Psychosoziale Realitäten zwischen Praxisanalyse und kritischer Beobachtung der Versorgungssituation (Band 3) -  - E-Book

Psychosoziale Realitäten zwischen Praxisanalyse und kritischer Beobachtung der Versorgungssituation (Band 3) E-Book

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Beschreibung

In der dritten Ausgabe "Psychosoziale Realitäten zwischen Praxisanalyse und kritischer Beobachtung der Versorgungssituation" wird eine interdisziplinäre Diskussion fortgesetzt, die sich den wachsenden Herausforderungen und Innovationen in der Sozialen Arbeit widmet. Nach den thematischen Schwerpunkten der ersten beiden Bände wird hier ein besonderer Fokus auf die Verschränkung von Theorie, Empirie und Praxis gelegt. Gesellschaftliche, politische und ökonomische Unsicherheiten erhöhen den Bedarf an Reflexion im professionellen Handeln, was die Autor:innen durch vielfältige Praxisinnovationen und Studien aufgreifen. Die Beiträge zeigen Wege auf, wie sich scheinbar unüberwindbare Strukturen durch kritische Analyse und praktisches Engagement transformieren lassen. Dazu werden theoretische Ansätze wie die Neue Phänomenologie, familienanaloge Konzepte oder die Unterstützte Kommunikation empirisch fundiert und praxisorientiert vorgestellt. Zugleich verdeutlichen sie, wie Handlungsantinomien, unvollständige Informationen und widersprüchliche Aussagen in Kinderschutzfällen zu sinnvollen Entwicklungsmotoren werden können. Der Band bietet sowohl wissenschaftliche Fundierung als auch konkrete Anregungen für Fachkräfte vor Ort. Innovative Ideen und kritische Reflexion verknüpfen sich, um neue Antworten auf komplexe psychosoziale Anforderungen zu finden. Die Herausgeber:innen: André Niggemeier, Prof. Dr., studierte Beratungswissenschaften, Mentoring und Coaching und promovierte zu den Themen Führung und Beratung. Er ist als Professor und als wissenschaftliche Studienortleitung im Studiengang Sozialpädagogik und Management an der Internationalen Berufsakademie (iba) in Münster tätig. Aktuelle Weiterbildungen zum Gruppenanalytiker und in psychosozialer Sozial- und Kulturtheorie. Arbeitsschwerpunkte: Psychodynamik der Pädagogik und psychodynamische Aktionsforschung. Ines Iwen, Prof. Dr., wissenschaftliche Studienortleiterin an der Internationalen Berufsakademie (iba) für den Studiengang Sozialpädagogik und Management Erfurt. Sie studierte Kulturwissenschaft, Informatik und BWL an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Freien Universität und promovierte zu Familien im Film in der Mikrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. In selbstständiger Tätigkeit arbeitet sie als Paar- und Familientherapeutin in Erfurt und Berlin.

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Seitenzahl: 245

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


André Niggemeier/Ines Iwen (Hrsg.)

Psychosoziale Realitäten zwischen Praxisanalyse und kritischer Beobachtung der Versorgungssituation (Band 3)

Interdisziplinäre Ansätze und Praxisinnovationen in der Sozialen Arbeit

2025

Verlag für Systemische Forschung

im Carl-Auer Verlag

Carl-Auer im Internet: www.carl-auer.de

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Carl-Auer Verlag

Vangerowstr. 14

69115 Heidelberg

Über alle Rechte der deutschen Ausgabe verfügt

der Verlag für Systemische Forschung

im Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg

Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages

Reihengestaltung nach Entwürfen von Uwe Göbel

Printed in Germany 2025

Erste Auflage, 2025

ISBN 978-3-8497-9078-3 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-9079-0 (ePub)

DOI: 10.55301/9783849790783

© 2025 Carl-Auer-Systeme, Heidelberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Psychosoziale Realitäten zwischen Praxisanalyse und kritischer Beobachtung der Versorgungssituation ist eine Publikationsreihe der iba / Internationale Berufsakademie der F+U

Unternehmensgruppe gGmbH.

Die Verantwortung für Inhalt und Orthografie liegt bei den Herausgebern.

Inhalt

Vorwort

(Ines Iwen und André Niggemeier)

Die Neue Phänomenologie nach Hermann Schmitz im Praxistransfer: Aufgaben und Zielsetzungen der Sozialen Arbeit – theoriegeleitete Beschreibung und Analyse der sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Arbeit am Beispiel einer gGmbH

(Wera Roth und Barbara Wolf)

Handlungsantinomien und pädagogische Professionalität: Eine kritische Analyse der Möglichkeiten und Grenzen des eigenen pädagogischen Handelns im Institut für Wirkungsvolle Sozialarbeit e.V.

(Lydia Dietze und Julian Glagla)

Unterstützte Kommunikation für Menschen mit Beeinträchtigung – Eine qualitative Studie zum Umgang mit Kommunikationshilfen am Beispiel einer Aphasie-Klientin der Werkstatt der Lebenshilfe Leinefelde-Worbis e.V.

(Christiane Thys und Madlen Protzel)

Kindesmisshandlung im familiären Kontext – Eine Verlaufskurvenanalyse zu den Funktionen und Folgen pädagogischen Handelns in einer Wohngruppe der Kinder- und Jugendhilfe

(Sarah Sucher und Audris Alexander Muraitis)

Cannabiskonsum bei Jugendlichen: Eine qualitative Studie zur kritischen Betrachtung der Legalisierungsdebatte anhand von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 18–27 Jahren

(Annelie Schwarz und Janine Sporschill)

Vorwort

Mit der dritten Ausgabe der Herausgeberschaft „Psychosoziale Realitäten zwischen Praxisanalyse und kritischer Beobachtung der Versorgungssituation“ setzen wir eine interdisziplinäre Diskussion fort, die sich den Herausforderungen und Innovationen in der Sozialen Arbeit widmet. Nach den thematischen Schwerpunkten der ersten beiden Bände widmet sich dieser Band insbesondere interdisziplinären Ansätzen und Praxisinnovationen. Dabei rückt die Verschränkung von Theorie, Empirie und Praxis in den Vordergrund, um auf die immer komplexer werdenden Anforderungen im Feld der psychosozialen Arbeit zu antworten.

In einer Zeit, die von gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Unsicherheiten geprägt ist, wird die soziale Arbeit nicht nur durch ihre klassischen Handlungsfelder gefordert. Vielmehr treten neue Spannungsfelder und Widersprüche zutage, die sowohl die Fachkräfte als auch die Adressat:innen vor immense Herausforderungen stellen. Wie bereits in den vorangegangenen Ausgaben thematisiert, verlangt die Dynamik psychosozialer Realitäten von Sozialarbeiter:innen die Fähigkeit, zwischen individueller Unterstützung und systemischen Interventionen zu vermitteln. Dabei bleibt die Arbeit oft geprägt von einem Spannungsfeld: dem Optimismus des Fortschritts einerseits und der Ernüchterung angesichts struktureller Begrenzungen andererseits.

Die soziale Arbeit gleicht dabei in vielerlei Hinsicht dem Mythos von Sisyphos, der dazu verdammt war, einen schweren Stein immer wieder einen Berg hinaufzurollen, nur um ihn jedes Mal erneut hinabrollen zu sehen. Dieses Bild des nie endenden Bemühens ist in der sozialen Arbeit allgegenwärtig: Fachkräfte kämpfen mit komplexen Problemlagen, institutionellen Begrenzungen und gesellschaftlichen Strukturen, die unüberwindbar erscheinen. Trotz sichtbarer Fortschritte und gelöster Einzelfälle bleibt die soziale Arbeit eine Tätigkeit, die oft von Rebounds und Rückschlägen geprägt ist.

Diese Analogie verdeutlicht auch die tiefere Herausforderung der professionellen Praxis: die eigene Begrenztheit zu akzeptieren, während gleichzeitig die Möglichkeiten der Adressat:innen in ihrer Freiheit und Unvorhersehbarkeit ausgehalten werden müssen. Sisyphos, der den Stein unermüdlich hinaufrollt, symbolisiert dabei nicht nur die Mühsal, sondern auch die Würde und den Sinn, der in der Anstrengung selbst liegen kann. Wie Albert Camus feststellt, müssen wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen – seine Arbeit besitzt eine eigene Bedeutung und Wertigkeit.

Es wird klar: Auch in der sozialen Arbeit liegt in der Wiederholung und der Reflexion der eigenen Praxis ein Moment der Erfüllung. Die ständige Konfrontation mit neuen Herausforderungen ermöglicht es, sich immer wieder kritisch mit den eigenen Ansätzen und Methoden auseinanderzusetzen. Dabei zeigt sich die Stärke der sozialen Arbeit nicht nur in den Erfolgen, sondern vor allem in der Fähigkeit, im Angesicht von Schwierigkeiten weiterzumachen, sich zu reflektieren und an der Gestaltung psychosozialer Realitäten zu arbeiten.

In diesem Sinne laden die nachfolgenden Beiträge nicht nur dazu ein, innovative Ansätze kennenzulernen, sondern auch über die grundlegenden Fragen der Profession nachzudenken. Sie bieten Impulse, wie die Mühsal der sozialen Arbeit nicht nur als Belastung, sondern auch als Bereicherung verstanden werden kann – im Dienste der Menschen und der Gesellschaft.

Wera Roth und Barbara Wolf widmen sich in ihrem Artikel der Anwendung der Neuen Phänomenologie nach Hermann Schmitz im Kontext sozialpädagogischer Arbeit. Ausgehend von der Annahme, dass Leib und Leiblichkeit eine zentrale Rolle in der Wahrnehmung und Verarbeitung von Lebensrealitäten spielen, untersuchen die Autorinnen, wie diese theoretischen Konzepte in der Praxis von sozialen Einrichtungen angewendet werden können. Am Beispiel einer gGmbH wird analysiert, wie das leibliche Spüren nicht nur als theoretische Kategorie, sondern als handlungsleitendes Prinzip in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen dienen kann. Die Verbindung zwischen subjektivem Erleben und sozialarbeiterischen Zielen zeigt innovative Möglichkeiten zur Theorie-Praxis-Integration auf.

Lydia Dietze und Julian Glagla analysieren in ihrem Beitrag die Herausforderungen, die sich durch Handlungsantinomien in der sozialen Arbeit ergeben. Insbesondere im Kontext der stationären Kinder- und Jugendhilfe werden Spannungsfelder wie Nähe und Distanz, Stabilität und Wandel oder Professionalität und Empathie beleuchtet. Die Autor:innen verdeutlichen, wie diese Spannungsverhältnisse die pädagogische Professionalität beeinflussen und welche Strategien notwendig sind, um die Qualität sozialer Arbeit trotz solcher Herausforderungen zu sichern. Der Artikel bietet praxisnahe Reflexionen und zeigt auf, wie Antinomien nicht nur als Hindernis, sondern auch als Chance für professionelles Wachstum genutzt werden können.

Christiane Thys und Madlen Protzel beleuchten in ihrem Beitrag die Möglichkeiten und Grenzen von Unterstützter Kommunikation (UK) am Beispiel einer Aphasie-Klientin in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM). Mithilfe qualitativer Methoden untersuchen die Autorinnen, inwiefern UK-Interventionen die kommunikativen Fähigkeiten verbessern können und welche Herausforderungen sich dabei stellen. Der Fokus liegt dabei auf der Anwendung des ABC-Modells und der Nutzung von METACOM-Symbolen. Die Ergebnisse bieten wertvolle Erkenntnisse für die praktische Arbeit mit Menschen, deren kommunikative Möglichkeiten eingeschränkt sind, und regen zur Weiterentwicklung von UK-Ansätzen an.

Sarah Sucher und Audris Alexander Muraitis setzen sich mit den komplexen Verläufen und Auswirkungen von Kindesmisshandlung auseinander. Anhand einer Einzelfallstudie analysieren sie, wie unvollständige Informationen und widersprüchliche Aussagen den Verlauf von Kinderschutzfällen prägen. Ihr Beitrag bietet einen innovativen Ansatz durch die Anwendung einer Verlaufskurvenanalyse, die nicht nur die Perspektive der betroffenen Kinder, sondern auch die der professionellen Akteure in den Blick nimmt. Die Studie zeigt praxisrelevante Handlungsmöglichkeiten auf, um in schwierigen Kinderschutzfällen die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen und die Qualität der sozialpädagogischen Arbeit zu steigern.

Annelie Schwarz und Janine Sporschill widmen sich einem hochaktuellen Thema: der Cannabis-Legalisierung und ihrem Einfluss auf Jugendliche und junge Erwachsene. Die Autorinnen untersuchen die Perspektiven und Erfahrungen von Teilnehmenden eines Programms für langzeitarbeitslose Jugendliche im Alter von 18 bis 27 Jahren. Sie analysieren die Legalisierungsdebatte kritisch und fragen nach den potenziellen Auswirkungen auf den Konsum und das Risikoverhalten dieser Zielgruppe. Der Beitrag verbindet empirische Erkenntnisse mit einer Reflexion über drogenpolitische Maßnahmen und deren Konsequenzen für die soziale Arbeit.

Wir wünschen Ihnen eine anregende und erkenntnisreiche Lektüre, die nicht nur wissenschaftliche Impulse liefert, sondern auch praxisnahe Anregungen für die vielfältigen Handlungsfelder der Sozialen Arbeit bereithält. Mögen die präsentierten Artikel dazu beitragen, Perspektiven zu erweitern, innovative Ansätze zu fördern und die Reflexion über die eigenen professionellen Handlungsweisen zu vertiefen.

Erfurt und Kassel im Frühjahr 2025,

Ines Iwen & André Niggemeier

Die Neue Phänomenologie nach Hermann Schmitz im Praxistransfer: Aufgaben und Zielsetzungen der Sozialen Arbeit – theoriegeleitete Beschreibung und Analyse der sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Arbeit am Beispiel einer gGmbH

Wera Roth und Barbara Wolf

1 Einführende Worte

In der Sozialen Arbeit begegnen sich Subjekte und versuchen, in Ko-Produktion Alltagsprobleme zu bewältigen, neue Perspektiven zu entwickeln und eine Vision für die Sinnsuche des je eigenen Lebensentwurfs zu schaffen. Zwar geht es hier auch um individuelle, institutionelle und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, aber vor allem um das persönliche affektive Betroffensein durch Ereignisse in Situationen. Durch biographische Rückschau, eine ehrliche Analyse der Ist-Situation und eine Zielsetzung in Richtung Zukunft werden sehr subjektive Aspekte des Sich-Findens in der Welt betrachtet. Die Person als leiblich verfasstes Wesen mit seinem mehr oder weniger entwickelten Gespür für das eigene Befinden und die gemeinsame Situation mit anderen wird (auch von sich selbst) genau beobachtet und beschrieben und ihr Empfinden, wie es sich im Moment zeigt, ernst genommen. Die Neue Phänomenologie prägt Begriffe, die helfen, das schwer Sagbare des subjektiven Befindens zum Ausdruck zu bringen, ohne schon auf psychologische, soziologische oder pädagogische Konzepte zurückzugreifen. Das eigenleibliche Spüren vermittelt ein bedeutsames und umfassendes implizites Wissen über die eigene Person und ihren Bezug zur Welt. Durch die Begriffe der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz (2019) soll die unmittelbare Lebenserfahrung eine konsistente Sprechweise finden, welche den „Zustand des bloß Fühlen-, aber nicht Sagenkönnens“ überwindet (Großheim, 2015, S. 28).

2 Einleitung und Hinführung zum Thema

Theorien der Sozialen Arbeit liefern die Grundlage für professionelles Handeln und stellen gesichertes und überprüfbares Wissen bereit (Autrata, 2015, S. 39). Als Gegenstand der wissenschaftlichen Disziplin der Sozialen Arbeit lässt sich grundsätzlich der Mensch in seiner gesellschaftlichen Lebenswelt und in seinem sozialen Kontext feststellen. Gesellschaftliche Werte und professionelle Positionierungen können sich im Laufe der Zeit verändern; daher sind auch theoretische Ansätze und Denkmodelle der Sozialen Arbeit mit dem Menschen als Mittelpunkt zu reflektieren bzw. durch neue Perspektiven zu erweitern (Autrata, 2015, S. 39).

Die Begriffe Leib und Leiblichkeit, im Gegensatz zum Körper, verweisen auf einen ganzheitlichen Ansatz hinsichtlich des Verständnisses der Wahrnehmung von Wirklichkeit und Lebenswelt des Menschen. Obwohl sich hier eine gewisse Assoziation zu der lebensweltorientierten Theorie von Hans Thiersch erkennen lässt (Engelke et al., 2014, S. 431; Hünersdorf, 2018, S. 864), findet erst in der jüngsten Vergangenheit die phänomenologische Perspektive der Leiblichkeit Eingang in sozialpädagogische oder sozialarbeiterische Denkmodelle und Theorieansätze (siehe Wolf, 2010, 2017).

Im Rahmen dieser Praxisarbeit wird die philosophische Theorie der Neuen Phänomenologie und der Leiblichkeit von Hermann Schmitz hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit im Kontext der Sozialen Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung untersucht.

Durch leibliches Spüren als ganzheitliche Wahrnehmung eignet sich der Mensch seine Lebenswelt an und tritt in Kontakt mit anderen Menschen, seiner Umwelt und seiner sozialen und kulturellen Umgebung (Andermann, 2012, S. 142); dabei spielen Prozesse der Leiblichen Kommunikation eine wesentliche Rolle. Hermann Schmitz hat seine Philosophie zur Leiblichkeit auch als praxisbezogene Theorie verstanden und sie in den Kontext der humanwissenschaftlichen Disziplinen gestellt (Andermann, 2012, S. 142).

Daraus ergibt sich die folgende Forschungsfrage: Inwiefern lassen sich Elemente der Leiblichkeit / Leiblichen Kommunikation nach Hermann Schmitz im Alltagsgeschehen und in der Lebenswelt von erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung verorten?

Im folgenden Kapitel 3 werden der Begriff der Sozialen Arbeit definiert, die zentralen Aufgaben und Ziele der Sozialen Arbeit in den Kontext der zu untersuchenden Einrichtung gestellt und das spezifische Handlungsfeld der Arbeit mit erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung beschrieben. In Kapitel 4 erfolgt die Darstellung der Einrichtung mit Schwerpunkt auf der Besonderen Wohnform mit ihrem Klientel; es werden zwei wesentliche, zur Anwendung kommende pädagogische Konzepte zusammengefasst. Kapitel 5 stellt die philosophische Theorie der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz vor und es werden die im Rahmen dieser Arbeit analysierten theoretischen Prämissen beschrieben. Kapitel 6 behandelt die Analyse der Einrichtung hinsichtlich der Verortung und Anwendbarkeit ausgewählter Elemente der Neuen Phänomenologie in der Sozialen Arbeit. Das Fazit in Kapitel 7 fasst die wesentlichen Erkenntnisse dieser Arbeit zusammen und betrachtet diese im Kontext der Forschungsfrage. Überlegungen zu zukünftigen, potenziellen Forschungsfragestellungen beschließen die Arbeit.

3 Soziale Arbeit im Kontext einer gemeinnützigen Einrichtung (gGmbH)

Eine international anerkannte Definition Sozialer Arbeit wurde im Jahr 2014 durch die weltweit tätige Organisation International Federation of Social Workers (IFSW, Internationaler Zusammenschluss der Profession Sozialer Arbeit) in einer neuen Fassung vorgelegt (DBSH, 2016).

Soziale Arbeit ist beides, sowohl praxisorientierte Profession als auch wissenschaftliche Disziplin. Sie hat „den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen“ (DBSH, 2016) zum Ziel. Als Grundlagen der Sozialen Arbeit werden u.a. die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, der gesellschaftlichen Teilhabe, der Achtung von Vielfalt und einer gemeinsamen Verantwortung festgelegt (DBSH, 2016).

Als eine personenbezogene soziale Dienstleistung, welche staatlich reguliert und finanziert ist (Bieker et al., 2022, S. 16), übernimmt Soziale Arbeit die Aufgabe, zwischen der Gesellschaft und ihren Mitgliedern zu „vermitteln“ (Farrenberg & Schulz, 2020, S. 39).

Soziale Arbeit ist daher besonders bedeutungsvoll für die Arbeit mit erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung, denn sie hat die soziale Integration ihrer Adressat:innen zum Ziel und unterstützt bei der Bewältigung von gesellschaftlichen und persönlichen Anforderungen und Krisen (vgl. Füssenhäuser 2017b, S. 775 f. – zitiert nach: Farrenberg & Schulz, 2020, S. 45).

In Anlehnung an Farrenberg & Schulz (2020, S. 11–13, 2020, S. 61 f) lässt sich die Arbeit mit Menschen mit Behinderung als eigenes Handlungsfeld der Sozialen Arbeit einordnen und für das Beispiel der gGmbH kurz skizzieren: Die Zielgruppe sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Arbeitens sind erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischen Erkrankungen, die in einer Wohngruppe zusammenleben (Kapitel 4.2). Ziel ist, die individuelle und subjektive Lebensführung der Adressat:innen zu unterstützen und Selbsttätigkeit, Selbstverwirklichung und soziale Teilhabe zu fördern. Das Arbeitsfeld umfasst Betreuung, wohnbezogene Hilfen und Versorgung, pflegerische Maßnahmen und Unterstützung im Alltagsgeschehen. Einzelne Tätigkeitsfelder orientieren sich an den unmittelbaren Bedürfnissen der Adressat:innen und werden durch die Anwendung spezifischer sozial- und heilpädagogischer Methoden und Konzepte gestützt (Kapitel 4.3).

4 Die gGmbH – eine Einrichtung für erwachsene Menschen mit Behinderung

Die gGmbH ist eine Einrichtung für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung. Das Ziel der Einrichtung ist die Unterstützung und spezifische Förderung von Menschen mit Behinderung bei der Verwirklichung eines selbstbestimmten, individuellen Lebens und gesellschaftlicher Teilhabe.

4.1 Beschreibung der Einrichtung

Die Einrichtung stellt Angebote bereit für die Bereiche des Wohnens, der Arbeit, der Beschäftigung und der Freizeit. Unterstützung im Alltagsgeschehen, notwendige pflegerische Maßnahmen oder heilpädagogische Förderangebote werden mitberücksichtigt. Die gGmbH bietet den Klient:innen, ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten entsprechend, unterschiedliche Wohnformen an, wie das ambulant betreute Wohnen in einer eigenen Wohnung oder das gemeinschaftliche Wohnen in Wohnhäusern bzw. Wohngruppen, die gemäß des erforderlichen Hilfebedarfs strukturiert sind.

Den Klient:innen stehen verschiedene Beschäftigungsmöglichkeiten zur Verfügung, z. B. im Förderbereich der Einrichtung, den einrichtungsinternen Montagewerkstätten oder den Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM).

Zusätzlich werden alternative, tagestrukturierende Maßnahmen zur Förderung von sozialer Teilhabe angeboten, wie z. B. die Mitarbeit in der Küche/Cafeteria, im Handwerkerhof oder der Aktiv- bzw. Kunstwerkstatt. Somit haben alle Klient:innen die Möglichkeit, eine adäquate, befriedigende und individuelle Tätigkeit für ihre persönliche Lebensgestaltung zu finden.

4.2 Die Besondere Wohnform – individuell in einer Gemeinschaft leben

In der Besonderen Wohnform leben erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung und weiteren Einschränkungen, Menschen mit psychischen Erkrankungen, Persönlichkeitsstörungen oder auch Suchterkrankungen. Die Personen dieses Adressat:innen-Kreises haben Schwierigkeiten hinsichtlich ihrer sozialen Integration, der zwischenmenschlichen Kommunikation und ihrer alltäglichen Lebensbewältigung oder verfügen nur über limitierte Fähigkeiten, mit starken negativen Gefühlen umzugehen.

Fachkräfte unterschiedlicher Disziplinen begleiten den Lebensalltag des Klientel 24 Stunden täglich an allen Wochentagen und ermöglichen eine bedürfnisorientierte, individuelle Betreuung.

Die Adressat:innen haben an allen Bereichen des alltäglichen Lebens teil, erlernen bzw. erweitern ihre lebenspraktischen Kompetenzen und Kommunikationsfähigkeiten und trainieren soziale Interaktion und Integration; Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit werden gefördert. Die Wohnsituation orientiert sich dabei am häuslichen Leben; jede Wohngruppe von 6–7 Mitbewohner:innen, verfügt über Einzelzimmer, Küche, Hauswirtschaftsraum, Wohn-Esszimmer und Bäder.

Eine enge Zusammenarbeit mit neurologischen und neuropsychiatrischen Diensten und eine umfassende medizinische Versorgung und Begleitung sind gegeben.

4.3 Kurzvorstellung angewandter pädagogischer Konzepte

In der Alltagspraxis, bei der täglichen Interaktion und gemäß der zu lösenden Problematik kommen verschiedene, differenzierende pädagogische Konzepte und Modelle zur Anwendung, wie u. a. das praxisorientierte Betreuungsmodell nach Willem Kleine Schaars (WKS) und das pädagogische Konzept der Positiven Verhaltensunterstützung (PVU) nach Theunissen (Kleine Schaars, 2009; Theunissen, 2020). Diese beiden Ansätze werden gemäß des Qualitätsarbeitsbuches der gGmbH definiert:

Das WKS-Modell beinhaltet die Unterstützung der Menschen mit Behinderung dabei, eigene Lösungsansätze für ihre Probleme zu finden. Gemäß dieses Modells wird jeder Mensch als aktive Persönlichkeit verstanden, die selbstbestimmt handeln und gegebenenfalls ihre Möglichkeiten abwägen kann; dabei sind jedoch im Einzelfall stets die persönlichen Ressourcen und Kompetenzen zu berücksichtigen. In einer speziellen Form der Bezugsbetreuung wird den Adressat:innen sowohl eine Alltags- als auch eine Prozessbegleitung zur Seite gestellt.

Das Konzept der PVU findet seine Anwendung in der professionellen Betreuung und Unterstützung von Menschen, die ein sogenanntes „herausforderndes Verhalten“ aufweisen. Demnach hat ein herausforderndes Verhalten immer einen subjektiv bedeutsamen Sinn und sollte stets als ein problembelastetes Verhältnis zwischen Individuum und Umwelt verstanden werden. Dieser Ansatz des „Verstehens“ ist ausgerichtet auf die persönlichen Ressourcen der Adressat:innen und lösungsorientiert.

5 Leiblichkeit – Zentrum der neuen Phänomenologie nach Hermann Schmitz

Die Phänomenologie ist eine philosophische Strömung des 20. Jhs., begründet von Edmund Husserl (1859–1938). Dabei wird ein Phänomen als „das, was von sich selbst her erscheint – das, was sich manifestiert, was sich offenbart“ (Zahavi, 2007, S. 14) definiert und umfasst sowohl Gegenstände als auch Sachverhalte oder soziale Beziehungen. Eine Trennung der Welt in eine, „wie sie uns erscheint“, und eine Welt an sich, angelehnt an das Weltbild Platons, lehnt die Phänomenologie ab und konstatiert, dass „die Welt, wie sie uns erscheint […], die einzig wirkliche Welt sei“ (Zahavi, 2007, S. 14 f).

Mit diesem philosophischen Ansatz der Einbettung des Subjekts in ein „In-der-Welt-sein“ (Zahavi, 2007, S. 7 f) leistet die Phänomenologie u. a. Beiträge zu sozialwissenschaftlichen und auch psychologischen Fragestellungen.

5.1 Die Theorie – Neue Phänomenologie nach Hermann Schmitz

Mit seiner Theorie der Neuen Phänomenologie erarbeitete Hermann Schmitz (1928–2021) ein umfassendes systematisches Werk seiner philosophischen Auffassung einer erneuerten Phänomenologie, welche er in seinem Buch ‚Der Unerschöpfliche Gegenstand, Grundzüge der Philosophie‘ (1990) zusammenfasste (Breitenstein & Rohbeck, 2011, S. 124; Schmitz, 1995).

Der Begriff Theorie bezeichnet „das systematische, nach bestimmten Prinzipien geordnete Beobachten und Erklären der Realität“ (bpb, 2023) und „schafft Erkenntnisse, die als Instrument zur Ordnung und Bewältigung des Alltags (Praxis) eingesetzt werden können“ (bpb, 2023); dabei liegen diesem wissenschaftlichen Aussagesystem empirische Befunde zugrunde. Hermann Schmitz versteht seine Theorie als empirische Wissenschaft (Schmitz, 2014b, S. 13), wobei sich sein Ansatz einer deduktiven Forschungsmethode zuordnen lässt.

5.2 Philosophische Grundannahmen der Neuen Phänomenologie nach Hermann Schmitz

In der Neuen Phänomenologie nach Hermann Schmitz stehen die unwillkürliche Lebenserfahrung eines jeden Menschen – also, „alles, was Menschen merklich widerfährt“ (Schmitz, 2014b, S. 7) – und ihr subjektives, leibliches Spüren im Zentrum der Theoriebildung.

Dabei erneuert Hermann Schmitz den Begriff Phänomen. In seinen Überlegungen zu seiner Leitfrage „Was muss ich gelten lassen?“ (Schmitz, 2014b, S. 11 f, Hervorhebung W.R.) unternimmt Hermann Schmitz zur Beschreibung eines Phänomens zunächst eine doppelte Relativierung hinsichtlich seiner zeitlichen und subjektbezogenen Perspektive; weiterhin spezifiziert er den Begriff Sachen durch den Begriff Sachverhalt, welcher auf die Vieldeutigkeit und die unterschiedlichen Perspektiven von Phänomenen verweist (Schmitz, 2014b, S. 12 f): „Phänomen für jemand zu einer Zeit ist ein Sachverhalt, dem der Betreffende dann nicht im Ernst den Glauben verweigern kann, dass es sich um eine Tatsache handelt“ (Schmitz, 2014b, S. 12).

Im Mittelpunkt der Theorie stehen der Begriff des Leibes und das eigenleibliche Spüren (Andermann, 2012, S. 130).

Als bedeutende Elemente und Begriffe der Theorie sind hier Leiblichkeit, Atmosphären, Gefühle als Atmosphären und Leibliche Kommunikation zu nennen (Schmitz, 2014b, S. 22).

5.3 Kernelemente der Neuen Phänomenologie nach Hermann Schmitz – eine Auswahl theoretischer Prämissen

Anhand des Leibbegriffs lassen sich zentrale Elemente der Theorie ableiten, wie Leiblichkeit, das Spüren von Atmosphären, Atmosphären des Gefühls und Leibliche Kommunikation; diese theoretischen Prämissen werden im Rahmen dieser Arbeit behandelt und im Kontext der sozialen Arbeit mit erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung in der Besonderen Wohnform der gGmbH verortet.

5.3.1 Leiblichkeit im Spannungsbogen von Enge und Weite

Als Leib definiert Hermann Schmitz all das, was ein Subjekt (der Mensch) am eigenen Leibe erspüren kann; er beschreibt ihn als einen absoluten Ort, als flächenlosen Raum, der die Ganzheit aller leiblichen Regungen umfasst (Schmitz, 2011, S. 2, 2014a, S. 16): „Leiblich ist, was jemand in der Gegend (nicht immer in den Grenzen) seines Körpers von sich selbst, als zu sich selbst gehörig, spüren kann, ohne sich der fünf Sinne […] zu bedienen“ (Schmitz, 2011, S. 5).

Der Leib grenzt sich ab von dem Bereich des materiellen Körpers, der als relativer Ort mit räumlich-zeitlicher Begrenztheit und seinen Sinneswahrnehmungen charakterisiert werden kann (Schmitz, 2011, S. 2). Leib und Körper sind dennoch miteinander im leiblich-körperlichem Spüren verbunden (Andermann, 2012, S. 132). Leiblichkeit bildet damit die Grundlage des menschlichen Seins: „Wie der ganze Mensch hier und jetzt sein kann, wird ohne den spürbaren Leib unverständlich“ (Schmitz, 2011, S. 6).

Alle leiblichen Regungen, die ein Subjekt verspürt, bewegen sich zwischen den beiden räumlichen Gegenpolen der empfundenen Engung und Weitung; dahinter verbirgt sich nach Hermann Schmitz die Dynamik des vitalen Antriebs eines Individuums, wobei die Engung als Spannung und die Weitung als Schwellung empfunden wird (Schmitz, 2014b, S. 35).

Die Enge, die jemand fühlt, wenn plötzlich etwas Neues anheimfällt und in den Momenten des „hier, jetzt, sein, dieses selbst, ich“ (Schmitz, 2014b, S. 34) passiert, lässt sich dem Zustand der sogenannten primitiven Gegenwart zuordnen. In primitiver Gegenwart durchlebt das Subjekt affektives Betroffensein; es erlebt „Identifizierung von etwas mit mir“ durch Selbstzuschreibung (Schmitz, 2014b, S. 29 f).

Leib und Leiblichkeit bilden das Fundament der Lebenserfahrung: das immerwährende Wechselspiel zwischen den leiblichen Tendenzen von Engung und Weitung wird von Hermann Schmitz als entfaltete Gegenwart charakterisiert (Andermann, 2012, S. 136).

5.3.2 Atmosphären und Gefühle als Atmosphären

Einen weiteren Schwerpunkt in seiner Theorie setzt Hermann Schmitz auf den Begriff der Atmosphären, den er phänomenologisch definiert als „eine totale oder partielle, in jedem Fall aber umfassende Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich dessen, was als anwesend erlebt wird“ (Schmitz, 2014a, S. 19). Damit erweitert er das allgemeine, alltagssprachliche Verständnis von Atmosphären, das sich auf das Empfinden von Stimmungen, auf soziale Kontexte oder räumliche Umgebungen beziehen kann.

Hermann Schmitz unterscheidet Atmosphären des Leibes und Atmosphären des Gefühls (Schmitz, 2014a, S. 19 f). Leibliche Atmosphären sind als „umfassende“, als „ganzheitliche leibliche Regungen“ zu verstehen, die zwar den ganzen Leib ergreifen (Schmitz, 2014a, S. 19) und sich im affektiven Betroffensein von bloßen leiblichen Regungen äußern, die jedoch auch aus der Distanz heraus bzw. von außen betrachtet werden können (Schmitz, 2003, S. 52).

Gefühle beschreibt Hermann Schmitz als Atmosphären des Gefühls, als persönlich ergreifende, gefühlte Gefühle: „Gefühle [sind] räumlich ergossene, aber nicht örtlich umschriebene Atmosphären und leiblich ergriffene Mächte“ (Schmitz, 2003, S. 247). Atmosphären des Gefühls werden ebenfalls als affektives Betroffensein empfunden; dabei erfährt das Subjekt jedoch eine leiblich spürbare vollständige Ergriffenheit, die „als die Gefühle, die man selbst hat“, gefühlt wird (Schmitz, 2014a, S. 21, 2014a, S. 23).

Hermann Schmitz beschreibt die Atmosphären des Gefühls als dreischichtig, die reinen Stimmungen mit der Zufriedenheit und der Verzweiflung als die beiden Grundformen, die reinen Erregungen, die sich nicht thematisch auf einen Sachverhalt/Tatbestand beziehen, jedoch eine gewisse Richtung aufweisen (z.B. Sehnsucht, Misstrauen), und die thematisch zentrierten, intentionalen Gefühle (Schmitz, 2014a, S. 22 f).

Schließlich lassen sich gefühlte Atmosphären auch bestimmten Ortsräumen, als Atmosphären des Wohnens oder des Aufenthalts, zuordnen, die sehr individuell für jede Person mit gewissen Stimmungen, mit Gefühlen von Wohlbefinden, Verlorenheit oder Beklommenheit assoziiert sein können (Schmitz, 2014a, S. 27). In diesem Zusammenhang spielen u.a. räumliche Gestaltungselemente, Bilder, Farben, Mobiliar, Licht und Geräusche eine wesentliche Rolle (Schmitz, 2014a, S. 29).

5.3.3 Leibliche Kommunikation

Im Prozess der Leiblichen Kommunikation nach Hermann Schmitz geht der vitale Antrieb eines Individuums, also die leibliche Dynamik von Enge und Weite, über den eigenen Leib hinaus und bezieht sowohl andere menschliche Subjekte als auch leiblose Gestalten bzw. Gegenstände mit ein; dies geschieht in der Leiblichen Kommunikation durch die sogenannte Einleibung (Schmitz, 2014a, S. 17). Menschen interagieren miteinander mit wechselseitiger Einleibung, also ohne ein gesprochenes Wort, z. B. in gemeinsam erlebten Situationen und Ereignissen, oder sie reagieren auf Gegenstände, Dinge oder Tatbestände in aktuellen Lebenssituationen.

Dabei wird die Leibliche Kommunikation unmittelbar von den Atmosphären des Leibes und des Gefühls mitbestimmt.

Eine wichtige Rolle bei der Leiblichen Kommunikation spielen die sogenannten unumkehrbaren leiblichen Richtungen, die Hermann Schmitz zu den leiblichen Regungen zählt; dabei werden u. a. die unteilbar ausgedehnten Richtungen (wie der Blick) und die Bewegungssuggestionen (erahnte/ vorweggenommene Bewegungen von Gestalten, z. B. von Gegenständen oder Personen) unterschieden (Schmitz, 2014a, S. 24).

Bei der Einleibung, die Hermann Schmitz auch als „Konzentration auf ein Gegenüber“ (Schmitz, 1995, S. 151) beschreibt, wird zwischen der antagonistischen und der solidarischen Einleibung unterschieden. Antagonistische Einleibung impliziert immer eine Zuwendung der beteiligten Person zu etwas hin; diese Zuwendung kann einseitig (z.B. Faszination, Bewunderung) oder wechselseitig sein, wie bei einem Gespräch, einer Interaktion oder einem wechselseitigen Blickkontakt (Schmitz, 2014a, S. 57).

Die solidarische Einleibung dagegen ist durch einen „gemeinsamen Antrieb“ von Menschen charakterisiert (Schmitz, 2014a, S. 57 f), die sich zu einem kollektiven Miteinander zusammenschließen, wie z. B. beim gemeinsamen Singen oder Musizieren.

6 Leiblichkeit und leibliche Kommunikation im Alltagsgeschehen und in der Lebenswelt von Menschen mit geistiger Behinderung am Beispiel der Besonderen Wohnform der Praxiseinrichtung

In der Besonderen Wohnform der Praxiseinrichtung leben Menschen mit kognitiven und psychischen Störungen oder Entwicklungsstörungen (z. B. Autismus-Spektrum-Störungen) zusammen, die hinsichtlich ihrer Alltagsbewältigung, ihrer zwischenmenschlichen Interaktion und Kommunikation oder bei ihrer Emotionsregulation spezifische und individuelle Verhaltensmuster aufweisen, welche auch von herausfordernden Verhaltensweisen begleitet sein können. Die Mitbewohner:innen reagieren oft spontan und impulsiv auf spezifische auslösende Ereignisse und Situationen oder sind gefangen in ihrer spezifischen Wahrnehmungs- und Gefühlswelt. Leibliches Erleben, das Erspüren von Atmosphären und Leibliche Kommunikation spielen dabei eine große Rolle und lassen sich im Alltagsgeschehen und in der Lebenswelt der Adressat:innen wiederfinden.

6.1 Leiblichkeit und Atmosphären des Leibes

Leibliche Atmosphären, die eine Person als ihr eigene leibliche Regungen wahrnimmt, werden in vielen Momenten des alltäglichen Lebens in den Wohngruppen offenbar. Menschen mit psychotischen Erkrankungen zeigen sichtliche Anzeichen einer gespürten leiblichen Engung beim Empfinden von Unwohlsein oder körperlichen Beschwerden, die sich als absolute Konzentriertheit auf diesen Zustand hin, also als affektives Betroffensein, äußert, weder Ablenkung noch Ausweichen erlaubt und sich deutlich in der Körpersprache mitteilt. Hermann Schmitz beschreibt diese Art von leiblichen Empfindungen als teilheitliche leibliche Regungen, die sich einzelnen „Leibesinseln“ zuordnen lassen (Schmitz, 2014a, S. 17 f).

Es lassen sich auch ganzheitliche leibliche Regungen der Engung verorten, die den ganzen Leib atmosphärisch erfassen (Schmitz, 2014a, S. 19) und die das Subjekt hinsichtlich seines persönlichen Entwicklungsstandes oder seiner psychischen Störung symptomatisch charakterisieren. In diesem Sinne ließe sich hierzu der Zustand der Antriebslosigkeit nennen, der u. a. auch als Merkmal depressiver Störungen beschrieben wird (Trabandt & Wagner, 2021, S. 228); dabei sieht sich der / die Betroffene nicht befähigt, sich für eine Handlung oder Tätigkeit zu motivieren und diese zielgerichtet auszuführen.

Schließlich lassen sich auch ganzheitliche leibliche Regungen der Weitung bei den Adressat:innen wiederfinden, die sich z. B. offenbaren, wenn nach positiven Beratungsgesprächen oder gelungener Lebenslaufbefragung die psychische Anspannung abfällt und sich in Entspannung und in einen sich weitenden Blick verwandelt.

6.2 Atmosphären des Gefühls

Gefühle als Atmosphären werden durch affektives Betroffensein eines Individuums mit leiblicher Ergriffenheit erfahren. Hermann Schmitz unterscheidet dabei drei Schichten: die der reinen Stimmungen, die der reinen Erregungen und die der intentionalen Gefühle, welche um ein zentrales Thema kreisen (Schmitz, 2014a, S. 22). Reine Stimmungen lassen sich bei Menschen mit depressiven Episoden wiederfinden, in denen die depressive Stimmung der reinen Stimmung der Verzweiflung ähnelt, die über einen langen Zeitraum in großer Weitung und ohne spezifische Ausrichtung andauern kann. Die betroffenen Personen äußern ihre ganzheitliche leibliche Ergriffenheit durch Freud- bzw. Hoffnungslosigkeit, Antriebslosigkeit und Rückzugsbedürfnis. Geht eine depressive Episode vorüber, lässt sich die reine Stimmung der Zufriedenheit wiederfinden, in der der / die Betroffene Teilhabe am Alltagsgeschehen oder an zwischenmenschlichen Beziehungen zeigt.

Reine Erregungen, die in eine bestimmte Richtung verlaufen, zeitlich andauernd auftreten, jedoch nicht konkret thematisch zu fassen sind, können sich beispielsweise bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen offenbaren, die im Alltag Schwierigkeiten aufweisen, sich proaktiv und eigeninitiativ an existierenden Handlungsoptionen oder Tätigkeitsbereichen zu beteiligen; so äußern sich diese Art von Gefühlen atmosphärisch als negative Grundstimmung, als passive Erwartungshaltung, als „ahnungsvolles Erwartungsgefühl“ (Schmitz, 2014a, S. 22).

Sogenannte thematisch zentrierte Gefühle (Schmitz, 2014a, S. 22) können bei Menschen wiedergefunden werden, die Schwierigkeiten im Umgang mit ihren eigenen Gefühlen haben und diese nur schwer kontrollieren können. Durch ein spontan auftretendes Ereignis oder einen akuten Auslöser richten sich emotionale Erregungen und ergreifende Gefühle auf diese Thematik hin aus und verweilen dort länger anhaltend und konzentriert. Dies können sowohl positive Gefühle, z. B. das Gefühl des Stolzes über eine erfolgreich bewältigte Aufgabe, als auch negative Gefühle, wie bei dem Gefühl des Zorns durch eine erfahrene Zurückweisung, sein.

6.3 Leibliche Kommunikation

Prozesse der Leiblichen Kommunikation nehmen in der Wohn- und Lebensgemeinschaft der Bewohner:innen der Besonderen Wohnform der Praxiseinrichtung eine zentrale Stellung ein. So kommunizieren nicht nur die Menschen untereinander leiblich, sondern sie interagieren auch durch Leibliche Kommunikation mit ortsräumlichen Atmosphären, mit Gegenständen, räumlichen Gestaltungselementen oder gespürten Atmosphären des Gefühls oder des Leibes.

6.3.1 Wechselseitige antagonistische Einleibung

Leibliche Kommunikation geschieht durch den Prozess der Einleibung, also durch „Konzentration auf ein Gegenüber“ (Schmitz, 1995, S. 151). Im Alltag des gemeinschaftlichen Lebens der Bewohner:innen überwiegt die wechselseitige antagonistische Einleibung, die sich in gemeinsam erlebten Situationen, z. B. während der Mahlzeiten oder bei der Freizeitgestaltung, wiederfinden lässt. Die Personen innerhalb der Gruppe reagieren und interagieren wechselseitig miteinander, wobei sich die Empfindungen von Enge (z. B. durch angespannte Situationen, negative Stimmungen) und Weite (z. B. durch Wohlbefinden, Ausgeglichenheit) in ihrer Dynamik abwechseln können. Eine wesentliche Rolle spielen hier auch die unumkehrbaren leiblichen Richtungen wie der Blick (Schmitz, 2014b, S. 39) oder die Bewegungssuggestion in Form von Körpersprache und -haltung, die sowohl als beengend als auch als befreiend empfunden werden können.