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Ort des Geschehens: Wien. Eine Metropole der Kultur, der feinen Künste und der erlesenen Genüsse, aber in diesem Kriminalfall, das Zentrum des psychischen Schreckens. Eine ehemalige Sonderermittlerin aus Baden hat vor 20 Jahren freiwillig ihren Beruf an den Nagel gehängt hat, weil es ihr damals nicht gelungen war, einen Nervenspitalleiter, entgegen ihres besseren Wissens um dessen Schuld, des mehrfachen Mordes zu überführen. Nun, 20 Jahre später, wird genau jener Spitalleiter, der damals seinen Sitz von Baden nach Wien verlegt hatte, da er seine Reputation, zumindest regional, angekratzt sah, ermordet. Und die Ex-Sonderermittlerin, die ausgerechnet zur Tatzeit zu Besuch in Wien ist, offensichtlich um ihren einstigen Widersacher (ob seines vermeintlichen Fortschrittsbeitrags auf dem Gebiet medizinischer Nervenheilkunst) zu konfrontieren, avanciert zur Hauptverdächtigen und gerät unweigerlich in die verbale Schusslinie der Polizei. Der Krimi »Psycho-Paten« behandelt die Frage, ob selbsternannte Paten der Psyche mitunter möglicherweise die eigentlichen Psychopathen sind. Da der oberste Ermittler mit italienischen Wurzeln behaftet ist, kommt das eigentümliche Wiener Milieu hier ebenso zum Ausdruck wie ein Seitenblick auf die nahverwandte Gelassenheit des italienischen Flairs. Die zwei maßgeblichen Schlüsselbegriffe der Handlung: Gelassenheit auf der einen Seite und Geltungsbedürfnis auf der anderen Seite. Themen wie Psychologie, Therapie, Psychopharmaka, Zwischenmenschlichkeit, Glaubensfragen mit all ihren Stärken und ihren Zweifeln, dazu vielschichtige Charaktere von geheimnisvoll introvertiert über enervierend stoisch bis hin zu ungebändigtem Temperament, sind in eine intelligente Kriminalhandlung eingearbeitet, die mit ebenso viel Spannung, Kurzweile wie Brisanz aufwartet. Für jedermann verständlich, wird hierbei die philosophische Schwere des Seins mit der fatalen Leichtigkeit des Scheins in einer stimmigen Symbiose vereint.
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Seitenzahl: 355
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Es war bereits dunkel. Obwohl es noch nicht einmal ganz 19 Uhr war, hatte sich das Tageslicht längst verabschiedet, war der Dunkelheit gewichen.
Rosemarie Kiesel, eine ältere Haushälterin, distinguiert wie man es von einer Dienstmagd im Haus am Eaton Place erwarten würde, stand in der Küche und bereitete das Abendessen vor.
Wie erwartet schlug die große Wanduhr in der Diele kräftig zur 19. Tagesstunde, übertönt nur von der Finsternis, die draußen lauthals unspezifisches Ungemach verkündete.
Das war eines der Dinge, die Rosemarie zu schaffen machte: die frühe Dunkelheit im Winter. Die Tage im Dezember waren schon arg kurz. Ebenso wie für so viele andere Menschen, verkörperte das Tageslicht für Rosemarie ganzheitliches Lebenselixier.
Lebenselixier war auch das Stichwort für den Professor, dessen Haushalt sie vorbildlich führte. Wie man es insbesondere in den vornehm teuren Vierteln von Wien noch häufig vorfand, war dies wahrlich ein Herrenhaus, Und der Herr im Haus war ein gut situierter Chefarzt, dessen Ansprüche sich weit jenseits von gewöhnlich und mittelmäßig abspielten. Rosemarie erfüllte seit etwa zehn Jahren genau diese Erwartungen. Der Haushalt war in einem 1a-Zustand. Das fast museumsähnliche Interieur zeigte sich makellos gepflegt und ließ keinerlei Ordnungs- oder Reinheitswünsche offen. Alles war sauber bis zum Abwinken.
Die an Jahren ebenso wie an Erfahrung gereifte Haushälterin konnte zwischenzeitlich aber auch auf tatkräftige Hilfe zurückgreifen. Für den riesigen Garten wie auch für sonstige grobe Arbeiten stand ihr ein kräftig gebauter Anfang-Vierziger zur Verfügung. Zudem befand sich seit einiger Zeit auch eine junge Frau, gerade mal achtzehn Jahre alt geworden, in Diensten des Haushalts. Der Tradition des alten Gemäuers Folge leistend, wurde die Frau, die den Status des Erwachsenseins eben erst erreicht hatte, als „Stubenmädchen“ engagiert. Wobei ihre Pflichten das Reinigen der Stuben freilich weit übertrafen. Das Mädchen, das auf den Namen »Fatime« hörte, befand sich noch in der Anlernphase, musste sich hier und da noch orientieren, während sich Rosemarie schon ein Jahrzehnt lang in den Diensten des Klinikdirektors Professor Grofke bewährt hatte.
Obwohl die Räumarbeiten innerhalb des Küchendienstes ebenfalls in den Aufgabenbereich des Stubenmädchens fielen, war an diesem Abend Rosemarie Kiesel alleine in der Küche zugange. Plötzlich flackerten die Lichter. Ein kurzes Flackern, ein scharfes Knistern, ein unangenehmes Zischen – dann erloschen die Lichter. Auch die sonstigen elektrischen Geräte, wie der strombetriebene Mixer, Herd und Radio verabschiedeten sich abrupt. Währenddessen war ein dumpfer Knall zu hören. Dann war alles dunkel. Beängstigende Dunkelheit. Ein Gänsehautmoment machte sich breit.
Nach kurzen Augenblicken des bangen Schreckens machte sich Rosemarie tastend auf die Suche nach Streichhölzern und Kerzen. Sie zog mehrere Schubladen auf, ohne fündig zu werden. Kurze Zeit später war aus der Entfernung ein Geräusch zu vernehmen. Es klang, als wenn Glasscherben zerbrachen. Die Haushälterin hielt kurz inne, lauschte der Stille, die unmittelbar nach dem Glasbruchgeräusch einsetzte.
»Kristian! Kristian!« Rosemarie atmete heftig, als sie aufgeregt und beinah hysterisch laut seinen Namen rief.
Sofort machte sie sich wieder auf die Suche nach den verdammten Streichhölzern. Mit nervöser, aber etwas leiserer Stimme schimpfte sie vor sich hin. »Großer Gott, wo sind sie denn nur?« Auch bei der Zwiesprache mit sich selbst, verriet ihre bis zur Heiserkeit erregte Stimme gediegene Hektik.
Normalerweise wusste sie auf Anhieb, wo sich was befand. Suchen war für sie kein Thema. Denn jeder einzelne Gegenstand lag exakt auf seinem Platz. Kein Toleranzbereich, nur haargenaue Zuordnung. Die Koordinaten des Standorts oder Liegeplatzes einzelner Haushaltsartikel hatte Rosemarie bis auf den Millimeter genau in ihrem Kopf. Nur heute Abend war alles wie ausgelöscht. Ihr Denkvermögen ließ sie zu hundert Prozent im Stich. Vor lauter Aufregung war alles blank. Keine Vorstellungskraft, sondern pure Nervosität. Sie spürte, etwas Furchtbares war geschehen.
Die Stille in der Atmosphäre schrie geradezu nach Unheil. Es war greifbar nah. Die Anspannung nahm Rosemarie die Luft zum Atmen. Es war nicht die Dunkelheit, die die Präsenz der Unheimlichkeit unerträglich machte. Vielmehr legten sich geisterhafte Schatten über den Raum und drohten Mensch und Gegenstand zu erdrücken. Unsichtbare Masse überwölkte die eigentliche Dunkelheit und beengte den Raum zunehmend bis sie alles unter sich luftdicht begrub.
Rosemarie konnte nicht klar denken. Das ließ ihr keine Chance, sich an den Verbleib einzelner Dinge zu erinnern. Was sie sonst mit geschlossenen Augen fand, war spurlos verschwunden. Endlich, in der untersten Küchenschublade, neben den Gefrierbeuteln und anderem Krimskrams fand sie die Kerzen sowie mehrere Päckchen der so dringend benötigten Streichhölzer.
Mit heftig zitternden Händen zündete sie eine Kerze an. Der erste Schreck saß ihr sichtlich in den Knochen. Das Kerzenlicht strahlte eine gewisse Beruhigung aus. Rosemarie atmete tief durch. Sie lehnte sich vornüber auf die längsseitige Anrichte und langsam kehrte ihr Pulsschlag in geordnete Bahnen zurück.
Als Puls und Atmung ihr wieder einigermaßen Beruhigung signalisierten, verließ Rosemarie die Küche, die brennende Kerze in der Hand. Draußen in der Diele sah sie einer Person entgegen, die nur zögerlich angetastet kam.
»Was war das?« Die junge Frau blickte in höchstem Maße verschreckt drein.
»Ich weiß es nicht!« Rosemarie versuchte zu alter Ruhe zurückzufinden.
»Es ist zum Fürchten!« Alle Lichter sind ausgegangen.“
»Ein Stromausfall. Im ganzen Haus. Sicher nichts, worüber wir uns beunruhigen müssen.« Rosemarie gab sich alle Mühe, dem Klang ihrer Stimme Souveränität zu verleihen.
»Ich finde es gespenstig!« Das Dienstmädchen ließ sich nicht beruhigen.
»Unsinn. Rede kein dummes Zeug!«, erwiderte Rosemarie leicht zornig.
Aus dem hinteren Dielenbereich kam Kristian Böhme auf die beiden Frauen zu. In der Hand hielt er eine Taschenlampe, mit der er den beiden Frauen ins Gesicht leuchtete. Mit einer abwehrenden Handbewegung deutete Rosemarie ihm unmissverständlich, dass er sie blendete. Rasch senkte Kristian den extrahellen Strahl seiner Taschenlampe zu Boden.
Kristian Böhme war nicht nur für die handwerklichen Arbeiten in Haus und Garten zuständig, er war zudem der Chauffeur des Hausherrn. Als Rosemarie ihn erblickte, – ihn erblicken konnte, nachdem sich ihre Augen den Lichtverhältnissen angepasst hatten – kehrte auch bei ihr die deutliche Aufregung in der Stimme zurück.
»Was war denn los, was ist passiert?« Ähnlich wie Fatime, konnte Rosemarie nun selbst ihre tosende Anspannung ebenfalls nicht mehr verheimlichen.
Kristian, Marke »wortkarg«, der nicht nur ob der Situation übellaunig wirkte, wies die beiden, wie man es von ihm kannte, rau gestimmt in ihre Schranken.
»Ich weiß es doch auch nicht!« Kristian war nicht der Typ für lange Erklärungen, hielt seine Meinung kurz und knapp. Auch jetzt, da etwas Merkwürdiges im Haus vor sich ging.
Ohne ein weiteres Wort und ohne den verängstigten Frauen überflüssige Beachtung zu schenken, machte er sich auf den Weg in den Keller. Dort ging er schnurstracks zum Sicherungskasten und drehte neue Sicherungskerzen ein.
Sofort gingen alle Lampen an und Kristian hinauf ins Erdgeschoss. Das Haus war nun wieder hell erleuchtet.
Kristian Böhme kam zurück. Als er oben eintraf, standen die zwei Haushälterinnen noch immer an derselben Stelle, an der sie hilflos beieinander verharrt waren, bevor er in den Keller gegangen war.
Die ältere der Beiden versuchte dabei sichtlich forciert, als beruhigende Kraft zu wirken. Sie tat alles, um sich am viel zitierten Riemen zu reißen und der jüngeren, die generationsmäßig ihre Enkelin hätte sein können, Mut zu zusprechen. Rosemarie musste sich fassen; denn schließlich gehörte es zu ihren Aufgaben, als Vorbild zu fungieren
»Beruhige dich, Fatime. Es war sicher nur ein Kurzschluss. Kein Grund zur Panik.« Rosemarie sprach wie mit Engelszungen zu dem jungen Dienstmädchen.
»Aber Madame, haben Sie denn den Krach nicht gehört? Und der gnädige Herr, der müsste doch schon längst heruntergekommen sein.« Fatime war nicht zu überzeugen.
»Die Katze wird was runter geworfen haben.«
»Die Katze? Nein, die habe ich vorhin zur Tür hinausgelassen. Die kann es nicht gewesen sein. Nein, ich glaube, es ist jemand Fremdes im Haus. Was ist, wenn er kommt und uns umbringt. Madame, ich habe Angst!«
»Ach, sei ruhig! Professor Grofke steckt sicher so tief in seiner Arbeit drin, dass er von alledem überhaupt nichts mitgekriegt hat.« Rosemarie versuchte auch sich selbst, von ihrer Aussage zu überzeugen, während sie auf das Mädchen einredete. »Du weißt doch, wie konzentriert er sein kann. Nicht einmal ein Erdbeben bringt ihn da aus seiner Ruhe.«
»Aber es war doch unheimlich. Wie kann er denn da arbeiten?«
Rosemarie wusste keine plausible Antwort darauf. Daher überhörte sie Fatimes Einwand wohlweislich und wandte sich Kristian zu.
Der hatte das Gespräch der beiden Frauen desinteressiert ignoriert und zeigte sich, wie gehabt, schlecht gelaunt und mürrisch. Wenn Kristian etwas erwiderte, dann stets in unwirschem Ton. Ihm passte jene ungeplante Flurzusammenkunft aller Hausangestellten sichtlich nicht in den Kram. Es war wohl der Aspekt des Gesellig-Seins an diesem unorthodoxen Treffen, was ihm besonders auf die Stimmung schlug. Kristian personifizierte den Typ der Aufregung vermied, wo er nur konnte und war ein Leisetreter, wie er im Buche stand.
Natürlich war die ganze Situation nicht unbedingt nach seinem Geschmack. Dennoch versuchte Kristian, sich zu fügen. Das gehörte schließlich auch irgendwie zu seinem Job. Daher griff er Fatimes Einspruch, nicht ohne ironischen Unterton, auf.
»Und, dass es stockfinster geworden ist, soll er auch nicht gemerkt haben?«
Kristian sah die Beiden provokativ an, bevor er entschloss, selbst die Initiative zu ergreifen. »Ach, macht kein Theater. Ich sehe nach, was los ist.«
Kristian Böhme ging, teilweise zwei Stufen auf einmal nehmend, eilig die Treppe hinauf, während die beiden Frauen ihm voller Anspannung nachsahen.
»Was ist, wenn da oben jemand lauert? Was ist, wenn ihn jetzt jemand brutal niederschlägt? Dann sind wir allein! Und ausgeliefert! Ich habe so furchtbare Angst, Madame!« Fatimes Stimme vibrierte beim Sprechen regelrecht.
Rosemarie blickte nach oben, dorthin wo eben noch Kristian entschwunden war.
»Jetzt hat der Spuk gleich ein Ende. Alles ist in Ordnung!«, murmelte sie vor sich hin.
Rosemaries Argumente galten Fatime, aber es schien immer noch, als wolle sie sich selber mehr Beruhigung zusprechen, als der von ihr eigentlich adressierten Person. Sie hielt ihre Hände vermeintlich stärkend auf deren Schultern, während beide ängstlich hinaufschauten.
Sekunden später tauchte Kristian am oberen Treppenabsatz wieder auf. Er war aschfahl im Gesicht.
»Wir müssen die Polizei rufen.« Kristian atmete schwerer als sonst.
Die beiden Frauen waren starr vor Schreck. Keiner gelang es, irgendetwas zu antworten.
Kristian zeigte sich nicht willig, eine Antwort abzuwarten. Er ging bereits im gleichen Augenblick selbst raschen Schrittes zum Telefon und drückte hektisch die Tasten der Kurzwahl für den Notruf. Im nächsten Moment hörten die beiden Frauen ihn sagen: »Ich habe einen Unfall zu melden.«
Nach einer kurzen Sprechpause fuhr er fort. »Kristian Böhme. Wilhelminengasse 1 bis 7. 1. Bezirk. Es geht um Professor Grofke, Leiter des Grofke-Nervenspitals.«
Abermals nahm sich Kristian ein paar Sekunden, bevor er mit fester Stimme hinzufügte:
»Er ist tot.«
Es war ein sehr geräumiges Mehrfamilienhaus im herkömmlichen Altbaustile und mit Schloss ähnlichen Ausmaßen. Der massive Ziegelbau umfasste eine Villa, in der sich vermutlich mindestens zwei Generationen der Familie Buddenbrook wohl gefühlt hätten.
Noch größer war das Anwesen, auf dem sich die stuckreiche Prachtvilla befand. Ein riesiges Grundstück, das, entsprechend abgestuft, fast einen kompletten Hügel ausmachte und sich über mehrere Ebenen erstreckte.
Wohnhaus und Spital standen, obgleich weit voneinander entfernt und keineswegs auf Augenhöhe, auf einem Grundstück und bildeten die Ausgangpunkte des Anwesens. Auf der räumlich untersten Ebene befand sich das Nervenspital, dessen Namensgeber das alteigentümliche Prunkhaus auf der geografisch obersten Hügelebene bewohnte.
Die weitreichenden Stufen zwischen Wohnhaus und Spital wiesen kerngesunde Grünflächen auf. Grün, soweit das Auge reichte. Wer Wiesen voll dicht besiedelter Grashalme liebt, konnte sich hier satt sehen. Der Anblick allein, half der kranken Seele zur Gesundung.
Allerdings war der Anblick von oben, wie in so vielen Bereichen des alltäglichen Lebens, allemal zuträglicher als der von unten. Von sämtlichen Wohnhausfenstern der Nord-, West- und Südseite aus, konnte man nicht nur die Weiten des gepflegten Rasens betrachten, sondern hatte auch uneingeschränkten Blick auf den nach unten gelagerten Gebäudekomplex des zugehörigen Spitals. So hatte man von oben den besten Überblick respektive alles Notwendige im Blickfeld.
Vom Privathaus auf der hügeligen Anhöhe aus, führte ein mit Kopfstein gepflasterter, gewundener Weg hinunter zu dem auf der Niederung befindlichen Spital, in dem man nervliche „Befindlichkeiten“ fachmännisch behandelt würden.
Die Klinik selbst hatte noch einen eigenen Park, der separat umzäunt war. Kein Baum weit und breit. Dafür etliche Büsche, ein weit läufiges Blumenbeet, mehrere Parkbänke und ein steinernes Monument. Das gute Stück zeigte zwei Kreaturen, die sich duckten, währende eine überdimensional große Hand nach ihnen zu greifen schien. Man wusste nicht, ob man den Bildhauer für seine Skulptur bewundern oder eher fürchten sollte. Professor Grofke hatte es sich jedoch einiges kosten lassen, dieses Zwiespältigkeit oktroyierende Sinnbild im Park aufstellen zu lassen. Wie man vernommen hatte, war es wohl eine Auftragsarbeit, mit der der Bildhauer zu jeder sich bietenden Gelegenheit prahlte. Auch der Künstler hatte sich einst in der Nervenklinik von Professor Grofke ausgiebig behandeln lassen und pries des Doktors unkonventionelle Methoden lautstark an. Er berichtete jedem, der es hören wollte, vom Glanz und Glorie neuer medizinischer Errungenschaften. Und zuweilen auch einigen, die es nicht hören wollten.
Professor Grofke war nicht nur Gründer und Leiter seiner Klinik, sondern auch ein umtriebiger Wissenschaftler. Immer wieder hielt er Vorträge an den verschiedensten Universitäten österreichweit sowie an den medizinischen Fakultäten der Nachbarländer Deutschland und Schweiz. Ebenso fand er ausreichend Foren auf der Plattform der Pharmaindustrie. Hier war er als Redner beinah noch begehrter als in seiner Funktion als Dozent auf den akademischen Spielplätzen. Zu sehr hatte er dort den Eindruck hinterlassen, dass er am liebsten Eimerchen, Schaufel und Formen an sich riss, um den allgemeinen Sandkasten zu verlassen und seine eigenen Burgen zu bauen.
Die Pharmakonzerne hingegen schätzten seinen Arbeitswandel im großen Stil. Bei der Behandlung von Größenwahn als manischem Zustand wäre der Professor möglicherweise selbst auch gleichzeitig sein bester Patient gewesen. Seine Hingabe war grenzenlos – in jeder medizinischen Hinsicht. Grofke war ein Verfechter des Ausreizens medikamentösen Spielraums und widmete dabei einen großen Teil seiner Arbeit der Erforschung neuer Pharmaka mit neurologischem Knalleffekt.
Marco Tracelli und Kiki Thalmayer standen am mutmaßlichen Tatort im Badezimmer. Die Leiche lag ebenso in der zu zwei Drittel mit verdünnt rotem Wasser gefüllten Badewanne wie ein Bildschirmmonitor, der ungesunder Weise an einem elektrischen Kabel hing. Am Boden sah man etliche Wasserlachen. Das Stromkabel war bereits aus der Steckdose gezogen.
Obgleich das Badewasser blutrot verdünnte Färbung aufwies, war auf den ersten Blick ersichtlich, dass es sich keineswegs um Blut handelte, sondern um geschmacklich laut kreischende Wandfarbe. Der dazugehörige Farbeimer lag unweit der Wanne umgekippt auf dem Badezimmerboden. Die Restfarbe hatte sich auf kleiner Fläche über den Boden vor dem Eimer verteilt. Ein minimales Überbleibsel an Purpurrot war neben den gewöhnlichen Randspuren im Behälter verblieben.
Außerdem befanden sich dort noch die üblichen Badezimmerutensilien, wie Zahnbürste, Zahnpasta, Becher, Seife und Rasierzubehör inklusive einem sündhaft elitären After Shave, das den bezeichnenden Namen »masculine« trug. Doch anstelle ordentlich die teuer glänzenden Armaturen zu schmücken, lagen diese Dinge unorthodox über den Boden verstreut. Mit Zorn dorthin geworfen oder in eiliger Aktion hinuntergefallen?
Kiki Thalmayer kniete nieder, um sich die Seife näher zu betrachten. Im Gegensatz zu regulärer Markenseife stach, außer der Tatsache, dass es sich um ein außergewöhnlich nobles Edelfabrikat handelte, insbesondere eine Abweichung ins Auge. Inmitten der Seife steckten drei Kreuze, die, aus rotschimmernd dunkelbraunem Mahagoniholz geschnitzt, ganz offensichtlich das Wahrzeichen des Christentums offenbarten. Thalmayer besah sich die ebenso ungewöhnliche wie kunstvoll angeordnete Verzierung von allen Seiten, fasste es dabei aber wohlweislich nicht an.
Dann deutete Thalmayer auf das reliktverzierte Kunstwerk: »So schnell wie möglich ins Labor damit.«
Ein Beamter der Spurensicherung, der gerade anderweitig beschäftigt war, antwortete ohne Aufzublicken: »Ist klar!«
Außer den eher hochwertig erscheinenden Holzkreuzen in der Seife, war den Ermittlern bereits beim Betreten des Badezimmers ein weiteres religiöses Relikt regelrecht ins Auge gesprungen. Noch ein Holzkreuz. Allerdings von weitaus größeren Maßen. Es hing an der Wand, direkt über der Wanne.
Obwohl – hängen hier wohl nicht der korrekte Ausdruck ist. Das in der Senkrechte mindestens 60 cm, in der Waagerechte etwa 25 cm große, christliche Symbol war mit breitem Klebeband an die Wand gepappt worden. Man sah den Haftstreifen an, dass sie in der Schnelle abgerissen und ohne jegliche Sorgfalt quer über das ebenfalls aus Holz verarbeitete Kreuz geklebt worden waren. Hierbei handelte es sich jedoch weder um handwerklich geschliffenes Mahagoni noch um eine kunstfertige Schnitzerei. Grob heruntergebrochen, war es wohl eher so etwas wie Birkenholz. Genauer gesagt, man erkannte einen ehemals größeren Ast und einen schmalen Zweig, sorglos mit dünnem Draht aneinandergebunden. Ast und Zweig formten ganz offensichtlich ein ermahnendes Kruzifix. Wobei die Mahnung beim Anblick der Leiche sichtbar zu spät kam.
Der erste Eindruck erschien orthodox, der zweite eher unorthodox. Und der dritte? Nun, der dritte eindeutig paradox. Die Empfindung, die sich ins Bewusstsein der ermittelnden Polizeibeamten schlich, war ein Täterprofil mit widersprüchlichem Naturell: skrupellos gewissenhaft.
Man konnte dennoch zumindest einen Aspekt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen: der Täter hatte es eilig gehabt.
Ebenfalls unorthodox positioniert, fiel Tracelli ein Longdrink-Glas auf, das auf einem an die Wanne montiertem Beistelltisch umgeschmissen dalag. Die Flüssigkeit am Boden darunter hatte sich längst mit den Pfützen des über den Wannenrand geschwappten Badewassers vereint. Und so war es auf den ersten Blick nicht auszumachen, ob das Glas beim Umfallen bereits leer war oder ob der Inhalt des Glases es sich noch am Boden bequem gemacht hatte – freilich in Gesellschaft des unappetitlich gefärbten Badewassers. Zumindest zwei in die Ecke gerollte Oliven sowie ein Stück vereinsamte Zitronenscheibe deuteten relativ unmissverständlich an, dass sie sich einst im Longdrink-Glas befunden hatten.
Tracellis Blick wanderte im Badezimmer herum. Abwechselnd betrachtete er den Boden, den Beistelltisch an der Wanne, die Monitor-Vorrichtung über der Wanne und die Wand.
Die Wand jenseits der Wanne war wohl der intensivste Blickfang. Denn nicht nur das überdimensional groß anmutende Kreuz zog alle Augen auf sich. Daneben und quer über die ganze Wandseite verteilt, prangte mit blutroter Farbe ein Schriftzug, der alle Schreckensszenarien in sich zu vereinigen schien. Wortfetzen, die aussahen wie:
[Unleserliches Geschmiere].…Teufel… [unleserliches Geschmiere] …Leib… [unleserliches Geschmiere] …und führ… [unleserliches Geschmiere] …Versuch… [unleserliches Geschmiere] …Bösen… [unleserliches Geschmiere].
»… Teufel …«, »… Leib …«, »… und führ …«, »… Versuch …«, »… Bösen …« (alles in leuchtend roter Farbe), waren die einzigen Wortfetzen, die man, allerdings auch nur mit Mühe und nicht wirklich mit absoluter Sicherheit, entziffern respektive mutmaßen konnte.
Das Klebeband pappte völlig unorthodox über Kreuz und Wand und die Schrift war in der Tat mehr Geschmiere als sonst irgendetwas. Nur eines war garantiert: der Anblick bescherte Gänsehautmomente. Horrorvisionen im Paketpreis enthalten. Inklusive exklusiver Schrecksekunden. Das war beim Eintreten ins Badezimmer durchaus gewährt.
Der Polizeifotograf war am Werke, ebenso die Spurensicherung. Thalmayer blickte auf den herabgefallenen Monitor: »Da hat jemand ganze Arbeit geleistet. Das kann nicht leicht gewesen sein, das Teil in die Wanne zu kippen.«
Mit einer gedankenverloren flapsigen Handbewegung deutete Tracelli auf die eigens für den Monitor eingebaute Vorrichtung und nickte. »Hm.«
Dann besah er sich die Konstellation nochmals aus der Nähe. »Da musst du richtig mit ‘nem Schraubenzieher ran. Der Bildschirm war mit massiven Schrauben befestigt. Der stand da nicht einfach nur drauf und ist dann ins Wasser geplumpst. Nein, sieht nicht nach halben Sachen aus. Das Ganze hatte stabilen Halt.«
Ob des bizarren Anblicks konnte Thalmayer sich nicht entscheiden, ob sie ihrem Kollegen mit zustimmender Nickbewegung oder lieber mit ungläubigem Kopfschütteln antworten sollte. Sie entschloss sich, beides gleichzeitig zu probieren. Dabei wirkte sie wie ein Wackel-Dackel, der zu viel Koffein abbekommen hatte.
Tracelli war noch mit der eingehenden Observierung des Monitors beschäftigt, als Thalmayer mit angedeuteter Ironie in der Stimme fortfuhr: »Das Kabel ist nicht mehr in der Steckdose. Der Täter muss es noch raus gezogen haben, bevor er sich aus dem Staub gemacht hat. Wir haben es hier mit einem fürsorglichen Mörder zu tun.«
Noch immer ungläubig blickte Thalmayer herum: »Wieso hat man überhaupt so ein elektrisches Teil im Badezimmer? Weiß doch jedes Kind, dass Geräte, die am Strom hängen, im Badezimmer nichts zu suchen haben.«
Tracelli schaute sie unvermittelt an: »Muss man heutzutage nicht einen FI Schalter haben? Dann kann so was doch gar nicht mehr passieren.«
Der Beamte von der Spurensicherung trat neben ihn. Ein versierter Mann, dessen Akzent seine Schweizer Herkunft kaum verleugnen konnte: »Muss nicht. Wäre aber besser gewesen, er hätte ihn gehabt. Ist ein altes Haus. Altbau. Aus den frühen 60ern. Es besteht dringende Empfehlung, solche Häuser mit dem FI Schalter nachzurüsten, Besonders, wenn in Nasszellen mit elektrischen Geräten gearbeitet wird. Aber viele Hausbesitzer sind da einfach zu sorglos und lassen es schleifen. Na ja, was bei derartiger Nachlässigkeit heraus kommen kann, sieht man ja hier.«
Tracelli betrachtete sich das Ganze noch einmal intensiver und aus nächster Nähe. »Eh klar.« Sein Blick wanderte abermals hoch zur Metallvorrichtung. »Ansonsten war er aber doch recht sorgfältig.« Er zog einen Kugelschreiber aus der Innentasche seines maßgeschneiderten, italienischen Markensakkos und benutzte den Stift als Hilfsmittel, um keine Fingerabdrücke zu verwischen.
»Das ist eine richtig ausgeknobelte Vorrichtung, vollkommen systematisch anmontiert. Alle Gefahrzonen isoliert.« Mit Hilfe des Kugelschreibers drückte Tracelli ein störendes Kabel aus dem Sichtfeld. »Hm.« Zufrieden nickte er sich selbst zur Bestätigung zu. »Eigentlich völlig unriskant!« Dann waren seine Zweifel ausgeräumt, seine Meinung stand eindeutig fest. »Das Strom führende Kabel hinten durch, so dass es eben kein Risiko birgt. Nein, das ist kein leichtsinnig angebrachtes elektrisches Kabel im Bad, sondern da hat sich jemand richtig zu schaffen gemacht, um das Ding unter Netzspannung überhaupt ins Wasser hinein werfen zu können.«
»Nicht nur Kipp-und-platsch? Du meinst, irgendjemand hat hier richtig gewerkelt? Mit Brachialgewalt sozusagen. Hm. Das braucht doch alles Zeit!« Thalmayer war von dem Aufwand nicht ganz so überzeugt wie ihr Kollege.
Wie so häufig hing Tracelli einmal mehr minutenlang schweigend seinen Gedanken nach. Er blickte auf die Vorrichtung. Er blickte in die vermeintliche Ferne. Dann schaute er wieder auf die Kabel. Tracellis leichtes Nicken sowie sein lang gezogenes Ausatmen, untermauerten eine vage Bestimmtheit. Die Bestimmtheit des Ungreifbaren. Der Kontrast zwischen dem Augenscheinlichen und der realen Wahrscheinlichkeit machte dem Ermittler sichtlich zu schaffen. Möglichkeit und Unmöglichkeit lagen hier so nah beieinander, dass man nicht einmal mehr ein Blatt Papier dazwischen schieben konnte. Tracelli schien noch immer in Gedanken versunken, als er Thalmayers Einwand endlich erwiderte:
»Tja, sieht so aus, als hat unser Täter die Zeit gehabt.«
»Das hieße aber auch, der Doktor nimmt ein Bad und dabei schaut er sich das seelenruhig an. Wie sein Mörder mit dem Schraubenzieher hantiert, um diese schlaue Vorrichtung aufzukriegen. Vielleicht hat er ihm eh noch Tipps geben können, wie er des am gescheitesten anstellt. Und wie er ihn damit am cleversten entsorgt.«
»Ja, des schaut schon irgendwie komisch aus.« In Tracellis vorübergehender Ratlosigkeit schwang ein wenig Verzweiflung mit.
Zuviel der Ungewissheit für Thalmayer. Mit hochgezogenen Augenbrauen, leicht angewinkelter Kopfneigung und sarkastisch künstlichem Lächeln schickte sie Tracellis Hypothesen erbarmungslos in die Rubrik »unwahrscheinlich«.
»Ja, schau mich nicht so an! Ich weiß das klingt merkwürdig. Aber auf den ersten Blick spricht trotzdem alles dafür, dass der Täter eine gewisse Zeit benötigte, um das Gerät, das an der Steckdose hing, überhaupt ins Badewasser donnern zu können!« So leicht ließ sich Tracelli nicht umstimmen. Er wollte der Logik gegenüber allen Ungereimtheiten den Vortritt lassen.
»Servus Gustl! Da bist du ja endlich. Hast einen Kaffee mitgebracht?« Tracelli begrüßte den Rechtsmediziner, Gustav Csermak, der eben das Badezimmer betreten hatte.
»Ja. Aber nicht für dich.«
Tracelli schaute beinah gierig auf den Becher in Csermaks Hand. Der leerte den Pappbecher in einem Zug. »Und jetzt hab ich ihn eh schon getrunken.«
Csermak sah sich um. Obwohl er als Rechtsmediziner in erster Linie am Corpus des Opfers interessiert gewesen sein dürfte, zogen die auffälligen Wandutensilien seine primäre Aufmerksamkeit auf sich. Für einen Moment verriet die Reaktion in Csermaks Mimik einen gewissen Ausdruck maßloser Verblüfftheit. Und das, obgleich er in seiner Pathologen Laufbahn nun schon wirklich einiges zu Gesicht bekommen hatte.
»Und? – Was haben wir da?« Tracelli deutete auf die Leiche in der Wanne.
»So auf den ersten Blick würde ich sagen, der Mann ist gegrillt worden.«
»Csermak, bitte, ja?!« Thalmayer schüttelte sich leicht.
Nach kurzer Sprechpause, die Csermak dazu nutzte, um seine vorläufigen Untersuchungen voranzutreiben, fuhr sie fort: »Schau bitte auch nach, ob er vorher irgendwas geschluckt hatte, was darauf hindeutet, dass er unter Einfluss von Medikamenten stand, als er sein Bad nahm.«
Csermak reagierte in gewohnt zynischer Manier: »Da wäre ich nicht drauf gekommen, aber wenn du es sagst!«
Der Rechtsmediziner vollrichtete seine Arbeit. Es waren nur einige wenige Handgriffe. Die eigentliche Untersuchung würde natürlich in der Pathologie stattfinden. Als er sich seinen Überblick verschafft hatte, rief er zwei Mitarbeiter herein und gab Anweisung, die Leiche fortzuschaffen.
Auch die beiden Inspektoren waren im Badezimmer verblieben, gingen aber vehement zur Seite, um die Kollegen in ihrer Arbeit nicht zu beeinträchtigen.
»Für was hatte der überhaupt so viele Beobachtungsmonitore. Fast in jedem Zimmer steht einer.« Tracelli untermauerte seine Verwunderung mit seltsam anmutender Monotonie im Sprachrhythmus.
Thalmayer schien darauf keine wirklich ernsthafte Antwort parat zu haben. »Big Brother is watching you. Das war eben ein vorsichtiger Mann!«
»Scheinbar nicht vorsichtig genug.«
»Zumindest können wir Selbstmord ausschließen. Der schaut anders aus.«
Die beiden Inspektoren sahen sich seit beträchtlicher Zeit und mit unverminderter Ungläubigkeit im Badezimmer um. Tracelli schien es, als verlangte dieser offensichtliche Tatort größere Sorgfalt bei der Betrachtung als dies in den vorangegangenen Fällen, die er in jüngerer Vergangenheit zusammen mit seiner Partnerin aufgeklärt hatte, vonnöten gewesen war. Sie waren nicht immer erfolgreich bei der Tätersuche, aber ihre Aufklärungsquote konnte sich in den Statistiken dennoch sehen lassen. Immerhin befanden sich ihre Namen im oberen Viertel in Sachen österreichweit erhobener Analysen, wenn es um den kriminalpolizeilichen Erfolg des Aufgreifens von Tätern ging.
Marco hieß eigentlich Marcello. Obwohl er selbst das Licht der Welt in Österreich, im schönen Villach, in Kärnten, erblickt hatte, wollte sein italienisch-stämmiger Vater auch bei der Namensgebung seines Erstgeborenen, alle Aufmerksamkeit auf seine eigene Herkunft gerichtet wissen. Marcello Tracelli – das beherbergte selbst für die Wiener Kriminalpolizei irgendwie einen Tick zu viel italienisches Flair, daher hatte man sich schnell geeinigt, dem südländischen Burschen den Rufnamen »Marco« zu verpassen.
Marco Tracelli und Kiki Thalmayer waren bereits seit der Polizeischule gut befreundet. Sie hatten zur selben Zeit ihre Ausbildung absolviert und erstaunlich schnell einen guten Draht zueinander entwickelt.
Vielleicht war ihnen auch deshalb so eine gute Kameradschaft geglückt, weil ihnen der Sex nicht im Wege stand. Es war eine Freundschaft auf Kopfniveau, die Chemie stimmte und man verstand sich blendend, ohne dass einer der beiden ein körperliches Verlangen nach dem anderen offenbarte. Zumindest nicht bewusst oder gerade eben völlig bewusst. Man fühlte sich zueinander hingezogen, lenkte diese Verbundenheit aber wohlweislich und ebenso geflissentlich auf die geistige Ebene. Denn da stimmte es einfach zwischen den beiden, in beispielloser Manier. Es war nicht so, dass sie einander nicht auch körperlich sehr attraktiv empfanden – beide konnten von sich behaupten, dass sie äußerlich über Durchschnitt ansprechend daherkamen. Keine Modelpüppchen, gestandene Erwachsene, mit Ecken und Kanten, aber wie gesagt, mit durchaus ansprechender Erscheinung. Besonders, wenn man eine gewisse Verwegenheit als optisches Kriterium wertzuschätzen wusste. Und überhaupt; Geschmack ist ja so relativ. Doch die beiden sahen auch noch gut aus, wenn sie ihren Mund aufmachten. Kein geistloses Blabla, keine hübschen Hüllen ohne Innenleben.
Vielleicht wollte man ganz einfach gerade da nicht riskieren, jenes langjährig gewachsene Zugehörigkeitsgefühl zu zerstören, indem man die Freundschaft für ein flüchtiges Abenteuer aufs Spiel setzte. Man wusste sehr wohl, was eine unbedachte Nacht voller Leidenschaft einer Freundschaft zwischen Mann und Frau anhaben konnte. Und für das »fleischliche Wohl« pflegte man ja auch anderweitig durchaus zahlreiche Beziehungen, die jedoch allesamt früher oder später immer wieder im Bruch endeten. Um den gebrochenen Kelch, der zu oft zu Boden ging, nicht überzustrapazieren, entschieden sich beide stets gegen allzu langen Trennungsschmerz. Aus Respekt vor der Weisheit mit dem Kelch und auch aus der Erfahrung, dass aus Trennung körperlicher Verhältnisse nie eine fruchtbare Freundschaft erwächst, wussten sie, wie man Chaos im Liebesleben buchstabiert und trotzdem enge Beziehungen pflegen kann. In vielen Dingen, vor allem aber in ihren Ansichten und Vorlieben, waren sich Kiki und Marco sehr ähnlich. Und immerhin hatte jeder im anderen so etwas wie seinen Seelenverwandten gefunden. Genau wie bei Harry und Sally! Nur eben ganz anders.
Einen wesentlichen Aspekt hatten sie jedoch nicht gemeinsam. Aus Kikis zahllosen Affären war nie eine Konsequenz von wesentlicher Tragweite erwachsen. Marco konnte hier schon eher etwas aufweisen. Bereits als Jugendlicher bescherten ihm nicht nur seine elegant muskulösen Laufbeine einige Geschwindigkeitsrekorde, auch sein Sperma zeugte von wendiger Schnelligkeit. Zeugte – im wahrsten Sinne des Wortes.
So kam es, dass er, mittlerweile seit fast drei Jahren, als inzwischen 41-Jähriger, der Vater einer inzwischen 22-jährigen Tochter war und somit, rein biologisch gesehen, gut und gerne bereits Großvater-Freuden empfinden hätte können. Nur gut, dass sich seine Tochter mit dem Nachwuchs etwas mehr Zeit lassen wollte. So hatte er lediglich lernen müssen, wie man als Vater eine respektable Figur abgibt.
Den Respekt musste er sich dabei in seiner tatsächlichen Bedeutung erst erwerben. Denn bis sein Kind das 18. Lebensjahr vollendet hatte, wussten weder er noch Tochter Flavia von der Existenz des anderen. Flavia wusste, dass wohl oder übel ein Erzeuger existierte, aber das »Wer« oder »Wo dieser lebte«, war ihr unbekannt. Da war Marco ihr gegenüber im klaren Nachteil. Er wusste nicht einmal, dass es sie gab.
Als 18-Jähriger hatte er seine Semesterferien bei den Großeltern im umbrischen Perugia verbracht. Überall in Italien gab es Meer und Sandstrände satt! Nur hier, in Umbrien – nichts dergleichen. Und als sein Traum der täglichen Erfrischung im Meer mangels Vorhandenseins desselbigen ausblieb und er den Lago Trasimeno in keiner Weise als Ersatz erachten konnte, suchte er sich andere Freizeitbeschäftigungen. Eine davon mündete in einer Schwangerschaft.
Nicht gerade das übliche Erholungsventil, aber eines das ihm ebenso viel Vergnügen bereitete, wie der Blick in die Ferne. Das ebenfalls 18-jährige Mädchen, Carla, stammte aus einer kleinbürgerlichen italienischen Familie und wusste, dass Marco nicht in Perugia bleiben, geschweige denn, hier jemals sesshaft werden würde. Doch sie wollte weder weg von dort, noch wollte sie sich auf eine lange Diskussion zum Thema »feste Bindung« einlassen. Als Carla merkte, dass etwas unterwegs war und, dass es sich bei der immer öfter auftretenden morgendlichen Übelkeit nicht um einen rasch um sich greifenden Magenvirus handelte, gab es für sie nur eine Lösung. Sie heiratete den nächstbesten Nachbarsjungen, namens Roberto, und hoffte darauf, dass der Nachwuchs zumindest eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm aufweisen würde.
Der Plan war rasch gefasst. Die Theorie relativ einfach. Der junge Mann, deren beider Eltern und vor allem Marco, sie alle sollten nie erfahren, was es mit den sieben Monaten auf sich hatte. Denn so lange dauerte sie nur, – die Schwangerschaft, aus der eine entzückende kleine Tochter hervorkam. Und wie das Schicksal so spielt. Die Kleine hatte tatsächlich leichte Ähnlichkeit mit dem vermeintlichen Erzeuger. Na ja, die dunklen Augen und der gesunde Teint waren auch irgendwie der südländischen Region geschuldet, der sowohl Roberto als auch, zumindest von Seiten der Großeltern, Marco ursprünglich entstammte. »Die Wahrheit würde nie ans Tageslicht kommen.«, dachte sich die zufriedengestellte Mutter.
Doch »nie« ist relativ. Ein Fahrradunfall, eine größere Menge Blutverlust – nicht genug, um tatsächlich drastische oder tragische Besorgnis hervorzurufen – aber eben doch mit drastischen oder tragischen Konsequenzen. Der Zufall wollte es, dass der medico curante die extrem kleine, aber notwendige Blutspende des Vaters ablehnte. Es war die geringstmögliche Menge an Blut, mit den größtmöglichen Auswirkungen.
»Aber Roberto, Ihnen ist doch sicher klar, dass Sie unmöglich der leibliche Vater sein können, oder?!«
Es war Roberto nicht klar. Und so war es das »oder«, das zählte. Und die Scheidung, die dem »oder« folgte.
Seit Flavia sieben Jahre alt war, wuchs sie daher ohne feste Vaterfigur auf. Und als sie 19 wurde, entschloss sie sich, der Wahrheit doch noch Abbitte zu leisten. In erster Linie, weil Flavia von ihrem Vater diese merkwürdige Fernsucht geerbt hatte und Perugia ihr ganz offensichtlich nicht mehr die rechte Geborgenheit vermitteln konnte. Und sie wollte studieren, ohne zu wissen, welcher Wissenschaft sie dabei den Vorzug geben würde. Diese unstete Rastlosigkeit verursachte immer wieder Spannungen, gar heftige Streitereien. Die Mutter einer halbwüchsigen »Wilden« wusste, dass sie loslassen musste. Und sie wollte keine »Dauerstudentin auf ewig« im Hause haben. Außerdem fühlte sie sich keineswegs zu alt, auch mal wieder ein beständigeres Privatleben zu haben. Sie hatte ihren Mutterpflichten mehr als Genüge getan: Nun war es an der Zeit, sich selbst wieder mehr Vergnügen zu gönnen und es war höchste Zeit, dass der eigentliche Vater, seinen Pflichten frönte.
Mutter Carla setzte Flavia, mit der Aussicht die Wiener Universitätsfakultäten unsicher machen zu können, in das nächstbeste Flugzeug, hängte sich ans Telefon und machte sich auf eine lange Erklärung bereit.
Marco war nicht leicht zu überzeugen. Aber letztendlich musste er einlenken. Schließlich landete das Flugzeug in weniger als 30 Minuten und die Autofahrt zum Flughafen würde mindestens 45 Minuten in Anspruch nehmen.
Es war das erste Mal, dass Flavia allein verreist war. Es war das erste Mal, dass ihre Mutter mit ihr so offen gesprochen hatte. Ihren leiblichen Vater würde sie nun bald zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. Und es war das erste Mal, dass sie mit Blaulicht und laut aufheulender Polizeisirene vom Flugplatz abgeholt wurde.
Und obgleich Marco und Kiki privat von Tisch und Bett getrennt lebten – nein halt, stimmt ja gar nicht – momentan teilten sie sehr wohl den Tisch, um nicht zu sagen: fast alle häuslichen Tischflächen. In erster Linie die des Küchentischs. Da hatte nämlich bei den vorausgegangenen Fällen fast jeden Abend die Nachbesprechung zum prekären Alltag stattgefunden.
Es war in der Wohnung von Marco Tracelli. Er bewohnte eine 117 qm große Altbau-Dachgeschoßwohnung, die unbedingt nach einem baldigen Anstrich schrie und auch sonst einer ordentlichen Renovierung nichts entgegen zu setzen hatte. Im Überfluss vorhanden, war nur ein Luxus: freie Raumfläche. Daher hatte er Kiki angeboten, einen Großteil ihres »Krempels«, wie er es nannte, vorübergehend bei ihm zu deponieren, während sie auf der Suche nach einem neuen Zuhause war.
Kiki war aus ihrer Mietwohnung geflogen, nachdem der Besitzer Eigenbedarf angemeldet hatte. Natürlich hatte sie für das Finden einer neuen Bleibe im Vorfeld ausreichend Zeit bekommen. Der Besitzer hatte ihr ordnungsgemäße Fristen gesetzt, sie gar schon bei Abschluss des Mietvertrags auf die Klausel aufmerksam gemacht, in der er einst sogar bereits das exakte Auszugsdatum festgelegt hatte.
Es war ein auf exakt zwei Jahre befristeter Mietvertrag, was aber Kikis unbekümmerte Art nicht tangierte. Solche Dinge wie Mietverträge oder gar Zeitungsannoncen hinsichtlich des Mietwohnungsmarktes interessierten sie nicht einmal peripher. Wer wollte sich letztendlich mit der Suche einer freien Wohnung beschäftigen, wenn es darum ging, einem üblen Verbrecher auf die Spur zu kommen. Fahndung statt Findung – so zusagen. Schließlich ging es um schwere Kriminalität, da konnte so etwas Lapidares wie eine Wohnungssuche unmöglich Gewicht haben.
Und plötzlich hatte Kiki auf der Straße gestanden, mit all ihren Möbeln, ihrer Kleidung, ihren Schuhen und sämtlichen Utensilien, die sich im Laufe der Zeit bei einem begeisterten Fan italienischer Accessoires ansammelten. Darunter befand sich tatsächlich einiges an »Krempel«. Kikis Vorliebe für Reisen nach Turin, Venedig, Rom, Neapel, Mailand, aber auch nach Sizilien, und in ihre, sie musste es unumwunden zugeben, Lieblingsstadt, das toskanische Florenz, spiegelte sich in ihrem Besitz wieder. Mit der Infrastruktur all dieser Städte war sie mindestens ebenso vertraut wie mit dem Innenleben der sich dort befindlichen Boutiquen. Südländischer Krimskrams, Klamotten und Schuhe – Paradies pur eben. Wobei keines der erworbenen Prachtexemplare freilich so folgenschwer wog, wie das »Souvenir«, um das sich Marco in Italien bereichert hatte.
Und nun war Kiki dabei gewesen, all diese für sie unschätzbar wertvollen Erinnerungsstücke auf einen gemieteten Anhänger laden zu lassen, mit dem festen Ziel vor Augen: »Keine Ahnung wohin damit«. Wie schnell zwei Jahre aber auch vergehen. … Also hatte sie Marco gefragt, ob sie ein paar ihrer Kleinigkeiten, die sich bald als kompletter Haushalt erweisen sollten, bei ihm unterstellen durfte. Schließlich waren die meisten Stücke »italienischer Herkunft« und es musste einfach helfen, an Marcos eigene Wurzeln zu appellieren.
»Nur ein paar Tage! Wie lang kann es schon dauern, bis so eine charmante Frau wie ich, ein nettes neues Zuhause findet? Überhaupt kein Problem. Das geht irre schnell. Ein paar Tage und du bist die Sachen wieder los. Versprochen – ist doch eh klar!«
Ein paar Tage waren vergangen. Kikis »Kleinigkeiten«, die den Platz der halben Wohnung bequem ausfüllten, standen an derselben Stelle. Ein paar Wochen folgten. Die Sachen der Kollegin waren immer noch da. Dann waren es plötzlich ein paar Monate, die ins Land gezogen waren. Nur Kiki, die war noch immer nicht in eine feste Bleibe gezogen. Und mit ihr … – ja genau. Sie wissen es schon!
Nach über einem halben Jahr dann endlich, hatte selbst Kiki ihr Nomadendasein satt. War sie bis dahin entweder bei Freunden, Lebensabschnittspartner (wobei die Abschnitte meist relativ kurz waren), noch kürzer andauernden Liebschaften oder gelegentlich in der einen oder anderen Pension untergekommen, hatte sie seit kurzem wieder eine feste Wohnung angemietet. Außer der Küche, der Badezimmereinrichtung, einem einzigen Kleiderschwank und einer großen Matratze, war ihre neue Wohnung zu diesem Zeitpunkt jedoch noch weitestgehend leer. Denn ihre eigentlichen Sachen waren … Ja, ja, man braucht es nicht erst zu wiederholen. Natürlich war es höchste Zeit, die Sachen abholen zu lassen. Aber wer hatte dafür schon Zeit, wenn es galt, umtriebige Verbrecher dingfest zu machen?!
Und Marco hatte sowieso schon fast gar nicht mehr damit gerechnet, den Krempel irgendwann mal wieder loszuwerden. Man konnte sich aber auch an beinah alles gewöhnen. Nur gut, dass sie stets für eine Überraschung zu haben war, dachte sich Kiki insgeheim und plante bereits das Abholdatum. Wobei sie den Begriff »bereits« in den letzten 6 Monaten doch reichlich überstrapaziert hatte.
Die Sachen waren ja eh eine halbe Ewigkeit bei Marco herumgestanden. Er hatte es schon lange aufgegeben, nennenswerten Widerstand zu leisten. Mit Muße kriegt man den zähesten Kritiker zermürbt. Also hatte er ohne weiteren Einspruch eingelenkt. War ja auch irgendwann völlig unmaßgeblich geworden, ob man nun die Sage des vermeintlich geplanten Abholens aufrecht erhielt oder nicht. Das hatte sich längst erledigt, ob er nun wollte oder nicht. Doch Kiki hatte es einmal mehr geschafft, ihn zu verblüffen. Sie hatte letzten Endes doch noch den längst fälligen, neuen Mietvertrag unterschrieben. Und damit ein Zeichen gesetzt. Ein Zeichen ihres guten Willens.
Kiki war dennoch der Ansicht, dass die Einlagerung ihrer Habseligkeiten bei Marco durchaus auch ihre Vorteile für den gemeinsamen Beruf mit sich brachte. Seither hatten die Beiden auch nach offiziellem Feierabend, der real sowieso nicht existierte, noch viel mehr Zeit miteinander verbracht. Es begann damit, dass Kiki sich abends ein paar Kleidungsstücke, Schuhe oder andere Dinge, die sie in der laufenden Woche benötigen würde, holen wollte. Da sie nun schon einmal da war, konnte sie auch zum Abendessen bleiben. Vornehmlich geschah das, wenn sie nicht gerade in einer ebenso kurzlebigen wie oberflächlichen Beziehung steckte. Kiki genoss das gemeinsame Essen mit Marco. Nicht nur, weil er eine angenehme Gesellschaft darstellte, sondern in erster Linie, weil er ein ausgezeichneter Koch mediterraner Delikatessen war. Und dazu stets den edelsten Tropfen parat hatte. Wenn man abends gemütlich beim köstlichen Essen und bei einem guten Glas Wein zusammensaß, ließ sich der Gedankenaustausch weit entspannter an und somit wahrhaftig und gediegen effektiver. Seit sie die gelegentlichen Essenszusammenkünfte am späten Abend hatten, konnte man durchaus sogar noch eine positive Entwicklung anhand greifbar zwingenden Resultate feststellen. Nicht ohne vollkommen auf die Lockerheit des geselligen Beisammenseins zu verzichten, konnte man sich abends in privater Atmosphäre noch einmal über den gemeinsamen beruflichen Alltag austauschen. Und man hatte reichlich Gelegenheit, sich selbst die Dinge, die tagsüber irgendwie an einem genagt hatten, doch noch von der Seele zu reden.
Schließlich hatten sie auch neben dem Beruf einige Dinge gemeinsam. Beispielsweise ihre Geselligkeit, ihr Interesse für andere Länder und andere Kulturen, die damit verbundene Reisefreudigkeit, ihr Genussempfinden kulinarischer Köstlichkeiten, ihren Hang für eher leichtlebige Privatvergnügen und demgegenüber beruflich eine strenge Disziplin nie aus den Augen zu verlieren.
Bei Kiki bezog sich Letztgenanntes beinah zwanghaft auch auf das tägliche Ausüben sportlicher Betätigungen. Die große Leidenschaft für körperliche Aktivitäten mündete bei ihr nicht selten fast schon in Besessenheit. Athletisch veranlagt waren beide von Haus aus. Doch während Marco inzwischen das eine oder andere Pfündchen angesetzt hatte, trainierte sich Kiki diszipliniert jede einzelne Kalorie wieder herunter. Der regelmäßige Besuch im Fitnessclub gehörte bei ihr ebenso zum Alltag, wie das allmorgendliche Laufen. Obligat zudem das Ausdauertraining an den Wochenenden. Hierzu gehörten Schwimmen und Fahrradfahren.
Natürlich veranlasste das Pflichtbewusstsein auch Marco dazu, regelmäßig an seiner Kondition zu arbeiten. Aber eben nicht ganz so passioniert und mit Sicherheit nicht so extrem fanatisch. Das Aktivverhalten diente freilich der körperlichen Kraft, aber in gleichem Maße auch der mentalen Stärke. Sich mit regelmäßiger Disziplin körperlich und geistig fit zu halten, war die unumstrittene Grundlage ihres Erfolges.
Es setzte gar so viel Energie frei, dass Kikis Redefluss zuweilen eine Eigendynamik entwickelte, die Marco mitunter leicht zu schaffen machte. Deswegen hetzte er Kiki ab und an auch über den Squash-Court, bis ihr die Luft (zum Reden) wegblieb.
Für das körperliche Wohl sorgte seine besagte Kochkunst. Marcos italienische Wurzeln prädestinierten ihn natürlich für die Aufbereitung köstlicher Pasta mit Zugabe sündhaften teuren Olivenöls. Fisch und Pizza gingen ihm freilich ebenso locker aus dem Handgelenk. Zu Pasta und Pizza bevorzugte Marco einen gereiften Primitivo aus den Abruzzen, fachmännisch in die Karaffe dekantiert und nach dem Essen ein original italienischer Grappa – ja, es durften auch zwei sein.
Ein gediegen prall gefüllter Magen, und schon avancierte das oftmals eher mehr oder minder notgedrungene, denn gesellige Zusammensein für beide Parteien zur Bonusentscheidung.
Mittlerweile standen die beiden Chefinspektoren zusammen im Badezimmer, an einem potentiellen Tatort, an dem ganz offenbar ein besonders makabrer Mord begangen worden war. Eine Weile betrachteten die Ermittler das unschön farbträchtige Szenario schweigend. Man kam, sah und … sinnierte.
Thalmayer war, wie so häufig, die erste, die die kurze Dauer der Schweigsamkeit beendete. »Ist auf jeden Fall eine heiße Angelegenheit, so aus dem Leben zu scheiden.«