Putins Russland - Angela Stent - E-Book

Putins Russland E-Book

Angela Stent

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Beschreibung

Wladimir Putin lässt Kritiker ermorden, er erobert erst die Krim und facht mitten in Europa einen Krieg an. Russland ist unter diesem Präsidenten zu einer Gefahr für den Rest der Welt geworden und zu einem Schurkenstaat. Mit seinem Angriff auf die Ukraine fordert Putin den Westen heraus - und gleichzeitig gibt es im Land weit und breit niemanden, der ihm politisch gefährlich werden könnte. Die amerikanische Politologin Angela Stent fragt, warum sich die Erwartung des Westens nicht erfüllt und Russland sich seit dem Untergang der Sowjetunion nicht zu einer liberalen marktwirtschaftlichen Demokratie entwickelt hat. Und wie stattdessen ein KGB-Agent mittleren Rangs so mächtig werden konnte, so einflussreich und populär, dass sein autokratisches System inzwischen als bedrohliches Gegenmodell zur westlichen Demokratie wahrgenommen wird. Die Autorin beschäftigt sich als Wissenschaftlerin und Politikberaterin seit Jahrzehnten mit Russland und seinen Außenbeziehungen. Sie beschreibt in diesem Buch, wie Putin sein Land geprägt und verändert hat und wie sich unter ihm Russlands Beziehungen zum Westen, zu den USA, aber auch besonders zu Deutschland dramatisch verschlechtert haben. Auf dem Höhepunkt der von Putin ausgelösten Krisen wagt Stent gleichzeitig den Blick in die Zukunft: auf ein Russland ohne Wladimir Putin.

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Seitenzahl: 729

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Angela Stent

Putins Russland

Aus dem Englischen von Ursula Pesch, Andreas Thomsen, Karsten Petersen und Thomas Pfeiffer

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Ein Blick in die Zukunft: auf ein Russland ohne Putin.

Wladimir Putin erobert die Krim, er treibt in Syrien den Westen vor sich her und hat laut CIA mitgeholfen, Donald Trump an die Macht zu bringen: Russland ist unter Putin außenpolitisch wieder zu einem Machtfaktor geworden. Und im Land selbst gibt es weit und breit niemanden, der ihm politisch gefährlich werden könnte.

Die Politologin Angela Stent fragt, warum sich die Erwartung des Westens nicht erfüllt und Russland sich seit dem Untergang der Sowjetunion nicht zu einer liberalen marktwirtschaftlichen Demokratie entwickelt hat. Und wie stattdessen ein KGB-Agent mittleren Rangs so mächtig werden konnte, so einflussreich und populär, dass sein autokratisches System inzwischen als bedrohliches Gegenmodell zur westlichen Demokratie wahrgenommen wird.

Stent beschreibt in diesem Buch, wie Putin sein Land geprägt hat und wie sich unter ihm Russlands Beziehungen zum Westen, zu den USA unter Donald Trump und besonders zu Deutschland verändert haben. Auf dem Höhepunkt von Putins Macht wagt Stent gleichzeitig den Blick in die Zukunft: auf ein Russland ohne Wladimir Putin.

 

Über Angela Stent

Angela Stent, geboren 1947, ist die Direktorin des Center for Eurasian, Russian and East European Studies und Professor of Government and Foreign Service an der Georgetown University. Im Herbst 2008 war sie Fulbright Scholar am Moscow State Institute of International Relations und Berlin Prize Fellow an der American Academy in Berlin. Von 2004 bis 2006 diente sie als National Intelligence Officer for Russia and Eurasia beim National Intelligence Council. 2000 erschien ihr Buch «Rivalen des Jahrhunderts. Deutschland und Russland im neuen Europa».

Für Danny, Alex, Rebecca und Jessica

Einleitung

Im Juli 2018 zeigte Russland der Welt als Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft sein freundlichstes Gesicht. Bei der lebhaften Eröffnungsfeier waren Bären, Drachen und malerische Zwiebeltürme zu bewundern. Im ersten Spiel gewann das russische Team, das man für eines der schwächsten gehalten hatte, gegen Saudi-Arabien und blieb immerhin bis zum Viertelfinale im Turnier, bevor es sich gegen Kroatien geschlagen geben musste. Aber selbst diese Niederlage konnte die überall vorherrschende – und unerwartet – gute Stimmung nicht beeinträchtigen. Einen Monat lang war Russland ein begeisterter und sportlicher Gastgeber für Fußballfans aus aller Welt. In den Städten feierten die Russen und ihre Gäste ausgelassen bis in die frühen Morgenstunden, von Kaliningrad im Westen bis hinüber nach Jekaterinburg im zweieinhalbtausend Kilometer entfernten Sibirien. Selbst die sonst eher grimmig dreinschauenden russischen Polizisten setzten für die Feiernden ein freundliches Lächeln auf. Der russische Präsident Wladimir Putin drückte es so aus: «Die Menschen haben gesehen, dass Russland ein gastfreundliches Land ist, das alle, die herkommen, willkommen heißt.» Und weiter: «Ich bin sicher, dass fast alle Menschen, die als Gäste zu uns gekommen sind, gut gelaunt und voller schöner Erinnerungen an unser Land heimkehren und noch oft wiederkommen werden.»[1]

Die WM stellte für Präsident Putin einen großen Erfolg dar. Bevor die Spiele begannen, waren kritische Fragen laut geworden – so zum Beispiel, ob Russland die Sportanlagen rechtzeitig fertigstellen könne, ob es bei den Ausschreibungen für die Bauarbeiten zu Korruption gekommen sei und wie Russland seine internationalen Besucher empfangen werde. Außerdem fand die Weltmeisterschaft in einer politisch aufgeladenen Atmosphäre statt; die russischen Beziehungen zum Westen waren noch nie so schlecht gewesen, seit sich 1992 das postkommunistische Russland gebildet hatte. Die ohnehin schon belasteten Beziehungen zwischen Putins Russland und dem Westen hatten sich durch Russlands Besetzung der Krim, den Krieg im Südosten der Ukraine, Russlands Cyber-Einmischungen in Wahlkämpfe in den USA und Europa, seine Unterstützung für Baschar al-Assad in dem grausamen Bürgerkrieg in Syrien sowie das scharfe Vorgehen gegen Regimegegner im eigenen Land – und die entsprechenden Reaktionen aus den USA und der EU – noch weiter verschlechtert.

Nach der Weltmeisterschaft reisten die ausländischen Fans mit positiven Eindrücken von ihren Gastgebern wieder nach Hause. Viele waren mit Vorurteilen über unfreundliche, in einem rückständigen Land lebende Russen angereist, berichteten dann aber, erstaunt festgestellt zu haben, wie «normal» Russland und seine Menschen ihnen erschienen waren. Das größte Fan-Kontingent war aus den Vereinigten Staaten angereist, obwohl dessen Team sich nicht für die Teilnahme qualifiziert hatte. Westliche Journalisten betonten, dass man zwischen der russischen Regierung (die sie kritisierten) und dem russischen Volk (das gastfreundlich sei) unterscheiden müsse. Die Russen waren daran gewöhnt, dass ihre staatlich kontrollierten Medien die Menschen aus dem Westen ständig diffamierten, doch eine nach der Weltmeisterschaft durchgeführte Umfrage zeigte, dass sich die Ansichten der russischen Bevölkerung über US-Amerikaner und Westeuropäer deutlich aufgehellt hatten.[2] Die Spiele hinterließen schöne Erinnerungen und positive Gefühle, obwohl den Russen durchaus klar war, dass sie die Nächte nicht mehr würden durchfeiern können, wenn die Ausländer erst einmal wieder abgereist waren. Die russische Mannschaft mochte zwar verloren haben, aber für Wladimir Putin war die WM eindeutig ein Sieg.

 

Die Fußball-Weltmeisterschaft stellte einen Höhepunkt des Projekts dar, an dem Putin seit fast zwei Jahrzehnten gearbeitet hatte: die Rückkehr Russlands auf die globale Bühne als eine Großmacht, die respektiert, gefürchtet und auch – wie die Weltmeisterschaften gezeigt hatten – gemocht und sogar bewundert wird. Russlands wiedergefundene Rolle als ein wichtiger Akteur, der weit über seine unmittelbare Nachbarschaft hinaus Macht geltend machen kann, war unerwartet und durchaus bemerkenswert, wenn man seine begrenzten wirtschaftlichen Ressourcen bedenkt: ein kleineres Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Italien, Bevölkerungsrückgang, eine verfallende Infrastruktur und die negativen Auswirkungen mehrerer Wellen westlicher Sanktionen als Reaktion auf Russlands Vorgehen. Einige Jahre zuvor hatte Präsident Obama Russland als «Regionalmacht» bezeichnet.[3] Aber Putin bewies das Gegenteil – Russlands Einflusssphäre ist heute eindeutig global.

Dies ist die neue russische Realität, wie sie sich entwickelt hat, seit Putin im Jahr 2000 in den Kreml einzog. Damals kam Russland nach einem Jahrzehnt des politischen Chaos und wirtschaftlichen Niedergangs allmählich wieder auf die Beine. Damals waren manche Beobachter sogar so weit gegangen, zu sagen: «Russland ist erledigt.»[4] Als der kranke Boris Jelzin die Zügel der Macht an einen weitgehend unbekannten ehemaligen KGB-Führungsoffizier übergab, war noch nicht abzusehen, wie das junge postkommunistische Russland sich entwickeln würde. Rückblickend wird jedoch klar, dass Putin von Anfang an entschlossen war, nicht nur eine resolute Kontrolle des Staates über die russische Gesellschaft wiederherzustellen, sondern auch Russland erneut als Großmacht zu etablieren. Bemerkenswerterweise ist es ihm gelungen, beide Ziele zu erreichen, Russlands wirtschaftlichen und militärischen Einschränkungen zum Trotz.

Es ist wichtig zu verstehen, wie und warum Russland auf das internationale Parkett zurückkehren konnte. Inzwischen ist es wieder in Bereichen aktiv, aus denen es sich zurückgezogen hatte, nachdem die UdSSR zerfallen war, und sein neuerliches Erscheinen auf der globalen Bühne hat sich auf die Möglichkeiten der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten ausgewirkt, ihre eigene Außenpolitik wirkungsvoll umzusetzen. Diese neue Realität macht es notwendig, den zukünftigen Umgang mit Russland zu überdenken.

 

In Putins Welt sind die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und vielen Ländern Europas konfrontativ. Und in dieser Welt baut Russland seine Partnerschaft zu China aus, spielt eine immer einflussreichere Rolle im Nahen Osten und ist in Regionen der Welt zurückgekehrt, aus denen es sich nach dem Niedergang der Sowjetunion hatte zurückziehen müssen. Darüber hinaus haben Sitz und Vetorecht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Moskau in die Lage versetzt, einen weltpolitischen Einfluss geltend zu machen, der weit über das hinausreicht, was seine aktuellen Möglichkeiten würden vermuten lassen. Russlands Fähigkeit, die Interessen des Westens zu durchkreuzen, haben es auch in die Lage versetzt, seine eigenen Interessen international voranzutreiben. Die Versuche des Westens, Russland nach der Annexion der Krim zu isolieren, sind fehlgeschlagen. Außerdem haben die zunehmende Unordnung im transatlantischen Bündnis seit dem Amtsantritt von Donald Trump, der Brexit sowie die neuen Herausforderungen, die sich der EU stellen, Putin unerwartete Gelegenheiten geboten, die Interessen Russlands voranzutreiben – und diese Möglichkeiten hat er geschickt genutzt.

Dieses Buch zeigt, wie es Russland unter Putin gelungen ist, als Global Player zurückzukehren, und was diese neue Rolle bedeutet. Es wird untersucht, warum Moskaus Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und vielen – wenn auch nicht allen – europäischen Ländern sich verschlechtert haben, warum so viele andere Länder ein positives Bild von Russland haben und warum sie auf verschiedenen Ebenen produktiv mit Moskau zusammenarbeiten. Und es werden die Ursprünge und die Entwicklung des russischen Nationalbewusstseins nachgezeichnet, das sich in den knapp zwei Jahrzehnten seit Putins Machtübernahme konsolidiert hat und heute die russische Politik antreibt. Es wird gezeigt, wie wichtig es ist zu verstehen, wie und warum Russland wiederauferstanden ist und welche Strategie gegenüber Moskau in dieser neuen und turbulenten globalen Realität am ehesten Erfolg verspricht.

 

Häufig werden die Russen für talentierte Schachspieler mit einer übergeordneten Strategie gehalten, aber Putins Sport ist Judo – und das hat ihm eine besondere Perspektive vermittelt, um sich gegen Konkurrenten und Gegner behaupten zu können. Als er in der Nachkriegszeit in ärmlichen Verhältnissen in Leningrad aufwuchs, veränderte der Kampfsport sein Leben und bot ihm die Möglichkeit, sich gegen größere und brutalere Jungen zu behaupten. «Es war ein Mittel, um mich in der Gruppe durchzusetzen.» Im Mai 1976 stellte das Leningrader Abendblatt den 24-jährigen Meister-«Judoka» der Stadt als jemanden vor, der «bis jetzt unter Spezialisten oder Fans noch nicht sonderlich bekannt ist», was sich aber «bald ändern wird».[5] Beim Judo kann ein vermeintlich schwächerer Kämpfer auf seine innere Stärke und Willenskraft bauen, um einen größeren und aggressiveren Gegner zu besiegen. Eine grundlegende Technik ist dabei, den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen und sich dann seine momentane Unsicherheit zunutze zu machen, um einen entscheidenden Griff anzusetzen. Putin hat sich als sehr geschickt darin erwiesen, Chancen zu nutzen, die sich ihm durch die Unordnung im Westen und die Unentschlossenheit mancher westlicher Politiker präsentieren.

Putins Welt wurde durch den Verschleiß des transatlantischen Bündnisses befördert. Die anfängliche Euphorie über den Kollaps des Kommunismus und das Ende des Kalten Kriegs hat der nüchternen Erkenntnis Platz gemacht, dass die Konsolidierung eines «ganzen und freien» Europas, das Mantra der 1990er Jahre, kaum vorankommt. Rückschläge der demokratischen Verfasstheit in Zentraleuropa, Russlands erneute Herausforderung seiner Nachbarn, das anhaltende «postsowjetische Syndrom» in allen ehemaligen Sowjetstaaten und große Wellen von Migranten, die an Europas Küsten anlanden, haben zum Aufstieg populistischer Strömungen und wachsenden Zweifeln am europäischen Projekt – einer EU, die dafür sorgt, dass europäische Konflikte fortan vermieden werden – geführt, das nach dem Krieg ein so großer Erfolg war. Der Wahlsieg Donald Trumps, sein «America-First»-Mantra und die damit einhergehenden wirtschaftlichen und politischen Zielsetzungen haben den Bestand des 70 Jahre alten NATO-Bündnisses und des US-Engagements für die Sicherheit Europas in Frage gestellt. Diese Entwicklungen haben einem russischen Regierungschef in die Hände gespielt, der – wie die meisten seiner Vorgänger – versucht hat, sich die transatlantischen Spannungen zunutze zu machen, und es lieber mit einem gespaltenen Westen zu tun hat.

 

Putins Welt ist aber auch ein Ergebnis planvoller russischer Politik. Seit dem Georgienkrieg 2008 hat Russland sich darauf konzentriert, sein Militär auszubauen und diverse Mittel einzusetzen, um seine Macht auszudehnen. Zudem hat es sich Schwächen der offenen westlichen Gesellschaften zunutze gemacht und Gelegenheiten genutzt, die sich durch die zunehmende Verbreitung der sozialen Medien boten. Auf Russlands Einmischung in westliche Wahlen, seine Unterstützung für EU-feindliche und separatistische Bewegungen in Europa und diverse Gruppen auf beiden Seiten des politischen Grabens in den USA war der Westen nicht vorbereitet. Und bislang hat er auch keine angemessene Reaktion auf den Einsatz dieser «hybriden» Taktiken in einem Informationskrieg gezeigt, dessen Ende nicht abzusehen ist.

 

Beim Betrachten der Entstehung von Putins Welt nimmt dieses Buch die Schwerpunkte der russischen Außenpolitik in den Blick: die USA, Europa, die postsowjetischen Staaten, China, den Nahen Osten sowie Japan. Russland wendet sich auch wieder Lateinamerika und Afrika zu, die jedoch bis jetzt für den Kreml von untergeordneter Bedeutung waren.

 

Die russische Außenpolitik wird – wie in jedem anderen Land auch – vor allem von innenpolitischen Aspekten bestimmt. Für die jetzigen Machthaber im Kreml und ihr näheres Umfeld muss die Außenpolitik ihrem vorrangigen Ziel dienen, an der Macht zu bleiben. Während Putin seine laut Verfassung letzte Amtszeit antritt, inmitten zunehmender Spekulationen über denkbare Nachfolger ab 2024, könnte die russische Außenpolitik eine Schlüsselrolle spielen, entweder bei der Konsolidierung des von ihm geschaffenen Systems oder in einem potenziellen Machtkampf zwischen den verschiedenen Gruppen, die nach vorn drängen.

Wie sollte der Westen auf das neue Russland reagieren, das in mancherlei Hinsicht immer noch der Sowjetunion ähnelt? Im Jahr 1961 veröffentlichte George F. Kennan – der begabteste und kenntnisreichste US-amerikanische Historiker, Diplomat und Russlandkenner des 20. Jahrhunderts – sein Buch Sowjetische Außenpolitik unter Lenin und Stalin. Im Rahmen seiner Betrachtungen über das schwierige Erbe der Zeit zwischen den Weltkriegen hielt er dem Westen vor, die Motive der Außenpolitik des Kremls und der militanten und universalistischen Sowjetideologie, welche die Sicherheit des Westens bedrohe, nicht verstanden zu haben. Er kam zu dem Schluss, dass «wir unsere Beziehungen zur Sowjetunion, wenn wir sie richtig einschätzen wollen, nicht an irgendeinem Zustand absoluter Interessenharmonie messen dürfen, den es gar nicht gibt, sondern sie im normalen Rahmen von Widerspenstigkeit, purer Dickköpfigkeit und Unvernunft sehen müssen, denen wir überall im Verhalten der Staaten begegnen und die auch unser Staat, davon bin ich überzeugt, zuweilen an den Tag legt.»[6]

Heute lässt sich sagen, dass der Westen die Mentalität der Machthaber im Kreml, die entschlossen waren, Russland wieder auf den Rang in der Weltordnung zu befördern, der ihm ihrer Meinung nach zusteht, nur ganz allmählich verstanden hat. Viele Russen führen die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen im Russland der 1990er Jahre weitgehend auf eine fehlgeleitete westliche Agenda zurück, die darauf abzielte, das postkommunistische Russland umzugestalten. Die damals im Westen vorherrschende Annahme – dass nämlich das postkommunistische Russland ganz erpicht darauf sei, sich dem Westen anzuschließen – stellte sich als abwegig heraus; Putins Russland strebt ein anderes Modell an. Im Unterschied zur Sowjetära befördert der Kreml keine universalistische Ideologie mehr, die darauf abzielen würde, andere Staaten zur eigenen Gesellschaftsordnung zu bekehren. Vielmehr hat Putin das Konzept eines russischen Exzeptionalismus kultiviert, die Vorstellung einer schicksalhaften Bestimmung Russlands im eurasischen Raum; von einem Land, das von Europa bis nach Asien ausgreift, als Zentrum einer neuen, multipolaren Weltordnung, in der Moskau Beziehungen zu Regierungen jeglicher politischen Couleur unterhält.

Russland und der Westen sehen sich als Konkurrenten, als Gegner und als gelegentliche Partner. Nach dem Kalten Krieg ist es ihnen bis jetzt nicht gelungen, einen dauerhaften Modus Vivendi zu finden. Der Westen ist nach wie vor hin- und hergerissen zwischen dem hoffnungsvollen Versuch, Russlands Verhalten durch Kooperation moderieren zu können, auf der einen und einer Politik der Eindämmung auf der anderen Seite. Bis jetzt hat keine dieser Strategien funktioniert. Dies ist die besondere Herausforderung, vor die Putins Welt die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten stellt.

So weit es den Rest der Welt betrifft, ist Russland ein großer autoritärer Staat mit einem Regierungschef, mit dem man sich arrangieren kann. Andere Länder mögen vielleicht ein gewisses Misstrauen gegen die Methoden hegen, die Moskau einsetzt, um seine Ziele zu erreichen, aber die russische Innenpolitik interessiert sie nicht. Sie akzeptieren, dass Russland eine Einflusssphäre in seiner Nachbarschaft anstrebt, und geben sich damit zufrieden, mit Moskau zu kooperieren, ohne seine Ambitionen eindämmen zu wollen.

Im ersten Kapitel dieses Buches werden die historischen Entwicklungen betrachtet, die das russische Selbstverständnis und die Sicht der eigenen Rolle in der Welt geprägt haben. Kapitel 2 zeigt, dass Putins Russland sich zunehmend auf eine neue Deutung seiner Geschichte konzentriert hat, um zu rechtfertigen, wie und warum Russland auf die Weltbühne zurückgekehrt ist und erneut den ihm aus seiner Sicht zustehenden Rang als Großmacht in Anspruch nimmt, und warum es sich gegen Versuche des Westens wehrt, dieses Selbstverständnis zu untergraben.

In Kapitel 3 geht es um Russlands Beziehungen zu anderen Mächten, allen voran seine lange und ambivalente Beziehung zu Europa, dem es nach wie vor sowohl politisch als auch wirtschaftlich eng verbunden ist. Gleichwohl wurden diese Beziehungen seit dem Ausbruch der Ukrainekrise immer stärker belastet. Europa ist zutiefst gespalten über den Umgang mit Russland, und Moskau hat sein Bestes getan, aus dieser Uneinigkeit Vorteile zu ziehen. Kapitel 4 zeigt, dass diese Spannungen nirgendwo deutlicher zutage treten als in dem Verhältnis zwischen Russland und Deutschland, einer langen und vielschichtigen Beziehung, die immer wieder zwischen Freundschaft und Feindschaft pendelte. Durch den Ausbruch der Ukrainekrise und den Wahlsieg Donald Trumps sah Deutschland sich veranlasst, seine Politik sowohl gegenüber Russland als auch den Vereinigten Staaten zu überdenken. Zum ersten Mal in seiner Geschichte fällt es Deutschland schwer, eine «Amerika-Strategie» – die es vorher noch nie gebraucht hatte – zu entwickeln, während es zugleich seine Beziehungen zu Russland neu konfiguriert. In Kapitel 5 wird gezeigt, dass Russlands Beziehungen zu Europa und zum transatlantischen Bündnis von Putins unbeirrbarer Sicht der NATO als «Hauptfeind» geprägt werden. In den 1990er Jahren versuchten der Westen und Russland, eine euro-atlantische Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Russlands zu entwickeln, was jedoch nicht gelang. Das führte zu wachsenden Ungewissheiten über Russlands Beziehungen zur NATO und in jüngerer Vergangenheit zu einem neuerlichen Ausbau des Militärs in Europa als Antwort auf russische Aktionen.

In Kapitel 6 geht es um das komplexe Geflecht der russischen Beziehungen zu den ehemaligen Sowjetrepubliken. Der Kreml betrachtet diese Nationen nicht als eindeutig ausländische Staaten, sondern vielmehr als Bestandteile seines «Nahen Auslands», die aus Russlands Sicht nur eingeschränkte Souveränität haben sollten. In Kapitel 7 werden Russlands angespannte Beziehungen zur Ukraine untersucht. Der Krieg im Donbass, der Region im Südosten der Ukraine, verdeutlicht die konträren Auffassungen über Geschichte, Identität und territoriale Ansprüche zwischen Russland und der Ukraine und bildet das Schlachtfeld für einen neuartigen Konflikt, die hybride Kriegsführung.

Russlands immer engere Beziehungen zu China stellen eine große Erfolgsgeschichte der Ära Putin dar und sind in Anbetracht der lange von Feindschaft geprägten Geschichte zwischen den beiden Ländern höchst bemerkenswert. In Kapitel 8 wird der Wandel einer Beziehung betrachtet, die kein Bündnis ist, sondern vielmehr eine immer stabilere Zweckpartnerschaft, die es Russland ermöglicht hat, der Isolation zu entgehen, in die der Westen es nach 2014 treiben wollte. Im Jahr 2018 haben chinesische Truppen sogar an der größten russischen Militärübung seit 1981 teilgenommen. Dagegen sind Russlands Beziehungen zu Japan, seinem anderen großen Nachbarn im Fernen Osten, nach wie vor belastet, weil die beiden Länder es nicht schaffen, ihren Disput über Gebietsansprüche auf vier unwirtliche Inseln beizulegen, der auf die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zurückgeht. Das Buch untersucht, warum es so schwierig war, die Beziehungen weiterzuentwickeln.

In Kapitel 10 wird Russlands Präsenz im Nahen Osten thematisiert, die andere außenpolitische Erfolgsgeschichte der Ära Putin. Russland ist als die einzige Großmacht in den Nahen Osten zurückgekehrt, die mit allen Protagonisten und Antagonisten in allen größeren regionalen Konflikten reden kann – mit dem Iran, den sunnitischen Staaten, mit den Israelis, Palästinensern und Kurden.

In den beiden abschließenden Kapiteln 11 und 12 geht es um das große Dilemma der immer konfliktträchtigeren Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland, die sich immer mehr zu einem neuen Kalten Krieg entwickeln, der, so die Befürchtung mancher Beobachter, zu einem heißen Krieg werden könnte. Warum ist es so schwierig gewesen, einen dauerhaften Rahmen für produktive Beziehungen zwischen den beiden Ländern aufzubauen? Unrealistische Erwartungen auf beiden Seiten und unterschiedliche Auffassungen über die Triebkräfte der internationalen Politik haben zu einer Abwärtsspirale geführt. Darüber hinaus ist «Russland» in den Vereinigten Staaten nach den Präsidentschaftswahlen von 2016 zu einem toxischen Thema geworden.

Was wird die Zukunft für Putins Russland bringen? Im letzten Kapitel dieses Buches werden Putins sieben Grundpfeiler für die Restaurierung Russlands als Großmacht beschrieben und die innenpolitischen Einschränkungen, die Russlands künftige Entwicklung bestimmen werden. Der Westen wird in seiner Reaktion auf Putins Welt eine Kombination aus Realismus, Standhaftigkeit und strategischer Geduld brauchen.

1Das Gewicht der Vergangenheit

Immer wieder wurde versucht, die Russen ihrer historischen Erinnerungen zu berauben, selbst ihrer Sprache, und sie einer erzwungenen Assimilierung zu unterwerfen … Kurzum, wir haben viele gute Gründe für die Annahme, dass die infame Eindämmungspolitik des 18., 19. und 20. Jahrhunderts heute fortgesetzt wird. [Die westlichen Länder] versuchen ständig, uns in eine Ecke zu drängen, weil wir eine unabhängige Position haben, weil wir daran festhalten und weil wir die Dinge beim Namen nennen, ohne zu heucheln.

Ansprache Wladimir Putins zur Annexion der Krim am 18. März 2014[7]

 

Wir müssen darauf hinarbeiten, autark zu werden, zumal Russland eines der wenigen Länder ist, denen Gott, die Natur, ihre Vorfahren und die Geschichte diese Autarkie garantiert haben.

Außenminister Sergej Lawrow bei einer Rede vor einem Jugendforum am 24. August 2015[8]

Am 7. Februar 2014 trat ein strahlend selbstbewusster Wladimir Putin auf die Bühne und begrüßte viele tausend Sportler und Zuschauer zur Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Sotschi. Nach einer schwierigen und umstrittenen Bewerbung hatte Russland die Spiele für diesen malerischen Badeort mit seinem subtropischen Klima am Schwarzen Meer gewonnen. Es waren zahlreiche Gerüchte im Umlauf, wie Russland sich die Spiele gesichert habe und was sie kosten würden oder über Baumängel an den Sportanlagen und neu errichteten Hotels. Nach einem Terroranschlag auf einen Bahnhof und der Androhung weiterer Attacken waren die Sicherheitsvorkehrungen äußerst streng. Fast alle westlichen Staatsgäste hatten wegen Menschenrechtsverletzungen und Repressionen der Regierung gegen politische Dissidenten ihren Besuch abgesagt, doch aus China und Japan waren hochrangige Gäste anwesend. Chef der US-Delegation war eine ehemalige Bundesministerin, die inzwischen zur Leiterin der University of California berufen worden war. Die Sportler waren an diesem ersten Abend trotz aller Misstöne voller Begeisterung, und die Fernsehzuschauer in aller Welt warteten gespannt auf die Eröffnungsfeier, die Russland die Gelegenheit bieten würde, seine einzigartige Geschichte zu präsentieren – und dem Kreml eine Bühne, um seine Sicht der Welt zu propagieren.

 

Die aufwendig produzierte Eröffnungsfeier war ein fesselnder Parforceritt durch Russlands Geschichte, bemerkenswert nicht nur in dem, was gezeigt, sondern auch dem, was weggelassen wurde. Die Erzählerin, ein junges Mädchen namens Liuba, schwebte durch Raum und Zeit und präsentierte die Höhepunkte der Vergangenheit Russlands anhand der Buchstaben des Alphabets. Jeder Buchstabe stand für eine große Figur der tausendjährigen Geschichte Russlands, denen sie auf ihrer Reise begegnete: Zar Peter der Große, der die Hauptstadt Sankt Petersburg auf einem Sumpfgebiet errichten ließ; Katharina die Große, die deutsche Prinzessin, unter deren Herrschaft Russland seine Grenzen erheblich ausweitete; der Komponist Peter Tschaikowski; der Dichter Alexander Puschkin; der in Frankreich lebende Künstler Marc Chagall, der Geiger auf den Dächern seiner Heimatstadt Witebsk zu malen liebte; der Filmregisseur Sergej Eisenstein; Leo Tolstoi und Fjodor Dostojewski, Titanen der Literatur; und schließlich der Kosmonaut Juri Gagarin. Russlands enorme Weiten, seine wunderschönen verschneiten Landschaften, seine arbeitsame Landbevölkerung und malerischen Dörfer wurden gezeigt, untermalt mit Musik der großen russischen Komponisten. Die Revolution der Bolschewiki und die Jungpioniere der Sowjetunion mit ihren unverkennbaren roten Schals und ihrem Motto «Allzeit bereit» hatten einen Auftritt. Es gab Sowjet-Nostalgie zu sehen in Form der großen Triumphe im Weltraum und der etwas seltsam anmutenden Hipster der 1960er Jahre. Bemerkenswert war aber auch, was weggelassen wurde: Die Gorbatschow-Ära mit ihrer Perestroika («Umgestaltung») und der bald darauf folgende Niedergang der Sowjetunion fehlten ganz, ebenso wie die schwierigen 1990er Jahre unter Boris Jelzin. Die Eröffnungsfeier für die Olympischen Winterspiele in Sotschi waren extravagant, ein Loblied auf die russische Geschichte mit all ihren Triumphen und Tragödien. Hier konnte sich Russland von seiner grandiosen, seiner besten Seite zeigen, als Land, das alle Schwierigkeiten meistert und sich immer auf seine reichen Naturschätze und abgehärteten Menschen verlassen kann, die ohne Hilfe von außen sämtliche Widrigkeiten durchstehen und zuletzt überwinden. Dies war das Russland, das Wladimir Putin dem eigenen Volk wie der Außenwelt präsentieren wollte.

Aber noch während der Spiele wurden im Kreml, weit entfernt von der Begeisterung und dem sportlichen Wettkampf, Pläne geschmiedet, die bald darauf den Olympischen Geist abrupt stören würden. Drei Tage nachdem die Hauptspiele zu Ende gegangen waren, begannen in Sewastopol und anderen Städten auf der Krim «kleine grüne Männer» – nicht näher identifizierte Militärs aus Russland – aufzutauchen. Die Krim-Halbinsel, nur 500 Kilometer nordwestlich von Sotschi und auch an der Schwarzmeerküste gelegen, hatte zu Russland gehört, seit Katharina die Große sie 1783 dem Osmanischen Reich und den dort heimischen Krimtataren entrissen hatte.

Seit über 200 Jahren hatte die Krim eine ganz besondere Stellung im russischen Bewusstsein eingenommen. Sie war ein beliebtes Urlaubsziel für russische Bürger, Anton Tschechow hat ihr in seinen Kurzgeschichten ein Denkmal gesetzt. Viele außerhalb der Sowjetunion lebende Menschen haben von Jalta gehört, weil dort kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs Josef Stalin mit Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill im Liwadija-Palast zusammentraf, um über eine Nachkriegsordnung zu verhandeln. Sewastopol war ein wichtiger, ganzjährig eisfreier Hafen für die sowjetische Marine. Die Krim hatte zum Zarenreich gehört und war nach Gründung der UdSSR ein Teil der Russischen Republik innerhalb der Sowjetunion geworden. Im Jahr 1954 hatte der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow aus Anlass des 300. Jahrestages der Vereinigung der Ukraine mit Russland beschlossen, der Sozialistischen Sowjetrepublik Ukraine die Krim zu «schenken». Wie Putin es im Oktober 2014 sagte: «Im Jahr 1954 beschloss Chruschtschow – der auch gerne mal das Rednerpult der Vereinten Nationen mit seinem Schuh bearbeitete – aus irgendeinem Grund, die Krim an die Ukraine zu übertragen.»[9] Damals hatte diese Geste kaum etwas bedeutet, da beide Republiken zur UdSSR gehörten. Nachdem allerdings die Sowjetunion Ende 1991 zerfallen war, hatte dieser Verwaltungsakt weitreichende Folgen: Durch einen Zufall der Geschichte war die Krim zu einem Bestandteil einer unabhängigen Ukraine geworden. Doch die Russen und ihre politischen Führer ärgerten sich über das, was aus ihrer Sicht eine historische Travestie war. Außerdem lag die sowjetische Schwarzmeerflotte nach wie vor in Sewastopol, inzwischen allerdings nur zur Pacht. Spätestens 2014 war der Kreml entschlossen, diesen Missstand aus der Welt zu schaffen. Einige Wochen nachdem die kleinen grünen Männer aufgetaucht waren, organisierte Russland eine Volksbefragung, bei der die Mehrheit der auf der Krim lebenden Bürger dafür stimmte, sich von der Ukraine abzuspalten und sich Russland anzuschließen.[10] Gut einen Monat nach der Eröffnungsfeier in Sotschi hatte Russland die Krim offiziell annektiert und damit die 1994 und 1997 mit der Ukraine geschlossenen Abkommen gebrochen, mit denen es sich verpflichtet hatte, die Souveränität und territoriale Integrität der neuen Ukraine zu respektieren. Russlands Beziehungen zum Westen begannen den Niedergang in ihre miserabelste Phase, seit am Weihnachtstag 1991 die rote Fahne mit Hammer und Sichel über der Krim eingeholt und durch die rot-weiß-blaue Fahne der neuen Russischen Föderation ersetzt worden war.

Unangebrachte Erwartungen

Das Jahr 2014 war für den Westen in vielerlei Hinsicht ein Wendepunkt in seinen Beziehungen zu Russland. Die Annexion der Krim und der russische Einmarsch in den Südosten der Ukraine veranlassten den Westen, die Grundlagen seiner Einschätzungen und Erwartungen in Bezug auf Wladimir Putins Russland in Frage zu stellen. Die Obama-Administration hatte erkannt, dass die «Reset»-Politik, die sie seit 2009 gegenüber Russland verfolgt hatte, endete, als Putin 2012 in den Kreml zurückkehrte, nachdem er in einem vier Jahre langen Intermezzo mit Dmitri Medwedew die Plätze getauscht hatte. Aber Deutschland, Russlands anderer wichtiger Partner im Westen, reagierte anders. Immerhin hatte Deutschland weitreichende wirtschaftliche Beziehungen zu Russland und importierte beträchtliche Mengen an russischem Erdgas. Außerdem empfand Berlin eine nachdrückliche historische Verantwortung, enge Beziehungen zu Russland zu unterhalten, nicht nur wegen der 27 Millionen sowjetischen Toten, die Deutschlands Kriegsführung 1941 bis 1945 gefordert hatte, sondern auch aus Dankbarkeit gegenüber Michail Gorbatschow, der Ost- und Westdeutschland eine friedliche Wiedervereinigung ermöglicht hatte. Aber durch die Ukrainekrise änderte sich das alles für Kanzlerin Angela Merkel. In Ostdeutschland aufgewachsen, konnte sie sich mit Putin auf Russisch wie auf Deutsch unterhalten und war sein wichtigster Gesprächspartner im Westen. Sie kam zu dem Schluss, dass er sie mehrfach hinters Licht geführt hatte, als es um die Ukraine ging, und zwar vor allem nach dem Abschuss eines Flugzeugs der Malaysia Airlines über der ukrainischen Donbass-Region im Juli 2014, an dem beteiligt zu sein der Kreml stramm dementierte. Russlands Aktionen in der Ukraine veranlassten Deutschland, seine Ostpolitik zu überdenken – also die Politik einer Kooperation mit Russland –, und führte zu mehr Solidarität zwischen den Vereinigten Staaten und vielen ihrer wichtigen europäischen Verbündeten. Das war sicherlich nicht das, was Putin erreichen wollte, als er seine Truppen auf die Krim und in den Südosten der Ukraine schickte.

Die meisten westlichen Regierungschefs mussten sich eingestehen, dass die Erwartungen, die sie nach dem Niedergang der Sowjetunion gehegt hatten, nicht angebracht waren. Sie hatten gehofft, ein postkommunistisches Russland werde begeistert die Ketten einer dysfunktionalen Ideologie des 20. Jahrhunderts, des Kommunismus, abwerfen und sich bereitwillig der modernen, demokratischen und kapitalistischen Welt anschließen. Das hätte auch bedeutet, dass die Russen eine konfrontative, gegen die Interessen des Westens gerichtete Außenpolitik aufgegeben hätten. Präsident Bill Clinton und seine Regierung glaubten, dass Demokratien keine Kriege gegeneinander führen, und sie arbeiteten darauf hin, einen demokratischen Wandel in Russland zu fördern, um dem Land zu helfen, ein weniger aggressiver Staat zu werden, bereit, mit dem Westen zu kooperieren.

Doch die Amerikaner und in gewissem Maße auch die Europäer erkannten nicht, welch ein Gefühl der Demütigung viele Millionen Russen angesichts des Verlusts ihres inneren und äußeren Imperiums – der postsowjetischen Staaten und Osteuropas – empfanden. Es fiel den Russen schwer, sich damit abzufinden, dass sie fortan nicht mehr das natürliche Recht haben sollten, ihre Nachbarschaft zu dominieren und auch jenseits ihrer Grenzen Einfluss auszuüben. Zweifellos verstanden die Deutschen das vor dem Hintergrund ihrer düsteren Geschichte im 20. Jahrhundert besser als die Amerikaner, und sie warnten die Vereinigten Staaten, dass Russland viele Jahrzehnte brauchen würde, um den Verlust seines Imperiums und Großmachtstatus zu akzeptieren. Aus russischer Sicht hatte eine zweifache Demütigung stattgefunden: durch den Verlust der postsowjetischen Staaten sowie durch den Umstand, dass die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten eine Weltordnung geschaffen hatten, an die sich zu halten sie von Russland erwarteten. Es war in der Tat ein außergewöhnlicher unipolarer Vorstoß, mit dem die Vereinigten Staaten ihre Dominanz bekräftigten und Russland seine Fähigkeit verloren hatte, auf globaler Ebene Macht auszustrahlen. Kein Wunder also, dass es versuchte, Macht und Einfluss wiederzuerlangen, sobald es konnte.

Aber nicht alle Länder hatten die gleichen Erwartungen wie die Vereinigten Staaten und Europa. China, Indien und einige Länder im Nahen Osten, in Lateinamerika und Afrika sahen Russland aus einer anderen Perspektive. Sie waren weniger daran interessiert, ob Russland zu einer Demokratie werde, als dass sie befürchteten, die Vereinigten Staaten – die sie mit mehr oder weniger Argwohn betrachteten – könnten sich nach der Auflösung der Sowjetunion zu einer noch dominanteren Weltmacht entwickeln. Das zeigte sich, als die Generalversammlung der Vereinten Nationen im März 2014 die Resolution verabschiedete, die Annexion der Krim durch Russland zu verurteilen. Während die westlichen Staaten für diese Resolution stimmten und außer Russland nur eine Handvoll Länder – darunter Venezuela, Syrien und Nordkorea – sie ablehnten, enthielten sich viele andere der Stimme, etwa China, Indien, Brasilien und Südafrika. Diese Länder glauben, dass Russland historisch gesehen immer seine Nachbarschaft dominiert hat und das unweigerlich auch in Zukunft versuchen wird. Und sie glauben, es sei nicht ihre oder sonst jemandes Aufgabe, einem Russland westliche Demokratie aufzudrängen, die sie nicht zu wollen scheint.

Versucht man zu verstehen, warum Russland sich so anders entwickelte, als der Westen es angestrebt und erwartet hatte, ist es verlockend, die Antwort an Personen festzumachen: Es sei alles auf Wladimir Putin und seine kleine Clique von Kreml-Insidern zurückzuführen. Putin ist in der Tat eine beeindruckende Persönlichkeit, die schon seit Jahren von westlichen Publikationen immer wieder zum mächtigsten Mann der Welt ausgerufen wurde. Ob er nun mit bloßem Oberkörper zu Pferde sitzt, eine antike Amphore aus einem See birgt, in einem U-Boot auf den Grund des Schwarzen Meeres sinkt oder auf einer Harley-Davidson mit den Nachtwölfen (einem russischen Motorradclub) durch die Gegend fährt – stets macht er eine imponierende Figur. In einem undurchschaubaren System, in dem nur ein einziger Mann die Entscheidungen zu treffen scheint, ist es verlockend, alles auf den Willen des Präsidenten zurückzuführen. Doch das ist eine zu stark vereinfachte Sicht der Art und Weise, wie Russland regiert wird. Hinter dem neuen Zaren steht ein tausend Jahre alter Staat mit Traditionen und Vorstellungen von sich selbst, die weit in die Zeit vor Putin zurückreichen und ihn sicherlich überdauern werden. Er sieht sich als den Verteidiger von Russlands historischem Erbe und ist entschlossen, Russland auf den ihm zustehenden Platz in der Welt zurückzubringen – ganz gleich, ob das anderen Ländern gefällt oder nicht.

Wenn man Putins Welt verstehen will, muss man mit der Geschichte und Geographie und auch der Kultur anfangen, die sie geformt haben. Diese Faktoren können erklären, wie es Russland gelungen ist, seine vielfältige Bevölkerung zu vereinen, indem es ein überzeugendes historisches Narrativ entwickelte und propagierte, das den Westen in erster Linie als Feind darstellt. Und mittlerweile ist Russland auf diese Darstellung angewiesen, um sich selbst zu legitimieren.

Verlorene und wiedergewonnene Imperien

Einen Monat nachdem Wladimir Putin bei der Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Sotschi jene epische Reise durch die russische Geschichte präsentiert hatte, hielt er am 18. März 2014 in der reichverzierten großen Halle des Kremls vor einem bewundernden Publikum eine Ansprache, um zu verkünden, dass Russland die Krim annektiert habe. Seine Rede war voller historischer Bezüge auf Russlands Größe und seine lange Beziehung zur Krim, unterfüttert mit Anschuldigungen, der Westen wolle versuchen, Russland zu schwächen, und habe mehrfach Moskaus Interessen missachtet. Diese Kombination aus Ressentiments, Kritik am Westen und Lobpreisungen der Größe Russlands war eine klassische Putin-Rede, und für Russlands westliche Partner betonte sie eine unbequeme Wahrheit. Im Gegensatz zu den Hoffnungen und Erwartungen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten hatte Russland den Verlust seines Imperiums nicht akzeptiert. Nach einem 70 Jahre anhaltenden Experiment, einen Sozialismus im sowjetischen Stil aufzubauen, war Moskau daran interessiert, mit dem Westen zu kooperieren – aber nur zu seinen eigenen Bedingungen, nicht nach Vorgaben aus Washington oder Brüssel.

Doch vielleicht hätte der Westen intensiver nachdenken sollen über Russlands historisches Erbe, bevor er annahm, die Russen und ihre politische Führung würden den langen und schmerzlichen Abschied von ihrem imperialen Anspruch nehmen und bereitwillig eine neue Position als Juniorpartner des dominanten Westens akzeptieren. Welche historischen Vergleiche entsprechen am ehesten der Lage, in der Russland sich befand? War das Jahr 1918 relevant? Der Erste Weltkrieg hatte drei Imperien vernichtet: das Osmanische Reich, das Deutsche und das Österreich-Ungarische. Ein viertes, das Russische, war von einer Revolution hinweggefegt worden, doch nach einem drei Jahre andauernden blutigen Bürgerkrieg hatte sich daraus das neue Sowjetische Imperium erhoben. Wie das Russische und das Sowjetische Imperium waren auch das Osmanische und das Österreich-Ungarische Reich großflächige Vielvölkerstaaten, die von einer dominanten ethnischen Gruppe regiert wurden. Doch im Gegensatz zur UdSSR waren sie in Kriegen besiegt worden und wurden bei und nach den Versailler Friedensverhandlungen im Jahr 1919 zerschlagen. Wegen ihrer militärischen Niederlagen hatten sie kaum eine andere Wahl, als den Friedensvertrag zu akzeptieren; aber selbst danach brauchten ihre politischen Eliten viele Jahre, um den Verlust ihrer Reiche zu akzeptieren.

Eine andere denkbare Analogie sind die überseeischen Kolonialreiche Großbritanniens und Frankreichs, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu zerfallen begannen. Dieses Mal war keines der beiden Länder in einem Krieg besiegt worden, doch die wirtschaftliche Bürde des Imperiums und der Freiheitsdrang der Untertanen in den Kolonien – und der eigene Verlust an Selbstbewusstsein und Glauben an eine imperiale Mission – führten dazu, dass beide Imperien sich auflösten, angefangen 1947 mit der Unabhängigkeit Indiens. Zudem unterstützten die Vereinigten Staaten, die sich nach 1945 als stärkste Macht erwiesen, aktiv die Unabhängigkeitsbestrebungen der Kolonialländer. Dennoch dauerte es sowohl für Großbritannien als auch Frankreich etliche Jahrzehnte, den Verlust ihres imperialen Status zu verarbeiten.

Doch Russland war ein völlig anders gelagerter Fall. Die Sowjetunion war nicht in einem Krieg besiegt worden, sondern zerfiel infolge ihrer inneren Schwäche und ihrer Unfähigkeit, mit dem Drang ihrer ethnischen Minderheiten nach mehr Autonomie und Unabhängigkeit fertigzuwerden. Nach einem Jahr ständiger Spannungen zwischen dem Kreml unter Michail Gorbatschow, dem letzten Staatspräsidenten der Sowjetunion, und den 15 Sowjetrepubliken traf sich Boris Jelzin, der erste Präsident der Russischen Republik, am 8. Dezember 1991 mit seinen Kollegen aus der Ukraine und aus Weißrussland in einer Jagdhütte im Nationalpark Beloweschskaja.

Dort unterzeichneten sie ein Abkommen, das später als Vereinbarungen von Beloweschskaja Puschtscha bekannt wurde und mit dem eine lose Gemeinschaft postsowjetischer Staaten gegründet wurde, die die Auflösung der Sowjetunion besiegelte und der Präsidentschaft Gorbatschows die Grundlage entzog. Die widersprüchlichen Berichte über die Geschehnisse dieser langen Nacht haben das Entstehen verschiedener ausgefallener Theorien über den Zerfall der UdSSR provoziert und eine postsowjetische Generation hervorgebracht, die zu der Annahme neigt, die UdSSR sei aufgrund ominöser Einflüsse von außen kollabiert. Mit anderen Worten: Sie sei durch ein Komplott der Vereinigten Staaten und ihrer sogenannten «Spezialdienste» mit einem Dolchstoß in den Rücken zu Fall gebracht worden. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, den Kollaps der Sowjetunion zu akzeptieren, wenn es eine militärische Niederlage gegeben hätte. Doch das eigentliche Rätsel von 1991 bleibt: Wie konnte eine nukleare Supermacht, die sich über ein Neuntel der Landmasse des Planeten erstreckte, sich einfach auflösen? Da es kein bestimmtes Ereignis gab, das als Erklärung hätte dienen können, grassierten Verschwörungstheorien, die es den Russen erschwerten, den Verlust des «Nahen Auslands» zu akzeptieren. Dies ist wie gesagt der Begriff, den die Russen für die postsowjetischen Staaten verwenden, im Gegensatz zu den ausländischen Staaten, die sie das «Ferne Ausland» nennen.

Die UdSSR bezeichnete sich natürlich als sozialistischen Staat, nicht als Kaiserreich. Tatsächlich war sie jedoch die sowjetische Variante der jahrhundertelangen territorialen Expansion Russlands in alle Himmelsrichtungen. Die Vorstellung, ein Gebiet wieder aufzugeben, das Russland einst beherrscht hatte, war ein Anathema für Zaren, Generalsekretäre und postsowjetische Präsidenten gleichermaßen. Fast sofort nach dem Zerfall der Sowjetunion begannen einige Mitglieder der neuen russischen Führung – wenn auch nicht Boris Jelzin selbst –, darüber nachzudenken, wie die verlorenen Gebiete wiedererlangt werden könnten. Es gibt kein Beispiel in der russischen Geschichte, dass Gebietsverluste akzeptiert worden wären, sondern immer nur Beispiele der territorialen Expansion. Was ist die treibende Kraft hinter diesem russischen Expansionsdrang?

 

Eine Person, die Russlands Dilemma verstanden hatte, war Katharina die Große, die deutsche Prinzessin, die im 18. Jahrhundert zur Herrscherin Russlands wurde. Sie eroberte die Gebiete, die heute der Schauplatz des kriegerischen Konflikts in der Ostukraine sind. Im Alter von 15 Jahren reiste die junge evangelisch-lutherische Prinzessin nach Russland und heiratete ihren Cousin zweiten Grades Zar Peter III., der ihr allen historischen Berichten zufolge zutiefst zuwider war. Das Gerücht will es, dass die Ehe nie vollzogen wurde. Aber bald entwickelte Katharina großes politisches Geschick, das ihr half, sich im Labyrinth der höfischen Intrigen zurechtzufinden. Als Peter einem Mordanschlag zum Opfer fiel, trat Katharina seine Nachfolge auf dem Zarenthron an. Mittlerweile war sie zum russisch-orthodoxen Glauben konvertiert, und trotz ihrer Vorliebe für die Philosophen der französischen Aufklärung übernahm sie die traditionelle Rolle der Zaren und Zarinnen, ihre Untertanen mit eiserner Hand zu regieren. Darüber hinaus war sie eine kluge Außenpolitikerin, deren Armeen sich in Kriegen gegen das Osmanische Reich und Persien erfolgreich schlugen und riesige Gebiete im Südosten des Imperiums eroberten, darunter die Krim und ein Gebiet, das heute als Noworossija oder Neurussland bekannt ist. Sie kam zu der Überzeugung, dass es für Russland nur einen Weg gebe, seine fließenden Grenzen zu verteidigen: «Was aufhört zu wachsen, beginnt zu verrotten», sagte sie einmal, «Ich muss meine Grenzen erweitern, um mein Land in Sicherheit zu halten.»

Seit dem 15. Jahrhundert, als Russland endlich das seit dreihundert Jahren drückende mongolische Joch abwarf, hat es ständig zwischen territorialer Expansion und Rückzug gewechselt.[11] Ohne natürliche Grenzen und anfällig für Invasionen aus dem Süden, Osten und Westen, konnte Russland nur dann sicher sein, wenn es die benachbarten Gebiete eroberte. Sicherheit bedeutete für Russland: defensive Expansion. Gelegentlich schrumpfte Russland auch – infolge von Invasionen aus dem Ausland oder heimischen Umwälzungen –, aber stets kam es wieder zu Kräften und «sammelte die [umliegenden] Länder» wieder ein. Putin sieht sich nicht als der «Einsammler» von russischem Land, nachdem Gorbatschow große Gebiete der früheren Zaren- und Sowjetreiche «verloren» hatte, aber trotzdem versucht er, den russischen Einfluss auf diese Gebiete zu restaurieren. Wie sieht er die russische Geschichte und Russlands Beziehungen zu seinem «Nahen und Fernen Ausland»? Welche Paradigmen und Gründungsmythen haben das Bild der Russen von ihrem Platz in der Welt beeinflusst?

Eines der Dilemmata, die sich jedem Russlandkenner ständig stellen, ist die Versuchung, jede Aktion des Kremls auf das überwältigende Gewicht der Vergangenheit zurückzuführen. Aus dieser Sicht ist Kontinuität der wichtigste der Faktoren, die erklären, warum der Kreml tut, was er tut. Die sieben Jahrzehnte des sowjetischen Kommunismus waren danach nur ein weiterer Akt in einem Jahrtausend von repressiven Autokratien, heimlichtuerischen Regierungen, schwachen Persönlichkeits- und Eigentumsrechten und expansionistischer Außenpolitik. Die Jahre unter Gorbatschow und Jelzin stellten eine kurze Periode reformerischer Erholung dar, bevor Russland unter Putin erneut zum Autoritarismus zurückkehrte. Je mehr die Dinge sich ändern, desto mehr bleiben sie unverändert, und es ist eine Illusion zu glauben, dass Russland sich im 21. Jahrhundert deutlich verändern wird. In dieser Perspektive haben die anderen Länder keine Wahl, sie müssen ihren Umgang mit Russland radikal neu ausrichten und ihre Erwartungen korrigieren.

Gewiss, Wladimir Putin beruft sich ständig auf Russlands einzigartige Geschichte, um seine Sicht der Welt zu rechtfertigen. Obwohl er den amerikanischen Exzeptionalismus kritisiert hat, preist er immer wieder eine Politik an, die letztlich auf russischen Exzeptionalismus hinausläuft.[12] Wie sieht Russland selbst seine eigene Geschichte? Eine alte sowjetische Redensart besagt, die Vergangenheit sei schwierig vorherzusehen. In der Sowjetära – und auch wieder unter Wladimir Putin – haben sich die Tatsachenbehauptungen über das, was geschehen ist, und dessen Interpretation immer wieder geändert, je nach der aktuellen politischen Agenda des Regimes. Die Kontroversen über die Gestaltung der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs zeigten das sehr anschaulich. Zu Sowjetzeiten wurde der 1939 geschlossene deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt – und die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls, hier bezeichneten die Vertragspartner «für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung» ihre «Interessensphäre» in Polen und im Baltikum, wodurch die Sowjets die baltischen Staaten und das heutige Moldawien besetzten und sich zwei Jahre lang aus dem Krieg heraushalten konnten, wurde überhaupt und vehement bestritten – damit gerechtfertigt, dass er eine Reaktion auf die ablehnende Haltung des Westens gegenüber Moskaus Initiative für eine militärische Allianz gegen das Naziregime gewesen sei.[13] Unter Gorbatschow hat der Kreml dann allerdings eingeräumt, dass die Protokolle zum Hitler-Stalin-Pakt existieren, und Stalin dafür kritisiert, den Pakt unterzeichnet zu haben. Im Jahr 2015 verteidigte Putin den Pakt allerdings wieder und machte Ausflüchte über die Existenz der Protokolle.[14]

Die offizielle Linie zu Josef Stalin wurde in dem Vierteljahrhundert seit dem Zerfall der Sowjetunion tatsächlich mehrfach revidiert. In den 25 Jahren, die Stalin an der Macht war, ließ das NKWD (Innenministerium der UdSSR) während der Großen Säuberungen in den 1930er und 1940er Jahren Schätzungen zufolge mindestens 16 Millionen Sowjetbürger umbringen.[15] Andere Schätzungen gehen von insgesamt 20 Millionen Todesopfern aus, durch Kollektivierung, Hungersnöte und die Großen Säuberungen.[16] Stalin führte Russland im Zweiten Weltkrieg, in dem mindestens 27 Millionen Sowjetbürger ums Leben kamen, zum Sieg und industrialisierte das Land von oben, was einen katastrophalen Blutzoll forderte.

Unmittelbar nach dem Zerfall der Sowjetunion kam es zu breitangelegten Anstrengungen, Stalins Verbrechen aufzuklären und sich dieser Periode der sowjetischen Geschichte zu stellen. Die Nichtregierungsorganisation Memorial International setzt sich in Russland für die Einhaltung der Menschenrechte und die Aufdeckung der Wahrheit über Stalins Verbrechen ein. Sie hat beeindruckende Arbeit geleistet und unter anderem zahlreiche versteckte Gräber seiner Opfer gefunden. Doch als Putin Präsident geworden war, begann sich die offizielle Haltung zu Stalin erneut zu ändern: Ungeachtet seiner Verbrechen sei er ein «effizienter Manager» und «Patriot» gewesen.[17] Im Jahr 2015 wurde der Status von Memorial als NGO in Frage gestellt, und seither wird die Organisation ständig mit Schikanen überzogen. In Schulbüchern wurde Stalin nach und nach als großer Führer rehabilitiert, der die Welt gelehrt habe, die UdSSR zu respektieren und zu fürchten.

Wladimir Putins Version der Vergangenheit – mit der er den Patriotismus der Russen und ihre Unterstützung für ihn fördern will – hat durchaus Wirkung gezeigt. In allen Ländern lassen sich Regierung und Bevölkerung im Hinblick auf ihre Rolle in der Welt von der Geschichte inspirieren. Doch in Russland verfolgt die Vergangenheit die Gegenwart in höherem Maße als in vielen anderen Ländern, was daran liegen könnte, dass Russland noch kein nationales Selbstverständnis entwickelt hat, dem seine Bevölkerung sich ganz verschreiben könnte. Seit Jahrhunderten hat die Diskrepanz zwischen Russlands Selbstverständnis als Großmacht und seinen realen – sowohl natürlichen als auch menschengemachten – Möglichkeiten sein Potenzial eingeschränkt, jene Rolle in der Welt zu spielen, die ihm vermeintlich vorherbestimmt ist. Diese Fähigkeiten haben Russlands Interaktionen mit der Welt bestimmt.

Permanente Faktoren, die Russlands Außenpolitik beeinflussen

Größe und Klima

Russlands Vorstellung von seiner Rolle in der Welt beginnt mit einer fundamentalen geographischen Realität. Seit dem 16. Jahrhundert ist Russland das flächengrößte Land der Welt, das einen strategisch wichtigen Streifen im Herzen Eurasiens einnimmt, auf zwei Kontinente ausgreift und sich über 11 der 24 Zeitzonen der Welt erstreckt. Es hat nur eine einzige natürliche Grenze, nämlich das Nordpolarmeer; in alle anderen Himmelsrichtungen musste es seine Grenzen ständig neu definieren. Russlands geographische Größe als einziger vereinigter Staat, der jahrhundertelang überlebt und Eroberungsversuchen widerstanden hat, verschafft ihm eine einzigartige Rolle in der Weltgeschichte. Aus dem Osten, Süden und Westen rückten Invasoren heran, die zuletzt zurückgeschlagen wurden. Und es gibt kaum einen Aspekt des russischen Lebens, auf den seine enorme Größe sich nicht ausgewirkt hat.[18] Sie hat dem Land zweifellos geholfen, sich gegen Eroberungen durch äußere Mächte zur Wehr zu setzen, sie hat aber auch seine Fähigkeit gehemmt, sich zu modernisieren. Durch die riesigen Entfernungen war die Kommunikation schwierig.

Neben Russlands Größe spielt auch die enorme Vielfalt seines extremen Klimas eine wichtige Rolle. Große Teile des Landes waren im Winter praktisch unzugänglich, die Vegetationsperiode war kurz, und es gab nur wenige ganzjährig eisfreie Häfen. Zwar liegen Russland und Kanada auf derselben geographischen Breite, doch die meisten Kanadier leben an der Südgrenze ihres Landes. Dagegen siedelten russische Herrscher zahlreiche Menschen ihrer Bevölkerung im unwirtlichen hohen Norden an, weil dort ein großer Teil der natürlichen Rohstoffe des Landes zu finden ist. Aber die Tatsache, dass die Straßen und Flüsse dort für einen Großteil des Jahres gefroren waren, hemmte die wirtschaftliche Entwicklung. Davon abgesehen ist Russland schon immer ein relativ dünn besiedeltes Land gewesen. Es ist reich an Bodenschätzen, an Erdöl und -gas, Edelmetallen und Holz, doch die meisten Russen leben weit entfernt von den Gebieten, wo diese reichhaltigen Rohstoffvorkommen zu finden sind, und es war schon immer eine besondere Aufgabe, sie optimal auszubeuten.

 

Etliche sowjetische Machthaber siedelten zahlreiche Menschen nach Sibirien um, weil sie Russlands Naturschätze abbauen sollten, was aber einen hohen Preis an Menschenleben und Material kostete. Die in den 1930er Jahren gegründete Stadt Norilsk ist ein extremes Beispiel für diese Entwicklung. Sie liegt nördlich des Polarkreises, ist die nördlichste Stadt der Welt, hat 175000 ständige Einwohner und wurde ursprünglich als Teil des Gulag gegründet, Stalins System von Arbeitslagern. Die Stadt ist 250 Tage im Jahr eingeschneit und hat Temperaturen, die zwischen –50 ºC im Winter und 25 ºC im Sommer schwanken. Dort werden wertvoller Nickel und andere Rohstoffe gefördert, doch die Lebensbedingungen können sehr mühsam sein.[19]

Wirtschaftliche Rückständigkeit

Russlands Größe, seine schwierigen klimatischen Bedingungen und seine relativ spärliche Besiedlung waren seit Jahrhunderten eine Herausforderung für die Herrscher des Landes, als sie dessen wirtschaftliche Entwicklung vorantreiben wollten. Doch die im Vergleich zu Europa fortwährende wirtschaftliche Rückständigkeit war auch eine Folge politischer Entscheidungen. Die Zaren befürchteten, durch das Entstehen einer Mittelschicht könnte die absolute Monarchie gefährdet werden, und zögerten daher, die Entwicklung einer kapitalistischen Wirtschaft zu fördern. Stalin erzwang die Industrialisierung und die landwirtschaftliche Kollektivierung der sowjetischen Bevölkerung von oben, um die UdSSR aus ihrer Rückständigkeit zu ziehen. Er schaffte ab, was noch an privaten Eigentumsrechten geblieben war, er trieb unwillige Kleinbauern in landwirtschaftliche Kollektive, zwang einige, in die Industriestädte zu ziehen, und war verantwortlich für den Tod von unzähligen anderen. Doch letzten Endes erwies sich das dysfunktionale sowjetische Wirtschaftssystem als unfähig, mit dem Westen Schritt zu halten, als die Epoche der modernen Technologien anbrach.

Der Imperativ von Zentralherrschaft und Russifizierung

Doch die vielleicht wichtigste Folge der Größe Russlands war die Art und Weise, wie Zaren und Generalsekretäre ihr Volk regierten. Ob nun Sankt Petersburg oder Moskau die Hauptstadt war, das Problem war stets, wie ein so riesiger Vielvölkerstaat regiert werden kann, der sich von West nach Ost über fast 10000 Kilometer erstreckt (bei den Vereinigten Staaten sind es nur gut 4000 Kilometer). Als der russische Staat ab dem 16. Jahrhundert immer weiter expandierte, eroberte er Gebiete sehr unterschiedlicher Völker. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Expansion abgeschlossen war, lebten im Zarenreich über 100 ethnische Gruppen, die sich in sehr unterschiedlichen Stadien ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung befanden. Manche von ihnen – vor allem Polen und Tschetschenen – widersetzten sich der russischen Herrschaft und rebellierten ganz offen. Wiederholte Versuche, die Macht Sankt Petersburgs durch eine Politik der Russifizierung von rebellischen nichtrussischen Volksgruppen zu konsolidieren, waren nur zum Teil erfolgreich. Und so war es kein Wunder, dass Lenin das Russische Imperium der Jahrhundertwende ein «Völkergefängnis» nannte.

Die Tschetschenen haben sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts der russischen Herrschaft widersetzt. Leo Tolstois um die Jahrhundertwende entstandene Erzählung Hadschi Murat, eine Geschichte der Kriege Russlands gegen Tschetschenien, ist ein Zeugnis des fortgesetzten Kampfes mit den islamischen Volksgruppen des Nordkaukasus. Andere – etwa die verschiedenen Nomadenstämme in Zentralasien – begegneten dem Russischen Reich entgegenkommender. Doch der Zar und später die Sowjets erkannten, dass Russland immer ein Problem mit seiner inneren Sicherheit haben würde. Die Lösung war, von der Hauptstadt aus mit eiserner Hand zu regieren und in der Länge und Breite Bürokraten auszusenden, um die Steuern einzutreiben und die Gesetze durchzusetzen. Stets befürchteten die Herrscher Aufruhr und Verrat. Seit Jahrhunderten werden Kritik am Zar oder an der autokratischen Zentralregierung streng bestraft. Das Strafgesetzbuch von 1649 sah für jeden, der den Zar in Wort und Tat (slowo i delo) kritisierte, die Todesstrafe vor, was bedeutete, dass ein Bauer, der in einer Taverne zu viel getrunken hatte, seine Zunge hüten musste bei Äußerungen über den Herrscher, wenn er nicht riskieren wollte, angezeigt zu werden.

Der unwahrscheinliche «Start-up»

In vielerlei Hinsicht war Russland ein unwahrscheinliches Land. Seine natürlichen Attribute – seine Größe, sein extremes Klima, die häufig unpassierbaren Straßen und seine riesige Entfernung von den Zentren des Welthandels und der Zivilisation (sowohl von den Handelsrouten des Altertums durch Persien und China als auch den moderneren atlantischen Routen) – trugen alle dazu bei, seine Entwicklung in Richtung Moderne zu bremsen. «Russland war weit abgelegen in Zeit und Raum … ein ‹Start-up›, der Hunderte von Kilometern vom Rest der Zivilisation entfernt in einem riesigen Wald gegründet wurde.»[20] Aber seine geographische Lage half ihm zu überleben. Russland war vom Meer aus nicht zugänglich, und es gelang ihm, mehrere Wellen europäischer Eroberungsversuche abzuwehren. Und dann war da ja auch noch das Klima. Die Redensart, «General Winter» habe Napoleon wie Hitler besiegt, als sie Russland erobern wollten, ist ein beredtes Zeugnis der Fähigkeit der Russen, durchzuhalten und eisernen Widerstand zu leisten, bis der Feind von Kälte und Eis besiegt war. Gern erinnert Putin die Welt daran, dass diese Feinde die Fähigkeiten der Russen unterschätzt hatten, nicht nachzugeben und Zeiten der Not zu überstehen.

In vielerlei Hinsicht blieb Russland unberührt vom Mainstream der europäischen Zivilisation – Renaissance, Reformation und Aufklärung gingen weitgehend an ihm vorüber. Aus seiner Geschichte sind kollektive Erinnerungen von Exzeptionalismus, Durchhaltevermögen, Widerstand gegen Invasionen, aber auch Verwundbarkeit erwachsen. Das Fehlen natürlicher Grenzen und die vielfache Bedrohung durch Invasoren stärkten Russlands Entschlossenheit, kein Territorium zu verlieren und das Land gegen künftige Versuche zu wappnen, seine Souveränität zu beschneiden. Wenn Putin dem Westen vorwirft, er wolle Russland «spalten» und eine Agenda durchsetzen, die den wahren Interessen des Landes zuwiderlaufe, appelliert er an das doppelte Erbe von Überlegenheitsgefühlen und Minderwertigkeitskomplexen, die seit Hunderten von Jahren Russlands Sicht seiner Rolle in der Welt geprägt haben.[21] Dieses historische Erbe hat es einer Reihe von Autokraten ermöglicht, ihre brutale Herrschaft durch Warnungen vor inneren und äußeren Feinden zu rechtfertigen, und es hat Russland zu einem furchterregenden militärischen Gegner gemacht. Putin besteht darauf, dass Russland ein (wie er es nennt) absolut souveränes Land sei, mit dem uneingeschränkten Recht, sein eigenes Schicksal zu bestimmen. Damit spricht er vielen Russen aus dem Herzen, die glauben, ihr Selbstbestimmungsrecht werde ständig vom Westen in Frage gestellt. Was sie alle zusammenhält, ist die «Russische Idee».

2Die russische Idee

Es kann keine Allianz zwischen Russland und dem Westen geben, sei es Interessen zuliebe oder Prinzipien zuliebe. Es gibt kein einziges Interesse, keinen einzigen Trend im Westen, der nicht gegen Russland konspiriert, vor allem gegen seine Zukunft, und nicht versucht, ihm zu schaden. Daher muss für Russland die einzige natürliche Politik gegenüber dem Westen sein, nicht etwa eine Allianz mit westlichen Mächten anzustreben, sondern sie zu entzweien und zu spalten. Nur dann werden sie sich uns gegenüber nicht feindselig verhalten, natürlich nicht aus Überzeugung, sondern aus Unvermögen.

Fjodor Tjuttschew, Dichter und Slawophiler, 1864[22]

Was treibt die Kreml-Elite an? Was hält Russland zusammen? Zu Sowjetzeiten wurde die Bevölkerung durch eine Mixtur aus Ideologie und Nationalismus zusammengeschweißt. In den frühen kommunistischen Jahren mögen noch viele Menschen an den Marxismus-Leninismus geglaubt haben, doch im Laufe der Zeit wurden sie immer zynischer, weil sie allmählich den Unterschied sahen zwischen den kommunistischen Slogans über Gleichheit und Diktatur des Proletariats und der Realität einer Gesellschaft, in der die Elite der Kommunistischen Partei (etwa acht Prozent der Bevölkerung) wesentlich besser lebten als Bürger, die nicht in der Partei waren. Gegen Ende der UdSSR hatte sich die offizielle sowjetische Nationalidentität zu einem Gemenge aus Patriotismus und dem Glauben an die Überlegenheit des sozialistischen Systems entwickelt. Sie war allerdings von Michail Gorbatschow immer mehr in Frage gestellt worden, dem aus der Provinz stammenden Ideologiesekretär der Kommunistischen Partei, der 1985 zum Generalsekretär der KPdSU aufstieg. Ihm war klar, dass er das verkümmerte Sowjetsystem reformieren musste:

Stellen Sie sich ein Land vor, das in den Weltraum fliegt, Sputniks abschießt, einen solchen Verteidigungsapparat aufbaut, aber das Problem nicht lösen kann, dass es zu wenig Damenstrumpfhosen gibt. Es gibt keine Zahnpasta, kein Waschpulver, es fehlt an allem, was für die Grundbedürfnisse des Lebens gebraucht wird. Es war unglaublich und beschämend, in einer solchen Regierung zu arbeiten.[23]

Seit dem Zerfall der Sowjetunion waren die Russen auf der Suche nach einer neuen Identität. 25 Jahre später gibt es immer noch keinen Konsens, und es ist klar, wo die ethnischen Minenfelder liegen. Was bedeutet es, russisch zu sein? Seit Jahrhunderten hat diese Frage Kontroversen provoziert, und sie ist nie erschöpfend beantwortet worden. Ist es ein ethnisch exklusives Konzept, russisch zu sein? Zu Sowjetzeiten war die «fünfte Spalte» in jedem sowjetischen Personalausweis die Nationalität. Mit Erreichen des 16. Lebensjahrs mussten alle Bürgerinnen und Bürger die eigene Nationalität angeben, die dann großen Einfluss auf die berufliche Laufbahn hatte. Die erstrebenswerteste und beruflich förderlichste Kategorie war, russisch zu sein. Dann kam ukrainisch, dann Zugehörigkeiten zu anderen slawischen Volksgruppen. Jüdisch zu sein – was als nichtrussische Nationalität definiert war – bedeutete in vielen Fällen, von den namhaftesten akademischen Institutionen und von Parteiposten ausgeschlossen zu sein. Wenn eine Person kasachisch, usbekisch, tschetschenisch oder aserbaidschanisch war, konnte auch das problematisch sein. Hier ist also eine exklusive Definition, was es bedeutet, russisch zu sein: zur privilegierten Nationalität in einem Vielvölkerstaat zu gehören. Seit dem Zerfall der Sowjetunion hat es Versuche gegeben, die «Russländischheit» auf eine inklusivere, staatsbürgerlichere Weise zu definieren – als Bürgerin oder Bürger Russlands, ungeachtet der Volksgruppenzugehörigkeit. In den 1990er Jahren versuchte die Regierung, statt «russisch» den inklusiven Begriff Rossijanin («Bürger von Russland») einzuführen, als Ersatz für die ethnische Bezeichnung Russki. Dieses Wort konnte sich jedoch nicht durchsetzen, und in der Putin-Ära wurde der ethnisch exklusive Ausdruck wieder allgemein gebräuchlich. Tatsächlich hat Putin 2017 einmal gesagt, die russische Sprache sei der «geistige Rahmen» des Landes, «unsere Landessprache», die «durch nichts zu ersetzen ist».[24]

Nach 74 Jahren kommunistischer Herrschaft und dem Verlust der nichtrussischen Sowjetrepubliken war nicht klar, was die neue Nationalidentität Russlands bilden soll, und auch nicht, wer nun eigentlich Russe sei. Also richtete Boris Jelzin 1996 eine Kommission mit einer ganz besonderen Aufgabe ein: Sie sollte sich eine neue «Russische Idee» ausdenken. Er berief einen Beirat unter dem Vorsitz von Georgi Satarow, einem Assistenten für politische Angelegenheiten im Kreml, und in der Regierungszeitung wurde der Person, die den besten Essay von höchstens sieben Seiten zu diesem Thema vorlegte, ein Preisgeld im Gegenwert von 2000 Dollar geboten. Doch das Projekt war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Satarow räumte ein, dass eine nationale Idee nicht von oben verordnet werden kann, sondern organisch von unten kommen muss. Tatsächlich war niemand in der Lage, sich eine passende nationale Idee auszudenken, wenn auch einer der Teilnehmer einen Preis für seinen Essay über die «Prinzipien der Russländischheit» gewann. Das Projekt wurde 1997 eingestellt.[25] Der Versuch, in der Zeit fließenden politischen Übergangs mit Hilfe einer Kommission von heute auf morgen eine neue nationale Identität zu schaffen, musste mit ziemlicher Sicherheit misslingen. Doch mittlerweile entsteht tatsächlich nach und nach eine neue Identität.

Im Jahr 2007 förderte der Kreml die Gründung einer internationalen Organisation: Russki Mir («Russische Welt»). Ihr Chef ist Wjatscheslaw Nikonow, ein Enkel von Stalins langjährigem Außenminister Wjatscheslaw Molotow, dessen mürrisches Auftreten und ebenso mürrischer Verhandlungsstil legendär waren. Nikonow, ein strammer Verteidiger der Politik des Kremls und Kritiker der Vereinigten Staaten, hat als Abgeordneter in der Duma gesessen und akademische Posten bekleidet. Die von ihm gegründete Organisation soll dazu dienen, in aller Welt die russische Kultur und Sprache zu fördern und an Menschen zu appellieren, die im vergangenen Jahrhundert aus Russland emigriert sind, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Normalerweise definiert sie inkludierend jede Person als «russisch», die Russisch (Russko-Jasitschny) spricht und sich ungeachtet ihrer Volksgruppenzugehörigkeit mit der russischen Kultur identifiziert.

Die offenkundige Konfusion darüber, was es bedeutet, russisch zu sein, lässt sich auf die Ursprünge des russischen Staates zurückführen. Im 14. Jahrhundert konsolidierte sich das Großfürstentum Moskau als Staat, während es begann, zu expandieren und benachbarte Gebiete zu erobern. In den nächsten 500 Jahren expandierte es (und schrumpfte manchmal auch wieder), während der Staat immer stärker wurde. Im Laufe der Jahre führte er Kriege gegen Tataren, livländische Ritter, Polen, Schweden, Türken und Perser – und seine Bevölkerung wurde ethnisch immer vielfältiger. Viele «Russen» waren tatsächlich das Ergebnis von Mischehen mit verschiedenen ethnischen Wurzeln. Das Personal des vorrevolutionären Außenministeriums bestand zu einem Drittel aus Deutsch-Balten, ethnischen Deutschen, die im Baltikum lebten, als es vom Russischen Reich eingenommen wurde. So war zum Beispiel Anfang des 20. Jahrhunderts ein gewisser Graf Wladimir Lamsdorf Außenminister Russlands. Einer seiner Nachfahren, Otto Graf Lambsdorff, wurde später Wirtschaftsminister der Bundesrepublik Deutschland. Immer stärker wurde das Identitätsgefühl der Russen von ihrem imperialen Sendungsbewusstsein geprägt, die Nachbarvölker paternalistisch zu regieren, etwa die Ukrainer, die sie ihre «kleinen Brüder» nannten.

 

Vielleicht weil es so unklar war, was es bedeutete, «russisch» zu sein, versuchte die Elite, das Problem zu lösen, indem sie nicht so sehr die Ethnizität in den Vordergrund rückte, sondern vielmehr die Einzigartigkeit der russischen Kultur. Im Laufe der Jahre wurde die Russische Idee ein Grundstein der sich entwickelnden Identität des Landes. Ihr Kern war «die Überzeugung, dass Russland seine eigene, unabhängige, selbstgenügsame und eminent wertvolle kulturelle und historische Tradition hat, die es sowohl vom Westen abhebt als auch garantiert, dass Russland auch in Zukunft florieren wird».[26] Schon früh haben russische Herrscher sich darüber definiert, wie sie sich von Europa unterschieden, und Wert auf ihre eurasische Berufung gelegt. Von ihr gingen sie aus, anstatt sich etwa mit Asien zu vergleichen. Im 19. Jahrhundert fasste Graf Sergej Uwarow, stellvertretender Bildungsminister und Literaturwissenschaftler, die Essenz der Russischen Idee mit der bekannten Triade «Orthodoxie, Autokratie und Nationalität» zusammen. Das ist es, was den russischen Staat definierte: seine institutionellen Grundpfeiler Orthodoxe Kirche, unumschränkte Monarchie und Dorfgemeinschaft.

Zu dieser Definition des 19. Jahrhunderts von dem, was es bedeutet, russisch zu sein, gehört der Glaube an die Überlegenheit einer kommunalen und kollektiven Lebensweise, im Gegensatz zu dem eher wettbewerbsorientierten Individualismus der weiterentwickelten europäischen Länder. In seinem Roman Anna Karenina beschreibt Tolstoi sehr anschaulich den Kontrast zwischen dem gekünstelten und manierierten Leben der Höflinge in Sankt Petersburg, die untereinander nur Französisch sprachen, und dem unschuldigen, einfachen und moralischen Leben, das Ljewin auf seinem Landgut führt. Die organisch gewachsenen Verbindungen zwischen dem Zaren, den Kleinbauern und der Kirche boten nur wenig Raum für eine entstehende Mittelschicht, die vielleicht eines Tages die Macht des absoluten Monarchen hätte in Frage stellen können. Die Dorfgemeinschaft, der Mir (was auch «Welt» oder «Frieden» bedeuten kann), bildete die Grundlage nicht nur der Russischen Idee, sondern auch der Anfänge eines politischen Systems, das nach wie vor beeinflusst, wie die Russen die Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten sehen.