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Saul Friedländer

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Beschreibung

Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ist der längste und für viele seiner Leserinnen und Leser auch der bedeutendste Roman der französischen Literatur. Manche begleitet er durch das ganze Leben, so auch Saul Friedländer, den Friedenspreisträger und großen Historiker des Holocaust. In seinem großartigen Essay präsentiert Friedländer sich als Proust-Leser von Rang, der mit seinen sensiblen Lektüren den Kennern ebenso etwas zu bieten hat wie jenen, die erst einen Zugang zu einem der wichtigsten Werke der Weltliteratur finden wollen.
Saul Friedländer legt keine Einführung in Leben und Werk von Marcel Proust vor, sondern einen Essay über das Lesen von Proust. Er spürt darin einigen Fragen nach, die ihn besonders beschäftigt haben, wie etwa der widersprüchlichen Rolle der Juden oder dem Umgang mit dem Thema Homosexualität, der komplexen Beziehung von Erzähl-Ich und Autor oder dem Status der Erinnerung im Werk. Vor allem aber vermittelt Friedländer das Glück der Proust-Lektüre, den Reichtum der Sprache Marcel Prousts, und die unvergleichliche Schärfe und Hellsichtigkeit, mit der er die Gesellschaft seiner Zeit seziert. Am Ende überkommt den Leser nur ein dringender Wunsch - Proust lesen.

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Saul Friedländer

Proust lesen

Ein Essay

Aus dem Englischen übersetzt von Annabel Zettel

C.H.Beck

Zum Buch

Marcel Prousts «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» ist der längste und für viele seiner Leserinnen und Leser auch der bedeutendste Roman der französischen Literatur. Manche begleitet er durch das ganze Leben, so auch Saul Friedländer, den Friedenspreisträger und großen Historiker des Holocaust. In seinem neuen Buch präsentiert Friedländer sich als Proust-Leser von Rang, der mit seinen sensiblen Lektüren den Kennern ebenso etwas zu bieten hat wie jenen, die erst einen Zugang zu einem der wichtigsten Werke der Weltliteratur finden wollen.

Über den Autor

Saul Friedländer erhielt für sein epochales Werk «Das Dritte Reich und die Juden» u.a. den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, den Leipziger Buchpreis, den Geschwister-Scholl-Preis, den Pulitzer-Preis und den Dan-David-Preis. Er gehört zu den bedeutendsten Historikern unserer Zeit. Seine Werke erscheinen in Deutschland bei C.H.Beck. Zuletzt hat er den zweiten Band seiner Memoiren vorgelegt: «Wohin die Erinnerung führt» (2016).

Inhalt

Einleitung

KAPITEL I: Familienangelegenheiten

1

2

3

4

KAPITEL II: Jude sein oder nicht sein?

1

2

3

4

KAPITEL III: Verbotene Liebe

1

2

3

KAPITEL IV: Eine umfassende moralische Abrechnung?

1

2

3

4

5

KAPITEL V: «Tausendundeine Nacht»

1

2

KAPITEL VI: Der Erzähler

1

2

3

4

KAPITEL VII: Zeit und Tod

1

2

3

4

KAPITEL VIII: Erinnerung

1

2

3

4

Abschließende Bemerkungen und mehr

Dank

Anmerkungen

Einleitung

KAPITEL I: Familienangelegenheiten

KAPITEL II: Jude sein oder nicht sein?

KAPITEL III: Verbotene Liebe

KAPITEL IV: Eine umfassende moralische Abrechnung?

KAPITEL V: «Tausendundeine Nacht»

KAPITEL VI: Der Erzähler

KAPITEL VII: Zeit und Tod

KAPITEL VIII: Erinnerung

Abschließende Bemerkungen und mehr

Bildnachweis Frontispiz:

Bibliografie

Marcel Proust

Literatur

Personenregister

Im Gedenken an Zeev Sternhell, der am 21. Juni 2020 in Jerusalem verstarb. Zeev war eine große moralische Stimme für Gerechtigkeit und Frieden. Ein herausragender Experte für den Faschismus, besonders für den französischen; vor allem aber war er ein geliebter Freund.

Einleitung

«Proust?», fragte mich ein französischer Bekannter, als ich ihm von meinem Vorhaben erzählte, «warum Proust?» Meine Antwort war vage, und die Frage war genau der Punkt: Warum Proust? Die Vagheit meiner Antwort war ebenfalls der Punkt: Ich konnte nicht genau sagen, warum ich beschlossen hatte, über Proust zu arbeiten, oder vielleicht wollte ich es auch nicht sagen. Eines stand fest: Ich hatte nicht die Kompetenz und sicherlich auch nicht die Absicht, ein weiterer Proust-«Spezialist» zu werden. Und doch war mein Verlangen, im Besonderen über «À la Recherche» zu schreiben, nicht einfach willkürlich; dessen war ich mir sicher. War es die Schönheit von «Auf der Suche»? Die Komplexität? Zweifellos spielten diese Aspekte eine Rolle, vor allem als ich «Auf der Suche» wieder und wieder las. Aber war da nicht noch mehr? Las ich den Roman nicht immer wieder, weil er einem inneren Bedürfnis entsprach, weil er auf etwas in meinem persönlichen Leben antwortete, das danach rief, sich in dieses Buch zu vertiefen – etwas, das ganz genau auf es abgestimmt war? Einige Themen des Romans kamen meinem eigenen jahrzehntelangen Nachsinnen, vor allem über Identität, sehr nahe.

Was auch immer die Motivation gewesen sein mag, ich begann die «Suche» mit besonderer Aufmerksamkeit wieder zu lesen und nahm schon bald Aspekte wahr, die mir zuvor entgangen waren, und die, wie ich nach einiger Recherche feststellte, allgemein keine Beachtung gefunden hatten. Natürlich fühlte ich erneut den außergewöhnlichen Sog eines Textes, der für mich, wie für so viele andere Leser, nicht nur der großartigste Roman der französischen Literatur ist, sondern wohl auch einer der wichtigsten Romane, die je geschrieben wurden.

«Auf der Suche» lässt sich leicht zusammenfassen, da es kaum eine Handlung gibt; es ist der Lebensbericht eines Erzählers, dessen größter Wunsch es von Kindheit an ist, Schriftsteller zu werden. Da er sein literarisches Talent anzweifelt, verbringt er als erwachsener Mann Jahrzehnte mit Müßiggang, um sich dem sozialen Aufstieg von seinem bürgerlichen Hintergrund bis in die höchsten Schichten des französischen Adels zu widmen. Erst im späten Erwachsenenalter entdeckt er rein zufällig, durch eine Art von Epiphanie, ausgelöst durch eine Welle unwillkürlicher Erinnerungen, dass er die literarisch schöpferische Gabe besitzt, durch die er seinen Traum verwirklichen kann. Er beginnt also, die Geschichte seines Lebens niederzuschreiben. Diese wird in weiten Teilen Erinnerungen aus seinen Jahren des Müßiggangs schildern, die, ohne dass er es wusste, eigentlich Jahre der Vorbereitung waren. Von da an wird sein Schreiben wahrhaft eine Suche nach der verlorenen Zeit sein, was im französischen Original sowohl vergessene Zeit bedeutet, die wiederentdeckt, als auch verschwendete Zeit, die zurückgewonnen oder aufgeholt werden muss.

Während der Erzähler uns (möglicherweise, um der gleichsam magischen Wirkung der unwillkürlichen Erinnerung mehr Gewicht zu verleihen) erklärt, dass er, was das Schreiben anbetrifft, bis in sein spätes Erwachsenenleben hinein untätig geblieben war, schrieb Proust selbst, wenngleich auf seinen sozialen Aufstieg fixiert und immer wieder von Krankheit geplagt, all diese Jahre hindurch unermüdlich: Kurzgeschichten, die 1896, als er 25 Jahre alt war, unter dem Titel «Les Plaisirs et les Jours» («Freuden und Tage») publiziert wurden, einen etwa 800 Seiten langen Roman («Jean Santeuil»), der zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht blieb, ein weiteres, erst posthum erschienenes Buch mit literaturkritischen Texten und Romanfragmenten («Contre Sainte-Beuve») und verschiedene leichtere Artikel für Zeitungen und Journale, hauptsächlich Pastiches bekannter Autoren. Bemerkenswerterweise enthalten all diese frühen Schriften, die publizierten und die nicht publizierten, eine stetig wachsende Anzahl von Themen, die in jenem großen Roman wieder auftauchen, der irgendwann 1909 begonnen wurde, und dessen beide letzten Bände erst nach dem Tod des Autors 1922, mit 51 Jahren, erschienen.

Die Zeit, die der Erzähler «verschwendet» hat, schenkte uns, den Lesern, die außergewöhnlichen Beschreibungen der französischen Gesellschaft zur Zeit der Belle Époque, vor allem der gehobenen Bourgeoisie (der Verdurins und ihres Salons) und der höchsten Adelsschichten, des Faubourg Saint-Germain (repräsentiert durch mehrere Salons, vor allem aber durch den des Herzogs und der Herzogin von Guermantes). Der Erzähler drängt uns keine Sozialanalyse auf, sondern offeriert uns die Dinge in einem beständigen Strom von Beobachtungen: Diese reichen von den prachtvollen Domizilen und der materiellen Umgebung der quasi mythischen adligen Familien bis hin zu ihren Persönlichkeiten, ihrem Geschmack, ihren Albernheiten und Gehässigkeiten, die vor allem in ihrer Konversation zum Ausdruck kommen.

Walter Benjamin, dem in Paris lebenden deutsch-jüdischen Emigranten, zufolge beschrieb der französische Romancier und Politiker Maurice Barrès «Auf der Suche» als das Werk «eines persischen Dichters in einer Hausmeisterloge». Diese amüsante Beschreibung ist nicht abwegig. Einer der hervorstechendsten Aspekte des Romans besteht tatsächlich in den endlosen Konversationen, die mit außergewöhnlichem Feinsinn (dem Feinsinn des persischen Dichters, nicht des Hausmeisters) die psychologischen Eigenheiten der Hauptfiguren, die die Welt des Erzählers bevölkern, ans Licht bringen. Im Übrigen schätzten nicht alle großen Geister diesen Feinsinn. Seinem jüngsten Biographen zufolge erwähnte de Gaulle seinem Sohn gegenüber, dass er Prousts Manieriertheit, seinen gezierten Stil und sein künstliches Milieu, in dem Abendgesellschaften das Wichtigste im Leben seien, nicht mochte.

Die Erzählung entfaltet sich auf vielen Ebenen, insbesondere, wie gerade erwähnt, auf jener der sozialen Beschreibung, aber ebenso auf der Ebene der persönlichen Reaktionen, Beobachtungen, Entscheidungen und Gefühle des Erzählers. Auf dieser persönlichen Ebene gibt es viel Leidenschaft und Schmerz, aber – überall verwoben mit den emotionalen Drehungen und Wendungen – auch überwältigende Evokationen von Natur, Kunst, Literatur und, inmitten so vieler anderer verschiedener Mikrokosmen, die Straßengeräusche von Paris bei Tagesanbruch.

Die Geschichte wird uns von einem fiktiven Avatar erzählt, der sich an den Verlauf seines eigenen Lebens zurückerinnert, von der Kindheit bis zu dem Moment, in dem er sich schließlich, Jahrzehnte später, in der Lage fühlt, mit dem Schreiben zu beginnen. Die Erinnerungen des Erzählers bleiben sehr dicht an der Biographie des Autors. Ich werde meine Aufmerksamkeit jenen Themen in den Schilderungen des Avatars widmen, die, wie schon erwähnt, scheinbar nicht bedacht wurden, meiner Ansicht nach jedoch entscheidend sind. Meine Interpretationen werden sich nicht immer innerhalb der Textgrenzen bewegen; bisweilen werden sie, vom Text ausgehend, in die persönliche Welt des Autors und von dieser Welt zu einem weitreichenderen Verständnis des Textes führen.

Dieses Hin und Her von Text zu Autor und von Autor zu Text wird den Kern meiner Herangehensweise bilden und bedarf weiterer Erklärungen. Bei einer Reihe von bedeutenden Themen weicht der fiktive Erzähler von seinem biographischen Vorbild ab und macht sonderbare Angaben, die dem, was wir über das Leben des Autors wissen, widersprechen; derlei Diskrepanzen sind ganz offenbar beabsichtigt. Dann wiederum wird, manchmal gleich im Anschluss, in anderen Fällen Hunderte von Seiten später, ein kleines Detail erwähnt, welches das Gegenteil der vorangegangenen Äußerungen beteuert. Aus unerfindlichen Gründen jedoch haben diese seltsam widersprüchlichen Aussagen des Erzählers unter Proust-Gelehrten keine angemessene Aufmerksamkeit gefunden.

Es geht mir natürlich nicht allein darum herauszufinden, was der Erzähler wirklich im Sinn hat, sondern ich möchte ergründen, was er im Sinn zu haben oder zu verbergen scheint – um anhand der Aussagen des Erzählers die versteckten Hinweise oder Verschleierungsversuche des Autors zu verstehen. Und so, indem ich versuche, die Strategie des Autors auf Grundlage der Mehrdeutigkeiten des Erzählers zu entschlüsseln, werde ich mich den bereits erwähnten großen Themen und einigen anderen weniger wichtigen Aspekten nähern.

Man mag dagegenhalten, dass «Auf der Suche» ein fiktives Werk ist, dass der Erzähler ein frei erfundener Charakter ist, dessen Autobiographie, Standpunkte und Haltungen – ob sie nun jene des Autors getreu widerspiegeln oder kontrastieren – als von diesem ganz und gar unabhängig betrachtet werden sollten. Proust selbst versicherte mehrfach, dass die Lebensgeschichte, die der Erzähler schildert, nichts zu tun habe mit seinem eigenen Leben, und etliche Kommentatoren schlossen sich ihm darin an. Dennoch räumte er in anderen Fällen ein, dass die Schilderungen des Erzählers seinem eigenen Leben in vielerlei Hinsicht sehr nah kämen. Ich habe diese zweite Interpretation gewählt: Die Geschichte des Erzählers ist nicht Prousts Autobiographie, aber sie kommt ihr, wie ich hoffe zeigen zu können, so nah, dass die Fragen, die ich stellen werde, berechtigt sind. Eine Reihe von Interpretationen nimmt ebenfalls diesen Standpunkt ein.

Folgt man etwa George Painters Biographie aus den 1960er Jahren, so gibt es im Roman kaum eine Figur oder Begebenheit (bis hin zu Nebenfiguren, nachgeordneten Ereignissen und vorangegangenen Schriften), die ihren Ursprung nicht im Leben des Autors fände: Oftmals entwirft der Erzähler zusammengesetzte Portraits oder verdreht die Wiedergabe von Ereignissen ein Stück weit, aber wir können Painters kenntnisreiche Bezüge nicht ausblenden, auch wenn sich mit der Zeit gezeigt hat, dass es einiger Korrekturen bedürfte.

William Carters neuere Biographie bietet eine sehr nuancierte Prüfung der Beziehung zwischen Autor und Erzähler: «In seinen Briefen und persönlichen Notizen über den Roman sprach Proust für gewöhnlich über den Erzähler als ‹Ich› und traf keine Unterscheidung zwischen sich selbst und seiner fiktiven persona … Dennoch war Proust nicht daran gelegen, seine Autobiographie zu schreiben, sondern einen Roman zu schaffen, der starke autobiographische Elemente enthält. Die Symbiose zwischen Proust und seinem Erzähler erklärt sich durch den hybriden Ursprung der Geschichte. Es begann mit einem Essay, in dem das ‹Ich› er selbst war, doch dann wandelte sich der Text mehr und mehr zur Fiktion, und das erzählende ‹Ich› wurde zugleich Schöpfer und Subjekt der Handlung, wie ein siamesischer Zwilling aufs Engste mit Prousts Körper und Seele verbunden und doch anders.» Später in seiner Biographie macht Carter eine wichtige Anmerkung: «Da Proust zusehends in der Welt lebte, die er erfand, verkörperte er mehr und mehr den Erzähler und eben nicht umgekehrt.» Ein anderer Biograph, Jean-Yves Tadié, brachte es auf den Punkt: «Es ist außergewöhnlich, zu beobachten, wie Proust keineswegs zulässt, dass auch nur irgendetwas von seinem Leben verschwendet wird. Man könnte also durchaus vermuten, dass jeder Figur ein realer Name zuzuordnen wäre, jedem Ereignis seiner Geschichte ein wirkliches Ereignis.»

Was Proust selbst anging, so vergaß er gelegentlich seine Selbstermahnungen und gestand sich eine große Ähnlichkeit zwischen «Auf der Suche» und seinem Leben ein. In einem Brief vom November 1913 an René Blum, einen Freund seines ersten Verlegers Bernard Grasset, beschwor er zum Beispiel das Erlebnis, das der Geschmack eines in Tee getauchten Stück Kuchens in ihm bewirkte: «So ist ein Teil des Buchs ein Teil meines Lebens, den ich vergessen hatte und mit einem Schlag wiederentdecke in dem Moment, in dem ich ein wenig in Tee getunkte Madeleine esse, ein Geschmack, der mich bezaubert, bevor ich ihn wiedererkenne und identifiziere, weil ich früher jeden Morgen davon gekostet habe; sogleich steigt mein ganzes früheres Leben in mir auf und, wie ich im Buch sage, … sind alle Menschen und Gärten jener Epoche meines Lebens aus einer Tasse Tee hervorgegangen.»

Das übergreifende Thema dieses Essays wird die Frage der Identität sein, im Besonderen die der jüdischen Teilidentität des Erzählers, und, wenn auch nachgeordnet, die seiner Homosexualität. Wie definiert sich der Erzähler selbst? Wir wissen zum Beispiel, dass der Autor seine Homosexualität nicht verbarg, der Erzähler aber tat dies. Weshalb dieser Unterschied? Wir wissen, dass der Erzähler versuchte, seinen teiljüdischen Hintergrund zu marginalisieren. Spiegelt das die Haltung des Autors, und wie behandelt der Erzähler das, was er – ohne dass es ihm gelingt – versucht auszublenden?

Das sind zentrale Fragen, die der Text aufwirft und reflektiert, für die das Leben des Autors aber keine eindeutigen Antworten bereithält. Und das ist noch nicht alles. Auch die Betrachtungen des Erzählers über Zeit, Tod, Erinnerung und Liebe bilden allesamt Wege, die zu dem Bild führen, das er von sich selbst entwirft; spiegeln sie das, was wir über die Wahrnehmungen des Autors wissen? Die Speisekarte bietet einige Gerichte, aber das Mahl ist noch nicht zubereitet …

KAPITEL I

Familienangelegenheiten

1

Marcel Prousts Mutter, Jeanne Weill, war die Liebe seines Lebens. Ebenso ist sie im Roman die große Liebe des Erzählers; dort wird sie jedoch durch zwei Figuren verkörpert: die Großmutter, die die Quelle und das Objekt reiner Liebe ist, und die Mutter, die jedoch mit der Zeit in zunehmendem Maße auch zur Zielscheibe für Ressentiments wird.

Von Beginn der «Recherche» an rekapituliert der Erzähler die intensive Beziehung zwischen Mutter und Kind. Dennoch erfahren wir nirgends im Roman die Namen seiner Eltern oder erhalten irgendeinen Hinweis auf ihr Aussehen, mit Ausnahme des grauen Haares der Großmutter.

Selbst bedeutende Charaktere – von einigen Ausnahmen abgesehen – werden äußerlich nicht genauer beschrieben. Ein paar Details werden jedoch stets verraten. So vermittelt das Ebenbild einer Romanfigur, das im bunten Glasfenster einer Kirche oder zwischen einigen Renaissanceportraits aufscheint, aus der Sicht des Erzählers einen indirekten, aber ausreichenden Eindruck von deren Erscheinung. Alles in allem war der Erzähler, ein standhafter Gegner des Realismus, wohl der Meinung, einige wenige körperliche Merkmale genügten – etwa die Augenfarbe, die Biegung einer Nase, eine Frisur, ein Blick, oft eine bevorzugte Haltung, zuweilen Schmuck, Kleider und vor allem Benehmen und Konversation. Die Gespräche sind so lebendig, das Verhalten der Charaktere so vollkommen gezeichnet, dass man sie, ohne jede ausgefeilte physische Beschreibung, ganz und gar vor sich sieht, als habe man lange Zeit mit ihnen gelebt. Paradoxerweise erhalten einige Figuren ohne Bedeutung, solche, die nichts zu sagen haben, die reine Statisten sind, vermutlich die Mehrheit der Hunderten von Menschen, die im Roman auftauchen, mitunter eine detailliertere physische Beschreibung als die wichtigeren.

Man bekommt den Eindruck, der Autor – womöglich der größte Wortmaler der französischen Literatur – finde bisweilen Vergnügen daran, solche «Statisten» zum Leben zu erwecken, sei es ganz unmittelbar oder durch den Gebrauch absolut unerwarteter und treffender Metaphern – beides meist im Rahmen derselben minimalistischen und doch unvergesslichen Schreibweise. Hier ist zum Beispiel jemand ohne Bedeutung, der Marquis de Palancy, den der Erzähler, kurz bevor die großartige Berma die Bühne betritt, in der Theaterloge der Fürstin von Guermantes entdeckt:

«Mit vorgestrecktem Hals, schräg geneigtem Kopf und mit seinem großen, runden, fest an das Glas des Monokels geklebten Auge verschob sich der Marquis von Palancy langsam im durchscheinenden Dunkel und schien das Publikum im Parterre ebensowenig zu sehen wie ein Fisch, der ohne das leiseste Bewußtsein von der Menge neugieriger Zuschauer hinter der Glasscheibe eines Aquariums vorbeischwimmt. Manchmal hielt er für einen Augenblick inne, ehrwürdig, kurzatmig und moosbedeckt, und die Zuschauer hätten dann nicht sagen können, ob er Beschwerden habe, schlafe, schwimme, gerade Eier lege oder auch einfach nur atme.»

Und dennoch kommt, was die Eltern des Erzählers angeht, nichts dergleichen vor; und diese seltsame Zurückhaltung endet dort keineswegs. Während der Erzähler wörtliche Zitate aus zahlreichen Unterhaltungen, die die Figuren entweder mit ihm oder untereinander führen, lang und breit wiedergibt, hören wir viel weniger von dem, was die Eltern zueinander sagen, außer wenn der Vater sich über einen Tischgast, den früheren Diplomaten Marquis de Norpois, äußert. Die Beziehung zwischen den Eltern ist liebevoll, vielleicht auf eine etwas einseitige Weise: Die Mutter, so der Erzähler, war darauf bedacht, «diejenige ihrer Pflichten zu erfüllen, die darin bestand, ihrem Gatten das Leben angenehm zu machen, so wie sie es auch tat, wenn sie darüber wachte, daß die Küche gepflegt war und die Bedienung leise vonstatten ging». Auch hegte sie ihrerseits Bewunderung für die Talente ihres Mannes, die sie nie versäumte zu bekunden – selbst für die geringeren, wie die Fähigkeit, aus der bescheidenen Anzahl von Wegen um Combray, dem Dorf, in dem die Familie häufig die Sommerferien verbrachte, den richtigen zu wählen. Wie wir sehen werden, unterschieden sich die Gefühle des Erzählers für seinen Vater recht deutlich von denen der Mutter. Wie dem auch sei, die Eltern, erst der Vater, dann die Mutter, verschwinden aus «Auf der Suche», ohne eine Spur zu hinterlassen. Wie lange bleiben sie noch am Leben? Wir wissen es nicht.

2