sohnes Johannes (Lk 1,68–79) und so mit dem Predigttext verbunden. »Und du, Kindlein, wirst Prophet des Höchsten heißen« (Lk 1,67). Die Gewissheit des Zacharias weist voraus auf das Wirken seines Sohnes im Rahmen des lukanischen Evangeliums.
Der Täufer spielt auch im Koran eine Rolle (z. B. Sure 3,38–41; 19,7.12–15). Er gehört mit in die islamische Rezeption christlicher Überlieferungen. Am 8. Dezember 2024 gab der als Abu Muhammad al-Dschulani bekannt gewordene Führer der HTS in Syrien, der nun seinen Geburtsnamen Ahmed Al-Scharaa benutzt, in der Umayyaden-Moschee in Damaskus den Sieg über das syrische Assad-Regime bekannt. Er tat es neben dem Schrein, an dem als Reliquie das Haupt Johannes des Täufers verehrt wird, und zwar sowohl von Sunniten als auch von Christen, denn Damaskus war in der Antike ein Zentrum der frühen christlichen Gemeinden. Der arabische Name von Johannes lautet im Koran: Yahya ibn Zakariya. Hier betete im Mai 2001 auch Papst Johannes Paul II. als erster Papst überhaupt in einer Moschee. Außerdem wird das Haupt Husains, eines Enkels von Mohamed, in einer der weiteren Gebetshallen verehrt.
Syrien hat nach dem furchtbaren Assad-Regime mit Millionen Toten eigentlich unlösbare Aufgaben vor sich. Die verschiedenen religiösen Gruppen im Land müssen die Frage beantworten: Was sollen wir tun? Und jede einzelne von ihnen muss die Werke der Barmherzigkeit, die Johannes der Täufer als rechtschaffene Früchte der Buße fordert, gemeinsam mit allen gesellschaftlichen Gruppen füreinander ausüben. Christen, Sunniten, Alawiten und Drusen – sie alle müssen den letzten wunderbaren Satz des Benediktus miteinander wagen: »... und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.«
Was sollen denn wir tun? Buße ermächtigt zur Nachfrage und sie könnte auch eine befreiende Perspektive in Hinblick auf das Weihnachtsfest eröffnen: Wie wollen wir feiern? Woran hindern uns Traditionen? Was tut uns gut? Wer braucht ein Geschenk? Was sollen wir tun? Noch zehn Tage bis Heiligabend!
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Cornelia Coenen-Marx
Die Zeitenwende-Rede von Olaf Scholz war vielleicht die wichtigste in seiner Kanzlerschaft. Drei Jahre später war klar: Es geht nicht nur um Krieg in Europa und die neue Aufrüstung des Militärs – es geht auch um weitere Transformationen, die nicht unmittelbar damit verbunden sind. Zeitenwende bedeutet auch Sozialwende, Verkehrswende, Wirtschaftswende, Energiewende – Herausforderungen, die lange verdrängt worden sind und mit denen durchaus unterschiedliche und widersprüchliche Visionen und Ziele verbunden sind. Inzwischen kommt die Bedrohung nicht mehr nur aus dem Osten, sondern auch aus dem Westen. Es geht um Geopolitik wie um die Zukunft der Weltwirtschaft und des Freihandels.
»Es muss sich etwas ändern, so kann es nicht weitergehen«, sagen viele – aber was sich ändern soll, wohin es gehen soll, ist strittig. Es wird gestritten über politische Werte und Ziele, über Bündnisse und Koalitionen. Dabei wird die Zeit knapp – um die Klimakatastrophe zu bremsen, die Sozialsysteme zu sichern, die eigene Abwehr aufzubauen. Die Schriftstellerin Anne Rabe schlug, während der schwarz-roten Koalitionsverhandlungen, vor, sich wieder mehr mit Moral auseinanderzusetzen – auch wenn das eine »unpopular opinion« sei. (Rabe) Leute wie Elon Musk nehmen derweil Abstand von moralischen Kriterien, wenn er z. B. sagt: »The fundamental weakness of Western civilization ist empathy.« (Musk) Und verspricht Reichtum, Wachstum und Wohlstand, eine neue Zeit am Himmel wie auf der Erde, während er Stellen bei USAid streicht und damit unzählige Menschen in Hunger und Armut stürzt. »Es könnte also auch politisch werden«, schreibt A. Ich meine, die Wucht der Auseinandersetzungen nicht nur in den USA erinnert daran: Bei der aggressiven Kritik des Täufers geht es nicht nur um persönliche Moral, sondern eben auch um die politische Dimension unseres Handelns – gerade als Christinnen und Christen.
Die Angst vor der drohenden Apokalypse, die Angst schon vor Auseinandersetzungen, lässt viele den Kopf in den Sand stecken. Heute führt sie uns mit Johannes in die Wüste. Die Wüste sei ihm »Begleiterin in entscheidenden Lebenssituationen« geworden, schreibt Ulrich Tietze. »In der Wüste kannst Du keine Maske tragen. Ohne dass Du einen Spiegel in der Hand hast, siehst Du dir dort so sehr selbst ins Gesicht, dass es fast unerträglich sein kann. Vielleicht ist in der Wüste jeder Mensch […] der Wirklichkeit Gottes so nahe wie nur möglich. Wüste, das ist Extrem-Erfahrung in jeder Hinsicht, schmerzhaft und bitter in manchen Momenten, heilsamer und weiterführender aber als vieles andere.« (Tietze, 154) Der Ort, an dem, wie A schreibt, flammende und konsequente Buße stattfinden kann. Hier lernen wir mit den Ansprüchen des Täufers auf die Gegenwart zu sehen.
Johannes, der Prophet in der Wüste, verspricht eine neue Zeit – aber Wohlstand und Reichtum spielen dabei keine Rolle. Matthäus stellt ihn (anders als Lukas) als asketische Figur im Fellmantel dar – einer, der sich ernährt wie im Survival-Training. Lukas zeigt ihn als Rebell in dieser Zeit, die von Wut nur so bebt. Herodes ist damals ebenso unbeliebt wie die römischen Besatzer – es wird Zeit, dass sich etwas ändert. Aber Johannes macht klar: Wer Veränderung will, muss bei sich selbst anfangen. Da gibt es keinen Express-Weg für Insider, keine Ausnahme für bestimmte privilegierte Gruppen.
»Die Zukunft ist keine ferne Zeit, sondern etwas, das alle Menschen ständig erzeugen«, schreibt Florence Gaub. Es sei ein Irrglaube, meint sie, dass die »größere, kollektive Zukunft sich grundlegend von der kleinen, persönlichen Zukunft unterscheidet. Erstere gehört vermeintlich in die Hände von Regierungen und Unternehmen und wird mit strategischen Vorausberichten und Big Data gemanagt, letztere mit Tagebüchern und Vision Boards. Aber diese Unterscheidung ist falsch – alle Zukünfte sind miteinander verbunden.« (Gaub, 8f.) Die Wüste ist ein Ort, wo man das spürt. Hier, am Rand der Welt, sieht man den Vorschein der Zukunft, man hört die Stimmen, die Wege weisen. Die Menschen, die zu Johannes gekommen sind, sind deswegen hier. »Was sollen wir denn tun?«, fragen sie. Das ist die entscheidende Frage. Es geht nicht darum, dass die Politik endlich die richtigen Entscheidungen trifft, es geht um jeden Einzelnen, alle miteinander. Es reicht nicht, passiv zu warten, was kommt – es geht darum, dem Kommenden den Weg freizumachen. Mit Beten und Handeln. Was also sollen wir tun? Die Frage wird hier drei Mal gestellt – so dringlich ist sie.
Und Johannes antwortet. Er hält zunächst seine Standespredigt für die, die mit Geld, Macht und Gewalt zu tun haben. Zolleinnehmer und Soldaten. In diesem Jahr standen sie wieder öfter im Scheinwerferlicht. Trump spielte mit Zöllen, um »Amerika wieder groß zu machen« – und er genoss seine Macht. Und neben dem Zollkrieg aus dem Westen erlebten wir die blutigen Kriegseinsätze im Osten – auch dort Kämpfe um Macht und Unabhängigkeit. »Fordert nicht mehr, als Euch vorgeschrieben ist«, ermahnt Johannes die Zöllner. Und den Soldaten sagt er: »Tut niemand Gewalt noch Unrecht«, »lasst Euch genügen an Eurem Sold.« Für anständige Leute eigentlich Selbstverständlichkeiten. Aber was ist noch selbstverständlich unter der Besatzung? Vom römischen Kaiser über Herodes, der den Wüstenprediger bald schon aus dem Weg räumen lässt, bis zu den Hohenpriestern sieht Johannes die Machtverhältnisse mit klaren Augen. Er weiß: Die Zolleinnehmer und Soldaten sind nicht frei – sie stehen in einer Befehlskette. So mahnt er nicht mehr an als professionelle Sachlichkeit und die notwendige Distanz zum eigenen Ego. Sich nicht hinreißen lassen, kühlen Kopf bewahren. Der Gier keinen Raum geben, Kriegsverbrechen nicht zulassen.