Putins Schatten und die Idee der politischen Vernunft - Georg Kohler - E-Book

Putins Schatten und die Idee der politischen Vernunft E-Book

Georg Kohler

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Beschreibung

»Georg Kohler diskutiert, erinnert und verteidigt nüchtern und pathosfern die Chancen vernunftnaher Politik« Der 24. Februar 2022 ist ein Epochendatum in zweierlei Sinn: Mit ihm endet die seit 1989 begonnene Illusion, durch ökonomische Verflechtung allein sei ein "weltbürgerlicher Zustand" (Kant) zu erreichen. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine widerlegt außerdem den Glauben, mit kriegerischen Großkonflikten sei wenigstens in Europa nicht mehr ernsthaft zu rechnen. Das Stichwort "Zeitenwende" bringt beide Enttäuschungen auf den Begriff. Georg Kohler behandelt das Thema in zehn Kapiteln unter drei Aspekten: Zum einen der Differenz von Utopie und Realpolitik; dann dem Gesichtspunkt der Unterscheidung zwischen Vernunft, Rationalität und Geschichtsglauben und schließlich der Zuversicht auf das Gehört-Werden der "leisen Stimme des Intellekts" (Sigmund Freud), die den tiefen Zwiespalt zwischen Menschen- und Vernunftnatur nicht für unüberbrückbar hält. Georg Kohler macht einen Gang durch die Geschichte der politischen Philosophie von Platon bis in die Debatten der Gegenwart und diskutiert, erinnert und verteidigt nüchtern und pathosfern die Chancen vernunftnaher Politik.

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Georg Kohler, geb. 1945, ist ein Schweizer Philosoph, Publizist und Professor em. für politische Philosophie an der Universität Zürich. Nach einer Lehrstuhlvertretung an der Universität München wurde er 1994 als Nachfolger von Hermann Lübbe als Ordinarius auf den Lehrstuhl für politische Philosophie nach Zürich berufen.

Veröffentlichungen u.a.: Handeln und Rechtfertigen. Untersuchungen zur Struktur der praktischen Rationalität. Frankfurt am Main, 1988. Über das Böse, das Glück und andere Rätsel. Zur Kunst des Philosophierens. Zürich, 2005. Bürgertugend und Willensnation. Über den Gemeinsinn und die Schweiz. Zürich, 2010. Zahlreiche Buchbeiträge und Artikel. Georg Kohler publiziert regelmäßig in Tageszeitungen, vor allem in der Neuen Zürcher Zeitung.

Georg Kohler

Putins Schatten und die Idee der politischen Vernunft

Zur Zukunft nach dem Ende der Geschichte

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book (EPUB)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2023

Coverabbildung: Alberto Giacometti, Le Chariot, 1950. Kunsthaus Zürich,

Alberto Giacometti-Stiftung, 1965

Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf

Alle Rechte vorbehalten.

EPUB: ISBN 978-3-86393-646-4

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

ISBN 978-3-86393-144-5

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter

www.europaeischeverlagsanstalt.de

Für Inhalte Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Inhalt

Vorwort

IPutins Schatten. Oder die Probe aufs Exempel

Über Systemkonkurrenz, MAD und vernünftige Zuversicht

IIDrei Paradigmen der Politischen Philosophie: Utopia, Leviathan, Ewiger Friede

Einleitung

Die «Gottesstadt» (und eine Nachbemerkung zur «Höhle»)

Zu Idee und Begriff des Utopischen

Vernunftprinzip und Kontingenz

Zur Interpretation von Thomas Morus’ «Utopia»

Der implizite Sokrates, das Utopische und das Paradigma der «Politeia»

Rationaler Egoismus und vernünftige Subjektivität

Oder: Warum wir Hobbes nicht folgen wollen

Mauersturz und Terrorzeichen

Mit einem Nachwort zum 24.2.2022

IIIDie Stimme des Intellekts ist leise …

Einleitung

Einige Grundbegriffe

Über (negative und positive) Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit

Macht Macht dumm?

Über den Unterschied zwischen Rationalität und Vernunft

Ordnung und Todestrieb. Politische Theorie und Psychoanalyse

Eine Zitatenmontage

Die Zerstückelung des Fu-Tschu-Li

Über die (Un)Begründbarkeit der Menschenrechte

Vorrang der Demokratie vor der Philosophie?

Über den Sinn von Politischer Philosophie

Epilog: Giacomettis «Chariot»

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Drucknachweise

Vorwort

Putins Schatten liegt über der Welt der liberalen Demokratie. Er verdunkelt die Idee der politischen Vernunft: dass nicht Gewalt die letzte Richterin in ihren Dingen sei.

Der 24.2.22 behauptet das Gegenteil. „Zeitenwende“ ist das Schlagwort, das den Schluss bestätigt. Darum braucht, wer dennoch darauf beharrt, das Ende der Geschichte nicht als die ewige Wiederkehr blutiger Machtkämpfe zu deuten, für seine Zuversicht die besten Argumente.

Um sie bemüht sich dieses Buch; mit einer Gegenwartsanalyse zuerst (I); dann mit Überlegungen aus dem Fundus der philosophischen Tradition (II); schließlich im Blick auf das, was menschliche Vernunft ist – und was sie von bloßer Rationalität unterscheidet.

Alle Texte, mit Ausnahme des ersten, sind oft lange vor dem Krieg in der Ukraine entstanden, doch ihr gemeinsames Thema – die Sache der politischen Vernunft – verbindet ihre Folge zu einem Ganzen. Auf seinem Hintergrund erscheint der 24.2.22 als symptomatischer Augenblick: als Moment einer Entwicklung, die dem Prinzip Hoffnung – trotz allem – nicht widerspricht.

Da gründliches Nachdenken seit Sokrates’ Zeiten nichts ist, was seine Bahn so geradlinig und schnurstracks wie die Titanic zu ziehen weiß, ist im Folgenden auch mit gelegentlichen Wiederholungen und nicht unkomplizierten Manövern zu rechnen – und mit einigen Umwegen, beim Versuch, die Dialektik des Lebendigen zu vermitteln.

Zürich, Anfang Februar 2023

I

Putins Schatten. Oder die Probe aufs Exempel

Über Systemkonkurrenz, MAD und vernünftige Zuversicht

Getäuscht haben sich alle; oder fast alle. Putin und seine Mitläufer zuerst, aber auch die Politiker im Westen, die Expertinnen und Analytiker, die Journalisten und Journalistinnen und Weltkenner; Putinversteher nicht weniger als ihre Verächter. Der 24. Februar 2022, dieser monströse Aufmarsch einer Panzerschlange vor Kiew war nicht wirklich erwartet worden. Genauso wenig wie deren baldige Zertrümmerung, das Scheitern der taktisch wichtigen Besetzung des Kiewer Flughafens, die Verluste und Rückzüge der russischen Armee seit Butscha. Verstörend waren die Zeugnisse von Brutalität und Terror, die dann zum Vorschein kamen. Putins Taten in Syrien und die Tschetschenien-Kriege hatten solche Verbrechen allerdings erahnen lassen.

Das Recht des Stärkeren

1. These

Die westliche Überraschung war immerhin nicht gleichbedeutend mit Passivität; weder im Vorfeld, noch nach Beginn der Invasion. Offensichtlich haben die amerikanische Führungsmacht und die Stäbe der Nato vieles vorbereitet. Nach 2014 war man nicht untätig geblieben. Anders ist die erfolgreiche Gegenwehr der tapferen ukrainischen Armee kaum zu erklären, und nach Beginn des Krieges sorgte die europäische und US-Diplomatie für diese überzeugende Entschlossenheit der westlichen Staaten, mit der der Machthaber im Kreml nicht gerechnet hatte. Inzwischen, nach Monaten russischer Rückschläge, kann man lesen und sogar am Fernsehen beobachten, wie die nachträglich mobilisierten Unglücklichen vor ihrer Verschiebung an die Front privat und in aller Eile Sanitätsware, brauchbare Stiefel und Schlafsäcke einkaufen.

Die Verblüffung über die plötzliche „Zeitenwende“ ist erklärbar – und keineswegs nur mit Naivität oder der Gier nach billigem Gas und Erdöl. Es gab viele und triftige Gründe, der russischen Führung zwar Rücksichtslosigkeit und kein wirkliches Interesse am Schutz völkerrechtlicher Verträge zuzutrauen, doch man durfte Putin für einen rationalen Strategen halten, der die Reaktion seiner Gegner nicht unterschätzen würde; so wenig wie die Fähigkeit des liberalen Marktsystems, wenn nötig, die Erfordernisse der eigenen Prinzipien über kurzfristigen Profit zu stellen. Dass sich die russische Armee im Verlauf der „militärischen Spezialoperation“ (jedenfalls bis jetzt) als derart kampfschwach erweisen sollte, war freilich eine Sache, mit der auch im Westen niemand gerechnet hatte. So oder so: Wer Putin als einen kalkulierenden Akteur im Geflecht realpolitischer Kräfteverhältnisse einschätzte, durfte dessen Herausforderung der westlichen Selbstbehauptungsenergie für allzu riskant und ergo für wenig wahrscheinlich halten. – Dennoch geschah sie.

Die Folgen dieser Entscheidung sind noch lange nicht alle erkennbar; sichtbar ist aber, dass sie jene immer wiederkehrenden Fragen der politischen Philosophie zum Thema machen, die seit der Antike und Thukydides’ „Melierdialog“ alle beunruhigen, die in der Welt nicht nur einen Ort ewigen Unheils und des immer wiederkehrenden Sieges blutiger Gewalt über die Möglichkeiten der Vernunft sehen wollen.

Ist der Gedanke, dass das – vermeintliche – „Recht“ des Stärkeren nicht die letzte Einsicht politischer Wahrheit bildet, eine Utopie? – In Putins Schatten ist die Aktualität dieser Überlegung so aufdringlich wie seit langem nicht mehr geworden. Und eben darum ist der Versuch nötig, begreifen zu wollen, was denen, die das Recht des Stärkeren als ihr wirkliches Recht beanspruchen, ein gutes Gewissen verschafft. Denn das ist das Erstaunliche: Selbst die brutale Gewalt glaubt mit ihren Taten im Recht zu sein, weil sie überzeugt ist, dass sie tun darf, ja tun muss, was in ihrer Macht liegt. Auch das Recht der Stärkeren beruft sich auf seine eigene Legitimität, liefert Begründungen und operiert mit Argumenten. Daher genügt – um es zu stoppen –, Gegengewalt allein nicht. So ist der Versuch nicht falsch, allererst zu überlegen, was nach Putins Meinung Russland das Recht gibt, die Ukraine zu überfallen; ein Land und eine Bevölkerung, die genau dies nicht sein wollen: ein Teil Russlands.

In der Rede des russländischen Präsidenten am 18. März 20141 formulierte Wladimir Putin, warum die Annexion der Krim und die Besetzung des Donbass gerechtfertigt seien und was die russische Führung in ihrer Politik gegenüber der Ukraine stets leiten müsse. Riccardo Nicolosi, Slawist an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, fasst es folgendermaßen zusammen: „Die seit 1991 unabhängige Ukraine [sei] zu einem Instrument westlicher Mächte unter der Führung der USA geworden, die die geopolitische Macht Russlands eindämmen [wollten], indem sie aus der Ukraine ein ‚Anti-Russland‘ [machten]. Das geschehe nicht zum ersten Mal in der Geschichte, schließlich hätten auch frühere imperiale Mächte wie die Rzeczpospolita (Polen-Litauen) und die k.u.k.-Monarchie, zu denen Teile der heutigen Ukraine gehörten, dasselbe Ziel verfolgt. Die Ukraine, genauso wie Belarus, sei aber an sich gar kein selbständiges politisches Subjekt, sondern Bestandteil einer historisch gewachsenen, großrussischen Staatlichkeit, des ‚historischen Russland‘, das nach dieser Deutung auf die ‚Kiewer Rus‘ (9.–13. Jahrhundert), das erste Großreich in der Ostslawia, zurückgeht. Ukrainer, Russen und Belarussen seien keine getrennten Völker, sondern ein ‚dreieiniges Volk‘ mit tausendjähriger Geschichte.“2

Nicolosi konstatiert die paranoiden Züge dieses Weltbildes: Der Westen will Russland – immer schon – zerstückeln; seine „natürliche“ Rolle als Großmacht werde nicht nur nicht anerkannt, sondern mit allen Mitteln bekämpft. Eine vom Westen gesteuerte Ukraine aus dem großrussischen Körper auszuschneiden, sei nur ein Teil dieses Plans: „Uns ist klar, was hier abläuft, uns ist klar, dass dieses Vorgehen sowohl gegen die [wahre, G.K.] Ukraine als auch gegen Russland und gegen eine Integration im eurasischen Raum gerichtet [ist]. Und das, während Russland sich aufrichtig um einen Dialog mit unseren Kollegen im Westen bemühte. […] Wir wurden ein ums andere Mal betrogen. […] Aber alles hat seine Grenzen. […] Wenn man eine Feder bis zum Anschlag zusammendrückt, wird sie irgendwann mit aller Kraft auseinanderschnellen. Das sollte man nie vergessen.“3

Putin sieht sich in der Rolle des geschichtlich Auserwählten; seine Aufgabe ist es, die großrussische Erde in ihrer Einheit zu bewahren. Unter diesem Aspekt wird rasch verständlich, warum er sich berechtigt, ja dazu genötigt glaubt, endlich aufs Ganze zu gehen und jede kalkulierende Vorsicht fahren zu lassen: um jene Risiken einzugehen, die die westlichen Politikexperten ihm nicht zutrauen wollten. Geschichtliche Lage und persönliche Situation des bald Siebzigjährigen sagten ein und dasselbe: Weiterzuwarten wäre falsch; die Zeit war endlich reif.

Ein beinahe eschatologisches Pathos kann man auch aus den Inszenierungen im Vorfeld des 24.2.2022 herauslesen; aus diesen televisionären Kriegsräten und Abkanzelungen (meist) vorbehaltlos zustimmender Vasallen; Aufführungen, die alle nur einen Zweck hatten: die Darstellung des umsichtig entschiedenen Führers, der wohlüberlegt tut, was er tun muss. Dass vieles daran unfreiwillig komisch wirkte, verführte viele Beobachter zur Vermutung, dass es so ganz ernst wohl doch nicht gemeint war.

Putin spricht von einem „aufrichtigen Wunsch nach fairer Partnerschaft“ und von dessen Zurückweisung. Er meint damit die Ausweitung der Nato in die Einflusszonen der verblichenen Sowjetunion. Seine Rechtfertigung für den Übergang in ungeschmälerte Machtpolitik macht zugleich sichtbar, wie sehr sein Weltbild des von Feinden umzingelten Russlands zu erkennen verunmöglicht, dass die Mehrheit der Ukrainer und Ukrainerinnen das Angebot einer russisch geprägten Lebenswelt wenig attraktiv fanden und sich deshalb nach Westen orientierten. Blindheit und Verblendung lassen ihn zum Fanatiker werden, der die Realität nicht mehr richtig zu deuten vermag. Begünstigt wird diese Fehlwahrnehmung durch das von ihm selbst aufgebaute Machtsystem. Es verlangt die rabiate Demonstration von Härte, wenn seine Plausibilität zu bröckeln beginnt. In Putin aber allein den von Anfang an zu allem entschlossenen Praktiker der Gewalt zu sehen, ist zu kurz gedacht. Denn es sind eben die Anderen, die ihn dazu zwingen, endlich auf den Weg seiner, wie er meint, berechtigten Mission zu gehen und zugunsten seines Auftrags zur Gewalt zu greifen. Putin liefert das Muster einer Argumentation, der man stets begegnet, wenn man begreifen will, weshalb die Idee der politischen Vernunft immer wieder übertrumpft wird.

Putins Schatten über der Ukraine ist aber mehr als ein beliebiges Ereignis in der Kette machtpolitischer Regularitäten: Es ist die Probe aufs Exempel, ob die Idee der politischen Vernunft – Einigung aus gemeinsamer Einsicht statt der Diktatur tödlicher Gewalt – auch unter den Bedingungen der Gegenwart nur eine schöne Utopie ist und keine wirkliche Möglichkeit darstellt. Gewiss, Putin hat sich dem „Ordnungsmodell einer Kombination von wirtschaftlicher Macht und rechtlichen Regeln als Modus internationaler Verhaltenssteuerung“4 nie unterstellt. Die Idee, dass es für ihn und sein Land besser wäre, „Kosten und Nutzen sorgsam [abzuwägen] und sich nicht von Zorn und Wut sowie den Erinnerungen an eine ‚große Vergangenheit‘ leiten zu lassen“ (Herfried Münkler), hat ihn – trotz gelegentlicher Vorspiegelungen – niemals bestimmt. Sein Misserfolg in der Ukraine erlaubt aber die Frage, ob mit dem Scheitern der großrussischen Fantasie vor Kiew nicht gleichfalls eine generelle Vorstellung vom Vorrang der Gewalt vor ziviler Einigung zugrunde geht. Auch wer zugibt, dass mit der Erfahrung des 24.2.2022 die Wichtigkeit militärischer Ressourcen – die Fähigkeit, Kriege zu führen, um Kriege zu verhindern – wieder stärker ins Bewusstsein gerückt ist (ganz vergessen war sie ja zu keiner Zeit!), muss nicht folgern, dass nun schärfste Freund/Feind-Konfrontationen und die bellizistische Ideologie des Kalten Krieges fällig sind.

Das ist also die These dieses Buches: Nicht obwohl, sondern weil es das Datum des 24.2.2022 gibt, darf man fragen, ob unter den besonderen Bedingungen der Gegenwart das Vermögen der größten Tötungsmacht immer noch der letzte Richter menschlichen Zusammenlebens sein muss oder ob es nicht selbst zum Helfer der politischen Vernunft geworden ist. – Die Zukunft nach dem „Ende der Geschichte“ braucht Fukuyamas einstigem Optimismus nicht unbedingt zu widersprechen …

2. Der Melierdialog. Zur Logik imperialer Strategie

Thukydides berichtet, was die athenischen Gesandten – im sechzehnten Jahr des Peloponnesischen Krieges – der Insel Melos und ihren Bewohnern mitteilten, als diese neutral bleiben und sich nicht dem attischen Seereich anschließen wollten: „Wir gedenken […] nicht mit schönen Worten […] endlose […] Reden euch vorzutragen, noch dürft ihr meinen, uns zu überreden […], ihr hättet uns nichts zuleide getan. Sondern das Mögliche sucht zu erreichen […], da ihr so gut wißt wie wir, daß im menschlichen Verhältnis Recht gilt bei Gleichheit der Kräfte, doch das Mögliche der Überlegene durchsetzt, der Schwache hinnimmt.“5 (Hervorhebung G.K.) Nach einem langen Dialog, der klar und scharf die unversöhnlichen Positionen herausarbeitet, beenden die Athener das Gespräch mit den Worten: „Ihr seid schon die Einzigen […], die die Zukunft [anders] sehen, als was zutage liegt, […] aber so tief die Verblendung […], so tief wird auch euer Sturz.“6 Daraufhin bauen die Athener eine Mauer um Melos, belagern die Stadt und warten bis in die Wintermonate. „Als […] dann noch [Verstärkung] aus Athen kam, […] und nun die Belagerung mit aller Macht geführt wurde […], ergab sich Melos auf Gnade oder Ungnade.“7 Den Bericht schließt Thukydides mit lakonischen Sätzen: „Die Athener richteten alle erwachsenen Melier hin, soweit sie in ihre Hand fielen, die Frauen und Kinder verkauften sie in die Sklaverei. Den Ort gründeten sie selber neu, indem sie später 500 attische Bürger dort ansiedelten.“8

Wie immer man den Melierdialog deutet, eine Botschaft ist unmissverständlich. Wer sich im Besitz überlegener Macht sieht, hält sich für berechtigt zu all dem, was er damit erreichen kann. Der Mächtige geht bis an die Grenzen seiner Macht; zu rechtfertigen hat er sich dafür nicht. Sein Problem ist nur, die eigene Macht nicht gebraucht oder überschätzt, die eigenen Grenzen verkannt zu haben.9

In Putins Schatten verdient die Erinnerung an Thukydides’ Melierdialog ein besonderes Licht. So deutlich wie möglich bezeichnet sie, was mit dem Epochendatum des 24.2.2022 auf dem Spiel steht: ob Vertrauen auf eine Zukunft und eine Ordnung der Welt noch sinnvoll sein kann, in der pure Macht und das Recht der Freiheit nicht Antagonisten sind, sondern Verbündete sein könnten. Auch dann, wenn man den 24.2.2022 nicht in Jahrhunderte übergreifenden Zeithorizonten verortet, erneuert der russische Krieg gegen die Ukraine die Auseinandersetzung, die seit dem Fall der Berliner Mauer allen Welt(un) ordnungsanalysen die Frage stellte, ob „Große Politik“ nach wie vor vom Konflikt imperialer Herrschaftsansprüche beherrscht sei oder mit dem Mauerfall eine neue Zeit begonnen habe.

McMaster. Oder die Systemkonkurrenz

1. Drei Annahmen

Im Rückblick wird offensichtlich, dass diejenigen richtig lagen, die in Putins Politik spätestens ab der Mitte der Nullerjahre des 21. Jahrhunderts die Bewegungen imperialer Zielsetzung erkannten. Aber hatten auch diejenigen recht, die a priori davon überzeugt waren, dass der historische Moment von Russlands Schwäche nach dem Ende der Sowjetunion nicht zu verpassen sei und sich deshalb, so bald wie möglich, deren ehemalige Herrschaftsräume militärisch sichern wollten? Wer so – zugunsten des Westens und seiner Werte – argumentierte, konnte sich bald auch auf eine konzeptionell explizite Weltordnungspolitik der USA stützen.10 Viel Zeit zu verlieren hatte man jedoch nicht. Das Fenster der Gelegenheiten würde nicht ewig offenbleiben.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zwischen zwei Dingen zu unterscheiden; zwischen der fundamentalen Handlungslogik imperialer Mächte, wie sie Thukydides in den Feststellungen der athenischen Repräsentanten auf den Punkt bringt, und den moralisch-politischen Rechtfertigungen für das jeweilige imperiale Handeln. Denn „moralische Glaubwürdigkeit […] gehört zweifellos zu den Ressourcen imperialer Macht. [Doch sie ist] nicht der Maßstab der Politik – sie ist eines ihrer Mittel: die Logik des Imperiums weiß moralische Glaubwürdigkeit sehr wohl als Machfaktor einzusetzen, aber sie würde sich nie selber an ihr messen lassen.“11

Ein Dokument für den Konnex zwischen der moralischen Befestigung der eigenen unzweifelhaft machtpolitischen Orientierung liefert (knapp anderthalb Jahre vor Putins Krieg) der US-amerikanische General H. R. McMaster.12 Es formuliert nicht einen unmittelbaren Hegemonieanspruch, aber die Überzeugung, dass in der gegenwärtigen Weltlage Russland (und auch China) feindlich gesinnte Gegner sind, mit denen „uns“ – den Westen – kein gemeinsamer Weltwertbezug außer der Logik der Macht verbindet. Alles andere wäre „narzisstische Selbsttäuschung“. McMaster: „Die globale Systemkonkurrenz [drängt] mit aller Macht zurück: China bedroht seine Nachbarn im Südchinesischen Meer. […] Und Russland träumt wieder davon, eine Großmacht zu sein, was sich unter anderem in der Annexion der Krim zeigte.“

Auf die Frage, ob es nicht ein Fehler war, die „ausgestreckte“ Hand Putins in seiner Rede von 2001 im deutschen Bundestag auszuschlagen, antwortet McMaster politpsychologisch: „Putin hat immer wieder erklärt, dass er sein Land zu alter nationaler Größe zurückführen will. Wir sollten nicht den Fehler begehen, uns selbst für die ungeheuerlichsten Fehler unserer Feinde verantwortlich zu machen. Das ist das, was ich in meinem Buch ‚strategischen Narzissmus‘ nenne.“13 Der General spricht von „globaler Systemkonkurrenz“, wenn er Russland und China als Feinde im Wettbewerb der Weltmächte bezeichnet. Er warnt vor einem – Europa und insbesondere die BRD – lähmenden Trugschluss, der in diesen Akteuren ein Spiegelbild des eigenen Selbst, nämlich einen prinzipiell auf friedlichzivile Kooperation eingestellten Akteur erkennen will. Putins Russland mit einer den liberalen Werten der Menschenrechte und rechtsstaatlichen Demokratie verpflichteten Nation zu verwechseln, sei lächerlich. „Wir haben Putin gekränkt und deshalb darf er nun unsere Demokratien unterhöhlen? Ich nehme an, es erklärt auch, warum Putin seine eigenen Leute unterdrücken darf und die russische Verfassung verbiegt, damit er Zar bis ins Jahr 2036 bleiben kann. Das leuchtet überhaupt nicht ein. Was die Erweiterung der Nato und der EU betrifft: Hätten wir wirklich Nationen, die wieder ihre Freiheit zurückerlangt haben, sagen sollen: ‚Tut uns sehr leid, aber ihr dürft nicht Mitglied der EU werden, weil Russland das nicht will‘?“

Nach dem 24.2.22 mag man sich fragen, wie es möglich war, diesen Feststellungen und Warnungen nicht zu folgen. Doch zunächst interessiert der Zusammenhang von McMasters Beurteilung der Weltlage mit der darin vorausgesetzten Imperiallogik.

Drei Annahmen sind grundlegend: Erstens die Annahme, dass es zwischen der amerikanisch-westlichen Partei und dem Russland Putins über kurz oder lang zu einer auch militärisch bedeutsamen Kraftprobe kommen muss. Zweitens der Glaube, dass es im Rahmen dieser Konkurrenz keine neutrale dritte Position geben kann. Drittens die Überzeugung, dass „wir“, die liberalen Demokratien des Westens, eine gemeinsame Wertebasis und die entsprechenden Zukunftserwartungen besitzen.

McMaster spricht nicht als Historiker, sondern aus der Sicht eines auf Handeln und Handlungsbefugnisse gerichteten Militärstrategen. Das widerlegt ihn nicht, aber es relativiert seinen Standpunkt als den eines Akteurs, der stets von bestimmten Risikodefinitionen und Zukunftsszenarien ausgeht. Risikoerwartungen sind aber – wie gut ihre Wahrscheinlichkeitsberechnungen auch abgestützt sein mögen – in der Welt menschlichen Handelns nie nur externe Beobachtungen, sondern ebenso Eingriffe. Faktoren dessen, was sie als möglich oder unmöglich vermuten und deshalb in der Wirklichkeit vorbereiten. Das ist immer der Fall und es gilt erst recht in der Großen Politik der Geostrategie. Wer ex ante damit rechnet, dass ein im Machtspiel Unterlegener, aber noch nicht radikal Besiegter, sobald er es vermag, erneut zum Feind werden wird, der sorgt – mit höchster Wahrscheinlichkeit – auch für das Eintreffen dieser Prognose; und natürlich gilt das für beide Seiten. So münden Risikoerwartungen und die komplementären Erwartungserwartungen fast automatisch in einen Teufelskreis.

Zur imperialen Handlungslogik gehört die Reduktion offener Konstellationen auf das Entweder/Oder. Exemplarisch zeigt das der „Melierdialog“. Zwischen den imperialen Antagonisten gibt es keine neutrale Position; nur periphere Räume, die man selbst kontrollieren muss, wenn man verhindern will, dass sie die andere Seite übernimmt. Darum gilt: Wer Neutralität für sich beansprucht, der hat das Machtspiel nicht begriffen. So argumentieren nach der Vernichtung von Melos die Advokaten der Athener; gewiss nur aus ihrer Sicht, aber nach den Regeln im Kampf ums Recht des Stärkeren: „Angesichts der schwierigen Situation [ihrer] Stadt im Krieg mit den Spartanern, der Wankelmütigkeit einiger Bundesgenossen sowie des Umstandes, dass Renitenz fast immer Schule macht, sei [den Athenern] gar nichts anderes übrig geblieben, als Melos zu einer Entscheidung für oder gegen die imperiale Macht im ägäischen Raum zu zwingen; und jedes noch so folgenreiches Zugeständnis wäre ein Fehler gewesen.“14

Ins generelle Kalkül der Machtspieltheorie übersetzt heißt das: „Die fehlende Neutralitätsoption von Imperien [besteht] darin, dass sie, wenn sie ernsthaft herausgefordert werden, ihre ‚Welt‘ mit der Alternative des Für oder Wider die Vormacht überziehen und ein neutrales Heraushalten als verdeckte Feinderklärung ansehen müssen (…) US-Präsident Bushs Satz im War on Terror ‚Who is not for us, is against us‘ – ist, so betrachtet, eine offenherzige Darlegung imperialer Logik.“15 Im Raum von McMasters Prämissen führt letzten Endes kein Weg an der Freund/Feind-Unterscheidung vorbei. Dabei ist auch klar, wer „wir“ sind. Nämlich die Freunde der Demokratie, der Menschenrechte und der Freiheit; Verteidiger jener Werte, die die Grundlage unseres Handelns bilden. Ideale, die eine inklusive, ja kosmopolitische Kraft und Transgressivität besitzen; aus Energien, die wir nur begrüßen können: „Hätten wir wirklich Nationen, die wieder ihre Freiheit zurückerlangt haben, sagen sollen: Tut uns sehr leid …?“

Man wird dies selbstverständlich verneinen und die Unterstützung all jener fordern, die sich im Rahmen der „globalen Systemkonkurrenz“ zur Partei der Freiheit zählen. Mit dem Plädoyer für die Freiheit gerät McMasters Position der wohlwollenden Patrimonialmacht USA (die mehr oder weniger verständnisvoll über den narzisstischen Unsinn der westeuropäischen Bundesgenossen den Kopf schüttelt) allerdings auch in subtile Schwierigkeiten: Die Kennzeichnung der Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Russland beziehungsweise China als „Systemkonkurrenz“ und die gleichzeitige Deutung der Weltpolitik als Kampf zwischen Imperien passen nämlich in einem wesentlichen Punkt nicht gut zusammen.

Der Begriff „Systemkonkurrenz“ betont im Verständnis McMasters den Unterschied zwischen dem Westen (d.h. den unter der Führung der USA zusammengeschlossenen liberaldemokratischen Staaten) gegenüber den autoritären beziehungsweise totalitären Regimes Chinas und Russlands. Das impliziert aber die Vorstellung, dass der innere Zusammenhang des Westens im Grunde nicht dem Muster einer imperialen Einheit entsprechen kann. Imperien sind Dominanzstrukturen, die großes Gefälle zwischen dem Zentrum und den peripheren Klienten (oder Unterworfenen) erzeugen, Rangdifferenzen, die im Verbund freier demokratischer Staatsnationen – nicht zuletzt wegen der fundamentalen Wertbindungen der Primärmacht selbst – normativ ausgeschlossen sind. Deshalb kann in der Binnenperspektive das westliche System sich selbst nie als Imperium begreifen; ein Imperium sind „wir“ nicht. Allein weil die anderen imperial operieren, besteht der Zwang, analog zu reagieren. Der alte Teufelskreis.

Ein Ausweg aus dieser Unheilsdynamik liegt (oder läge) im Gedanken, der schon zum differenzierenden Begriff der „Systemkonkurrenz“ nötigt: Offensichtlich verkörpert die liberale Demokratie ein geschichtsmächtiges Ideal. Deswegen, weil das Bedürfnis nach demokratischer Selbstbestimmung, gesichert und gehegt im institutionellen Gefüge liberaler Rechtsstaatlichkeit, ein politisches Motiv und sozial wirksames Versprechen ist, das zwar nicht notwendigerweise zur Entwicklung einer regelbasierten Völkergemeinschaft führt, aber unzweifelhaft eine in diese Richtung lenkende Kraft bildet.

2. Die Idee des Westens und Fukuyamas Theorie

Die Auseinandersetzung zwischen dem Westen und seinen autoritär-totalitären Gegnern sei sowohl „Systemkonkurrenz“ wie auch als geopolitisch-imperiales Machtspiel zu verstehen, erklärt McMaster. Das leuchtet ein. Aber die Sache ist in sich spannungsvoll und komplizierter, als es auf den ersten Blick aussieht. Zur ersten Perspektive gehört ein Geschichtsverständnis, das Möglichkeiten positiver Veränderungen zulässt oder sogar befördern möchte, die zweite rechnet mit der stets sich erneuernden Freund/Feind-Spaltung der Welt. Die eine Deutung darf die Chance nachhaltiger und kooperativer Kriegsbändigung mit in Betracht ziehen, die andere muss solche Haltungen – vermeintlich realpolitisch denkend, im Grunde aber voreingenommen fixiert – ausschließen.

Politisches Handeln ist wie alles Handeln von Zukunftsannahmen geleitet. Es macht daher einen großen Unterschied, ob die Möglichkeit demokratischer Evolution oder das apriorische Kalkül imperialer Herrschaftskonkurrenz den Erwartungshorizont definieren. Das gilt auch dann, wenn man sich selber in der Rolle dessen sieht, der Freiheit und Demokratie verteidigt. Wenn diese Selbsteinschätzung mehr sein will als nur ein Faktor zur Durchsetzung von Macht, muss sie demokratisch-zivilen Fortschritt selbst dort für möglich halten, wo sie ihren momentanen Gegner sieht. „Narzisstisch“ ist deswegen eine solche Orientierung noch nicht. Freilich verlangt politische Vernunft auch, das real Mögliche mit der faktischen Wirklichkeit zu vergleichen. Dabei die stets zwiespältige Natur des Menschen zu verkennen, wäre ein schlimmer Fehler. In Putins Schatten ist dieser Fehler vielen zu oft geschehen. Beirrt durch verständliche Hoffnungen, ermuntert durch die Wunder der Ära Gorbatschow und bestärkt durch die nicht unvernünftige Überlegung, dass die Verflechtung ökonomischer Interessen auch zur Grundlage von ziviler Rechtsherrschaft und gemeinsamer Streitschlichtung werden kann. Die Plausibilität solcher Orientierungen zu verneinen, wäre aber nur konsequent, wenn man schon vor 15 Jahren allein der imperialen Hypothese gefolgt wäree. Wer dagegen an die Realitätstauglichkeit liberaldemokratischer Ideen glaubte, hatte nicht nur in den Neunzigern Gründe, mit einer friedlichen Zukunft zu rechnen.

„‚Europa, unser gemeinsames Haus‘ lautete die Formel, mit der Michail Gorbatschow in den frühen Jahren seine Reformpolitik der russischen Machtelite annehmbar machte. Mittlerweile [im Jahr 2006, GK] sieht es nicht mehr danach aus […]. Aber die kulturelle Logik, ebenso die Bevölkerungsverteilung innerhalb der eurasischen Landmasse und das Sicherheitsbedürfnis verlangen, dass Russland gemeinsam mit dem Westen seine Zukunft definieren muss.“16

Zu erklären, weshalb und wieso Putin von dieser Linie abgekommen ist (oder sie im Grunde nie im Sinn hatte hatte), ist die Aufgabe historischer Forschung; selbstverständlich ist die Sache jedenfalls nicht. Dennoch ist richtig, all denen Naivität vorzuwerfen, die mit Beginn seiner dritten Amtszeit als Präsident der Russischen Föderation dessen nun offen revisionistischen Auftritten nicht glauben wollten. „Narzissmus“ war das nicht, selbstverschuldete Blindheit aber schon. (Auch dafür sind die historischen Erklärungen noch längst nicht hinreichend formuliert.)

Immerhin lassen sich bereits heute einige Ursachen der von McMaster beklagten (vor allem deutschen) Haltung feststellen. Erstens die Pfadabhängigkeit allen politischen Tuns: der einmal eingeschlagene Weg wird ungern verlassen. Je länger er ist, desto schwieriger wird der Abschied. Zweitens der Glaube der Wiederkehr einer eher „harmlosen“ Imperiumsvariante. Vor allem die Berliner Politik verwechselte Putins Beharren auf Großmachtrespekt mit den gemäßigten Ansprüchen der späten Sowjetunion und blieb bequem. Drittens gab es die verbreitete Unterschätzung prärationaler Antriebe politischer Führer und ihrer Gesellschaften.

Putins Unvernunft (die rationale Planung nicht ausschließt) passt gut zu jeder pessimistischen Geschichtsmetaphysik, die die Welt des Politischen zur ewigen Wiederkehr von Feindschaftsverhältnissen und Weltherrschaftskriegen verurteilt sieht. Die Zwänge imperialer Logik sind für diese Art von Weltanschauung nichts, was sich jemals überwinden ließe. Krieg ist für sie der menschlichen Natur eingeschrieben. Darum ist alles, was dagegensprechen möchte, utopische Verwirrung und gefährliche Illusion.

Im Bannkreis solcher Theorien kann Hoffnung auf „Ewigen Frieden“ oder auch nur auf ein friedfertiges „europäisches Haus“ nur weltfremd erscheinen. Folgerichtig wurde und wird heute auch Fukuyamas berühmte These vom „Ende der Geschichte“ schnell zum Kürzel für Unsinn. Dabei ist sie, richtig verstanden, nichts anderes als eine rhetorisch zugespitzte Formel für die innere Zuversicht, die das westliche, der Ordnung der Liberalität und individuellen Autonomie verpflichtete Selbstverständnis immer schon auszeichnet. Wer das leugnet, muss zum Reaktionär und Gegenaufklärer werden.

Die von dieser Seite attackierten Leitvorstellungen der Aufklärung und der Französischen Revolution sind Ideale der Praxis, nicht objektive Feststellungen. Mit normativer Wirkung erwarten sie etwas Gutes für alle –im schlichtesten Sinn des Wortes, also die menschenmögliche Wirklichkeit einer Welt, die zwar nie frei ist von Konkurrenz und Frustrationen, aber nicht permanent bedroht wird von tödlicher Gewalt und persönlicher Unterwerfung. Und diese für den Westen wesentliche Philosophie der individuellen und demokratischen Freiheit ist im Kern kosmopolitisch und transgressiv.17 Darum darf – besser: muss – sie glauben, dass Fortschritt in ihrem Sinn geschehen kann und geschieht. Die objektive Geschichte Nordamerikas und Europas ist ja in der Tat auch eine Geschichte des demokratischen Fortschritts. Nicht umsonst fürchtet sich Putins Regime vor einer im westlichen Sinn demokratisierten Ukraine. Das Wort vom „Ende der Geschichte“ – wenn nicht als Prognose missverstanden – bleibt daher dann triftig, wenn man es als Begriff für die auch faktisch beobachtbare Geschichtsmacht nimmt, die dem Wunsch nach individueller und kollektiver Selbstbestimmung innewohnt.

Dass es, unter gewissen Voraussetzungen, einen langfristigen Trend zur Etablierung volkssouverän begründeter und auf die Prinzipien menschengleichheitsbezogener Rechtstaatlichkeit, also eine evolutionäre Logik der Normativität gibt, ist daher keine überschießend optimistische Behauptung, sondern eine plausibel begründbare und richtungsweisende Zukunftsannahme. Fukuyamas diesbezügliche Theorie ist im Übrigen nicht schwer zu begreifen, was nicht gegen sie spricht. – Worauf beruhen nämlich der Erfolg und die Überzeugungskraft der liberalen Demokratie? – Auf ihrer Fähigkeit, den zwei Grundkräften, die die soziale Evolution steuern, optimal zu entsprechen: dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt und dem Wunsch nach gegenseitiger Anerkennung. Die Moderne seit dem 19. Jahrhundert ist die historische Phase, in der dieser Konnex evident wird:

„Die sozialen Veränderungen, die mit der Industrialisierung einhergehen, darunter besonders die Entwicklung eines hohen allgemeinen Bildungsstandes, scheinen ein gewisses Bedürfnis nach [individueller-personaler] Anerkennung freizusetzen, das bei ärmeren und weniger gebildeten Völkern [als solches fast nur latent existieren kann]. Wenn der Lebensstandard steigt, wenn die Menschen weltoffener und gebildeter sind und wenn in der Gesamtgesellschaft eine größere Gleichheit der Lebensverhältnisse entsteht, dann streben die Menschen nicht nur nach mehr Wohlstand, sondern sie wollen ihren Status anerkannt sehen. Wenn der Mensch nur aus Vernunft und Begierde bestünde, hätte er sich damit abgefunden, in marktwirtschaftlich orientierten autoritären Staaten zu leben […]. Aber die Menschen haben außerdem [ein ursprüngliches Bedürfnis in ihrem Selbstwert anerkannt zu werden], und darum fordern sie demokratische Regierungen, die ihre Autonomie als freie Individuen respektieren und sie wie Erwachsene behandeln und nicht wie Kinder.“18

Wo dementsprechende Regimes etabliert sind, besteht ein Interesse am Bestand weiterer Demokratien. Staaten, die so organisiert sind, kämpfen sehr ungern beziehungsweise gar nicht gegeneinander. Denn Völker, die sich selber bestimmen, kennen die Kosten des Krieges. Und sie erweisen sich als ideologisch viel weniger manipulierbar als die Massen eines Führer- oder Cliquenstaates. Posthistorisch ist das nicht, sondern klug und durchaus nicht im schlechten Sinne pazifistisch. Die guten Gründe für para bellum, si vis pacem sind ja nicht per se identisch mit den Interessen des militärisch-industriellen Komplexes. Und das aktuelle Beispiel der Ukraine beweist, dass der kollektive Wille zur nationalen Selbstregierung immer noch die Bereitschaft zu entschiedener Verteidigung mobilisieren kann. Damit hatte Putin offensichtlich nicht gerechnet.

Es gibt darum immer noch eine optimistisch definierbare Zukunft nach dem „Ende der Geschichte“. Denn es steht für einen Zustand, der keine irreale Utopie darstellt. Der Begriff einer kriegsaversen Weltbürgerlichkeit, in der das auf das Prinzip der gleichen Freiheit aller gestützte Recht und nicht die pure Macht und deren Gewalt festlegt, was gilt, formuliert Hoffnung aus vernünftiger Einsicht.

Vernünftige Gegnerschaft

„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“, meint Schillers Wilhelm Tell und rechtfertigt so, dass einseitige Gewaltverzichte vergeblich und falsch sind, wenn sie allein dem rücksichtslosen Aggressor dienen. „Böse“ ist, wer nichts respektiert als die eigene Willkür. Solche Bosheit – als Möglichkeit einer Person oder eines Kollektivs – ist eine Realität der menschlichen Spezies. Auch der Aufklärer Kant hat sie politisch im Visier, wenn er 1784 in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte weltbürgerlicher Absicht von der „Bösartigkeit der menschlichen Natur“ spricht, die sich „im freien Verhältnis der Völker […] unverhohlen blicken läßt.“19 Für ganz und gar eliminierbar hält er sie nicht. Das Paradies vollkommenen Friedens ist ein jenseitiger Ort. Aber Kant hält sie für eingrenzbar. Ihre eigene Dialektik setzt immer wieder einen Prozess der Bändigung in Gang, einen Weg der „Zivilisierung“, der eine andere Zukunft erwarten lässt als die ständige Wiederkehr des mit allen Mitteln geführten Kampfes um Macht. „Bosheit“ ist in dieser Perspektive eine zwar unausrottbare, aber durch Erfahrung und Klugheit beherrschbare sozialanthropologische Eigenschaft.

Diese Annahme bildet das Fundament jeder Theorie in der Art Fukuyamas. Und aus ihrem Blickwinkel ist erkennbar, was ihr und jeder liberalen politischen Philosophie inakzeptables Gegenstück ist:

Im Folgenden ein Auszug aus der Abschrift einer Geheimrede, die Adolf Hitler am 3. Februar 1933, unmittelbar nach seiner Berufung durch Hindenburg am 30. Januar als Kanzler, vor den Chefs der Reichswehr gehalten hat. Im Vortrag erklärt Hitler mit größter Deutlichkeit, was er plant; nämlich die Abschaffung der Demokratie, die Errichtung seiner Diktatur und die Eroberung des „deutschen Lebensraumes“ im Osten:

„Wie im Leben der Einzelnen sich stets der Stärkere und Bessere durchsetzt, so im Leben der Völker. Die starke europäische Rasse, eine kleine Minderheit, hat sich jahrhundertelang Millionen von Menschen dienstbar gemacht und auf ihrem Rücken die europäische Kultur aufgebaut. […] Heute ist in dieser normalen Entwicklung ein Umschwung eingetreten. […] Wie kann Deutschland nun gerettet werden […]? Man darf nicht mehr Weltbürger sein. Demokratie und Pazifismus sind unmöglich […]. Darum ist es unsere Aufgabe, die politische Macht zu erobern, jede zersetzende Meinung aufs Schärfste zu unterdrücken, und das Volk zur Moral zu erziehen. Jeder Versuch des Landesverrates muss rücksichtslos mit dem Tode bestraft werden. […] Um dieses Ziel zu erreichen, erstrebe ich die gesamte politische Macht. Ich setze mir eine Frist von 6-8 Jahren. […] Dann wird das Heer fähig sein, eine aktive Außenpolitik zu führen, und das Ziel der Ausweitung des deutschen Lebensraumes wird [dann] mit bewaffneter Hand erreicht werden. (Das Ziel wird der Osten sein.) Eine Germanisierung der Bevölkerung des […] eroberten Landes wird nicht möglich sein. […] Man muß […] rücksichtslos einige Millionen Menschen ausweisen.“20

Hitlers Rede und deren radikale Umsetzung im Verlauf eines Jahrzehntes liefern ein unübertreffliches Beispiel für jene Bösartigkeit, die Kant für unausrottbar hält. Wenn er glaubt, dass man ihr einmal „Meister“ werden kann, dann nicht, weil das Böse aus der Welt verschwindet, sondern weil es immer wieder an seiner eigenen Maßlosigkeit scheitert; an der ihm selbst verborgenen Irrationalität, die sein Wirken in letzter Instanz ermöglicht und bestimmt.

Hitler beruft sich auf „das Leben“ und dessen Prinzip, wenn er die liberale Demokratie vernichten will, die das für ihn allein geltende Recht, nämlich das des Stärkeren, nicht anerkennt. Aufgrund eben dieses Rechts hält er sich für ermächtigt, „rücksichtslos“ jene „Millionen Menschen“ seiner Willkür zu unterwerfen, die sich – nach seiner Meinung – als die Schwächeren erweisen werden. Das ist die Annahme, die schon der „Melierdialog“ enthüllt: Wer im Namen des Rechts des Stärkeren spricht, spricht – als Stärkerer – im Namen des natürlichen Rechts. Das gilt auch für Putins Angriff auf die Ukraine. Im Horizont der Mechanik der Macht ist Bosheit also ein sehr relativer Begriff. Nicht relativ dagegen ist der kühle Blick der Rationalität, die begriffen hat, dass kein Mächtiger auf ewig der Mächtige bleibt. Denn kein Sieg ist endgültig, irgendeinmal ist die Kraft jedes Siegers erschöpft. Die Logik des Machtspiels erzeugt am Ende nur Geschlagene. Es ist das Wesen der Macht selbst, das die Mächtigen am Ende besiegt. So lautet die Einsicht, auf die sich die Kantische Rationalität beruft, wenn sie glaubt, dass man – nicht schon jetzt, aber im Blick auf die Zukunft – der „Bosheit einmal Herr werden“ kann.

Die Bosheit der Mächtigen geht nicht notwendigerweise an ihrer Erbarmungslosigkeit gegenüber den Unterlegenen zugrunde, sondern an ihrer Selbstüberschätzung und dem Unvermögen, im Spiegel der andern auch sich selbst sehen zu können. Worauf Kant primär setzt, ist – sehr nüchtern – nicht eine Moral, die gutgläubig prinzipiell vom Wohlwollen für das kommunikative Gegenüber ausgeht. Kant setzt zunächst nur auf Lernschritte, die die Menschen aus Eigeninteresse und geplagt von der trüben Erfahrung des Scheiterns zur Räson bringen. Denn für viele, vielleicht für die meisten, kann es nur so zu einer Idee von Recht kommen, die mehr bedeutet als bloß das Gesetz des zufälligen Machthabers zu sein; ein Recht, in dem endlich der Gedanke der freien Gleichheit aller die leitende Hinsicht bildet.

1. Die siamesische Pointe

Auf die Frage, wie die Welt nach Putins Invasion der Ukraine mit Russland leben könne, antwortete der Harvard-Politologe Graham Allison, Autor eines der wichtigsten Bücher zur Kubakrise von 1962:

„So böse, so dämonisch, so gefährlich Russland sein mag […] – die USA müssen versuchen, einen Weg zu finden, mit ihm zu leben.“ Allisons Begründung für diesen Satz ist unzweideutig und verdient es, wiederholt zu werden: „Putins Verhalten ist ungeheuerlich. Zugleich ist [er aber] der Anführer einer nuklearen Supermacht mit einem Arsenal, das imstande ist, jeden Menschen in den USA und Europa zu vernichten. Wenn zwei Staaten über ein solches Arsenal verfügen, dann kann der eine den andern zwar angreifen und zu entwaffnen versuchen – aber der andere ist immer noch in der Lage, seinen Rivalen auszulöschen. […] Es ist die Lektion des Wahnsinns […] MAD: mutal assured destruction – gegenseitig zugesicherte Zerstörung. Oder, wie ein grotesker Vergleich lautet […]: Wir sind wie siamesische Zwillinge, von denen keiner den anderen erwürgen kann, ohne Selbstmord zu begehen.“21

Die „Lektion des Wahnsinns“ lehrt die verrückte Rationalität, die die sonst allzu schnell verdeckte Selbsteinsicht in die Unaufhebbare eigener Endlichkeit rettet; diese Erblindung, der der momentan Stärkste immer wieder unterliegt. MAD, das Kalkül des doppelten Suizids, wird so zum Helfer des Lebens. Auf den krummen Wegen wechselseitiger Todesdrohungen muss also begonnen werden, was vielleicht einmal in den besseren Pfad des freiwilligen Gebrauchs menschlicher Friedfertigkeit mündet.

Für die erste Wegstrecke dieser Lektion empfiehlt es sich, an den ersten Klassiker der neuzeitlichen politischen Philosophie zu erinnern: Es braucht nur wenig; einen, vielleicht zwei Tage, nicht viele Befehle, ein paar Manipulationen an sehr sauberen und ingeniösen Apparaturen, die Auslösung einiger Federn, die seit langem gespannt sind, und diejenigen von uns, die – vielleicht – noch leben, befinden sich in jener Lage, die Thomas Hobbes vor mehr als dreihundert Jahren beschrieben hat: „Es gibt keinen Ackerbau, keine Schifffahrt, keine Waren, […] keine bequemen Gebäude, keine Geräte, um Dinge zu transportieren, deren Fortbewegung viel Kraft erfordert, keine Kenntnis von der Erdoberfläche, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine Literatur, keine gesellschaftlichen Beziehungen, und es herrscht, was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes – das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz.“22

Das sind Hobbes’ Worte, um die Unerträglichkeit des Zustandes vor der Etablierung von Recht und Ordnung zu schildern, die Situation des „Krieges aller gegen alle“, dessen permanent drohende Möglichkeit die Wirklichkeit staatlich monopolisierter Gewalt und die Einhaltung gewisser Verhaltensregeln zwischen den nach wie vor um Macht, Ansehen und Selbsterhaltung konkurrierenden Subjekten erzwingt. Hobbes’ Darstellung des bellum omnium contra omnes ist aber auch die Antizipation einer denkbaren Zukunft; des „Tages danach“, des erbärmlichen Finales des Großen Krieges; des Lebens nach einer mit Atomwaffen geführten, direkten Auseinandersetzung imperialer Mächte.

Doch nicht allein die hobbesianische Vorstellung einer gesetzlos gewalttätigen Vor- oder eben Nachzeit, sondern ebenso der Gedanke um dessen Willen das Bild eines „Naturzustandes“ entworfen worden ist, besitzt immer noch Aktualität; in weltumspannenden Horizonten. Denn Hobbes’ aus der Konsequenz rational verflochtener Eigeninteressen und aus den geschichtlichen Erfahrungen des 17. Jahrhunderts gewonnene Argumentation für den „Leviathan“, d.h. für die Existenz einer durchsetzungsfähigen Ordnungsmacht, die selber mit kalkuliert drohender Gewalt für die Abwesenheit des jederzeit und überall entflammbaren Bürgerkrieges sorgt, Hobbes’ Argumentation gilt heute vor allem für die Realität der zwischenstaatlichen Beziehungen, für die zwingende und tatsächlich herrschende Logik des Verhältnisses zwischen atomwaffenfähigen Blöcken.

Ein neuer, ins Planetarische gewachsener und zugleich vielköpfiger „Leviathan“ ist Realität und die Ursache des heute wieder frostig gewordenen Nicht-Weltkriegs. Dieses neuen Leviathans Versprechen ist das Ende absoluten Krieges. Seine Gesetzgebung auferlegt dafür das Modell und die Gesetze der Gegnerschaft. Sein „Schwert“ (= seine Ordnungsgewalt) ist die Mechanik der Abschreckung und deren stets mögliches Resultat: die wechselseitige Zerstörung aller nach uneingeschränkter Dominanz strebenden Akteure.

Die Gegenwart des neuen Leviathans verwirklicht in prekärer Art das, was viele sich schon nach dem Ersten Weltkrieg in freundlich-friedlicher Weise von einem Völkerbund erhofften: durch rationale Furcht die Staaten und ihre Regierungen aus dem „Naturzustand“ des bellum omnium contra omnes heraustreten zu lassen. Weil und sofern es diesen Leviathan gibt, ist die Weltstaatsutopie in gewisser Beziehung überflüssig geworden. Doch auch dieser neue, interstaatlich-planetarische Leviathan bleibt ein „sterblicher Gott“ (Hobbes). Er besteht, solange er funktioniert. Dazu ist er nur imstande, wenn man seinen Imperativen gehorcht. Die Exekution der Strafe, über die er verfügt, um zum Gehorsam zu zwingen, vernichtet auch ihn selbst. Er – so sehr wie wir – braucht die Beachtung seiner Gesetze, um überleben zu können. Es ist Clausewitz’ berühmte und außergewöhnlich exakte Theorie des Krieges, die – zusammen mit Raymond Arons Interpretationen – die dazu entscheidenden Feststellungen liefert.23

Mit Clausewitz unterscheidet Aron zwei Gesichtspunkte, die zu trennen und eigens in Beziehung zu setzen sind, wenn die „Natur des Krieges“ recht verstanden werden soll: Die „engere Bedeutung“ des Krieges und seine „Gesamtdefinition“. Die letztere bestimmt den Krieg als Mittel zum politischen Zweck. Das ergibt in der Quintessenz Clausewitz’ berühmte Formel: „[…] der Krieg ist nichts als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit anderen Mitteln.“24 Die Konsequenz dieser Formel ist klar; sie resultiert aus dem Mittelcharakter des Krieges. Der Krieg ist nichts Selbständiges; als (politisches) Instrument ist er auf das bezogen, was sein jeweiliger, vom konkreten Selbsterhaltungs- und Hegemonieinteresse des Staates diktierter Zweck ist. Von daher wird er bestimmt und zugleich begrenzt. Das Mittel, der Krieg, muss in einem kalkulierbaren und logischen Verhältnis zu seinem Zweck stehen, sonst wird er unbrauchbar und verliert seinen Sinn. Denn der Krieg ist, realpolitisch betrachtet, der Einsatz in einer Wette. Die Höhe des Einsatzes hängt von den Interessen, den politischen Kräften und Zielen ab, die der Wette zugrunde liegen.

So, unter dem Primat der Politik gesehen, unterliegt der Krieg a priori einer „modifizierenden Kraft“ (Aron), die jener Tendenz zum Extrem die Zwangsläufigkeit brechen kann, die der spezifischen Bestimmtheit des Mittels Krieg entspringt. Denn das ist die andere Seite, die „engere Bedeutung“, die in der Anfangsdefinition ausgedrückt ist, mit der Vom Kriege beginnt: „Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.“ Losgelöst betrachtet von all dem, was ihn als politisches Instrument charakterisiert, ist der Krieg eine physische – blutige – Kraftprobe. Hier greift die reine Logik des Kampfes, der wechselseitige Zwang zur Eskalation. Jeder steigert seine Kampfmittel im Maß, wie der andere sie steigert – und stets ein Stück darüber hinaus: bis zum äußersten, zum Krieg mit allen Mitteln.

Gilt nun die Clausewitz’sche Formel, d.h. der Primat des Politischen, dann muss sich die die Tendenz zum absoluten Krieg nicht immer und überall realisieren, sondern nur dann, wenn es schon im kriegsbegründenden und -leitenden politischen Zweck selbst liegt. Vor allem aber gibt es Umstände, die keiner Politik je den Krieg als Mittel zum Zweck gestatten; die Situation nämlich, da die Logik der Eskalation (die Logik des Krieges in seiner „engeren Bedeutung“) mit absehbarer Notwendigkeit die Grundlage der zwecksetzenden Instanz selbst zerstört, also die Grundlage der Logik des Krieges nach der „Gesamtdefinition“ und unter dem Primat der Politik. – Das ist die die Situation heute.

Der Atomkrieg ist keine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln mehr; kann es nicht sein. Die kalkulierbare Logik der Zerstörungspotenziale erzeugt zugleich – sich selbst negierend, aber aus zwingendem Grund – den realpolitischen Geist der Mäßigung in der Anwendung dieser Möglichkeiten. Das Drohen muss das Handeln ersetzen, die Abschreckung die Entscheidung durch den Gebrauch der Waffen.

Doch so lautet die skeptische und fürchterliche Gegenfrage: Wie lange kann man unter dem „Schwert am seidenen Faden“25 am Leben bleiben? Es gibt keine klare Antwort; niemand weiß es. Aber wenn es ausgeschlossen ist, dieser Lage zu entrinnen (und in der Tat entwirft auch die Idee der Abschaffung aller Atomwaffen ein ebenso verlockendes wie unpraktikables Projekt26), dann ist es das Beste, den Faden, an dem das Unheil hängt, zu verstärken. Daraus folgt u.a., dass Institutionen zu schaffen sind, die im Fall erhöhter Spannung ein nüchternes Krisenmanagement ermöglichen.

Robert McNamara, der amerikanische Verteidigungsminister während Kennedys und Johnsons Präsidentschaft, wusste, wovon er spricht, wenn er sagte: „Es stimmt, dass vermutlich kein wohlinformierter, kühl-rationaler politischer oder militärischer Führer den Ersteinsatz von Atomwaffen anordnen würde. Aber in Zeiten ernster Krisen sind die politischen und militärischen Entscheidungsträger ziemlich sicher weder wohlinformiert noch kühl rational.“27 Das bedeutet, dass über die Optimierung von operativen Entscheidungsstrukturen hinaus politische Strukturen entwickelt werden müssen, die die Zuspitzung der Konkurrenz der Supermächte zur direkten militärischen Konfrontation möglichst unwahrscheinlich machen. Und dies wiederum heißt, die Konsequenz daraus zu ziehen, dass Hiroshima und das „Gleichgewicht des Schreckens“ die Natur des Krieges ein für allemal verwandelt haben.

Denn das ist das Faktum, dessen Realität alle Axiome internationaler Macht- und Imperialpolitik verändert und den Umsturz jeder entsprechenden Handlungslehre erzwingt: Die Rolle des Großen Krieges hat mit dem Eintritt des Atomzeitalters und mit der gesicherten Zweitschlagsfähigkeit jeder der großen Mächte ihren alten Ort im Koordinatensystem der internationalen Beziehungen verloren und ist in eine paradox-exzentrische, das Ganze ebenso prinzipiell bedrohende wie befriedende Position geraten.

2. Brüchige Abschreckung

Den befriedenden Effekt dieser Konstellation hat Aron vor mehr als 40 Jahren in fast hobbesianischem Tonfall deduziert: „An dem Tage, an dem jeder der thermonuklearen Apparate vom anderen nicht endgültig zerstörbar ist […], befreit die Sicherheit, eine Vergeltungsfähigkeit zu besitzen, die Mächte von der Anfechtung eines thermonuklearen Pearl Harbour und liefert sie bedingungslos der rationalen Furcht eines totalen Krieges aus.“28

Das antizipierte Grauen finaler Vernichtung ist zugleich aber eine Quelle unberechenbarer Zweideutigkeiten und riskanter Versuchungen. Gewiss, jeder der möglichen Akteure ist gezwungen, im Letzten stillzuhalten, weil es andernfalls zur umfassenden Katastrophe käme. Doch die Katastrophe droht ja nicht an sich, sie wird vielmehr wechselseitig angedroht, und diese Drohung impliziert, dass der Drohende zugleich mit seiner eigenen Vernichtung droht. „Darin ist nun aber eine Instabilität eingebaut. Denn mit einer Reaktion zu drohen, die die eigene Vernichtung impliziert, wirkt irrational und darum unglaubhaft.“ Der bedeutende Philosoph Ernst Tugendhat, der schon vor Jahren zum intellektuell gewichtigsten deutschsprachigen Kritiker der Abschreckungsdoktrin geworden ist, argumentiert lapidar und klar: „Kann die andere Seite diese Drohung wirklich ernst nehmen? Verhält sich der erste Kontrahent so, dass der zweite die Drohung nicht ernst nimmt, wird die Drohung unwirksam, erweist sich als Bluff. Eben das bring ihn in Handlungszwang. In der Kuba-Krise standen die Amerikaner unter diesem Handlungszwang. Die Russen gaben klein bei. Hätten anderenfalls die Amerikaner klein beigegeben? Wir wissen es nicht.“ Und: „So etwas kann einmal, auch zweimal, aber nicht auf Dauer gutgehen.“29

Es ist gefährlich zu glauben, die Atomkriegsgefahr sei zuverlässig gebannt mit der bloßen Parität gegebener Vergeltungschancen. Die von Tugendhat diagnostizierte Irritierbarkeit dieses selbstmörderischen Gleichgewichts zeigt ja nur eine, die psychologische Zerbrechlichkeit der Abschreckungsmechanik. Eine andere Schwäche ist die dank der zunehmenden technischen Komplexität der Waffensysteme stets wachsende Möglichkeit eines ungewollten Kriegsausbruchs. Vor allem beunruhigt das von den jeweiligen Rivalen beim jeweils anderen immer wieder vermutete und tatsächlich auch in Teilen der Regierungs- und Planungseliten vorhandene Bestreben, die strategische Zweitschlagskapazität und/oder -bereitschaft des Gegners durch militärtechnische Innovationen auszuschalten oder mindestens erheblich einzuschränken, d.h. „den Atomkrieg führbar“ zu machen.

Selbstentzündlicher und unvermindert vorhandener Kern gegenwärtiger Atomkriegsgefahr ist die Verbindung tiefsten Misstrauens zwischen den Kontrahenten oder, wie Putin heute beweist, imperialer Eroberungswille mit der Dynamik des zugleich offenen und heimlichen Zweikampfs der Rüstungsplaner, -techniker und -manager, der die gegebenen Balancen auf materieller wie psychologischer Ebene immer wieder ins Schwanken bringt oder sogar zerstört.