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Der Sprössling ganzer Generationen bedeutender jüdischer Gelehrter aus Osteuropa und selbst ein Rabbiner, war Jacob Taubes (1923-1987) ein bedeutender Vertreter des Judentums in der Nachkriegszeit. Sein Weg führte ihn von seiner Geburtsstadt Wien über Zürich nach Israel, von dort nach New York und West-Berlin. Taubes war ein intellektueller Impresario, dessen Leben die Konflikte zwischen jüdischem Glauben und Christentum, aber auch den Theorien der Moderne, vor allem der Kritischen Theorie widerspiegelt. So entfaltet die Erzählung der vielen Leben dieses Professors der Apokalypse, dieses Anwalts der Utopie, seiner theoretischen Entwürfe und politischen Stellungnahmen zugleich ein ganzes Panorama der Nachkriegszeit mit Theodor W. Adorno, Gershom Scholem, Jürgen Habermas, Peter Szondi, Herbert Marcuse, Susan Taubes, Carl Schmitt, Martin Buber und vielen anderen als seinen Fürsprechern wie Gegnern.
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Seitenzahl: 1307
3Jerry Z. Muller
Professor der Apokalypse
Die vielen Leben des Jacob Taubes
Aus dem Englischen von Ursula Kömen
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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Professor of Apocalypse. The Many Lives of Jacob Taubes bei Princeton University Press, Princeton, NJ.
eBook Jüdischer Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe im Jüdischen Verlag.
© der deutschsprachigen AusgabeJüdischer Verlag GmbH, Berlin, 2022Copyright © 2022 by Princeton University Press
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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung des Originalumschlags von Princeton University Press / Lauren Smith
Umschlagfoto: ullstein bild / Jung
eISBN 978-3-633-77484-5
www.suhrkamp.de
5Gewidmet Ethan und Tanaquil Taubes, ihrer Unterstützung und Geduld; sowie Noam Zion, dem verwandten und seelenverwandten Geist.
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
EINLEITUNG Warum Taubes?
Szenen aus dem Leben und Nachleben von Jacob Taubes
Anmerkungen zu den Quellen und zur Psychologie
Anmerkung zu den Namen
1 Jichus. Wien, 1923-1936
Von Galizien nach Wien
Jacobs Herkunft
Zwi Taubes' intellektuelles Milieu
Die Familie Taubes in Wien
Jacobs Schule in Wien
Große Erwartungen: Jacobs Bar Mitzwa
Von Wien nach Zürich
2 Die Adoleszenz in der Schweiz, 1936-1947
Die Familie Taubes in Zürich
Die prekäre Lage der Schweizer Juden
Zwi, Jacob und Paulus
Weltlicher Aktivismus
Die Wurzeln des christlichen Antisemitismus neu denken
Die Jeschiwa in Montreux und der Rebbe von Satmar
Intellektuelle Welten
Freunde
3 Intellektuelle Wurzeln und die großen Themen, 1941-1946
Lehrer
Max Weber und die Säkularisierung
Carl Schmitt und die Politische Theologie
Hans Urs von Balthasar und die Säkularisierung der Apokalypse
Karl Löwith und die Säkularisierung der Eschatologie
Die Faszination des Antinomismus: Bloch, Jonas und Scholem
4 Die Abendländische Eschatologie und darüber hinaus, 1946-1947
Doktor Jacob Taubes
Die erste große Liebe
Ein Brunnen voller Ideen
Der Zionismus und Palästina
Nach Amerika
5 New York und das Jewish Theological Seminary, 1947-1949
Jacob und seine Zeitgenossen
Die zweite große Liebe
Susan Feldmann
Nach Jerusalem?
6 Jerusalem, 1949-1952
Der Schauplatz: Jerusalem
Die Hebräische Universität
Religiöse Dilemmata: das Judentum und der jüdische Staat
Carl Schmitt von Jerusalem aus gesehen
Zwischen Philosophie und Theologie
Glaube, Vernunft und historisches Verständnis – und Spinoza
Susan und Jacob: Der Ketzer und die Heidin
Spannungen mit Scholem
Joseph Weiss und der Bruch mit Scholem
Zwischenspiel in Europa
7 Wie geht es weiter? 1952-1956
Taubes und die Frankfurter Schule
Harvard
Beacon Press
Ein legendärer Scherz
Von Harvard nach Princeton
Zwischenspiel in Princeton
8 Die Jahre an der Columbia University, 1956-1966
Der Aufbau des Studiengangs der Religionswissenschaften an der Columbia: jenseits der christlichen Apologetik
»Bevor es Google gab, gab es Taubes«
Glaube und Geschichte
Religiöse Ambivalenz
Taubes als Lehrer
Empathie und Verführung
Susan Sontag
Die Doktoranden
Eine gnostische Persönlichkeit
Verbindungen nach Europa
9 Zwischen New York und Berlin, 1961-1966
Alte und neue Freunde
Helmut Gollwitzer
Zwischen den Stühlen
Berlin
Gesprächspartner in Berlin und darüber hinaus
Taubes und Suhrkamp. Die Anfänge
Wie Taubes Bücher las
»Die Intellektuellen und die Universität«
Hans-Georg Gadamer
Eric Voegelin und Joachim Ritter
Theodor W. Adorno
Charakter und Überzeugung: Taubes und die Frauen
Susan
Margherita
Judith
Ingeborg
Janet
Edith
Familie: Mirjam und Zwi
Die Entscheidung
10 Berlin
Die Ehe mit Margherita von Brentano
Dozent in Berlin
Religionssoziologe
Der Ideengeber
Das Institut für Judaistik
Wieder Scholem
»Poetik und Hermeneutik«
Der Aufbau der Fakultät
11 Das apokalyptische Moment
Von Kojève bis zu Marcuse
Die »Demokratisierung« der Freien Universität
Israel und die Neue Linke: Taubes als gescheiterter Vermittler
12 Deradikalisierung und Krise, 1969-1975
Susans Roman und ihr Suizid
Institutionalisierter Radikalismus
»Prämie für Agitation«. Wolfgang Lefèvre
Taubes vs. Habermas
Die terroristische Verbindung
Joseph Wulf
Die Gegenoffensive der Professoren
Der »Fall Brentano«
Die osteuropäischen Dissidenten
Benjamin und Scholem
Die Arbeit bei Suhrkamp
Deradikalisierung
Scheidung und psychischer Zusammenbruch
Behandlung in New York
13 Ein wandernder Jude. Berlin – Jerusalem – Paris, 1976-1981
Rückkehr nach Berlin
Der Kampf mit Landmann und andere Gefechte
Das Ende des
FB
11 und die Neugründung der Philosophie
Nolte und Suhrkamp
Rückkehr nach Jerusalem
Die Scholem-Kritik
Französische Rückzugsorte
Das Hermeneutische Institut und Jacobs Berliner Kreise
14 »Ach, ja, Taubes …«
Eine Charakterskizze
Körperlichkeit und Intellektualität
Verführung, Verlassenheit, Verrat
Dramatik, Ambiguität und Ambivalenz
Einsamkeit, Melancholie und die Suche nach Anerkennung
15 Schmitt und die Rückkehr zur politischen Theologie, 1982-1986
Schmitt, Sander und der Benjamin-Brief
Die Treffen mit Carl Schmitt
Politik, Theologie und Geschichte: Taubes unter den deutschen Philosophen
Debatte 1: Die Legitimität der Neuzeit
Debatte 2: Die Gnosis und das moderne Zeitalter
Debatte 3: Politik, Theologie und Geschichte
Sander und Amalek
Depression, Festschrift, Herzinfarkt
Das Schmitt-Seminar an der
FU
Aleida und Jan Assmann
16 Schlussakt
Eine Hochzeit
Krebs
Die Vorbereitungen für das Ende
Ein letztes Mal Paulus
Tod und Beerdigung
17 Die Nachleben von Jacob Taubes
Sander: Taubes als Agent des Chaos
Über und gegen Carl Schmitt
Die politische Theologie des Paulus
Die gesammelten Aufsätze
Rivalisierende Erbschaftsanwärter
Aneignungen
Der jüdische Paulus
Der Einfluss auf die Assmanns
Taubes Übersetzen
Ein großer jüdischer Denker?
Institutionalisierung
Fazit
Dank
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Bücher
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EINLEITUNG
Wien, im März 1936. Die Bar Mitzwa von Jacob Taubes in der Synagoge in der Pazmanitengasse, einer der größten Synagogen Wiens; sein Vater ist hier Rabbiner. Jacob liest aus der Tora und der Haftara (dem Pentateuch und dem Buch der Propheten). Sein Vater spricht ihn an, erst auf Deutsch, dann auf Hebräisch, einem Hebräisch, das reich an biblischen und talmudischen Bezügen ist. Er erinnert Jacob daran, Spross einer sehr vornehmen Familie zu sein, die sich über Jahrhunderte zurückverfolgen lässt und Vorfahren in ihren Reihen aufweist, von denen einige große Meister des rabbinischen Gesetzes und chassidische Rabbiner waren.
St. Gallen, Schweiz, im Dezember 1944. Der radikale Antizionist und ultraorthodoxe Rebbe von Satmar trifft aus dem von den Nazis besetzten Ungarn ein. Er erreicht die Stadt in einem Zug, in dem sich nur eine Handvoll Juden befinden, gerettet nach Verhandlungen zwischen Vertretern des ungarischen Judentums und den Nazis. Da der Rabbiner keine der Schweizer Amtssprachen spricht, assistiert ihm der junge Jacob Taubes.
New York, im Januar 1949. Der frisch zum Rabbiner ordinierte und an der Universität Zürich in Philosophie promovierte Jacob wird am Jewish Theological Seminary auf eine Laufbahn als bedeutender jüdischer Gelehrter vorbereitet. Das Seminar holt 10den Philosophen Leo Strauss und beauftragt ihn damit, Jacob über den großen mittelalterlichen Gelehrten Moses Maimonides zu unterrichten. Jacob seinerseits hält ein Seminar über Maimonides, das von einer kleinen Gruppe aufstrebender jüdischer Intellektueller besucht wird – unter ihnen Daniel Bell, Nathan Glazer, Gertrude Himmelfarb und Irving Kristol –, die später zu den wichtigen Persönlichkeiten des amerikanischen akademischen und öffentlichen Lebens zählen werden. Er vermittelt ihnen unter anderem Strauss' Interpretation der politischen Funktion von Religion. In diesem Sommer zählen sie zu den Hochzeitsgästen von Jacob und Susan Feldmann.
Berlin, im Juni 1967. Das Rednerpult im Audimax der Freien Universität in Berlin, wo Jacob Taubes, nach Stationen an den Universitäten Harvard, Princeton und Columbia, nun lehrt. Dreitausend Studenten drängen sich im größten Hörsaal der Universität, um den Vortrag »Das Ende der Utopie« von Herbert Marcuse, der mit Jacob befreundet ist, zu hören. Gemeinsam mit Marcuse auf dem Podium sitzen der Star der studentischen Linken, Rudi Dutschke, und ihr höchstrangiges Fakultätsmitglied, Jacob Taubes.
Plettenberg, im September 1978. Die kleine Stadt im Sauerland, Heimat von Carl Schmitt. Hierher ist Taubes gereist, um den hochbetagten politischen Denker von Angesicht zu Angesicht zu treffen. Einst einer der angesehensten Akademiker Deutschlands, ist Schmitt nunmehr in großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit aufgrund seiner aktiven Unterstützung Hitlerdeutschlands diskreditiert. Taubes jedoch ist schon lange von ihm fasziniert. Schmitt und Taubes diskutieren unter anderem über eine angemessene Auslegung jener Passagen in Paulus' Römerbrief, die sich auf die Juden beziehen.
11Jerusalem, im August 1981. Das Podium des Weltkongresses für Jüdische Studien an der Hebräischen Universität. Jacob Taubes' Kritik an Gershom Scholem, dem bedeutenden Gelehrten der jüdischen Mystik und des Messianismus, zieht eine große Zahl von Hörern in den Saal. Längst hat sich zwischen Taubes und Scholem, dem einstigen Mentor Taubes', eine innige Feindschaft entwickelt.
Heidelberg, im Februar 1987. Die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft, an der der vom Krebs gezeichnete Taubes eine Vortragsreihe über die historische Bedeutung des Apostels Paulus improvisiert. Als Taubes am 21. März stirbt, hat er seit seiner Dissertationsschrift im Jahr 1947 – ein Werk, das längst vergriffen ist und kaum rezipiert wurde – keine einzige eigenständige Publikation mehr veröffentlicht.
2022. Ein Buchladen in Deutschland, Frankreich oder den USA. Vier Bücher von Taubes stehen nun in den Regalen: seine wiederveröffentlichte Dissertation, eine Aufsatzsammlung, ein schmaler Band über Carl Schmitt und eine überarbeitete Version seiner Vorträge über die politische Theologie bei Paulus. Taubes' Bücher wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt. Die politische Theologie des Paulus etablierte Paulus als eine radikale Figur, und einige europäische Intellektuelle, die sich seit der Diskreditierung des Kommunismus auf der Suche nach Inspiration befinden, greifen dies auf.
Wie wurde aus dem ordinierten Spross einer rabbinischen Gelehrtenfamilie ein einflussreicher Paulus-Interpret? Wie kommt es, dass sich Taubes so unterschiedlichen Charakteren wie Irving Kristol und Rudi Dutschke, Leo Strauss und Herbert Marcuse, Gershom Scholem und Carl Schmitt zuwendete? Und warum fühlten sich so viele intellektuelle Koryphäen zu verschiedenen Zeiten zu Jacob Taubes hingezogen?
12Diese und andere Fragen versuche ich in diesem Buch zu beantworten.
Das Leben von Jacob Taubes deckt einen großen Teil der Geistesgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ab. Das Schicksal, kulturelle Affinitäten und eine innere Rastlosigkeit führten ihn aus Wien, wo er in der Zwischenkriegszeit lebte, in die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs, ins New York der Nachkriegszeit, dann in den neu gegründeten Staat Israel, an mehrere bedeutende amerikanische Universitäten und schließlich an die Freie Universität in Westberlin, wo er den größten Teil seines beruflichen Lebens verbrachte – wobei er häufig nach Paris, London und Jerusalem reiste. Sein Leben war rastlos, voller Spannungen und Widersprüche. In den persönlichen Spannungen und Widersprüchen spiegelten sich viele größere Themen: der Konflikt zwischen Glauben und Wissenschaft; die Loyalität zu den eigenen Wurzeln sowie das Verlangen, diesen zu entkommen; institutionalisierte Zugehörigkeit und radikale Kritik; und, am wichtigsten, das Verhältnis von Religion und Politik.
Es waren wohl Taubes' großer Scharfsinn und seine exzentrische Persönlichkeit, von der sich so bemerkenswert viele und unterschiedliche Intellektuelle im deutschsprachigen Europa, den USA, Frankreich und Israel im zwanzigsten Jahrhundert angezogen fühlten. Er war ein Wissensspeicher der westlichen Hochkultur, sowohl der religiösen wie der säkularen, und fungierte zugleich als Klatschbörse über Akademiker und Intellektuelle aus drei Kontinenten. Er hatte einen weiten Horizont und war stets auf der Suche nach den größeren historischen Mustern. Er war vielsprachig, fließend in Deutsch, Englisch, Französisch, Hebräisch und Jiddisch, konnte Latein und Griechisch lesen. Wenn er in Stimmung war, konnte er ein bemerkenswerter Gesprächspartner sein, voller Energie, Gelehrsamkeit und mit einem beißenden Humor.
Und dennoch, in den Interviews, die ich mit zahlreichen Men13schen geführt habe, die Jacob Taubes kannten, war das am häufigsten genutzte Wort, um ihn zu beschreiben, »dämonisch« – eine Zuschreibung, die sowohl seine Feinde verwendeten als auch seine Freunde. Das ist gleichwohl nicht nur negativ konnotiert, schließlich ist »dämonisch« bei Platon auch eine halbgöttliche Quelle der Kreativität. Ein weiteres Adjektiv, das häufig auf Taubes angewendet wurde, ist »mephistophelisch«, das einen ähnlichen Beiklang von Gefahr und Inspiration gleichermaßen hat. Und dann gab es noch jene, die das weniger zweideutige »satanisch« wählten. Jacob Taubes strahlte die Faszination des Grenzüberschreitenden, Paradoxalen aus. Sein Leben fand auf der Grenze zwischen Judentum und Christentum statt, zwischen Zweifel und Glaube, zwischen wissenschaftlicher Distanz und religiöser Leidenschaft. Er neigte einerseits zur Abstraktion und andererseits zur Sinnlichkeit. Und er lebte ein reiches erotisches Leben.
Jene, die ihn kannten, diskutierten zu seinen Lebzeiten und auch noch danach die Tiefe, die Präzision und die Originalität seiner Ideen. Für manche war er ein Genie, für andere ein Scharlatan, für wieder andere »ein Hochstapler, aber kein Betrüger«.1 Wie wir sehen werden, gibt es für jede dieser Einschätzungen plausible Argumente.
Für seine Weggefährten war Jacob Taubes mitunter eine Quelle der Lebensfreude und des Frohsinns, aber er selbst war ein Gepeinigter und auch fähig, andere Menschen zu quälen. Er blühte im Chaos auf und erzeugte Chaos in seiner Umgebung. Er konnte das Leben anderer bereichern oder zerstören. Deshalb wurde ihm sowohl mit Liebe und Faszination als auch mit Angst und Abneigung begegnet – nicht selten von ein und derselben Person in verschiedenen Phasen ihrer Begegnung.
Aber dieses Buch beschäftigt sich nicht allein mit der Person Jacob Taubes. Es nutzt dessen Lebensweg, um die verschiedenene intellektuellen Milieus auszuleuchten, in denen Taubes sich bewegte. Sie zeigen das Zusammenspiel von christlichen und jü14dischen Theologen im Schatten des Holocaust; die New Yorker jüdischen Intellektuellen der Nachkriegszeit; die Hebräische Universität in Jerusalem in den späten 1940er und den frühen 1950er Jahren; die Akademisierung der Religionswissenschaften in den USA in den 1950ern; den Aufbau der Jüdischen Studien in Westdeutschland; sowie die Radikalisierung und Deradikalisierung der Studentenschaft in Westdeutschland von den 1960er bis in die 1980er Jahre.
Taubes ist als intellektueller Mittler von Ideen zwischen Amerika und Deutschland von den 1940er bis in die späten 1980er Jahre von besonderem Interesse, denn Funktionen wie seine wurden in der modernen Ideengeschichte selten untersucht. Ideen überqueren nationale und linguistische Grenzen nicht von sich aus. Für den Transfer sind sie auf Individuen angewiesen, die andere dazu animieren können, bestimmte Ideen ernst zu nehmen. Das sind zum Beispiel die Redakteure und Lektoren bei Zeitungen und in Verlagen, oder Personen, die Intellektuelle aus verschiedenen Disziplinen oder Nationen in akademischen Konferenzen zusammenbringen. Taubes war all dies. Er war ein selbsternannter Talentsucher und -förderer.
Taubes' Publikationsausstoß war mäßig. Doch sagt dies noch nicht viel über seinen Einfluss aus. Häufig regte er Innovationen an und empfahl anderen, sie zu verfolgen. Er wirkte hinter den Kulissen, war sozusagen als Geheimagent in der akademischen Welt unterwegs. Meistens erhalten jene Denker von den Historikern die größte Aufmerksamkeit, die mittels systematischer und kohärenter Forschung Einfluss genommen haben. Doch dann gibt es Figuren wie Taubes – viel schwieriger zu dokumentieren, aber nicht unbedingt weniger bedeutsam für das Geistesleben –, die diffuser wirken.
Für viele, denen er als Lehrer begegnete, verkörperte Taubes Gelehrsamkeit als Lebenseinstellung: ein Mensch, der nicht nur über Ideen grübelte, sondern diese auch mit Leidenschaft vermittelte. Die Breite seines Wissens, die Brillanz seiner Erkennt15nisse und sein beißender Humor konnten verblüffend sein. Obwohl er den Großteil seines Lebens in einem akademischen Umfeld verbrachte und an einigen der angesehensten Universitäten der Welt lehrte, war er alles andere als ein typischer Professor – das versuchte er auch gar nicht. Er strebte mehr danach, ein Seher zu sein als ein Wissenschaftler. Seine selbsternannte Rolle war die des Gnostikers, des Apokalyptikers oder des Revolutionärs – von der Krise genährt, immer auf der Suche nach Anzeichen drohender Zerstörung und Transformation in einer Welt, die er als teuflisch oder korrumpiert wahrnahm. Für manche war dies inspirierend, für andere beängstigend, manchen erschien er als Schatztruhe, anderen als Blender.
Dieses Buch vereint mehrere Genres. Es ist die Biografie einer komplexen, schillernden Persönlichkeit, es porträtiert Taubes' Kämpfe, seine inneren und äußeren Konflikte, die Erfolge und Enttäuschungen. Weil es die Biografie eines Intellektuellen ist, behandelt es natürlich auch die Ideen, mit denen er rang – und reflektiert, was er mit ihnen machte. Und weil der Protagonist mit so vielen führenden Intellektuellen in Europa, Israel und den USA im Gespräch war, ist es auch ein Mosaik der Geistesgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts und ein intellektueller Baedeker, eine Art Reiseführer über die wichtigsten Protagonisten, Schulen, Ideen und Kontroversen. Als solches versucht das Buch den Leserinnen und Lesern, die mit dem einen oder anderen Denker oder Milieu nicht vertraut sind, jene Informationen bereitzustellen, die nötig sind, um die Inhalte, um die es gerade geht, zu verstehen. Da es wohl nur wenige geben dürfte, die gleichermaßen mit der christlichen »Theologie der Krise«, der »Kritischen Theorie« der Frankfurter Schule, der radikalen chassidischen Sekte der Toldot Aharon und den Debatten der politischen Theologie vertraut sind, hoffe ich darauf, dass jene, die das eine oder andere bereits vertieft haben, im Sinn behalten, dass andere sich gerade in einer terra incognita befinden. Meine Intention ist es, dass die Leser etwas über neue intellektuelle 16Welten erfahren und die außergewöhnlichen Pfade kennenlernen, auf denen Jacob Taubes als Mittler, Förderer und Verbindungsglied zwischen ihnen hin und her pendelte.
Mein Interesse an Jacob Taubes speiste sich vor allem aus zwei Anliegen. Das eine war ein intellektuelles: Ich wollte ein Kapitel über das Verhältnis zwischen Religion und Politik, zwischen Glauben und historisch-philosophischer Religionskritik sowie Religionskritiken moderner liberaler Gesellschaften erkunden – ein Kapitel des zwanzigsten Jahrhunderts in einer Geschichte, die im siebzehnten Jahrhundert mit Hobbes und Spinoza ihren Anfang nimmt.
Das zweite war die Herausforderung, das Leben eines schillernden Denkers zu verstehen und herauszufinden, warum so viele Intellektuelle des zwanzigsten Jahrhunderts sich für ihn interessierten. Im Dezember 2003 traf ich Irving Kristol und seine Ehefrau, Gertrude Himmelfarb, im Anschluss an eine öffentliche Vorlesung über Leo Strauss. In der Vorlesung hatte der Redner Strauss' Analyse von Maimonides in Persecution and the Art of Writing diskutiert. Ich fragte die beiden, ob sie sich an ein Seminar mit Jacob Taubes erinnerten, von dem ich gehört hatte und an dem sie vor mehr als einem halben Jahrhundert teilgenommen hatten. Irvings Augen begannen zu leuchten: Ob er sich erinnere? Natürlich tue er das, denn Jacob Taubes sei unvergesslich, »der einzige wahrhaftig charismatische Intellektuelle«, den er jemals getroffen habe. »Irgendjemand sollte irgendetwas über ihn schreiben«, sagte Irving nachdrücklich. Ich nahm die Herausforderung an und versuche also das Leben eines charismatischen Intellektuellen nachzuzeichnen und einzufangen.
Die wichtigste Größe, um den Grad der Bedeutung eines Intellektuellen zu bemessen, sind üblicherweise die veröffentlichten Werke. Nicht so bei Taubes, der damit seine Schwierigkeiten hatte – zumindest soweit es sich um publizierte Texte handelte. Tatsächlich schrieb Taubes enorm viel, aber eben überwiegend in Form von Briefen an Kollegen, Freunde und manchmal auch an seine Feinde. Entsprechend habe ich viel von dieser Korrespondenz genutzt, um sein Leben nachzuzeichnen. Die Briefe liegen verstreut in Archiven und Magazinen in Europa, Israel und den USA. Als ich vor mehr als einem Jahrzehnt anfing, an diesem Projekt zu arbeiten, wurde mir bald klar, dass zu den wichtigsten Quellen, um Taubes' Leben und seine Bedeutung zu verstehen, die Menschen zählten, die ihn gekannt hatten. Ebenso klar war allerdings, dass einige von ihnen angesichts begrenzter Lebenserwartung nicht mehr lange unter uns sein würden. Mir war es daher wichtig, so viele Menschen wie möglich zu interviewen, die Jacob Taubes zu verschiedenen Zeiten seines Lebens gekannt hatten, von der Bar Mitzwa in Wien bis zu seinem Tod in Berlin. Es wurden mehr als hundert Interviews, manche führte ich telefonisch, viele persönlich. Die meisten Menschen, an die ich mich wendete, wollten sehr gern mit mir über Taubes sprechen, aber nicht wenige lehnten auch ab. Manchmal begründeten sie dies mit Kommentaren wie »Jacob Taubes war ein böser Mensch, man sollte die Erinnerung an ihn auslöschen«.
Erinnerungen sind natürlich immer mit Vorsicht zu genießen, sie sind stets bruchstückhaft und spiegeln häufig spätere Urteile wider. Ich verwende sie in erster Linie in Kombination mit den archivalischen oder veröffentlichten Quellen, und wo immer möglich habe ich versucht, mich auf verschiedene Interviews zu stützen, um Fakten zu belegen. Aber Jacob Taubes war ein Mensch, über den viele Geschichten erzählt wurden, sowohl 18von anderen als auch von ihm selbst. Letztlich sind diese Erzählungen Teil seiner Geschichte.
Als sehr wertvoll erwies sich für mich der 1969 erschienene Roman Divorcing von Jacobs geschiedener Ehefrau Susan Taubes. Obwohl es sich um ein fiktionales, also der schöpferischen Fantasie entsprungenes Werk handelt, hat es doch sehr starke Bezüge zum realen Leben von Jacob und Susan Taubes, das aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird, manchmal komisch, manchmal surreal. Mitunter verweist der Roman auf Ereignisse, die zur Ergänzung der Archivquellen hilfreich waren. Bei vorsichtiger Anwendung ist er eine weitere Quelle, die ich bei der Rekonstruktion dieses außergewöhnlichen Lebens in außergewöhnlichen Zeiten gewinnbringend heranziehen konnte.
In seinen frühen Fünfzigern durchlitt Taubes eine schwere Episode einer klinischen Depression, die schließlich als bipolare Störung diagnostiziert wurde, eine Erkrankung, bei der Phasen der Euphorie und großer Tatkraft sich mit solchen der Verzweiflung und Antriebslosigkeit abwechseln. Auch nach einer Behandlung durchlief er weiter manische und depressive Phasen von unterschiedlicher Intensität. Doch wie bei vielen Menschen, die an dieser Form der Krankheit leiden (die exakte klinische Diagnose lautete »Bipolar II«), traten die Symptome schon viel früher und in Form einer Hypomanie auf, einer leichteren Ausprägung der manischen Phase, die sich durch einen wahren Strom von Ideen und eine Leichtigkeit, diese miteinander in Verbindung zu setzen, auszeichnet.2
Hypomanen erleben wiederkehrend Phasen hoher Vitalität, strahlen einen großen Charme aus und weisen ein erhöhtes Wahrnehmungsvermögen auf, manchmal einhergehend mit einer schon fast unheimlich anmutenden Fähigkeit, die verwundbaren Stellen bei anderen zu finden und auch zu treffen.3 Wenn sie sich in der hypomanischen Phase befinden, neigen sie zu »übermäßigen genussvollen Aktivitäten mit häufig schmerzhaften Konsequenzen«.4 Die manische Depression ist lähmend und 19kräftezehrend, doch der Zustand der Hypomanie kann auch eine Quelle intellektueller Energie und sprudelnder Kreativität sein. Sie ist Teil von Jacob Taubes' Charisma und seiner Rätselhaftigkeit. Seinen Charakter und seine Persönlichkeit auf diese zugrunde liegende biologische Verfasstheit zu reduzieren, wäre irreführend – sie zu ignorieren aber ebenso.
Jacob und seine Familie verkehrten in vielen verschiedenen Sprachen – Deutsch, Hebräisch, Jiddisch und Englisch –, die Schreib20weisen ihrer Namen variierten entsprechend. Um es nicht unnötig zu verkomplizieren, habe ich versucht, bei jeweils einer Schreibweise eines Namens zu bleiben. Die ersten dreiundzwanzig Jahre seines Lebens schrieb er sich »Jakob«, als er in die USA zog, änderte er dies zu »Jacob« und dabei blieb es auch später.
Jacob bei seiner Bar Mitzwa, 1936
1
Wien, 1923-1936
Jacob Taubes stammte aus rabbinischem Adel und einer Kultur, für die eine vornehme Herkunft – auf Hebräisch Jichus – von großer Bedeutung war. Der 1923 in Wien geborene Jacob war das erste nicht in Osteuropa geborene Mitglied seiner Familie. Er wuchs in einer Familie auf, in der das jiddischsprachige osteuropäische Judentum ebenso wie das deutschsprachige mitteleuropäische Judentum gepflegt wurde, Gleiches galt für die Geisteswelten der traditionellen jüdischen Frömmigkeit und der modernen europäischen Gelehrsamkeit. Um Jacob Taubes zu verstehen, müssen wir also mit diesen Kulturen und Welten beginnen.
Bis kurz vor Jacobs Geburt lebte seine Familie in Galizien, einer Region, die man heute nicht mehr auf der Landkarte findet, weil sie den Umwälzungen des zwanzigsten Jahrhunderts zum Opfer gefallen ist. Früher war Galizien jedoch eines der Zentren jüdischen Lebens, eine Hochburg der frommen Bewegung der Chassidim und die Geburtsstätte von intellektuellen Koryphäen des zwanzigsten Jahrhunderts wie Martin Buber, dem Schriftsteller Shmuel Yosef Agnon und dem Historiker Salo Baron. Ungefähr ein Jahrhundert lang, vom Ende der napoleonischen Kriege bis zum Ende der Österreich-Ungarischen Monarchie, war Galizien die größte der Provinzen im österrei22chischen Teil des Reichs. Im Jahr 1867, als das Haus Habsburg versuchte, der wachsenden ethnisch-nationalistischen Stimmung Rechnung zu tragen, wurde Galizien unter die Verwaltung des polnischen Adels gestellt und Polnisch zur Amtssprache erklärt. Im Zuge der Auflösung der k.-u.-k. Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg wurde Galizien an den neugegründeten polnischen Staat angegliedert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der östliche Teil Galiziens Teil der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik und mit dem Zerfall der UdSSR Teil der Ukraine.
Unter den traditionelleren Juden Ostgaliziens, zu denen auch die Familie Taubes zählte, war das Jiddische, im galizischen Dialekt, die Alltagssprache. Kenntnisse des Polnischen waren eher selten. Aber als Führungspersönlichkeit in der jüdischen Gemeinde der Stadt Czernelica beherrschte Jacobs Großvater, Zechariah Edelstein, die polnische Sprache, und vermutlich hat er auch mit seinem Enkel Jacob in den 1920er und 1930er Jahren Polnisch gesprochen.1
Im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert wanderten Juden in großer Zahl aus Galizien in Richtung Westen aus. Sie hofften, der Armut ihrer Heimat zu entkommen, und strömten in die USA, nach Deutschland und Ungarn – und nach Wien, dessen aufstrebende jüdische Bevölkerung in wachsendem Maße aus galizischen Emigranten bestand. Aufgrund seiner geografischen, politischen und kulturellen Lage befand sich Galizien auf der Grenze zwischen Ost und West.
Die deutschsprachigen Juden in Deutschland und im Habsburgischen Reich bezeichneten die jiddischsprachigen Juden aus Osteuropa und Russland häufig als »Ostjuden«. Diese Unterscheidung war keine rein geografische: Sie bezog sich auch auf das kulturelle, gesellschaftliche und ökonomische Gefälle, das sank, je weiter man sich nach Osten bewegte. Die westlichen Juden definierten sich selbst über ihre Umgangsformen und ihre Ehrenhaftigkeit, einschließlich ihrer Kleidung und ihres Benehmens, die westlich geprägt waren; auch ihre Verbundenheit 23mit der westlichen Hochkultur und die Tatsache, dass sie die »traditionellen« jüdischen Erwerbstätigkeiten – wie etwa das als rückwärtsgewandt empfundene Hausieren – hinter sich gelassen hatten und nun stärker im Einzelhandel, im Bankenwesen, im Journalismus und den gelehrten Berufen etabliert waren, gehörten dazu. Diese Unterscheidung spiegelte sich auch in ihren Vorstellungen von jüdischer Identität wider. Dass Juden gleichermaßen eine Nation wie auch eine Religionsgemeinschaft bildeten, galt im Osten als selbstverständlich, während es im Westen religiöse Reformbewegungen gab, die das nationale Element über Bord warfen und sogar religiöse Verweise darauf aus dem Gebetsbuch entfernten.2 Gottesdienste fanden im Osten häufiger statt und waren eher unorganisiert und emotionaler. Im Westen waren sie seltener, stärker formalisiert und nüchterner. Aber die Unterscheidung zwischen Ost- und Westjuden war letztlich keine trennscharfe. Westjuden waren häufig Ostjuden, die erst vor ein oder zwei Generationen gen Westen ausgewandert waren und sich rasch an ihre neue Umgebung angepasst hatten. Darüber hinaus schritt auch in den osteuropäischen Gemeinden der Prozess der Übernahme europäischer Kultur und Sprachen voran. Die Unterscheidung zwischen West- und Ostjuden war also fluide, und die Einschätzung, was genau einen Ostjuden auszeichnete, befand sich ebenfalls im Fluss: Mochte für die einen ihr Lebensstil als rückständig gelten, war er für die anderen authentisch. Die Übernahme der westlichen Kultur und ihrer Umgangsformen wiederum konnte gleichsam als künstlich und unauthentisch gelten.3
Jacob Taubes stand mit je einem Fuß in beiden dieser Welten.
Jacobs Vorfahren waren die Familien Taubes, Eichenstein und Edelstein. Sie lebten in Städten, die zwischen dem Fluss Dnister 24im Osten und den Karpaten im Westen lagen. Die größte Entfernung zwischen diesen Städten bildete mit ungefähr 80 km die Strecke zwischen dem am nördlichsten gelegenen Stanisławow (heute Iwano-Frankiwsk in der Ukraine) und Czernowitz (Tscherniwtsi) im Süden. Jacobs Vater stammte aus Czernelica, einer Stadt in der Region Stanisławow. Würde man eine Kompassnadel auf Czernelica richten und einen Radius von ungefähr 250 km Länge in Richtung Südosten ziehen, träfe man auf Iași, ein bedeutendes Zentrum jüdischen Lebens in Rumänien. Hier dienten mehrere Generationen der Taubes' als Rabbiner. Im Südwesten stieße man auf Sighet (die Heimatstadt von Eli Wiesel) und Satu Mare, die (damals in Ungarn, heute in Rumänien gelegene) Heimat der Satmarer Dynastie, antizionistische chassidische Rabbiner, die eine starke, wenn auch nur vorübergehende Anziehungskraft auf Jacob Taubes ausübten.
Für Juden, die in Ostmitteleuropa lebten, in einer Zeit, in der sich Nationalstaaten noch nicht überall herausgebildet hatten, waren diese politischen Bezeichnungen nicht maßgeblich. Ihr kultureller Horizont war nur bis zu einem gewissen Grad von den sich verschiebenden politischen Grenzen der multinationalen Reiche, in denen sie lebten, beeinflusst. Die familiären Beziehungen der Taubes', der Eichensteins und der Edelsteins reichten über Galizien hinaus, bis in die Bukowina, nach Rumänien und Ungarn.
Zwar gab es keinen jüdischen Adel im Sinne von Gutsbesitzern mit militärischer Historie, aber es gab eine Aristokratie des Intellekts und des Geistes. Ein Zeitgenosse drückte es folgendermaßen aus: »Das Amt des Rabbiners ist wie ein Adelsbrief.«4 Die Abstammung (Jichus) spielte also eine große Rolle, und die Taubes konnten, wie viele rabbinische Geschlechter, ihre Familie bis zu Rashi, dem bedeutendsten der jüdischen Exegeten des Mittelalters, zurückverfolgen.5 Die Namen Taubes, Edelstein und Eichenstein standen alle gleichermaßen für eine Herkunft aus dem rabbinischen Adel.
25Nachnamen waren eine relativ neue Praxis. Sie wurden eingeführt von einer wachsenden staatlichen Bürokratie, die so versuchte, einen besseren Überblick über die Juden als Staatsangehörige zu erhalten, für Steuerzwecke und die Einberufung zum Wehrdienst. Im Jahr 1777 verfügte der Habsburgische Monarch Joseph II., dass die Juden Galiziens und der Bukowina feste und erbliche Nachnamen erhielten. Diese neuen Namen wurden häufig von den ausgesprochen nichtjüdischen königlichen Bürokraten vergeben und zeugten nicht selten geradezu von Bösartigkeit. Jacob Taubes' Mutter Fanny zum Beispiel erhielt den Nachnamen »Blind«.
Die Herkunft des Namens »Taubes« ist nicht eindeutig. Er könnte einerseits auf das Adjektiv »taub« zurückgehen, wahrscheinlicher ist jedoch, dass er auf dem jiddischen weiblichen Vornamen »Toybe« basiert, der wiederum auf die »Taube« (jiddisch: Toyb) zurückzuführen ist.6 Die jiddische Orthografie war im neunzehnten Jahrhundert nicht standardisiert, und so gab es viele verschiedene Schreibweisen. Juden untereinander sprachen sich herkömmlicherweise mit ihren Vornamen und ihrem Patronym (dem Namen des Vaters) an; und fügten manchmal, zur besseren Unterscheidbarkeit, noch die Heimatstadt hinzu. Ihre Vornamen waren üblicherweise Namen verehrter Vorfahren, die über Generationen hinweg immer wieder aufs Neue vergeben wurden. So auch bei Jacob Taubes, geborener Jacob Neta Taubes, oder Hebräisch »Yaakov«.
Besonders glanzvoll war Jacobs Abstammung seitens der Familie seiner Großmutter. Unter seinen Vorfahren aus dem achtzehnten Jahrhundert befand sich Yaakov Taubes von Lwów, der mehrere Generationen von Gelehrten hervorbrachte. Yaakobs Sohn – und Jacobs Urururgroßvater – Aharon Moshe Taubes von Sniatyn und Iași (1787-1852) war eine Koryphäe unter den talmudischen Gelehrten. Seine Glossen zum Talmud und den Kommentaren, Karnei Re'em, wurden in die Vilna Shas auf26genommen, die wiederum zum Standardwerk für das moderne Talmudstudium avancierte. Die Niederschriften seines Sohnes, Shmuel Shmelke Taubes, schafften es ebenfalls in die Vilna Shas.
Galizien war im neunzehnten Jahrhundert ein Zentrum des Chassidismus, und einer von Jacobs Vorfahren, Zwi-Hirsch Eichenstein von Zhidichov (1785-1831), war ein früher chassidischer Wunderrabbi und der Begründer einer weniger bedeutenden chassidischen Dynastie. Zwi-Hirsch war ein Zaddik, ein charismatischer Heiliger. Seine Anhänger (die Chassidim) glaubten, dass sich der Zaddik aufgrund seiner Frömmigkeit und Herkunft bei Gott für sie einsetzen konnte. Und so kamen die Kranken, Blinden und Lahmen in der Hoffnung auf Heilung zu ihm; die kinderlosen Ehefrauen in der Hoffnung auf Fruchtbarkeit; und die Kaufleute in der Hoffnung auf gute Geschäfte. Besonders zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur begaben sich viele Gläubige auf Pilgerreise zu ihrem Rabbi.7
Obgleich der Chassidismus schon als solcher revolutionäre Züge gegenüber dem als trocken und nüchtern empfundenen Talmudstudium trug, entwickelte Zwi-Hirsch eine besonders intellektuelle Variante des Chassidismus. Sein bekanntestes Werk, Ateret Zwi, war ein Kommentar über einen Schlüsseltext der jüdischen Mystik, den Sohar, und über den bedeutenden mittelalterlichen Kabbalisten Issac Luria. Zwi-Hirsch als Gelehrten zu bezeichnen bedeutet nicht, dass er jede Art des Studiums schätzte. Er war ein scharfer Gegner der Maskilim: Juden, die eine Integration der traditionellen Gelehrsamkeit in die moderne Aufklärung befürworteten; im Jahr 1822 ging er so weit, die Maskilim der Stadt Tarnopol zu exkommunizieren.
Zwi-Hirsch gründete einen chassidischen Hof, der Anhänger aus Galizien, der Slowakei und Ungarn anzog. Am elften Tag des Hebräischen Monats Tammus, dem Jahrestag seines Todes, ehrten die Jünger und Bewunderer ihren Meister alljährlich mit einer Pilgerreise zu seinem Grab.8
Jacob wurde nach seinem Urgroßvater väterlicherseits be27nannt, Natan Neta Ya'akov Edelstein, dem Rabbiner der kleinen Stadt Czernelica. Nach dessen Tod übernahm sein Sohn, Zechariah Edelstein (der Großvater unseres Jacobs), seine Position. Zechariah heiratete Chava Leah Taubes, die aus den weit höher angesehenen Familien Taubes und Eichenstein stammte.9
Und so kam es dazu. Die Tochter des chassidischen Wunderrabbis und Kabbalisten, des Zhidichover Rebbe Zwi-Hirsch Eichenstein, heiratete Yaakov Taubes, einen Sohn von Aharon Moshe Taubes, dem bedeutenden Talmudgelehrten. Dieser Ya'akov Taubes diente als oberster Richter des Rabbinergerichts (Av bet din), zunächst in Zhidichov und später, bis zu seinem Tod im Jahr 1890, in Iași. Der Sohn von Chava Leah Yaakov, Yissachar Dov Taubes (1833-1911), wurde der Rabbiner der nahe gelegenen Stadt Kolomya.10 Seine Frau, Vita Yota Hirsch (gest. 1879), hatte eine Tochter, Chava Leah Taubes (gest. 1939), die Zechariah Edelstein heiraten sollte, den Rabbiner von Czernelica. Chava Leah gebar zwölf Kinder, von denen sieben das Erwachsenenalter erreichten.11
Jacobs Vater, Haim Zwi Hirsch, wurde im Jahr 1900 in Czernelica geboren. In dieser Stadt gab es eine jüdische Schule, die ein Jahrzehnt später mit der großzügigen Unterstützung von Baron Maurice de Hirsch gegründet worden war. Seine Stiftung hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den Juden in Galizien und in der Bukowina eine westlich geprägte Bildung zu ermöglichen, die Unterrichtssprachen waren Deutsch, Polnisch und Hebräisch.12 Haim Zwi könnte einer der neunzig eingeschriebenen Schüler der Schule gewesen sein.13
Haim Zwi Hirsch Taubes14 war nach seinem Urahn Zwi-Hirsch Eichenstein benannt. Er wurde von seinem Vater und seinem älteren Bruder unterrichtet, Rabbi Neta Ya'akov, der nach dem Ersten Weltkrieg als junger Mann während der Grippepandemie starb.15 Sollte er die Baron-Hirsch-Schule tatsächlich besucht haben, wäre Zwi Hirsch der erste aus seiner Familie gewesen, der neben einer traditionellen talmudischen Ausbil28dung bei seinem Vater und seinem Bruder eine Schulbildung westlicher Prägung erhalten hätte.
Zwi war unter seinem Nachnamen mütterlicherseits (Taubes) bekannt, weniger unter dem seines Vaters (Edelstein). Das spiegelte die unter galizischen Juden häufige Praxis wider, so auch bei Zwi Hirschs Eltern, aufgrund der hohen rechtlichen und finanziellen Hürden auf eine standesamtliche Heirat zu verzichten. In der Folge waren Geschwister häufig unter unterschiedlichen Nachnamen registriert.16
Während des Ersten Weltkriegs entwickelte sich Galizien zu einem Schlachtfeld zwischen den verfeindeten Armeen Russlands und Österreich-Ungarns. Die Familie von Jacobs Großvater, Zechariah Edelstein, fand, wie Zehntausende galizische Juden, eine sichere Zuflucht in Wien.17 Und ebenfalls wie viele andere jüdische Flüchtlinge blieben die Edelsteins auch nach dem Krieg in Wien. Obwohl nur wenige Juden bis 1848 eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten hatten, gab es in den folgenden sieben Jahrzehnten einen stetigen Zustrom von Juden in die Stadt, viele von ihnen kamen aus wirtschaftlich rückständigen Gegenden des Königreichs wie etwa Ostgalizien. Mit über 200 000 Seelen stellten Juden mehr als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung Wiens.
Zwi Hirsch setzte sein Studium an der Israelitisch-Theologischen Lehranstalt und an der Universität Wien fort, und 1930 wurde er Rabbiner einer der größten Synagogen Wiens, in der Pazmanitengasse. Seine Geburtsstadt Czernelica in Ostgalizien lag über 700 km entfernt von der einstigen Reichshauptstadt.18 Es war ein langer Weg von Czernelica in die Pazmanitengasse – im geografischen, aber auch im religiösen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Sinne.
Das Haus, in dem Jacob aufwuchs, wies Spuren dieser weiten Reise auf.
Jacobs Vater, Zwi Taubes, gehörte zu einer neuen Generation orthodoxer Rabbiner, der erste in seiner Familie, der einen Universitätsabschluss und einen Abschluss an einem modernen Rabbinerseminar gemacht hatte.
In Osteuropa fand die weiterführende Bildung für Juden traditionell in den Jeschiwot statt, wo der Lehrplan sich auf das Studium des Talmud und seiner Kommentatoren konzentrierte. Die Schüler hatten typischerweise ihre ersten Schuljahre in einem Cheder, der Grundschule, verbracht. Dort lernten sie in der Regel auf indirekte Weise Hebräisch, nicht mit einem Studium der Grammatik, sondern im Verlauf ihrer Lektüre des Gebetbuchs, des Siddur, und der Fünf Bücher Mose, der Tora. In den höheren Klassen des Cheder (für Schüler im Alter von zehn bis zwölf Jahren) begannen die Jungen mit dem Talmudstudium. Diejenigen, die über ausreichende intellektuelle und finanzielle Ressourcen verfügten, besuchten anschließend die Jeschiwa, wo der Unterricht das Talmudstudium fokussierte: die wichtigen Debatten zur Auslegung des jüdischen Rechts und seiner Anwendung im täglichen Leben, die vielen fantasievollen Auslegungen der biblischen Erzählung und der philosophischen Reflexionen über ihre Bedeutung – die Aggada. Nach Beendigung der Jeschiwa bewarben sich einige junge Männer als Rabbiner. Die Ordination zum Rabbiner wurde nicht institutionell vollzogen, sondern von einem einzelnen Rabbiner, der den Bewerber zuvor einer mündlichen Prüfung im jüdischen Recht unterzog.
Mit Beginn der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts forderten neue ideologische und pädagogische Strömungen diesen traditionellen Ausbildungsweg jüdischer Gelehrsamkeit heraus. In den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts verfolgten die osteuropäischen Zionisten das Ziel, das Hebräische nicht länger ausschließlich als Sprache der Gelehrten zu verwenden, son30dern auch als gesprochene Alltagssprache. Zu diesem Zweck gründeten sie Cheder metukkan (reformierte Cheder-Schulen), an denen Juden wie Nichtjuden unterrichtet wurden. Die Unterrichtssprache war Hebräisch. Jacob Taubes, der in Wien aufwuchs, sollte eine Schule besuchen, die von dieser Bewegung beeinflusst war.
Auch die jüdische Hochschulbildung befand sich im Wandel. Als Juden ihren Weg in die Universitäten finden konnten, versuchten manche von ihnen, die modernen europäischen Lehrmethoden auf ihr Verständnis der jüdischen Religion zu übertragen. Sie nutzten die neuen Methoden und wissenschaftlichen Herangehensweisen der modernen Universität, um jüdische Gelehrte hervorzubringen, die die strengen modernen Methoden auf die traditionellen Texte anwenden könnten. Dieser Ansatz sollte unter dem deutschen Namen Wissenschaft des Judentums oder dem hebräischen Chochmat Yisrael (etwa: »das akademische Studium der jüdischen Religion«19) bekannt werden.
Das traditionelle jüdische Lernen war tendenziell ahistorisch in seinen Prämissen, intertextuell in der Methodik und assoziativ. Die Grundannahme war, dass die Fünf Bücher Mose das Resultat göttlicher Offenbarung waren. Die Debatten darüber, wie die in der Bibel niedergeschriebenen Gesetze im täglichen Leben anzuwenden waren, wurden als das »mündliche Gesetz« (Torah sheba'al peh) bezeichnet. Ihr Ursprung lag, so die Überzeugung, in der Offenbarung am Berg Sinai. Juden, die in nachbiblischer Zeit gelebt und etwa Lyrik, Philosophie oder historische Erzählungen niedergeschrieben hatten, schafften es nicht in die Standard-Curricula der Jeschiwot. Höhere jüdische Bildung richtete sich stets auf die vielen Kommentatoren der Bibel und des Talmud. Die Texte wurden behandelt, als wären sie alle Teil einer fortwährenden und simultan stattfinden Diskussion, völlig unabhängig von den jeweiligen historischen Epochen ihrer Entstehung. Historischer Anachronismus war allgegenwär31tig. Der biblische Patriarch Jakob zum Beispiel, so erzählten es die Rabbiner, soll Schüler in einer Hochschule (Beth Midrasch) gewesen sein, die von Schem und Eber errichtet worden war, Sohn und Enkelsohn von Noah. Das würde bedeuten, dass Jakob Gesetzestexte studiert hätte, die doch erst mehrere hundert Jahre später Moses offenbart wurden, und zwar an einer Einrichtung, die viele Jahrhunderte nach dem Tod Mose gegründet wurde. Basierend auf der Annahme, dass die Bibel das Produkt einer einzigen, zusammenhängenden Offenbarung ist, wurde ihr Text mitunter mittels fantasievoller Wortschöpfungen ausgelegt, und Formulierungen aus verschiedenen biblischen Quellen wurden einander gegenübergestellt, um Textstellen zu belegen. Die übliche Methode war es, einen existierenden Text zu kommentieren. Folglich verlief die Diskussion häufiger episodisch als systematisch und konzeptionell, sprang von einem Thema zum nächsten, so wie die Inhalte in der Originalschrift auftauchten.20
Die neue jüdische Gelehrsamkeit ging deutlich anders vor, orientierte sich an den Erkenntnisleitbildern, wie sie von der westlichen akademischen Praxis geprägt wurden. Texte – auch die Heiligen Schriften – mussten in ihrem historischen Kontext interpretiert werden. Um ihre Bezüge und Anspielungen einordnen zu können, wurde ihr historischer Kontext berücksichtigt. Auch war es wichtig, die Sprache, in der ein Text geschrieben worden war, zu beherrschen. Und das bedeutete nicht nur das Studium der hebräischen Grammatik, sondern auch das Erlernen der anderen antiken Sprachen, die dabei nützlich sein konnten, Wortstämme und damit ihre ursprüngliche Bedeutung zu erklären. Bei Ungereimtheiten oder unergründlichen Textpassagen musste man die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass der Text in der Überlieferung entstellt worden war und dass zudem mehrere Autoren daran beteiligt gewesen sein könnten – ein Anathema für das traditionelle jüdische Denken. Und man war nun bemüht, die Gedanken im Text philosophisch auszule32gen, auf der Basis von konzeptioneller Analyse und systematischer Erläuterung.
Darüber hinaus strebte die neue Generation jüdischer Gelehrter nach Objektivität und ging nicht länger davon aus, dass Ideen, Erzählungen, Geschichten und Rituale wahr sein mussten, weil sie Teil einer heiligen Tradition mit einem Ursprung in einer göttlichen Offenbarung waren. Auch wenn der Grundsatz in der Praxis oft nicht standhielt: Theoretisch mussten die Forschungsergebnisse unabhängig vom religiösen Hintergrund des Gelehrten oder seiner Leser Gültigkeit besitzen. Katholiken, Protestanten, Juden und Atheisten sollten sich alle auf die Gültigkeit der Forschungsergebnisse einigen können, auf der Basis der methodischen Objektivität, mit denen die Ergebnisse erzielt wurden. Die Leidenschaftslosigkeit der modernen Wissenschaft sollte die Leidenschaft des religiösen Diskurses ablösen. Die modernen historischen Methoden, so die Hoffnung, wären in der Lage, den überlieferten theologischen Hass zu überwinden.21
Die meisten Gelehrten des Judentums hatten sich auf dieses Feld begeben, um die Überlieferung besser verstehen zu können. Aber die Methodik der modernen Wissenschaft nahm zwangsläufig Einfluss auf das Denken der Gelehrten und ihr Verhältnis zur Tradition. Für den Gelehrten – anders als für den Gläubigen – durfte es keine vorgefertigten Antworten geben.
Historische Fakten waren anhand ihrer Evidenz zu belegen, nicht der heiligen Tradition. Wenn für den Psalmisten die Weisheit mit der Ehrfurcht vor dem Herrn beginnt, so tut sie es für den historischen Gelehrten mit der Ehrfurcht vor dem Fehler.22 Während modernere Juden den neuen Rabbiner schätzten, der einen Abschluss von einer Universität und dem Rabbinerseminar hatte, standen die traditionelleren Vertreter des orthodoxen Judentums dieser Vorstellung ausgesprochen ablehnend gegenüber,23 denn sie fürchteten (zu Recht), dass neue Formen des 33Unterrichtens und des Wissens auch neue Ideen hervorbringen würden.
Die »Wissenschaft des Judentums« wurde nicht nur von manchen orthodoxen Juden als Bedrohung wahrgenommen, auch vielen christlichen Gelehrten war sie nicht geheuer. Denn der Grundsatz der Objektivität bedeutete genauso die stillschweigende Abkehr von den beiden Prämissen der protestantischen Wissenschaft. Die erste Prämisse war, dass das Christentum aus theologischer, spiritueller und intellektueller Sicht einen Fortschritt, eine Weiterentwicklung gegenüber dem Judentum bedeutete (ebenso wie der Protestantismus gegenüber dem Katholizismus). Die zweite Prämisse war, dass die Geistesgeschichte der jüdischen Religion mit der Ankunft des Jesus von Nazareth im Wesentlichen beendet war.24 Während also Teile jüdischer Geschichte von christlichen Religionswissenschaftlern erforscht und gelehrt wurden, gab es andererseits nur sehr wenige Juden, denen es gestattet war, diese Fächer an den Universitäten zu unterrichten. Dies war ganz überwiegend den christlichen (zumeist protestantischen) Fakultäten vorbehalten.
Da sie im Großen und Ganzen von den Universitäten ausgeschlossen waren, entwickelten sich einige rabbinische Seminare zu Hauptsitzen der neuen jüdischen Gelehrsamkeit. Das wichtigste unter ihnen war das 1854 in Breslau gegründete Jüdisch-Theologische Seminar, das geistige Zentrum des positiv-historischen Judentums, das sich aus der Ablehnung sowohl der osteuropäischen Orthodoxie als auch des radikalen Reformjudentums in Deutschland entwickelt hatte. Das Reformseminar, die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, wurde 1872 in Berlin gegründet. In den 1930er Jahren lehrte Leo Baeck hier. Er war der bekannteste deutsche Reformrabbiner und Autor eines einflussreichen Standardwerks, Das Wesen des Judentums (1905), und sollte dem jungen Jacob Taubes später seine Kenntnisse des Judentums attestieren. Die Orthodoxie als formale religiöse Ideologie entstand wesentlich in Reaktion sowohl 34auf das Reformjudentum als auch auf das positiv-historische Judentum. Sie lehnte die Vorstellung ab, dass die historische Entwicklung einen Wandel in Doktrin oder Praxis erforderlich mache, und sie weigerte sich, die Authentizität sowohl der reformerischen als auch der positiv-historischen (konservativen) Bewegungen oder die Legitimität ihrer Rabbiner anzuerkennen. Doch unter dem Einfluss ihres bedeutenden Theoretikers Samson Raphael Hirsch nahm die deutsche Orthodoxie das Prinzip der »Tora im Derekh Eretz« bereitwillig an – eine Kombination von traditionellem Brauchtum und überlieferter Doktrin mit dem Besten aus der westlichen Kultur. Das Rabbinerinstitut der deutschen Orthodoxie war das Seminar für das orthodoxe Judentum, das 1883 in Berlin gegründet wurde. Hier lehrte in den 1930er Jahren unter anderem Jehiel Jacob Weinberg, der ein Jahrzehnt später auch Jacob Taubes als jüdischen Gelehrten auszeichnen sollte.25 Die liberaleren Lehranstalten neigten dazu, die Gelehrsamkeit der Orthodoxen geringzuschätzen, und rügten sie für ihren Mangel an Objektivität und ihr begrenztes Instrumentarium beim Studium der Bibel und der jüdischen Gesetzestexte.26 Die Orthodoxen wiederum betrachteten die Seminare zu ihrer »Linken« als Schulen der Häresie: Samson Raphael Hirsch stellte gar die Orthodoxie des Berliner Seminars als solche für das orthodoxe Judentum infrage.27 Und für die Ultraorthodoxen in Ost- und Mitteleuropa waren all diese Einrichtungen Nährböden des Unglaubens.
Einer der wichtigsten Vorposten moderner jüdischer Gelehrsamkeit in der Zwischenkriegszeit war die 1893 in Wien gegründete Israelitisch-Theologische Lehranstalt.28 Hier studierte Zwi Taubes, hier erhielt er seine Ordination und seinen Doktortitel. Ein tieferes Verständnis der institutionellen Kultur dieser Lehranstalt öffnet uns ein Fenster in das jüdische Leben des Elternhauses, in dem Jacob Taubes aufwuchs.
Zwis Doktorvater am Seminar war Adolf Schwarz (1846-1931), Professor für Talmudstudien, halachische Literatur und Homi35letik und der erste Rektor der Einrichtung. Die Lehre der Homiletik – die Kunst, eine Predigt zu halten – war ein innovatives Merkmal moderner Rabbinerseminare, denn von den Rabbinern wurde nun erwartet, dass sie, wie die protestantischen Pastoren, predigten und nicht auf traditionelle Weise rechtliche und theologische Fragen erörterten (Drasha), die manchmal von Toraabschnitten der Woche inspiriert waren. Eine von Schwarz' Buchveröffentlichungen trug den Titel »Die Controversen der Schammaiten und Hilleliten. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Hillelschule« und behandelt die charakteristische Methodik jüdischer Gelehrsamkeit in seiner Zeit.29
Ein weiterer Lehrer Zwis war Samuel Krauss (1866-1948),30 der den Talmud als historische Quelle betrachtete, die das gesellschaftspolitische Leben der Juden in der jeweiligen Zeit zeichnete. Er verfasste mehrere Bücher, die die Verbindungen zwischen der jüdischen und der antiken Kultur der Griechen und Römer erforschten, und schrieb darüber hinaus ein Buch über das Leben von Jesus und wie es sich in den jüdischen Quellen widerspiegelt.31 Gemeinsam mit zwei anderen Professoren der Wiener Lehranstalt leistete Krauss einen Beitrag zu dem ersten auf Hebräisch verfassten Bibelkommentar, der diesen Grundsätzen jüdischer Gelehrsamkeit folgte.32 Ein ähnliches Konzept, die Kombination von traditionellem Studium mit den charakteristischen Merkmalen der modernen Wissenschaft, prägte auch das Werk eines weiteren Lehrers von Zwi, Victor (Avigdor) Aptowitzer (1871-1942).33 Eines seiner Bücher verfolgte das Ziel, den literarischen Charakter der Aggada (die Teile des Talmud, die sich nicht mit dem jüdischen Recht beschäftigen) anhand eines Vergleichs mit den Apokryphen und den Predigten der Kirchenväter aufzuzeigen. Wie Krauss war auch Aptowitzer überzeugter Zionist, und beide unterrichteten häufig auf Hebräisch. In die Fußstapfen seiner Lehrer tretend, sollte Zwi Taubes später unter Anwendung der Methoden, die er bei Schwarz, Krauss und Aptowitzer erlernt hatte, über biblische und talmudische Inhalte 36schreiben. Und Jacob entwickelte eine lebenslang anhaltende Faszination für die Zeit des Übergangs zwischen Judentum und Christentum.
Die Israelitisch-Theologische Lehranstalt in Wien war Teil eines Netzwerks mehrerer Institutionen, in denen das moderne wissenschaftliche Studium des Judentums kultiviert wurde. Lehrer und Studenten pendelten gleichermaßen zwischen diesen wenigen Einrichtungen in Breslau, Berlin, Budapest und Wien hin und her; kleinere Außenstellen befanden sich in Frankreich, England und Italien.34 Wer einen Abschluss als Rabbiner in einer dieser Einrichtungen anstrebte, von dem wurde erwartet, dass er an der örtlichen Universität studierte und dort als »Rabbiner Doktor« abschloss. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg dienten diese Seminare als Schablone für ähnliche Einrichtungen, die in den USA und – mit Eröffnung der Hebräischen Universität im Jahr 1925 – auch im vorstaatlichen Israel entstanden. Gemeinsam bildeten sie ein Netz, in dem sich Zwi Taubes intellektuell am wohlsten fühlte. Später, bei der Suche nach einer Stelle für seinen Sohn Jacob, sollten ihm diese Beziehungen von Nutzen sein.
Den wahrscheinlich prägendsten Einfluss auf Zwi Taubes hatte wohl Rabbi Zwi Peretz Chajes (1876-1927).35 Auch er stammte aus Galizien, aus einer angesehenen Rabbinerfamilie, und hatte vor der Aufnahme eines formalen Studiums am Jüdischen Theologischen Seminar und der Universität Wien eine traditionelle Ausbildung zum Rabbiner bei seinem Vater und Onkel durchlaufen. Im Jahr 1918 wurde er Oberrabbiner Wiens, und im folgenden Jahrzehnt avancierte er zur einflussreichsten jüdischen Persönlichkeit der Stadt.
Viel ist geschrieben worden über den Beitrag von marginalisierten oder zum Christentum übergetretenen Juden zur Wiener Kultur, doch die Existenz von Männern wie Chajes – hochgebildete, politisch und gesellschaftlich engagierte und zugleich in höchstem Maße belesene und überzeugte Juden – bleibt in 37den meisten dieser Erzählungen unberücksichtigt.36 Als charismatischem und mitreißendem Redner gelang es ihm mit seinen Predigten, viele junge Juden zu begeistern, die sonst eher selten den Weg in die Synagogen fanden.