Blick in den Abgrund - Saul Friedländer - E-Book

Blick in den Abgrund E-Book

Saul Friedländer

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Beschreibung

Israel steht am Abgrund. Das Israel, das wir kannten. Saul Friedländer, der große Historiker des Holocaust, hat ein Tagebuch geschrieben, in dem er die aktuellen Ereignisse schildert und kommentiert, in Rückblenden aus der Geschichte des Landes, das er mit aufgebaut hat, erzählt, Konflikte analysiert und über Lösungen nachdenkt. Sein Tagebuch geht unter die Haut und jeden etwas an, dem an Israel was liegt. «Man kann gar nicht so viel essen, wie man kotzen möchte.» Mit diesem herben Kommentar Max Liebermanns zur «Machtergreifung» der Nationalsozialisten beginnt das israelische Tagebuch von Saul Friedländer. Eine neue, mit rechtsradikalen Kräften koalierende Regierung unter Führung von Benjamin Netanjahu versucht mit einer Justizreform, die Demokratie auszuhebeln und ein autoritäres Regime zu etablieren. Hunderttausende gehen auf die Straße, um dagegen zu demonstrieren. Saul Friedländer, weltberühmt, mit höchsten Preisen ausgezeichnet und im 90. Jahr seines Lebens angekommen, kann nicht mehr mitdemonstrieren, aber er schreibt ein «israelisches Tagebuch», um dieser dramatischen Entwicklung entgegenzutreten. Es ist eine schmerzhafte, bewegende Lektüre und ein Appell an uns alle, den Absturz Israels in eine autoritäre Pseudo-Demokratie zu verhindern.

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Saul Friedländer

BLICK IN DENABGRUND

EINISRAELISCHESTAGEBUCH

Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn

C.H.Beck

Zum Buch

«Israel ist zu einem Dschungel mit einigen sehr gefährlichen Raubtieren geworden.»

Saul Friedländer

Israel steht am Abgrund. Das Israel, das wir kannten. Saul Friedländer, der große Historiker des Holocaust, hat ein Tagebuch geschrieben, in dem er die aktuellen Ereignisse schildert und kommentiert, in Rückblenden aus der Geschichte des Landes, das er mit aufgebaut hat, erzählt, Konflikte analysiert und über Lösungen nachdenkt. Sein Tagebuch geht unter die Haut und jeden etwas an, dem an Israel liegt.

Über den Autor

Saul Friedländer, geboren 1932, überlebte als Kind den Holocaust in einem katholischen Waisenhaus. Seine Eltern wurden von den Deutschen ermordet. Mit fünfzehn Jahren ging er mit einem gefälschten Pass, der ihn zwei Jahre älter machte, von Frankreich nach Palästina, um den Staat Israel mitaufzubauen. Der Autor von «Das Dritte Reich und die Juden», der kanonischen Darstellung des Holocaust, wurde u.a. mit dem Geschwister-Scholl-Preis, dem Preis der Leipziger Buchmesse, dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, dem MacArthur-Fellowship, dem Dan-David-Preis und dem Balzan-Preis geehrt. Seine Bücher erscheinen in Deutschland bei C.H.Beck.

Inhalt

Statt einer Einleitung

JANUAR 2023

17. Januar 2023

20. Januar 2023

21. Januar 2023

22. Januar 2023

23. Januar 2023

24. Januar 2023

25. Januar 2023

26. Januar 2023

27. Januar 2023

29. Januar 2023

30. Januar 2023

31. Januar 2023

FEBRUAR 2023

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2. Februar 2023

3. Februar 2023

4. Februar 2023

5. Februar 2023

6. Februar 2023

7. Februar 2023

8. Februar 2023

9. Februar 2023

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15. Februar 2023

16. Februar 2023

17. Februar 2023

18. Februar 2023

19. Februar 2023

20. Februar 2023

21. Februar 2023

22. Februar 2023

23. Februar 2023

24. Februar 2023

25. Februar 2023

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28. Februar 2023

MÄRZ 2023

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2. März 2023

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4. März 2023

5. März 2023

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7. März 2023

8. März 2023

9. März 2023

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11. März 2023

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14. März 2023

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18. März 2023

19. März 2023

20. März 2023

21. März 2023

22. März 2023

23. März 2023

24. März 2023

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26. März 2023

27. März 2023

28. März 2023

29. März 2023

30. März 2023

31. März 2023

APRIL 2023

1. April 2023

2. April 2023

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4. April 2023

5. April 2023

6. April 2023

7. April 2023

8. April 2023

9. April 2023

10. April 2023

11. April 2023

13. April 2023

14. April 2023

15. April 2023

17. April 2023

19. April 2023

20. April 2023

21. April 2023

22. April 2023

23. April 2023

24. April 2023

25. April 2023

26. April 2023

27. April 2023

28. April 2023

29. April 2023

30. April 2023

MAI 2023

1. Mai 2023

2. Mai 2023

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4. Mai 2023

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11. Mai 2023

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17. Mai 2023

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20. Mai 2023

21. Mai 2023

22. Mai 2023

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25. Mai 2023

26. Mai 2023

27. Mai 2023

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30. Mai 2023

31. Mai 2023

JUNI 2023

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4. Juni 2023

5. Juni 2023

6. Juni 2023

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9. Juni 2023

10. Juni 2023

11. Juni 2023

12. Juni 2023

13. Juni 2023

14. Juni 2023

15. Juni 2023

16. Juni 2023

17. Juni 2023

18. Juni 2023

19. Juni 2023

20. Juni 2023

21./22. Juni 2023

JULI 2023

2. Juli 2023

3. Juli 2023

4.–6. Juli 2023

8. Juli 2023

9. Juli 2023

10. Juli 2023

11. Juli 2023

12. Juli 2023

13. Juli 2023

15. Juli 2023

20. Juli 2023

21. Juli 2023

22./23. Juli 2023

24. Juli 2023

25. Juli 2023

26. Juli 2023

Statt eines Schlusses

Fußnoten

Statt einer Einleitung

Dieser Text ist, wie mein Lektor es nannte, ein «cri de cœur». Im Dezember 2022 hatte ich nicht die Absicht, etwas Neues zu schreiben, das über das hinausging, was bereits geschrieben und fast vergessen war. Doch im Januar 2023 war ich plötzlich damit beschäftigt, eine Art Tagebuch über die politischen Ereignisse in Israel zu führen, und fügte ganz instinktiv, fast assoziativ Bemerkungen, die mir in den Sinn kamen, sowie verschiedene Erinnerungen hinzu. All dies geschah spontan. In der Tat, un cri de cœur. Aber warum?

Ich brauchte einige Tage, um zu begreifen, dass die politische Koalition, die Benjamin Netanjahu gebildet hatte, ein Monster war – ein Ungeheuer mit Zähnen, das das liberale und demokratische Land, wie wir es kannten, zu verschlingen drohte. Es dauerte noch ein paar weitere Tage, bis mir klar wurde, dass jeder Israeli, in erster Linie diejenigen, die im Land lebten, aber auch diejenigen, die anderswo lebten und mit dem Land verbunden waren, so wie ich, ihr Möglichstes dazu beitragen mussten, das Monster zu bändigen.

Natürlich hätte ich mich auf die Zusicherungen unseres Premierministers verlassen können, dass die liberale, demokratische Ordnung, die Israel bis dahin genossen hatte, nicht ausgelöscht würde, dass er die volle Verantwortung trage und entscheide, was erlaubt sei und was nicht. Möglicherweise war das seine Absicht, als er es versprach, aber zwei Aspekte der Situation machten mich misstrauisch: Ich wusste, was politischer Fanatismus ist, und ich wusste, dass Netanjahu verzweifelt versuchte, sich von der Anklage wegen Betrugs und Bestechung zu befreien, die gegen ihn erhoben worden war und die ihn ins Gefängnis bringen könnte. Sein Bündnis mit den Fanatikern in seiner Partei und denen in seiner Koalition würde es ihm ermöglichen, das Justizsystem so weit zu untergraben, dass es der politischen Mehrheit an der Macht unterworfen wäre und er so dem Schwert, das über seinem Kopf baumelt, entgehen könnte.

Unterdessen wird einer Mehrheit der Israelis zunehmend bewusst, was auf dem Spiel steht. Sie protestieren gegen eine Minderheit messianischer Fanatiker und politischer Protagonisten eines autokratischen Regimes und stellen eine Opposition auf die Beine, die einer Gesellschaft, die viele Jahre lang träge vor sich hin zu dämmern schien, eine neue Einheit und Energie jenseits der reinen Politik verleiht. Auf Hebräisch sagt man dazu «Kol hakavod», Respekt, gut gemacht.

JANUAR 2023

17. Januar 2023

Wenn man bequem in Kalifornien lebt, ist es leicht, «es reicht» zu rufen. Aber es ist für mich, mit über neunzig Jahren, unmöglich geworden, aus meiner Heimat Los Angeles nach Tel Aviv zu fliegen. Und doch können meine Frau Orna und ich an nichts anderes denken.

Eingehend studieren wir die täglichen Nachrichten auf Hebräisch: Wir sezieren sie, kauen sie, schlucken sie und erbrechen sie. Das erinnert mich an den deutschen Film Des Teufels General, in dem der berüchtigte Nazi-Pilot Ernst Udet irgendwann enttäuscht sagt: «Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.» Irgendwie ist mir der Satz, der wohl auf den Maler Max Liebermann zurückgeht, der damit die «Machtergreifung» durch die Nationalsozialisten kommentiert haben soll, über zig Jahre im Gedächtnis geblieben, und jetzt ist er, passenderweise, wieder da. (Udet hat 1941 Selbstmord begangen.)

Nun, so weit sind wir noch nicht, aber wie wird das enden? Wer hätte sich vorstellen können, dass in Israel im Jahr 2023 ein Premierminister, der drei Anklagen wegen Betrugs, Bestechlichkeit und Untreue entgehen will, mit Hilfe einer mit dünner Mehrheit regierenden ultrarechten und religiösen Koalition und eines durch und durch fügsamen Justizministers, Yariv Levin, versuchen würde, das gesamte Rechtssystem umzustürzen und damit die demokratischen Fundamente des Landes zu zerstören? Es ist zu ersten Massendemonstrationen gegen die Regierung und ihre Pläne gekommen, aber werden sie beharrlich und stark genug sein, um Netanjahu zum Einlenken zu zwingen und letztlich zu Neuwahlen zu führen? Und wenn die Koalition nicht einlenkt und keine Neuwahlen in Sicht sind, was dann?

Das Ende dieses Tagebuchs ist offen. Vorerst ist es nur meine private Chronik eines fortdauernden Dramas, das entweder zu einer Feier des Sieges der Demokratie oder zu dem Eingeständnis führen wird, dass das pulsierende Land, in dem ich jahrzehntelang gelebt und gearbeitet habe, tot ist, dass etwas anderes, etwas Unannehmbares, an seine Stelle getreten ist.

20. Januar 2023

Vor zwei Tagen entschied der Oberste Gerichtshof Israels mit einer Mehrheit von 10:1, dass Arje Deri, der Vorsitzende der Schas-Partei und Netanjahus wichtigster Verbündeter, der in seiner ultrarechten Regierung zum Innenminister ernannt wurde, aufgrund zweier früherer Verurteilungen wegen Steuerbetrugs und seines eigenen Versprechens, im Jahr 2022 kein öffentliches Amt mehr anzustreben, um eine Verurteilung wegen eines Kapitalverbrechens zu vermeiden, nicht als Minister fungieren kann. Er hat das Gericht belogen und sich in der jetzigen Koalition wieder in ein öffentliches Amt gedrängt. Wir wissen noch nicht, wie Netanjahu auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs reagieren wird.

In vielerlei Hinsicht ähnelt die neue israelische Regierungskoalition den ultrarechten Regierungen im heutigen Europa und darüber hinaus (Ungarn, Polen, Italien, Türkei) sowie dem politischen Programm der ultrarechten Republikaner (Trumpisten). Aber sie hat auch ihre besonderen Merkmale. So ist beispielsweise diese Art von Regierungen in Europa in den Händen einer wohlhabenden Oberschicht, die von der etablierten Religion, der Armee und einer Mehrheit von verblendetem «white trash» (stark nationalistisch, fremdenfeindlich und meistens antisemitisch) unterstützt wird, aber im Fall der Trumpisten nicht von «People of Color». In Israel hingegen ist Deris Partei im Wesentlichen eine Partei der «People of Color», also der Menschen, deren Familien in den 1950er Jahren aus Nordafrika und dem Nahen Osten eingewandert sind, die jahrelang in heruntergekommenen Transitlagern lebten und die untersten Ränge des Arbeitsmarkts besetzten. Und diese «Sephardim» (historisch gesehen meint das aus Spanien stammende Juden) wurden von den «Aschkenasim» (aus Deutschland und hauptsächlich aus Osteuropa stammenden Juden) verachtet.

Ich kam aus Frankreich, wohin wir 1939 aus Prag geflohen waren, nach Israel. Meine Eltern hat die Flucht nicht gerettet. Ich wurde versteckt, sie wurden gefasst und ermordet. Das israelische Dorf, in dem meine Onkel lebten und in dem ich im Juni 1948 ankam, war von deutschsprachigen tschechischen Juden bevölkert, den aschkenasischsten Aschkenasim, die man sich nur vorstellen kann: keine Religion, wenig Hebräisch und sämtliche Gewohnheiten von anno dazumal. Israel war kein Zufluchtsort, es war ein Land, das man «Heimat» nannte. Aber leider gab es in dieser neuen Heimat auch Rassismus.

Ich will das ganz deutlich formulieren: Schon bald nach seiner Gründung, zur Zeit der massenhaften Einwanderung aus Nordafrika in den frühen 1950er Jahren, wurde Israel, bewusst oder unbewusst, zu einer rassistischen Gesellschaft: Für uns alle, die Aschkenasim, war es offensichtlich, dass diese Neuankömmlinge irgendwie minderwertig waren, natürlich nicht offiziell, nicht rechtlich – wir waren nicht Südafrika –, aber implizit, in der Praxis.

Wir waren uns freilich nicht nur unseres Rassismus gegenüber den Einwanderern aus Nordafrika kaum bewusst, sondern hatten auch ganz vergessen, dass es unter uns eine kleine arabische Minderheit gab, die am Rande des Staates, an seiner Ostgrenze, lebte und der Militärverwaltung durch die sozialistische Regierung Ben-Gurions unterstand.

Zu dieser Zeit, Ende der 1950er Jahre, arbeitete ich als politischer Sekretär von Nachum Goldmann. Goldmann war damals der Präsident des Jüdischen Weltkongresses und der Zionistischen Weltorganisation. Politisch gehörte er zur linken Mitte und unterstützte verschiedene linke Organisationen und Publikationen finanziell, wie etwa Simha Flapans Monatszeitschrift New Outlook. Goldmann beschloss, eine Reise in einige arabische Dörfer zu unternehmen und einige der dortigen Bürgermeister zu besuchen, um Genaueres über die Situation zu erfahren. Ich begleitete ihn. Von dem Bürgermeister, an den ich mich erinnere, wurden wir herzlich empfangen, aber welche Unterwürfigkeit, welche Demütigung! Auf der einen Seite des Schreibtischs des Bürgermeisters stand ein großes Foto von David Ben-Gurion, auf der anderen Seite ein großes Foto des Begründers des Zionismus: Theodor Herzl.

Die demografische Mehrheit Israels verlagerte sich im Laufe der Zeit von den Aschkenasim zu den Sephardim oder Misrachim (aus dem Orient, d.h. aus dem Nahen und Mittleren Osten stammend), aber deren gesellschaftlicher Status änderte sich nicht groß. Was sich änderte, war ihre politische Vertretung, als 1977 der rechtsgerichtete Menachem Begin und seine Likud-Partei die Wahlen gewannen. Begin hatte sich vehement für die Misrachim eingesetzt (wobei er selbst polnischer Jude war und die meisten Mitglieder seiner Regierung weiter Aschkenasim waren). Aber die Misrachim hatten das Gefühl, dass Begin ihre Würde wiederhergestellt hatte, und sie stimmten in großer Zahl für ihn.

Ein paar Jahre später, 1984, gründete der sephardische Oberrabbiner Ovadja Yosef die Partei, die diese misrachische Wählerschaft vertreten sollte: «Schas» (Shomrei-Torah Sfaradim – Sephardische Tora-Wächter); sein gesalbter Schüler und Nachfolger war Arje Deri. Schas ist streng religiös, rechtsgerichtet und denkt immer noch in Kategorien der traditionellen Feindschaft zu den Aschkenasim (obwohl Netanjahu ein waschechter Aschkenasim ist). Nichtsdestotrotz haben Deri und Bibi (Netanjahus gängiger Spitzname) eine wichtige Gemeinsamkeit: Gegen beide wurde oder wird Anklage erhoben, gegen Ersteren wegen Steuerhinterziehung, gegen Letzteren wegen dreifacher Korruption.

Und Schas ist bei weitem nicht am schlimmsten. Die neue Koalition umfasst wahrhaft abscheuliche Exemplare: Bezalel Smotrich und seine Partei Religiöser Zionismus, Itamar Ben-Gvir, einen ehemaligen Schüler von Rabbi Kahane, der die Demokratie in Israel zugunsten einer jüdischen Theokratie beseitigen wollte, und sein Kontingent der Partei Jüdische Stärke.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen der israelischen Rechtskoalition und den üblichen autoritären Regierungen, die heute an der Macht sind, ist die Rolle des Militärs. Normalerweise unterstützt die Armee eine nationale autoritäre Regierung. Im heutigen Israel hat die Armee, einschließlich ihres Chefs, des Likud-Verteidigungsministers Joav Galant, klar zu verstehen gegeben, dass alle Angelegenheiten, die die besetzten palästinensischen Gebiete betreffen, ihr ausschließlicher Zuständigkeitsbereich bleiben würden, wie es seit dem Ende des Sechs-Tage-Kriegs 1967 der Fall gewesen ist: Smotrich, ein rechtsextremer Ideologe, den Netanjahu zum Finanzminister ernannt hat und der zudem als Minister im Verteidigungsministerium für zivile Angelegenheiten in Judäa und Samaria (den besetzten Gebieten), also für Siedlungen und Siedler, zuständig ist, wurde von Galant daran gehindert, sich in den ersten von ihm angestoßenen Fall einzumischen: die Errichtung der neuen Siedlung Or Hayim. Netanjahu hatte keine andere Wahl, als Galant zu unterstützen, wahrscheinlich auf Drängen seiner eigenen Likud-Partei und, wie einige behaupten, des Weißen Hauses. Als Smotrich beim Premierminister dagegen protestierte, schloss sich ihm Ben-Gvir an, jedoch ohne Erfolg.

All dies macht die israelische Armee nicht zu einer Festung der Legalität; sie ist der Schmelztiegel einer multiethnischen Gesellschaft, mit Ausnahme ihres ultra-religiösen Segments (auf das ich noch zurückkommen werde). In diesem Sinne ist sie eine Volksarmee, aber ihr Umgang mit der palästinensischen Bevölkerung ist oft brutal, insbesondere bei den quasi täglichen Antiterroreinsätzen. Das mag zur spürbaren Verrohung der israelischen Gesellschaft beitragen. Mit ihrer entschlossenen Haltung gegen Smotrich und Ben-Gvir hat die Armee jedoch Netanjahus Koalition weitere Schwierigkeiten bereitet, und das ist auch gut so.

Was ich gerade über die Armee geschrieben habe, ist nicht korrekt, wenn ich es so stehen lasse: In einer Armee, die zu den modernsten der Welt gehört, haben einige Infanterieeinheiten (u.a. das Netzah-Yehuda-Bataillon) die palästinensische Bevölkerung wiederholt brutal behandelt, was israelische und internationale Menschenrechtsorganisationen auf den Plan gerufen hat. Es besteht kein Zweifel, dass solche Dinge geschehen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass dies vor dem Hintergrund einer erhöhten terroristischen Militanz geschieht, die von der Hamas und dem Islamischen Dschihad im Westjordanland sowie von der Hisbollah im Norden ausgeht. Unter solchen Bedingungen ist es quasi unmöglich, eine durch und durch korrekte Haltung zu wahren. Das Problem Israels ist nicht die Armee als solche, sondern die jahrzehntelange Besetzung der eroberten Gebiete.

Die heutigen religiösen Parteien Israels sind sowohl nationalistisch als auch ultra-orthodox. Das liberale Judentum hat sich in Israel nie durchgesetzt. Von Anfang an akzeptierte Ben-Gurion, der selbst eher Agnostiker war, eine Regelung, nach der die religiösen Aspekte des Privatlebens (Beschneidung, Bar Mitzwa, Heirat, Scheidung, Bestattung) nach den Regeln des orthodoxen Judentums durchgeführt werden sollten. Vor allem aber beschloss die Knesset zu einem späteren Zeitpunkt, dass die Definition dessen, wer Jude ist, ebenfalls von der strengen Orthodoxie abhängen sollte: Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde. Das war essentiell für die Entscheidung, wer Anspruch auf die Staatsbürgerschaft und die Vorteile des Rückkehrgesetzes hatte, das 1950 als erstes Gesetz nach der Staatsgründung von der Knesset verabschiedet wurde und jedem Juden das Recht auf Einwanderung und die israelische Staatsbürgerschaft einräumt. Konversionen wurden nur dann als gültig angesehen, wenn sie von orthodoxen Rabbinern vollzogen wurden. Im Laufe der Jahrzehnte gewannen das konservative und das Reformjudentum in Israel an Boden, allerdings nur in geringem Maße. Derweil schwanden die relativ gemäßigten orthodoxen Juden (Mafdal) langsam dahin. Die Ultra-Orthodoxen, auch Charedim genannt, befanden und befinden sich in einer bizarren Situation, insofern sie den Staat Israel nicht anerkennen, aber ihre eigene Partei hatten und haben (Agudat Israel, die jetzt mit dem Banner der Tora zum Bündnis Vereinigtes Tora-Judentum fusioniert ist) und bei Wahlen antreten – nicht, weil sie konzilianter geworden sind, sondern weil sie Geldmittel für ihre Schulen (Jeschiwot) und für ihre wachsende, verarmte Bevölkerung benötigen.

Infolge dieser verschiedenen Veränderungen umfasst Netanjahus Koalition vier religiöse Parteien: Vereinigtes Tora-Judentum (ultraorthodox, hat aber in allen bisherigen Koalitionen für die eigenen finanziellen Interessen gearbeitet), Schas (ultraorthodoxer misrachischer Ableger von Agudat Israel), Religiöser Zionismus (extrem nationalistisch, religiös, geführt von Smotrich) und Jüdische Stärke (ebenfalls extrem nationalistisch, religiös, geführt von Ben-Gvir). Es gibt immer noch Charedim, die den Staat überhaupt nicht anerkennen und nicht kooperieren, aber sie sind zu einer kleinen Minderheit geworden (Neturei Karta).

Tatsächlich ist die Situation vor Ort höchst verwirrend, da die Rabbinerräte über das Vereinigte Tora-Judentum und die Schas herrschen und die Mitglieder des Vereinigten Tora-Judentums sowohl verschiedenen chassidischen Gruppen als auch den antichassidischen Litayim (Litauern) angehören, von denen einige Ben-Gvir unterstützen. Die religiöse Landkarte Israels ist ein Labyrinth, aber eine Tatsache ist vorerst klar: Das demografische Gleichgewicht verschiebt sich aufgrund der extrem hohen Geburtenrate orthodoxer Familien (Anfang 2023 sind 30 Prozent der Kinder in der ersten Klasse orthodox) rasch zugunsten der religiösen Parteien.

Das eigentlich Mysteriöse an dieser Situation ist die schwache Präsenz des liberalen Judentums in Israel. Ich persönlich habe einige tief gläubige israelische Juden kennengelernt, die die zuvorkommendsten, verständnisvollsten und liberalsten Menschen waren: mein erster Schwiegervater, Ben Zion Meiry, der nie ein Wort über das völlige Fehlen jeglicher religiöser Observanz in unserer wachsenden Familie verlor, oder mein sehr enger Freund und Kollege Uriel Tal, der, wie ich weiter unten zeigen werde, die vernichtendsten Artikel über die jüdischen Glaubensfanatiker schrieb. Wohin sind all die Liberalen verschwunden? Warum konnte ihre Art des humanen Judentums im jüdischen Staat nicht überleben? Warum die beschleunigte Entwicklung hin zum Fanatismus?

21. Januar 2023

Heute ist viel passiert. Smotrich hat angekündigt, dass er morgen nicht an der wöchentlichen Regierungssitzung teilnehmen wird, was auf seinen möglichen Ausstieg aus der Koalition und auf Neuwahlen hindeuten könnte. Das ist natürlich das optimistischste Szenario. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums ließ Esther Chajut, die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, die als erste öffentlich gegen Levins «Justizreform» Stellung bezog, verlauten, dass sie im Falle einer Verabschiedung der Justizreform durch die Knesset (das israelische Parlament) nicht zurücktreten, sondern weiter kämpfen werde. Unter den Oppositionellen verdient Chajut die größte Bewunderung, während Oppositionspolitiker wie Jair Lapid und Benny Gantz, die an der Spitze der Vorgängerregierung standen, viel von ihrer Autorität verloren haben.

Etwa 130.000 Anti-Netanjahu-Demonstranten gingen in israelischen Städten auf die Straße, 100.000 davon in Tel Aviv.

22. Januar 2023

Netanjahu hat Deri «mit Bedauern» entlassen. Die Justizreform wird ihn möglicherweise zurückbringen.