Putin im Wartezimmer - Lou Bihl - E-Book

Putin im Wartezimmer E-Book

Lou Bihl

5,0

Beschreibung

Putin ist kürzlich in die Ukraine einmarschiert, und auch in »Frau Doktors« Wartezimmer ist er gegenwärtig. Dort treffen sich pummelige Patient:innen zu einer Schulung über gesunde Ernährung. Mit Unterstützung der engagierten Hausärztin kämpfen sie gegen ihr Übergewicht, doch mit diesem Ziel erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten. Die Jüngste zählt 19, die Älteste 73 Jahre, sozialer Hintergrund und politische Ansichten könnten unterschiedlicher nicht sein, ­wie ihre Streitgespräche über Krieg und Krise zeigen. Der Historiker doziert, der Computer-Nerd widerlegt den Kommunalpolitiker mit Fakten und Zahlen, die vermeintlich demente Ex-Ingenieurin überrascht durch fundierte Kenntnisse über Atomkraft, und die junge Putzhilfe mit Migrationshintergrund liefert scharfsinnige Analysen. Frau Doktor hat in zehn Sitzungen viel zu moderieren, doch die Debatten lassen auch zarte Bande sprießen. Dann wirbelt ein unvorhergesehenes Ereignis die Gruppendynamik abrupt durcheinander ...

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Seitenzahl: 210

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Lou Bihl

Putin im Wartezimmer

Politischer (Arzt-) Roman

mit Illustrationen von Daniel Horowitz

U N K E N

Bei Putin im Wartezimmer sind sämtliche Gruppenmitglieder frei erfunden; Ähnlichkeiten mit realen Personen sind Zufall.

Die diskutierten politischen Ereignisse sind hingegen faktentreu recherchiert und lassen sich anhand des Quellenverzeichnisses nachvollziehen.

Impressum

Erste Auflage 2023

Umschlag und Illustrationen: Daniel Horowitz, Paris

Lektorat: Dr.Felicitas Igel

Korrektorat: Eva Wagner

Satz: fotosatz griesheim GmbH

Gesetzt aus PT Serif

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

Print-ISBN 978-3-949286-09-4

Zitat

Das Bild ist nicht das Abgebildete, der Name nicht das Benannte,

eine Erklärung der Wirklichkeit nur eine Erklärung und nicht die Wirklichkeit selbst.

3.März

Putins Psyche

Wen kümmert gesundes Essen, wenn Krieg ist? Die Ukrainer sind froh, wenn sie Suppe kriegen – und wir lernen Kalorien sparen. Das verdirbt mir die Lust auf gesunde Ernährung und bewusste Lebensführung, obwohl Frau Doktors Kurs super ist und ich ihn nicht schwänzen will. Als Mitarbeiterin kriege ich die zehn Kursstunden umsonst; das binde ich den anderen nicht auf die Nase, die müssen pro Sitzung zehn Euro zahlen und den Coronatest.

Auch beim zweiten Treffen sitzen wir uns im Wartezimmer gegenüber, rechts die drei Alten, links wir Jungen; von denen bin ich mit zweiundzwanzig die Älteste. Die zwei anderen kommen mir manchmal vor wie frühreife Kita-Kids. Die Oldies verraten ihr Alter nicht, aber ich schätze sie zwischen sechzig und siebzig plus. Die Maske macht ältere Menschen jünger, weil sie die Falten verbirgt und die Mundwinkel verdeckt, die im Alter nach unten wandern. Mit den Coronaregeln ist Frau Doktor streng, aber zum Essen oder Teetrinken dürfen wir die Maske kurz abnehmen, wir sind natürlich geimpft und frisch getestet.

Obwohl wir auf Abstand sitzen, ist das Wartezimmer mit sechs Leuten voller als sonst mit zehn, weil wir alle einen BMI um die dreißig mit uns rumschleppen. Bis auf den Professor. Der hat keine Adipositas, so nennen die Ärzte das, wenn man fett ist. Herr Wissmer ist einfach stattlich, wie man auf Deutsch bei Männern sagt, das klingt wenigstens kernig; da denkt nicht gleich jeder an weiches Wabbelfleisch wie bei uns Frauen. Die nennt man ja mollig oder füllig, wenn sie nicht aussehen wie Claudia Schiffer. Der stattliche Professor hatte an der Uni nie Zeit und keinen Kopf für gesundes Essen, das holt er jetzt als Rentner nach.

Heute hat uns die leitende Arzthelferin um Geduld gebeten, Frau Doktor ist noch mit einem Notfall zugange; in eine Hausarztpraxis kommt ja jeder, der glaubt, ausgerechnet seine Krankheit wäre dringend. Für die Wartezeit hat die Benz schon mal was zum Knabbern gebracht. Die Chefin spendiert für jeden Kurs irgendwas Gesundes, dieses Mal Weizenkleiekekse, die sind besonders ballaststoffreich und schmecken wie Holzwolle. Zu trinken gibt es Hagebuttentee mit Stevia-Süßstoff.

Als Corona anfing, hat Frau Doktor die Zeitschriften im Wartezimmer abgeschafft, weil man Papier nicht desinfizieren kann und viele Leute die Seiten mit angeleckten Fingern umblättern. Stattdessen hat sie drei Fernseher mit Kopfhörern gekauft.

Stumm flimmern die Bilder aus der Ukraine über zwei Flachbildschirme. Tonlos rollen Putins Panzer durch den Matsch.

Professor Wissmer fragt Frau Glueck nach ihrem »werten Befinden in diesen schweren Tagen«. Letztes Mal hat er behauptet, seit er sie vor ein paar Wochen in der Praxis gesehen hätte, sei sie schlanker geworden. Damit hat er sie zum Strahlen gebracht wie ein Schulmädchen, dem man sagt, es wäre gewachsen. Zugegeben, bei der Glueck verteilt sich der Speck günstig: Busen wie Dolly Parton und zweimal Jennifer Lopez’ Arsch – aber trotzdem Taille.

Die Glueck fängt an, mit den Wimpern zu klimpern. Sie ist geschieden und Gemeinschaftskunde-Lehrerin an einer Realschule; das ist wohl so stressig, dass sie immer Nervennahrung braucht. »Diesmal kann ich keinen Erfolg vermelden«, sagt sie mit todernstem Gesicht. »Der Ukrainekrieg ist so furchtbar, da musste ich mich mit Essen beruhigen.«

»Schön, dass Sie so empathisch sind«, sülzt der Wissmer. Oldies beim Anbaggern sind irgendwie süß.

Durch das Bild im Fernseher humpelt eine zahnlose Oma, schrumpelig wie ein hundert Jahre alter Apfel. Sie hält ein weinendes Mädchen mit Zöpfen hoch. Augen und Mund hat die Kleine weit aufgerissen, und ihr stumm geschalteter Schrei geht mir mehr unter die Haut als hörbares Brüllen. Das schrillt auch ohne Ton in meinem Kopf, und mir wird ganz schlecht. »Scheiße«, platzt es aus mir heraus, und alle glotzen wie Kühe, wenn ein Schäferhund bellt. Sonst sage ich nie viel. Die Glueck hat mich in der ersten Sitzung gefragt, warum ich mich so wenig einbringe. Ich habe ihr geantwortet, wir wären schließlich nicht bei den Anonymen Alkoholikern, wo sich jeder in der Gruppe als Person nackt zeigen muss. Wir machen hier einen Kurs, wo man was lernt, und zwar durch Zuhören. Danach haben sie mich in Ruhe gelassen. Meine Story geht keinen was an.

Die Glueck macht ein betroffenes Gesicht und nickt mir zu. »Ich kann Ihre Emotionen sehr gut nachempfinden.«

Das glaube ich kaum, schließlich hat sie nie einen Krieg erlebt oder zerschossene Leichen gesehen. Frau Glueck ist so eine ganz Liebe, die es allen recht machen will und sich richtig Mühe gibt mit anderen Menschen. Hauptsächlich mit den Jungen, vielleicht, weil sie selbst keine Kinder hat. Zu Kevin und mir ist sie meistens mütterlich, nur Kira kann sie nicht so gut leiden.

»Ich auch«, sagt der Wissmer, aber dabei schaut er die Glueck an – nicht etwa mich mit meinen Emotionen. Auch der Prof kennt den Krieg höchstens aus seinen Geschichtsbüchern.

Kira hat heute noch keine Aufmerksamkeit gekriegt, das kann sie nicht ab. Mit neunzehn Jahren steht sie kurz vor dem Abi, und das macht sie sicher mit lauter Einsen. Trotz ihrer weizenfarbenen Haare und des blauäugigen Barbiepuppengesichts ist sie im Kopf nämlich gar nicht Blondine. Wenn man nur ihren Oberkörper sieht, glaubt man nicht, dass sie knapp achtzig Kilo wiegt. Im Stehen wirkt Kiras Body wie zwei falsch zusammengesetzte Lego-Teile: oben Rennpferd, unten Brauereigaul. Komischerweise macht sie immer auf Konkurrenz mit der Glueck, wenn es um die Beachtung vom Professor geht.

»Man muss das psychologisch betrachten«, sagt Kira und klingt wie ein altkluges Kind, das die Redeweise von seiner Oma nachahmt. »Warum tut Putin das? Welche Motive leiten ihn? Wir müssen uns fragen: cui bono?«

Kevin hebt den Kopf. Er ist zwanzig und hat die Schule vor dem Abi geschmissen, um Profiboxer zu werden. Irgendwann hat ihm jemand bei einer Kneipenschlägerei so vors Knie getreten, dass er monatelang nicht trainieren konnte, da fing das an mit dem Frustfressen. Dann kam Corona, wieder kein Training, und das Fressen ging weiter. Kevin ist schon lange Patient in unserer Praxis, früher war sein Sportlerbody echt geil, jetzt sieht er aus wie ein Sumoringer und hat Titten wie ein Mädchen. Kevin ist Computer- und Waffenfreak, aber bei der Bundeswehr wollten sie ihn nicht, denen war er nicht fit genug. Nun programmiert er Ballerspiele für Kids. Für Zahlen und Daten hat er ein Gedächtnis wie eine Vier-Terabyte-Festplatte. Kevin ist so ein Typ mit dem IQ eines Hochbegabten, aber in Sachen sozialer Intelligenz manchmal grenzdebil. Ich mag ihn, er hat mir öfter mit meinem Laptop geholfen und ein paar Hackertricks gezeigt.

Kevin steht auf Kira; aber die steht nicht auf ihn.

Er dreht sich zu ihr und beugt sich vor. »Cui bono – meinst du den Bono von U2? Die hat meine Mom immer gehört, die singen auch über den Krieg.«

Kira verdreht die Augen und rückt mit ihrem Stuhl weg. »Du bist so ein Banause! ›Cui bono‹ ist lateinisch und heißt: ›wem zum Vorteil?‹«

Ich weiß nicht genau, was ein Banause ist, aber es klingt voll nach Schimpfwort. Bei Kevin ist das wohl angekommen. Der ist dermaßen sauer, dass sein Gesicht erst auseinanderfällt und die Augen dann ganz schmal werden. Er ballt die Fäuste und schaut auf seine Füße in den klobigen Camouflage-Sneakern. Keiner sagt was. Vor Verlegenheit starren wir auf die Fernseher.

Auf dem Bildschirm erscheint Putin. Sein Gesicht ist aufgequollen wie bei manchen Patienten, denen Frau Doktor Kortison verschreibt. Seine Augen sind wie das Trockeneis aus dem Labor. Bisher dachte ich, den kältesten Blick der Welt hätte Mads Mikkelsen. Aber gegen Putin schaut der fiese Le Chiffre den James Bond richtig lieb an beim Poker in Casino Royale. Putin kriegt das Pokerface allerdings nicht ganz hin, um den Mund und die Augenbrauen sieht man winzige Zuckungen, als hätte er seine Gesichtsmuskeln nicht im Griff.

Schließlich beendet der Wissmer die Stille. »Mit der Psychologie haben Sie zweifellos recht, aber Sie unterstellen damit eine rationale Kosten-Nutzen-Analyse des Handelnden. Man möchte gerne glauben, dass unsere Staatenlenker stets einer zielorientierten und langfristigen Strategie folgen. Doch als Historiker muss ich Ihnen sagen, dass wir die strategische Qualität politischer Entscheidungsträger oft überschätzen. Zweifellos war Putin früher ein glänzender Stratege. Doch beim Ukraine-Krieg kann ich in seiner Vorgehensweise derzeit keinen nachhaltigen Nutzen für ihn und sein Land erkennen, also nichts, worauf ›cui bono‹ zuträfe.«

Kira nickt verständig. Bevor sie antworten kann, geht Frau Luxner dazwischen. »Ich bin auch ein Fan von Bono. Doch der singt gar nicht über Putin, sondern über Schottland.«

Sie ist die Älteste von uns und sagt oft zweimal dasselbe oder das Falsche im falschen Moment, manchmal aber auch megaschlaue Sachen. Über ihren früheren Beruf hat sie uns nichts erzählt und nur gemurmelt, sie wäre jetzt Rentnerin. Ich weiß nicht, warum Frau Doktor sie in die Gruppe genommen hat, wahrscheinlich war das ihr gutes Herz, die alte Frau ist nämlich total einsam, seit ihre Tochter ausgewandert ist. Dabei hatten die beiden dauernd Zoff. Ich kannte Leonie und habe nicht verstanden, dass sie ihrer Mutter so gar nicht dankbar war, obwohl die immer für sie gesorgt hat. Jetzt kann sich Frau Luxner an nichts mehr freuen – außer am Essen. Ich denke mal, dass sie vielleicht so zunimmt, weil sie vergisst, was sie alles schon gegessen hat.

»Quatsch, Bono ist doch Ire«, sagt die Musterschülerin, und Frau Luxner schaut ratlos, als hätte sie sich verlaufen.

»Sie haben ganz recht, Frau Luxner«, geht Kevin dazwischen und wirft Kira einen giftigen Blick zu. »U2 singt nicht über Putin.«

Frau Luxner strahlt. Kira schmollt. Und ich denke: Donnerwetter, vielleicht hat der Kleine ja endlich was geschnallt.

Frau Glueck klimpert wieder den Professor an. Blaue Wimperntusche. Und das in ihrem Alter. »Sie müssen das näher erläutern«, sagt sie. »Was meinen Sie mit der strategischen Qualität politischer Entscheidungsträger? Ich glaube, das haben wir nicht ganz verstanden.«

Dabei guckt sie mich an, als wäre ich diejenige, die am wenigsten rafft, dabei ist ihr eigenes Hirn von irgendwelchen Verliebtheits-Hormonen verdrogt. Ich mag Frau Glueck eigentlich, aber das will ich nicht auf mir sitzen lassen.

»Ich finde schon, dass man das verstehen kann«, widerspreche ich, und alle schauen mich an, als hätte ich gerülpst. »Das einfache Volk glaubt, jeder Politiker hätte Ideale oder wenigstens Ideen – und natürlich immer ein Ziel, um die Welt besser zu machen. Um dahin zu kommen, muss er herauskriegen, wer oder was ihm dabei hilft – und er muss alles aus dem Weg schaffen, was ihm dazwischenfunkt. Man denkt, der Politiker könnte die gegnerischen Züge im Voraus kalkulieren, wie ein superguter Schachspieler. Und er würde sich vorher überlegen, wie er auf jeden möglichen Zug am besten reagiert. Das nennt man Strategie. Aber viele, die Schach spielen, sind halt nicht super, und manche können sogar nur bis zum nächsten Zug denken, besonders, wenn sie Stress kriegen. Die machen dann einfach irgendwas, das ihnen für ein paar Züge den Kopf rettet – und das Ziel ist blöderweise oft einfach nur Macht. Das nennt man dann Taktik. Manchmal klappt das; aber wenn der andere besser strategisch denken kann, ist man matt.«

Ich weiß, wovon ich rede. Im Auffanglager haben wir viel Schach gespielt, wenn uns langweilig war. Also oft. Das war besser als dauerndes Essen, damit habe ich angefangen, weil es so schön war, nicht mehr zu hungern, und dann konnte ich nicht mehr aufhören.

Der Professor setzt sich gerade und zieht die borstigen Brauen hoch. »Chapeau, Amira! Ich muss schon sagen, das war eine ziemlich gute Interpretation dessen, was ich meinte.«

Mir wird warm; Chapeau klingt nach Kompliment.

Kira gönnt mir das nicht. »Also, ich finde diese Metapher recht simpel gestrickt, und treffend ist sie auch nicht. Nicht umsonst waren Russen oft Schachweltmeister. Wladimir Putin ist ein brillanter Stratege, der schon immer die Schwächen seiner Gegner richtig eingeschätzt hat und …«

Jetzt haut die Glueck rein. »Eben nicht, junge Dame! Putin dachte, der Westen wäre zu schwach und uneinig, um sich zu wehren. Nur dass er sich dieses Mal gründlich verkalkuliert. Er hat die Bodenhaftung verloren; das passiert Menschen, die so lange eine unangefochtene Machtstellung innehaben, dass ihnen niemand mehr ernsthaft widerspricht. Putin hat sein Umfeld jahrelang so terrorisiert, dass sich keiner mehr traut, ihm die Wahrheit zu sagen. Ein fehlendes Korrektiv kann irgendwann zu einem geschlossenen Wahnsystem führen, das undurchdringlich wird – und zwar für sämtliche Menschen, die den Wahn nicht bedingungslos teilen, und für jegliche Argumente.«

»Prinzipiell schon …«, sagt der Professor, aber die Glueck spricht einfach weiter: »Allerdings glaube ich, trotz der Schrecklichkeit dieses Krieges gibt es auch positive Aspekte. Die EU war ein loser Haufen von Me-first-Egoisten und die NATO angeblich hirntot. Und nun stehen wir so stark zusammen wie noch nie.«

Alle nicken versonnen. Die zwei Frauen kauen Kekse, das klingt, als würden Karnickel ihre Karotten mümmeln.

Die Glueck setzt noch eins drauf. »Lasst uns noch mal auf die neue Einigkeit der westlichen Welt zurückkommen. Vielleicht brauchte der Westen diesen Weckruf. Warum hat man nicht früher verstanden, wie wichtig gemeinsame Werte sind?«

Lehrerinnenfrage. Kira holt Luft, aber Kevin ist schneller: »Die Amis waren so beschäftigt mit den Chinesen, dass sie Russland nicht mehr auf dem Zettel hatten. Und die EU war so beschäftigt mit sich selbst, dass sie Europa vergessen hat.«

»Sehr schön zusammengefasst«, lobt die Glueck. Kevin wächst ein Stück, und sie spricht weiter: »Und was hat sich durch den Krieg geändert?«

Mit einem Knall lässt Kira eine Kaugummiblase platzen. »Sind wir hier in der Schule, oder was?«, fragt sie. »Ist doch klar. Jetzt hat die Welt endlich begriffen, dass Russland und China eigentlich den Westen abschaffen wollen. Die demokratische Lebensform verachten beide als dekadent und ihrem autokratischen System unterlegen. Deshalb wollen sie die Welt aufteilen – zwischen dem Reich der Mitte und dem Universum Putistan.«

Alle grinsen. »Nicht schlecht«, sagt der Professor, »aber da fehlt noch eine Modifikation.«

Ich muss lachen, weil Kira das nicht kapiert, und auch sonst niemand. Außer mir, ich habe gestern nämlich einen Film über Indien gesehen.

»Wieso lachst du so?«, giftet Kira mich an.

»Du bist ein bisschen slow«, antworte ich ganz cool. »Schon mal was von Narendra Modi gehört?«

»Narendra Damodardas Modi«, verbessert mich die Glueck. »Der geht mit den Menschenrechten von Nicht-Hindus auch nicht viel besser um als Putin mit seinen Kritikern.«

Das wusste ich schon. Aber Frau Luxner weiß was Neues. »Putin ist schon fast siebzig. Vielleicht hat er ja Alzheimer.«

Erst mal geht keiner auf Frau Luxner ein; sie schaut wieder wie bestellt und nicht abgeholt. Das kenne ich, ist ein Scheißgefühl. Dann sagt Kira leise zu mir: »In Sachen Alzheimer ist die Luxner wohl Expertin.«

Das war zwar nur geflüstert, aber die alte Frau hat es wohl doch gehört; sie schlägt sich beide Arme um die Schulten, als würde sie sich ganz in ihr Inneres zurückziehen, wo ihr keiner was tun kann.

»Halt deine Kotzklappe, Kira«, zischt Kevin und dreht sich zu Frau Luxner. »Das ist aber eine spannende Idee!«

Da legt sie die Hände wieder in den Schoß, und in ihrem Gesicht geht die Sonne auf.

»Finde ich prinzipiell auch, Frau Luxner«, springt ihm der Professor bei. »Es würde nämlich dazu passen, dass Putin die Bodenhaftung verloren hat, wie Frau Glueck eben treffend bemerkte. Doch wenn man es historisch betrachtet, kann man seit seinem Amtsantritt im Jahr 2000 nahtlos nachvollziehen, dass er einen Eskalationsschritt nach dem anderen geplant und durchgezogen hat. Im Prinzip hätte man es wissen müssen …«

Mir geht das auf den Geist, wenn jemand »im Prinzip« sagt – und dann behauptet, alles hätte schon längst klar sein müssen, aber ›man‹ wäre mal wieder zu doof gewesen. Irgendwer hat das neulich ›rückblickende Rechthaberei‹ genannt. »Sorry, Herr Professor«, halte ich dagegen, »aber am Anfang konnte man das überhaupt nicht ahnen. Im Kolleg haben wir das Protokoll von Putins Rede 2001 im Bundestag durchgenommen. Am 25.September hat Putin damals gesagt: Wichtig ist, zu begreifen, dass Untaten politischen Zielen nicht dienen können, wie gut diese Ziele auch sein mögen. Das haben ihm damals alle Zuhörer geglaubt und waren ganz gerührt.«

Bis auf den Wissmer sehen mich die anderen an, als hätten sie gerade was gelernt. Manchmal macht mir Widersprechen richtig Spaß. Der Professor lacht, aber unlustig. »Stimmt. Und über dem stehenden Applaus hat man dann überhört, als er anfügte, dass Gegenschläge den vollständigen, zielstrebigen und gut koordinierten Kampf gegen den Terrorismus nicht ersetzen können.«

Die Glueck hat mal Psychologie studiert und gibt uns da gerne Nachhilfe. »Die Interpretation von Redetexten hängt immer von den Erwartungen des Auditoriums ab. Das ist ein bisschen so wie im Rorschach-Test. Der Proband bekommt abstrakte Bilder vorgelegt und muss frei assoziieren, was er darin zu sehen meint. Das gibt Aufschluss über sein Unbewusstes und darüber, wonach er sich sehnt oder wovor er sich ängstigt. Im Jahre 2001 wünschte sich die Welt, dass es nie wieder einen Kalten Krieg gibt und nach 9/11 ein Leben ohne Terrorismus. Also hat man Putins Rede als Friedensbekenntnis gedeutet. Psychologisch verständlich, aber, wie Herr Professor Wissmer richtig anmerkte, eine Fehlinterpretation.«

So ähnlich ging es mir damals in der Traumatherapie, da mussten wir diesen Test auch machen. Manche sahen immer Sex, andere immer Gewalt, Hungrige immer Nahrungsmittel. Ich selbst erkannte am Anfang Grillfood, später nur noch Krieg. Die Bilder waren wie Wolkengucken: Was für den einen aussieht wie ein Elefant mit Rüssel, ist für den Nächsten ein Panzer mit Zielfernrohr. Ich drehe mich zu Frau Glueck. »In den Rorschach-Test kann sich jeder etwas reindenken, weil die schwarzen Tintenkleckszeichnungen nie eindeutig sind«, sage ich, und die Glueck sieht mich ganz erstaunt an, als könnte sie sich nicht vorstellen, dass eine Putzfrau so einen komplizierten Test kennt. Ich rede weiter: »Aber als Putin über den Kampf gegen den Terrorismus sprach, war nichts zweideutig. Es ging glasklar um die Attentate von 9/11. Und damit hatte er schließlich recht.«

»Stimmt, Amira, aber nur teilweise«, sagt der Professor. »Putin hat das 9/11-Attentat als Aufhänger benutzt, indem er sagte, natürlich müsse das Böse bestraft werden, da sei er ›mit dem amerikanischen Präsidenten einverstanden‹. Wie wir alle wissen, hat Bush seinen Angriffskrieg gegen den Irak mit der Behauptung begründet, Saddam sei ein Terrorist, der Biowaffen besitze. Für Putin war Terrorismus stets die Rechtfertigung für sämtliche Übergriffe, beispielsweise den Tschetschenienkrieg, der zu diesem Zeitpunkt schon zwei Jahre im Gange war, und zwar unter seiner maßgeblichen Mitwirkung. Nach der Krimannexion hat er zuletzt in Syrien ungestraft das Überschreiten roter Linien geprobt. Terrorismus unterstellt er allen, die sich gegen ein ihm genehmes System oder gegen dessen Machthaber stellen.«

Frau Glueck hält ihre Hagebuttenteetasse hoch, als wären die Worte vom Professor was zum Feiern. »Sie sagen es! Und dasselbe tut er nun in der Ukraine, indem er deren Regierung drogenabhängige Naziterroristen nennt.«

»Ganz genau!«, sagt der Professor. »Die Tatsache, dass er sich dieses Mal zu verrechnen scheint, bedeutet keinesfalls, dass er nicht eiskalt kalkuliert hat – und das noch immer tut.«

Mit dem rechten Zeigefinger, an dem er einen klotzigen Ring trägt, deutet Kevin auf den Professor. »Was denn nun? Sie widersprechen sich selbst. Schließlich haben Sie vorhin behauptet, Strategie würde bei Politikern überschätzt.«

»Ich weiß, was ich gesagt habe«, bellt der Wissmer zurück. »Und das bleibt richtig. Aber gerade Menschen, die langfristig einer starren Strategie folgen, werden oft unberechenbar, wenn sie von Unvorhergesehenem überrascht werden. Sie reagieren mit fehlender oder gar fehlerhafter Wahrnehmung, sobald etwas nicht in ihr Weltbild passt. Und dann werden sie noch gefährlicher, weil man sie nicht mehr einschätzen kann.«

Diese schlauen Menschen haben viel studiert und wenig erlebt, keinen Krieg und keinen Diktator. »Und die Welt schaut wieder mal tatenlos zu«, höre ich mich schimpfen. »Man lässt den Despoten ungestraft wüten, so lange, bis er sich so sicher ist, dass er jede Rücksicht aufgibt und nur noch reinhaut – während wir hier rumspekulieren, was er damit wollen könnte.«

Nun schauen sie mich betroffen an. Ich habe nie von Aleppo erzählt, und jetzt, nachdem mein früheres Heimatland gegen die UNO-Resolution gestimmt hat, werde ich das erst recht nicht tun. Also sage ich nur: »Das ist auch Psychologie!«

»Richtig, Amira!«, stimmt der Professor zu. »Jeder Historiker lernt im ersten Semester, dass die Menschheit noch nie aus der Geschichte gelernt hat, und die Psychologie spricht dagegen, dass sich das ändert.«

Jetzt ist nix mehr mit Wimpern klimpern bei Frau Glueck. Sie sagt schnippisch: »Herr Professor, Sie sind ein zynischer Misanthrop! Das haben Sie übrigens mit Putin gemeinsam.«

Der Wissmer öffnet den Mund, aber Frau Luxner ist schneller. »Der Putin ist übrigens Judoka. Und ich hatte auch mal einen schwarzen Gürtel.«

Die Tür geht auf, Frau Doktor kommt rein. Das ist wie im Konzert, wenn der Star auf die Bühne tritt. Sie ist viel hübscher ohne den schlabbrigen Kasack und die weißen Gesundheitssandalen, die sie zur Arbeit trägt. Wenn man sie von hinten sieht, denkt man, sie wäre ein Teenie – von vorne dann dreißig Jahre älter, aber man sieht nicht, dass es fast vierzig sind.

Sie begrüßt uns, und das Wartezimmer wird wärmer. Sonst fragt sie immer, wie wir mit der Ernährung zurechtkommen und ob jemand aus der Gruppe etwas berichten möchte. Niemand muss sein Gewicht sagen, die Chefin hat mir mal erklärt, dass man Menschen, die abnehmen wollen, nicht unter Druck setzen darf, sondern in ihrer Motivation bestärken soll.

Wenn Frau Doktor dabei ist, sind alle immer ganz lieb. Irgendwann hat sie zu mir gesagt: »Ich wünschte mir, mal Mäuschen zu spielen und zu hören, wie die Gruppe miteinander umgeht, wenn ich nicht anwesend bin.« Ich greife mir unauffällig in die Hosentasche und schalte das Mikro vom Handy ab. Kann sie haben, die Chefin. Wenn Frau Doktor sich was wünscht, ist das für mich Befehl. Ich putze nämlich nicht nur ihre Praxis, ich bin auch ein Fan von ihr.

Putins Rede im Deutschen Bundestag 25.09.2001 (Auszüge)

… Die Berliner Mauer existiert nicht mehr … Ich bin mir sicher, dass großartige Veränderungen in Europa, in der ehemaligen Sowjetunion und in der Welt ohne bestimmte Voraussetzungen nicht möglich gewesen wären. Ich denke dabei an die Ereignisse, die in Russland vor zehn Jahren stattgefunden haben.

Diese Ereignisse sind wichtig, um zu begreifen, was bei uns vor sich gegangen ist und was man von Russland in der Zukunft erwarten kann. Die Antwort ist eigentlich einfach: Unter der Wirkung der Entwicklungsgesetze der Informationsgesellschaft konnte die totalitäre stalinistische Ideologie den Ideen der Demokratie und der Freiheit nicht mehr gerecht werden. Der Geist dieser Ideen ergriff die überwiegende Mehrheit der russischen Bürger. Gerade die politische Entscheidung des russischen Volkes ermöglichte es der ehemaligen Führung der UdSSR, diejenigen Beschlüsse zu fassen, die letzten Endes zum Abriss der Berliner Mauer geführt haben. Gerade diese Entscheidung erweiterte mehrfach die Grenzen des europäischen Humanismus, sodass wir behaupten können, dass niemand Russland jemals wieder in die Vergangenheit zurückführen kann.

(Beifall)

Was die europäische Integration betrifft, so unterstützen wir nicht einfach nur diese Prozesse, sondern sehen sie mit Hoffnung. Wir tun das als ein Volk, das gute Lehren aus dem Kalten Krieg und aus der verderblichen Okkupationsideologie gezogen hat … Ich bin der festen Meinung: In der heutigen sich schnell ändernden Welt, in der wahrhaft dramatische Wandlungen in Bezug auf die Demographie und ein ungewöhnlich großes Wirtschaftswachstum in einigen Weltregionen zu beobachten sind, ist auch Europa unmittelbar an der Weiterentwicklung des Verhältnisses zu Russland interessiert.

(Beifall)

… Russland ist ein freundlich gesinntes europäisches Land. Für unser Land, das ein Jahrhundert der Kriegskatastrophen durchgemacht hat, ist der stabile Frieden auf dem Kontinent das Hauptziel …

Der Kalte Krieg ist vorbei …

https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/putin/putin_wort-244966

18.März

Morbus M.

Ich sehne mich in ein Trappistenkloster – keine Menschen mehr sehen und hören! Diagnose: akute Misanthropie, Morbus M., der mich früher selten befiel. Doch derzeit steigt dessen Häufigkeit wie die Coronainzidenz der vierten Welle; Resilienz und Geduld werden langsam knapp. Die einst unerschütterliche Überzeugung, Hausärztin sei mein Traumjob, gerät manchmal ins Wanken wie ein besoffener Seemann auf Landgang. Coronapandemie, Klimakrise und der Ukraine-Krieg haben einen schmerzhaften Prozess der Desillusionierung in Gang gesetzt und mein Menschenbild mancher Ideale beraubt.

Viele Patienten sind dankbar, aber einige meinen, Gesundheit stehe ihnen zu, auch wenn sie ihre eigene mit Füßen treten. Manche betrachten Ärzte als Reparaturdienstleister, ähnlich Automechanikern – nur mit dem Unterschied, dass man für die Wartung seines Wagens klaglos in die Tasche greift. Hingegen obliegt die Kostenübernahme für die Instandhaltung des Körpers ganz selbstverständlich der Krankenkasse.

Vielleicht hatte der ehemalige Lover nicht so unrecht, wie ich damals dachte, als er mir vorhielt, mein berufliches Engagement sei energieökonomisch nicht verhältnismäßig