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Queere Zeitlichkeiten in dokumentarischen Filmen E-Book

Natascha Frankenberg

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Beschreibung

Zeit als normatives Ordnungsprinzip ist in den Queer Studies zu einem zentralen Forschungsgegenstand geworden. Unter dieser Perspektivverschiebung werden Biografien, Archive, Gefühle und Bewegungsgeschichten in den Blick genommen. Natascha Frankenberg greift diese Diskussion aus einer dezidiert filmwissenschaftlichen Perspektive auf und rekonstruiert Beiträge des Queer Cinema zu einer Queeren Zeitlichkeit. Sie analysiert u.a. Filme von Gréta Ólafsdóttir, Susan Muska, Cheryl Dunye, Barbara Hammer und Joey Carducci in ihrem Umgang mit Materialität, Motiven, Narration und Filmform.

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Natascha Frankenberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Queere Zeitlichkeit, Dokumentarfilm sowie Konzepte und Ansätze der queer-feministischen Film- und Medienwissenschaft. Sie war Kollegiatin am »Helene Lange Kolleg Queer Studies und Intermedialität: Kunst – Musik – Medienkultur « der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Für das Internationale Frauen* Film Fest Dortmund+Köln kuratiert sie die Sektion »begehrt!«.

Natascha Frankenberg

Queere Zeitlichkeiten in dokumentarischen Filmen

Untersuchungen an der Schnittstelle von Filmwissenschaft und Queer Studies

Die erste Fassung der vorliegenden Publikation ist 2018 von der Fakultät für Philologie an der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen worden. Gutachterinnen: Prof. Dr. Eva Warth, Prof. Dr. Barbara Paul Datum der Disputation: 20.12.2018

Diese Publikation wurde im Rahmen des Fördervorhabens 16TOA002 mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Open Access bereitgestellt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz (BY-NC-ND). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de

Um Genehmigungen für Adaptionen, Übersetzungen, Derivate oder Wiederverwendung zu kommerziellen Zwecken einzuholen, wenden Sie sich bitte an [email protected]

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

© 2021 transcript Verlag, Bielefeld

Covergestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Coverabbildung: Joey Carducci, basierend auf Material des Films GENERATIONS (USA 2010, R.: Joey Carducci / Barbara Hammer)

Lektorat: Ulf Heidel

Print-ISBN 978-3-8376-5676-3

PDF-ISBN 978-3-8394-5676-7

EPUB-ISBN 978-3-7328-5676-3

https://doi.org/10.14361/9783839456767

Buchreihen-ISSN: 2702-9247

Buchreihen-eISSN: 2703-0466

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

1.Einleitung

1.1Zeitstörungen

1.2Queer Cinema Studies und Zeitlichkeit

1.3Filmauswahl

1.4Queerness

1.5Struktur

2.Die Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit in den Queer Studies

2.1Verkörperungen und Historiografie

2.2Die (Un-)Möglichkeit queerer Zeitlichkeit

2.3Queere (affektive) Historiografie

2.4Queere Archive

2.5Konstruktionen von Bewegungsgeschichte_n und Bewegungsfilm

3.Zeit als Ordnungsstruktur in filmwissenschaftlichen Ansätzen

3.1Zeitlichkeit in der medialen Struktur des Films

3.2Normative Zeitlichkeiten

3.3Geschlecht und Zeitlichkeit im Film

3.4Dokumentarfilme und Historiografie

3.5Zeitlichkeit und Materialität von Film

4.Queere Zeitlichkeiten und Medialität(en)

4.1Filmische Zeitlichkeiten in den Queer Studies

4.2Mediale Bewegunggeschichten im It gets better Project

4.3Umgang mit normativen Zeitlichkeiten in Analysen der Queer Studies

4.4Bewegungsgeschichte_n und/als Filmgeschichte_n

4.5Trauer und Tod in filmhistoriografischer Perspektive

4.6Materialitäten

4.7Queer Cinema Studies unter dem Aspekt von Zeitlichkeit

5.Die Medialität Queerer Zeitlichkeiten in dokumentarischen Filmen

5.1Ehe und Tod als zeitliche Strukturen im Film

5.1.1EDIE AND THEA: A VERY LONG ENGAGEMENT:Gleichstellung und Film

5.1.2SILVERLAKE LIFE: THE VIEW FROM HERE

5.1.3Fazit der Analyse der beiden Filme

5.2Die Produktivität von Filmgeschichten

5.2.1Vorgeschichte

5.2.2THE CELLULOID CLOSET und das Narrativ der positiven Veränderungen

5.2.3THE OWLS

5.2.4Vergleich mit THE WATERMELON WOMAN

5.2.5HIDE AND SEEK

5.2.6Vergleich der beiden Filme

5.3Materialitäten

5.3.1Barbara Hammers Politik der Abstraktion

5.3.2GENERATIONS

5.3.3Einschub: THE BALLAD OF GENESIS AND LADY JAYE – Liebe als medieninhärentes zukünftiges Versprechen

5.3.4Barbara Hammers frühe Filme

6.Hier ein Ende

Bibliografie

Literatur

Filmografie

Dank

Für:die Schwärmerei, das Begehren,die Traurigkeit und die Angst

1.Einleitung

1.1Zeitstörungen

2007 konstatiert Elizabeth Freeman im Themenheft »Queer Temporalities« der Zeitschrift GLQ – Journal for Gay and Lesbian Studies einen turn towards time in den Queer Studies(Dinshaw et al. 2007, 177). Queerness, so schreibt Freeman in der Einleitung zum Heft, werde in normativen Zeitordnungen zu einem Phänomen von Asynchronität (Freeman 2007, 159). In Bezug auf normative Zeitlichkeit lässt sich Queerness mit ihr also als eine Zeitstörung denken. Queere Zeitlichkeit ist in Momenten des Aufbrechens der normativen gesellschaftlichen Taktungen, ihrer Historiografie oder biografischen Entwürfe zu finden.

Ein Schwerpunkt der Diskussion von Zeitlichkeit in den Queer Studies ist die Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen wie sozialen, normativen Aspekten von Zeit, die auch über Narrative tradiert werden. Im Zentrum dieser Diskussion steht die Kritik an ebendiesen normativen Aspekten von Zeit, die Begehren, Geschlechterkonstruktionen und Sexualitäten vereinfachen. Zugleich geht es um eine Suche nach Zeitlichkeit jenseits heteronormativer Strukturen und machtvoller Besetzungen. Die Themen, die in der hier interessierenden Diskussion der Queer Studies auftauchen, reichen von Möglichkeiten, Räume und Zeiten jenseits der Normativität zeitlicher Zuweisungen aufzuzeigen oder selbst zu erschaffen (vgl. Halberstam 2005) oder in jene normativen Strukturen zu intervenieren (vgl. Edelman 2004). Sie reichen von Fragen nach Homonormativität und identitätspolitischer wie queerer Historiografie (vgl. Freeman 2010) über Relektüren von Bewegungsgeschichte (vgl. Love 2007) zu Resignifikationen von Archiven (vgl. Cvetkovich 2003) und Kollektivität bis hin zur Suche nach Figurationen von Zeitlichkeit in Bezug auf Utopien und Handlungsmacht (vgl. Muñoz 2009). Zentraler Ausgangspunkt ist die Zeiterfahrung des gewaltvollen und tödlichen gesellschaftlichen Ausschlusses während der AIDS-Pandemie in den USA und die Frage nach der Möglichkeit, queere Erfahrung in Form einer queeren Historiografie zu bewahren. Dabei sollen individuelle Erfahrungen in kollektiven Erzählungen nicht verengt werden und Differenzen sichtbar bleiben.

In der Hinwendung zu Zeitlichkeit in den Queer Studies wird eine Figur zentral, die auch für identitätspolitische Bewegungen wichtig war und ist: das Kollektiv. Es wird quer durch die Zeit aufgerufen und gesucht. Das Kollektiv wird zur Figur, die sich im Kontext von Sexualität und Begehren als Erinnerung – nicht nur des Vergangenen, sondern ebenso des Zukünftigen und Möglichen – zeigt. Die Idee eines Kollektivs ist in den Ansätzen zur Zeitlichkeit eine Figuration, die sich der Erzählung eines in der Zeit andauernden linearen Fortschritts, einer identitätspolitischen Fortschrittserzählung verwehrt und stattdessen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft immer wieder durchkreuzt. Auch Bewegungsgeschichte wird zu einem Gegenstand der Diskussion um Queere Zeitlichkeit, weil sie in normativen Zeitkonzepten, z.B. linear abgeschlossener Historiografie entworfen wird.

Der Begriff der Bewegungsgeschichte_n wird nun im Kontext dieser Arbeit als ein spezifisch queerer filmischer Begriff gefasst. Wie werden im Medium Film über die zeitlichen Strukturen Aushandlungen von Konstruktionen einer Idee von Kollektivität betrieben? Wie reflektieren die Filme zudem Prozesse des Geschichte-Schreibens als mediale Prozesse? Wo machen sie die Lücken zwischen Narrativen und Historiografie in Bezug auf identitätspolitische Setzungen produktiv? Wo wird damit Bewegungsgeschichte, wo werden Bewegungsgeschichten zu Bewegungsgeschichte_n, die diese Lücke zwischen Erzählungen und immer unabdingbar unvollständiger Geschichtsschreibung offen hält?

Während die vorliegende Arbeit die Diskussionen zu Zeit und Zeitlichkeiten in den Queer Studies und in der feministischen Filmtheorie zum Ausgangspunkt nimmt, stellt sie diesen anhand von Dokumentarfilmanalysen die Praxis zur Seite, in der Bewegungsgeschichte_n im Namen eines Kollektivs erzählt, Sichtbarkeit und Repräsentationen geschaffen werden. Die ausgewählten queeren Dokumentarfilme reflektieren nicht nur Kollektivität, sondern auch Differenzen von Erfahrung in Bezug auf Sexualität, Begehren und Geschlecht. Die Kollektive, die sie aufrufen, bestehen aus vielen Einzelnen, so zum Beispiel aus Personen, die als talking heads in den Filmen auftauchen und eine gemeinsame Geschichte entwerfen. Sie bestehen zudem aus persönlichen, medialen, kollektivierten Erinnerungen, aus Vergessenem, Fundstücken, Aufzeichnungen von Demonstrationen, Nacherzählungen von Vergangenheit und auch aus einer aktiven Neuschreibung von nicht-existenter Filmgeschichte.

Bisher sind vor allem Spiel- und Experimentalfilme in Bezug auf Queere Zeitlichkeit in den Blick genommen worden. In der vorliegenden Arbeit soll ein Schwerpunkt auf lesbisches dokumentarisches Kino gelegt werden. Gerade da die Fragen nach Zeitlichkeit zunächst einmal sehr stark mit der Erfahrung der AIDS-Pandemie in den USA verbunden sind, möchte ich untersuchen, wie lesbische Filme – auch über die filminhärenten Auseinandersetzungen mit dem Dokumentarischen – eigene Konzepte zu Zeitlichkeit entwerfen. Zudem wird über den Schwerpunkt auf dokumentarische Arbeiten die Überschneidung der Hinwendung zu Queerer Zeitlichkeit zu einem archival turn in den Queer Studies relevant gemacht: Wie verhandeln die Filme selbst den Status des Dokumentarischen in Bezug auf Bewegungsgeschichte_n als ihren Beitrag zu einem queeren Archiv?

1.2Queer Cinema Studies und Zeitlichkeit

In normativen Zeitstrukturen werden wirkmächtige Vorstellungen von Geschlecht und Begehren festgeschrieben. Es ist zu fragen, ob sich dies in Bezug auf filmische Narrative in kulturell dominanten Formen wie chronologischen, linearen Erzählweisen und geschlossenen, affektorientierten Handlungen zeigt und mit welchen (ästhetischen und spezifisch medialen) Verfahren die Filme selbst arbeiten, um Bedeutung zu produzieren oder auch zu stören. In Bezug auf kollektivierende Erzählungen queererBewegungen ist zu schauen, wie Fixierungen in Filmen über bestimmte Zeitstrukturen hergestellt werden, ob sie in der Wiederholung – auch filmischer Formen – Bedeutung erlangen, und zudem, was in Wiederholungen in der Zeit als Möglichkeitsraum, als Utopie, als Intervention erscheint. Welche Narrative von Identitäten, Sexualitäten und Begehren tradieren sich zeitbasiert über Film? Wo ist Film, aber auch Kino (zeitliche) Intervention in heteronormative Strukturen? Mit welchen formalen und narrativen Strategien gehen Normierungen einher, mit welchen werden sie durchbrochen? Welche Kollektive lassen die Filme erscheinen und wie verorten sie diese in Bezug auf Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft?

Queere Studien, die sich mit den normativen und queeren Aspekten von Zeitordnungen, Verkörperungen von Zeit oder auch Historiografie auseinandersetzen, wählen immer wieder Filme zum Gegenstand ihrer Analysen. Bisher ist eine Hinwendung zu der Frage, welche Beiträge dokumentarische Filme selbst dabei auf medialer Ebene zu einer Diskussion von Queerer Zeitlichkeit beitragen, ausgeblieben.

Queere Zeitlichkeit in ihrer filmwissenschaftlichen Relevanz finde ich insbesondere in den Ansätzen von Elizabeth Freeman (2010) und Chris Tedjaskumana (2014) fokussiert. Chris Tedjasukmana entwirft eine affektive Geschichtsschreibung auf der Basis der Erfahrung der Rezeption von Film. Elizabeth Freeman schaut sich Zeitlichkeiten, Rhythmen und Taktungen des Films an – sehr spezifisch auch in Bezug auf Klasse – und verbindet Filmgeschichte mit Fragen nach Zeitordnungen und Normalisierung. Freeman arbeitet intersektional auch mit lesbischen Positionen und konzentriert sich dabei stark auf experimentelle filmische Arbeiten. Tedjasukmana verbindet das queere Kino mit weiteren spezifischen historischen – etwa der Zeit nach 1968 – Erfahrungen und der Filmform. Mein eigener Ansatz nimmt ein dokumentarisches queeres Kino in den Blick, dass primär an Erfahrungen von Lesbischsein gebunden ist. Dabei begreife ich die Filme als Beiträge zur Diskussion um Queere Zeitlichkeiten und möchte zeigen, wie sie diese medienspezifisch filmisch führen. Meine These ist, dass die Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit in den Queer Studies nicht nur über den Gegenstand Film konturiert ist, sondern dass sich spezifisch medial im Film angelegte Ideen von Zeitlichkeit hier einschreiben und die Diskussion mitbestimmen.

Über eine Fokussierung auf die – den Studien der Queer Studies bereits inhärenten – Filmanalysen und die folgende Schwerpunktverschiebung auf die Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit im Medium selbst, soll mit der Arbeit ein Ansatz der Queer Cinema Studies unter dem Aspekt von Zeitlichkeit isoliert werden. Dieser Ansatz, so meine These, ist in den Theorien selbst bereits angelegt, aber bisher nicht dezidiert herausgearbeitet worden. Anhand einiger Filmanalysen, die bereits Teil der Auseinandersetzung um (queere) Zeitlichkeit sind, wird deutlich, dass sich Filme als Gegenstände insbesondere für die Diskussion der Ordnungsstruktur Zeit eignen. Dabei ist es wichtig zu berücksichtigen, dass es sich in diesem Kontext bei der Ordnungsstruktur Zeit um eine Form medialer Zeitlichkeit handelt. Inwieweit auch die Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit in den Queer Studies bereits auf medial bestimmten Konzepten – genauer noch filmischen Entwürfen – von Zeitlichkeit basiert, werde ich untersuchen.

Ein Ziel der vorliegenden Arbeit ist es daher, über die untersuchten dokumentarischen filmischen Positionen zu Zeitlichkeit die Diskussionen zur Zeitlichkeit in den Queer Studies als Positionen der Queer Cinema Studieszu schärfen. Die zentralen Fragestellungen sind dabei: Was tragen dokumentarische Filme als medial spezifische Arbeiten zu einer Auseinandersetzung über die Normativität von Zeitordnungen bei? Welche Rolle nehmen dokumentarische Filme hier in der Konstruktion solcher Zeitordnungen ein und wie werden sie produktiv in Bezug auf ein Verständnis von Zeit, Biografien, Bewegungsgeschichte? Und wie bereichern queere Perspektivierungen filmischer Zeitlichkeiten filmwissenschaftliche Theoriebildungen zur Zeitlichkeit?

Als zeitbasiertes Medium macht Film Ordnungsprinzipien von Zeit nicht nur sichtbar, er bringt sie auch mit hervor und ist von ihnen determiniert. Eine Perspektive auf Film in Bezug auf Zeitlichkeiten einzunehmen, kann heißen, sich mit dem Material von Filmen, mit der Struktur oder auch mit den Motiven auseinanderzusetzen, die Ideen von Zeit und Zeitlichkeit in sich tragen oder weitertragen. All diese Ebenen und Elemente von Film bieten die Möglichkeit der Analyse zeitlicher Logiken und ihrer Effekte. Im Kontext dieser Arbeit kommt zudem noch die Frage der Produktivität queerer Filmgeschichte_n als Bewegungsgeschichte_n und ihrer zeitlichen Logiken hinzu.

Filmische Aushandlungen ergänzen dabei aus einer filmwissenschaftlichen Perspektive die Aushandlungen in den theoretischen Texten. Damit mache ich auch einen filmwissenschaftlichen Ansatz stark, der davon ausgeht, dass in und mit Filmen selbst Theorie verhandelt, aber auch hergestellt wird. So werden mediale Bedingungen von Zeitordnungen in Bezug auf Queerness im Medium selbst reflektiert und verändert. Dies geht über Fragen nach Figurenkonstellationen und Narrationen hinaus und findet sich im Film auch in Reflexionen, welche die normativen Aspekte von Zeitlichkeit, Konstruktionsebenen von Filmgeschichte als Bewegungsgeschichte_n und die Zeitlichkeit(en) von Materialität betreffen. Film als zeitlich basiertes Medium stellt Vorstellungen von Zeitordnungen mit her, macht sie aber auch befragbar.

Die Arbeit trifft die Feststellung, dass Fragen nach Zeitlichkeit in Bezug auf Normativität und Queernessauch im Medium Film verhandelt werden und dort auf einer medialen Ebene stattfinden. Die Filme werden in diesem Sinne auch als Positionen und Beiträge zu einer Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit begriffen. Um zu verdeutlichen, dass es sich auch um eine Weiterführung bereits existierender Diskussionen handelt, die ein Nachdenken über normative wie queere Zeitlichkeit darstellen, werden aktuelleren Filmen immer wieder frühere Filme zur Seite gestellt, an die die Verfahren der neueren Filme anschließbar sind. Damit verwehre ich mich methodisch mit der Arbeit selbst auch gegen eine strikt lineare Lesart von Filmgeschichte. Meine Auseinandersetzung ist über die Filme als mediale Auseinandersetzung anschließbar an die Konzepte der Queer Studies, beschreibt aber kein neues Phänomen, sondern einen fortlaufenden Prozess der Arbeit an den und in den medialen Strukturen.

1.3Filmauswahl

Seit 2010 kuratiere und konzipiere ich für das Frauen* Film Fest Dortmund+Köln (bis 2021 Internationales Frauenfilmfestival Dortmund|Köln) die queere Sektion: begehrt!. Mit dem Anfang meiner Arbeit dort sind mir in den ersten beiden Ausgaben 2010 und 2012 aktuelle Arbeiten queerer/lesbischer Filmemacher*innen begegnet, die im Medium lesbische Filmgeschichte über unterschiedliche filmische Verfahren und auf verschiedenen Ebenen thematisiert haben. Gleichzeitig mit der Entstehung ihrer Arbeiten, entstand auch das Buch Time Binds, Queer Temporalities, Queer Histories von Elizabeth Freeman (2010), in dem sie die Diskussion um Queere Zeitlichkeit mit queerer Historiografie und einer Geschichte des Films verbindet. Auch bei ihr wird Film zu einem zentralen Gegenstand ihrer Theorie der Chrononormativität, einer zeitlich bestimmten Normativität, die sich mit Freeman in Körper einschreibt (vgl. ebd, 3).

Die Fragen, die die Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit in den Queer Studies behandeln, Fragen nach Historiografie, Archiven, Verkörperungen, normativer und queerer Zeitstrukturen sehe ich auch in den Filmen reflektiert. In ihnen findet die Auseinandersetzung auf medialer Ebene statt. Sie machen deutlich, dass im Medium Film, als zeitbasiertem Medium, Zeitstrukturen entworfen werden. Dies beschränkt sich nicht ausschließlich auf die Narration, sondern findet sich auch in Motiven wieder, die im Film aufgegriffen werden, in Entwürfen von Filmgeschichte und in den, dem Film zugrunde liegenden, Materialitäten. Die drei Filme, die mir in den ersten Jahren der Festivalarbeit auffielen, waren Filme von bereits für ein queeres oder lesbisches Kino bekannten Filmemacher*innen, von Gréta Ólafsdóttir und Susan Muska, Cheryl Dunye, Barbara Hammer und Joey Carducci. Gréta Ólafsdóttir und Susan Muska nutzen in ihrem Film EDIE AND THEA: A VERY LONG ENGAGEMENT (USA 2009) Motive von Ehe und Tod als tradierte filmische Motive, um damit eine lesbische Partnerschaft im Medium an Politiken von Anerkennung anzuschließen, Cheryl Dunyes dokumentarischer Beitrag zu Queerer Zeitlichkeit THE OWLS (USA 2010) ist eine ästhetische Reflektion von Filmgeschichte, Barbara Hammer und Joey Carducci begeben sich in ENERATIONS (USA 2010) zu den Anfängen einer Filmgeschichte. Dies tun sie mit einem Besuch kurz vor der Schließung des Vergnügungsparks Astroland auf Coney Island und in der experimentellen Auseinandersetzung mit den Grundlagen des filmischen Materials.

Die Systematisierung der Arbeit folgt den Beiträgen zu Queerer Zeitlichkeit, die ich in den drei Filmen isoliert habe. Es sind die Motive Tod und Ehe, die Auseinandersetzung mit Filmgeschichte_n und die Zeitlichkeit der Materialität, die hier diskutiert werden. Die drei Aspekte binde ich auch immer an frühere Dokumentarfilme anderer Autor*innen zurück, um nicht selbst eine linear geschlossene Filmgeschichte zu entwerfen, wie es in den Queer Studies und auch im Laufe dieser Arbeit problematisiert wird. Damit ziehe ich Verbindungen zu einer Filmgeschichte, ohne diese allerdings abschließend zu entwerfen. Allen Arbeiten gemeinsam ist, dass sie sich nicht nur mit Effekten von normativer Zeitlichkeit und Queerer Zeitlichkeit im Film beschäftigen, sie alle sind zudem anschließbar an Fragen nach dem Verhältnis des Mediums Film zum Tod als einem auch zeitlichen Verhältnis, das den Film bereits seit seinen Anfängen begleitet (vgl. Mulvey 2006).

1.4Queerness

Es gibt nicht eine Definition von queer oder Queerness, die Begriffe sind bewusst unbestimmt und sowohl in aktivistischen wie in akademischen Zusammenhängen geprägt und verändert. Ein Kennzeichen ist ihre strukturelle Offenheit.

Queer wird in der vorliegenden Arbeit daher auch als ein theoretisches/aktivistisches Konzept weitergetragen und soll mit der vorliegenden Untersuchung in seiner Relevanz für filmwissenschaftliche Diskussionen weiter gestärkt werden. Damit bedarf es auch einer eigenen Klärung und Reflexion der Begriffsverwendung.

Ich möchte der Arbeit ein Verständnis von queerzugrunde legen, das Fragen nach bzw. Kritik an Heteronormativität zum Ausgangspunkt nimmt, dabei aber nicht festschreibt, was Queerness sein kann. Hiermit schließe ich an Annemarie Jagoses Beschreibung von queer an, die sie historisch herleitet und in Bezug auf eine wissenschaftliche Auseinandersetzung als Konsequenz poststrukturalistischer Konzepte beschreibt:

»Sicher gibt es keine allgemein akzeptierte Definition von queer. Tatsächlich bestehen zwischen einzelnen Auffassungen des Begriffs unauflösliche Widersprüche. Dennoch erweisen sich für bisherige Vorstellungen von Identität, Community und Politik die Veränderungen durch queer dort am beunruhigendsten, wo der normative Zusammenschluß von anatomischem Geschlecht, sozialem Geschlecht und Sexualität kritisiert wurde. Das ist genau für diejenigen Versionen von Identität, Community und Politik von zentraler Bedeutung, die scheinbar ›natürlich‹ aus diesem Zusammenschluß hervorgehen. Indem es sich weigert, eine feste Form anzunehmen, hält queer eine Beziehung aufrecht zum Widerstand gegen alles, was das Normale auszeichnet« (Jagose 2005, 127f.).

Die Weigerung, »eine feste Form anzunehmen«, kann auch in Bezug auf zeitliche Bestimmungen als immer wieder flüchtig und vorübergehend gelesen werden.

Als eine Kritik an der identitätskritischen Perspektive von queer klingt bei Jagose kurz nach dem oben genannten Zitat im Text der Einwand an, dass gerade identitätspolitische Positionen von Gemeinschaften, die auf Rassismuserfahrung und Ausschluss reagieren, in einem solchen Konzept von Queerness möglicherweise unberücksichtigt bleiben.

Gegen diese Ausschlüsse hat José Esteban Muñoz mit seinem Konzept von Queerness an die Theorie Ernst Blochs angeschlossen und queer selbst zu einem zeitlichen Moment gemacht. Er antwortet damit auch auf Konzepte der Queer Studies, die sich gegen (identitäts)politische Logiken wenden, da sie diese als heteronormativ bestimmt ausmachen. Sein Buch Cruising Utopia beginnt mit der bekannten Formulierung: »QUEERNESS IS NOT yet here. Queerness is an ideality. Put another way, we are not yet queer […]« (Muñoz 2009, 1, Herv. i. O.). Wenig später führt er sein Verständnis von Queerness weiter aus:

»Queerness is that thing that lets us feel that this world is not enough, that indeed something is missing. Often we can glimpse the worlds proposed and promised by queerness in the realm of the aesthetic. The aesthetic, especially the queer aesthetic, frequently contains blueprints and schemata of a forward-dawning futurity« (ebd.).

Seine Idee von Queernessvereint bereits die Frage nach Zeitlichkeit – Queerness wird an eine Idee des Möglichen gebunden und zu einem Versprechen – mit der unbedingten Betonung der Relevanz ästhetischer Aushandlungen. Das heißt, vor allem über künstlerische, aber auch popkulturelle Arbeiten ist eine Aushandlung von Queerness möglich. Mit der vorliegenden Arbeit möchte ich solche Aushandlungen im Medium des (Dokumentar)Films weiterverfolgen.

1.5Struktur

Die Untersuchung teilt sich in vier Teile. Unter dem Titel »Zeit und Zeitlichkeit in den Queer Studies« werden zunächst grundlegende Beiträge aus den Queer Studies zur Frage nach Zeit und Zeitlichkeiten vorgestellt, die unter dem Stichwort eines turn towards temporalities oder turn towards time gefasst werden. Zeitlichkeit gerät hier sowohl in Form von Geschichtsschreibung(en) und ihren normativen Setzungen in den Blick als auch in Form einer Ordnungsstruktur, die in Bezug auf biografische Konzepte oder auch Verkörperungen produktiv ist. Zeit und Zeitlichkeit finden sich auch als Figurationen von Zukunft und Vergangenheit, die in Bezug auf eine Bedeutungsproduktion etwa in identitätspolitischen Bewegungen untersucht werden. Die vorgestellten Positionen werden nach dem Aspekt einer (Un)Möglichkeit queerer Zeitlichkeit differenziert. Die normativen und queeren Aspekte von Zeitlichkeit werden dabei als Einstieg in die Diskussion gewählt. Des Weiteren werde ich verschiedene Perspektiven auf queere Historiografie herausarbeiten und die Idee eines queeren Archivs vorstellen. Ann Cvetkovich hat herausgearbeitet, dass gerade queere Dokumentarfilme das Potential eines queeren Archivs haben, da sie so unterschiedliche Aspekte, Materialitäten, Blicke, Geschichten, Gefühle bewahren könnten (vgl. Cvetkovich 2002, Cvetkovich 2003).

Schließlich stelle ich über den Begriff der Bewegungsgeschichte_n die Frage nach der medialen Verfasstheit der Diskussion, die dann im Folgenden hin zu Queer Cinema Studies unter dem Aspekt von Zeitlichkeit zusammengeführt wird.

Fragen nach Machtverhältnissen sind auch in der Filmwissenschaft bereits über eine Reflexion der Ordnungsstruktur Zeit anhand des Mediums Film gestellt worden. Wie in Kapitel 3 gezeigt wird, findet sich Zeit in filmwissenschaftlichen Theorien als Phänomen in einer ähnlichen Vielfalt wie in den Diskussionen zur Zeitlichkeit in den Queer Studies. Hier werden Zeitkonzepte herausgearbeitet, die der Film als Medium selbst hervorbringt. Sie zeigen sich in narratologischen Fragestellungen, in der Montage und in Phantasien und Versprechen, die Film als Medium etwa in Bezug auf ein Bewahren, einer Erinnerung, eines Moments in der Zeit, einer Begegnung, über den Tod hinaus oder auch die Möglichkeit des Rückgriffs auf eine zeitlich fixierte Vergangenheit in sich trägt. Auch in der Systematisierung der filmwissenschaftlichen Beiträge zur hier geführten Diskussion verfolge ich deren Beschäftigung mit normativen Zeitlichkeiten. Aspekte von filmischer Historiografie werden vor allem in Bezug auf dokumentarische Formen diskutiert. Ergänzt wird dies zudem um Überlegungen zur Materialität, da diese in den Filmen selbst eine zentrale Rolle in Bezug auf Zeitlichkeit einnehmen.

In Kapitel 4 werden einige Filmanalysen, die bereits Teil der Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit in den Queer Studies sind, zusammengeführt. So beginnt J. Jack Halberstam seine Überlegungen mit den beiden Filmen, die um die Ermordung Brandon Teenas, THE BRANDON TEENA STORY (USA 1998, R.: Susan Muska/Gréta Ólafsdóttir) und BOYS DON’T CRY (USA 1999, R.: Kimberly Peirce) entstanden sind und arbeitet an ihnen spezifische Zeitlichkeiten heraus. Auch das Kino Todd Haynes wird immer wieder auch in Bezug auf die AIDS-Pandemie in den Blick genommen. An den Filmanalysen zeigt sich die Relevanz der Verbindung des Gegenstands Film zur Argumentation der Auseinandersetzungen mit Zeitlichkeit in den Queer Studies. Analysen von Filmen begleiten dort die Diskussion über Queerness und Zeitlichkeit und eignen sich zur Verdeutlichung machtvoller Zeitstrukturen. Die Filme ermöglichen es, das Ordnungssystem Zeit zu untersuchen. Die Filmanalysen begreife ich als einen Ausgangspunkt zur These, dass die Diskussion als eine Diskussion der Queer Cinema Studies gefasst werden kann. Damit möchte ich die Relevanz für queere Fragestellungen in der Filmwissenschaft weiter betonen. Die queeren Analysen verdeutlichen durch die Fokussierung auf Zeitlichkeit am Gegenstand Film, dass queere Ansätze die Fragen nach Machtverhältnissen im zeitbasierten Medium über binäre Zuschreibungen hinaus erweitern und bereichern.

Schließlich werden dann in Kapitel 5, dem Hauptteil der Arbeit, queere Dokumentarfilme und ihre Positionen zur Zeitlichkeit näher betrachtet. In diesen Filmen verbinden sich Fragen nach der Zeit als Ordnungsprinzip mit Fragen nach Entwürfen einer queeren Historiografie im Medium Film und medialen Normalisierungsbewegungen. Zeit taucht hier auch in Form von Filmgeschichte und ihren Kategorisierungen auf. Sie wird medial umgearbeitet oder auch produktiv gemacht, d.h. Zeit als Ordnungsstruktur wird in den Filmen selbst umgearbeitet und bezüglich normativer Setzungen hinterfragt.

Die Analyse dieser filmischen Auseinandersetzungen mit Zeitlichkeit ist in drei Unterkapitel thematisch gegliedert. Sie beschäftigen sich mit dem Umgang mit normativer Zeitlichkeit, der Thematisierung von Historiografie als Filmgeschichte und Bewegungsgeschichte_n und schließlich der Reflexion von Zeitlichkeit ausgehend von der Materialität des Mediums.

Ich beginne in Kapitel 5.1 »Ehe und Tod als zeitliche Strukturen im Film« mit zwei Filmen, die über das Motiv des Sterbens, aber auch über das Motiv der Ehe zeitliche Strukturierungen im Film als (hetero)normative Strukturen sichtbar machen und sie gleichzeitig umschreiben. Beide Filme verdeutlichen die Wirkmächtigkeit der normativen Struktur, die über den Film produktiv wird. EDIE AND THEA: A VERY LONG ENGAGEMENT (USA 2009, R.: Susan Muska/Gréta Ólafsdóttir) ist ein Porträt des Frauenpaares Edie Windsor und Thea Spyer. Von der gesetzlichen Möglichkeit einer gleichgeschlechtlichen Eheschließung in den USA zur Zeit der Entstehung des Film ausgeschlossen, wollen die beiden Frauen heiraten und finden dafür schließlich eine Lösung in Kanada. Sie sind zur Zeit der Dreharbeiten bereits einige Jahrzehnte ein Paar, die Dringlichkeit einer Eheschließung ergibt sich für sie daraus, dass der an Multiple Sklerose erkrankten Thea Spyer nur noch eine begrenzte Lebensdauer attestiert worden ist. Der Film stellt das Paar in eigenen medialen Entwürfen dar, die auch als Aushandlungen von medialen Zeitlichkeiten lesbar sind.

Wie der Umgang mit dem Medium nicht nur ein Überdauern nach dem Tod und Bedeutung versprechen soll, sondern auch schon im Prozess des Filmemachens zu einer Form des (Über)Lebens vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Isolation wird, wird mit dem Film SILVERLAKE LIFE: THE VIEW FROM HERE (USA 1993, R.: Tom Joslin/Peter Friedman) deutlich. Hier werden die zeitlichen Möglichkeiten und Entwürfe des Films aufgerufen und verändert. Der Film bildet im Korpus dieser Arbeit eine Ausnahme, da er der einzige Film ist, der von einem schwulen Paar in der AIDS-Pandemie erzählt. Da gerade die Gewalt des gesellschaftlichen Umgangs mit der AIDS-Pandemie in den USA die Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit in den Queer Studies initiiert, stellt dieser Film eine Verbindung zu dieser Ausgangsfrage her. Er bildet dabei aber nicht das Andere zu den lesbischen Dokumentarfilmen, sondern interessiert mich in Bezug auf Überschneidungen darin.

Im Kapitel 5.2 »Die Produktivität von Filmgeschichten« widme ich mich einer Filmgeschichte, die als queere Filmgeschichte im Medium selbst entworfen wird. Wie betreiben queere Filme selbst Historiografie und wie verorten sie dabei die filmischen Gattungszuschreibungen von Dokumentarfilm und Spielfilm in ihrer jeweiligen Produktivität? Hier wird die Verortung von Geschichte als Filmgeschichte deutlich. Die untersuchten Filme arbeiten stark an den zeitlichen Logiken des Dokumentarischen in Bezug auf eine Spielfilmgeschichte und weichen gleichzeitig die grundlegenden Gattungskategorien im Kontext einer queeren Historiografie, die sie im Medium betreiben, auf. Filmgeschichte und queere Bewegungsgeschichte wird als miteinander verwoben lesbar und im Medium selbst untrennbar als Bewegungsgeschichte_n ausgestellt und angepasst. Mit THE OWLS (USA 2010, R.: Cheryl Dunye/Parliament Collective) und HIDE AND SEEK (USA 1996, R.: Su Friedrich) ist es eine lesbische Filmgeschichte, die in Bezug auf Effekte einer medialen Konstruktion von Begehren und geschlechtlich markierten Anrufungen reflektiert wird. Dabei erforscht und reflektiert der Film aus dem Jahr 2010 gewaltvolle Entwürfe lesbischer Figuren der 60er Jahr als ästhetisches Erbe zeitgenössischer Entwürfe von lesbischen Filmen. Der frühere Film setzt sich ebenfalls mit Fragen gewaltvoller normativer medialer Entwürfe als Rahmen lesbischen Begehrens auseinander.

Schließlich schaue ich mir im letzten Analysekapitel 5.3 »Materialitäten« die spezifisch medialen Zeitlichkeiten anhand des Materials von Film an, wobei Fragen nach analogen und digitalen Arbeiten in den Fokus rücken. Hier stehen Filme von Barbara Hammer im Mittelpunkt. Gemeinsam mit Joey Carducci realisiert sie mit ENERATIONS (USA 2010) ein Projekt, das Alter, Generationenzugehörigkeit und eine Geschichte des Kinos miteinander verwebt. Die beiden interessieren sich für die Unterscheidung von analogem und digitalem Material und setzen diese Unterscheidung in Beziehung zum Prozess ihrer gemeinsamen intergenerationalen Arbeit als Filmemacher*innen. Eine Geschichte des Kinos schreibt sich über die Materialität und über das Motiv des Freizeitparks in den Film ein.

Am Ende des Kapitels gehe ich anhand von frühen Arbeiten Hammers ihrer politics of abstraction als zeitlich verfasstem Konzept weiter nach. Während sie sich filmisch in den neueren Arbeiten stark den materiellen Bedingungen von Film auseinandersetzt, ist es ihr zunächst ein Anliegen, lesbische Erfahrung gegen eine patriarchal bestimmte Filmästhetik wiederum im Film selbst zu thematisieren. Sie beginnt also das Projekt einer eigenen Filmgeschichte. Auch hier arbeitet sie stark gegen lineare Narrative. Dabei rücken Inszenierungen von Körpern und Sexualität in den Vordergrund.

Im Fazit führe ich die Ergebnisse aus den Analysen zusammen. Hier soll auch noch einmal die Verbindung filmwissenschaftlicher Ansätze über das Motiv der Zeitlichkeit zu den Ansätzen aus den Queer Studies resümiert werden. Die Auseinandersetzung, wie sie in dieser Studie systematisiert wird, zeigt sich dann als eine Auseinandersetzung von Queer Cinema Studies unter dem Aspekt von Zeitlichkeit.

2.Die Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit in den Queer Studies

2.1Verkörperungen und Historiografie

Schon Judith Butlers Theorie der Performativität von Geschlecht (1991) lässt Geschlechtsidentität zu einem zeitlich bestimmten Phänomen werden. Geschlecht, so stellt sie heraus, ist nichts Vorkulturelles, denn Geschlecht als binäres Konstrukt von männlich/weiblich wird erst in tradierten Strukturen angenommen. Geschlechtsidentität basiert also auf einem zeitlichen Moment, das nicht stabil ist, vielmehr muss Geschlecht immer wieder aufgeführt und bestätigt werden und läuft gleichzeitig permanent Gefahr, die eigene Konstruktion offenzulegen, die Wiederholung zu verfehlen und zu scheitern (vgl. Butler 1997, 176f.).

Butler beschreibt das zeitliche Moment der Geschlechtsidentität als eine Form der Inszenierung wie folgt:

»In welchem Sinne ist die Geschlechtsidentität ein ›Akt‹? Ähnlich wie andere rituelle gesellschaftliche Inszenierungen erfordert auch das Drama der Geschlechtsidentität eine wiederholte Darbietung. Diese Wiederholung ist eine Re-Inszenierung und ein Wieder-Erleben eines bereits gesellschaftlich etablierten Bedeutungskomplexes – und zugleich die mundane ritualisierte Form seiner Legitimation. Obgleich es die individuellen Körper sind, die diese Bezeichnung in Szene setzen, indem sie zu kulturell erzeugten Formen der Geschlechtsidentität (gendered modes) stilisiert werden, ist diese ›Handlung‹ öffentlich: Sie hat eine zeitliche und kollektive Dimension, und ihr öffentlicher Charakter ist kein Zufall.« (Butler 1991, 206, Herv. i. O.)

Zeit ist bei Butler also bereits als Ordnungsprinzip relevant. Ihr zufolge sind Geschlechtsidentitäten und -zuweisungen keine ontologischen Gegebenheiten, sondern werden gesellschaftlich und historisch bedingt, über die Zeit hergestellt, aufgeführt. Das zentrale Moment ist bei Butler die Wiederholung. Damit macht sie binäre Geschlechterkonstruktionen zum Gegenstand poststrukturalistischer Ansätze, die ontologische Setzungen dekonstruieren und die Kontingenz von Entwicklungen betonen.

In den folgenden Diskussionen, die ich als Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit in den Queer Studieszusammenfasse, wird Zeitlichkeit als normatives Ordnungssystem zentral. Das heißt, es findet eine Auseinandersetzung mit Momenten von Bedeutungsproduktion in Bezug auf Verkörperungen und Begehren statt, die auf zeitlichen Konstruktionen und Phänomenen beruht. In den Fokus rücken dabei neben den Aspekten von zeitlich verfassten Verkörperungen und Subjektivierungen auch Fragen nach normativer und queerer Historiografie. Die Diskussionen, die verschiedenste Formen von Zeit und Zeitlichkeiten zu Fragen der Queer Studies machen, befassen sich mit Phänomenen von Normativitäten, die von Zeitordnungen getragen werden, sowie mit Fragen nach Historizität und ihren zeitlichen Bedingungen.1 Es sind Fragestellungen, die sich mit der Wirkmächtigkeit von Zeit in gesellschaftspolitischen Narrativen und Anforderungen in Bezug auch auf die Konstruktion von Identitäten oder Zuschreibungen beschäftigen.

Die Frage nach solchen normativen, aber auch queeren Aspekten von Geschichtsschreibungen wird zu einer Zeit relevant, in der die Erfahrung der 1980er und 90er Jahren mit der AIDS-Pandemie in den USA zu einem historischen Phänomen wird und damit auch eine Reflexion der Geschichte und des Status quo queerer Bewegungspolitiken in den USA ansteht. Aber auch die Erfahrung einer veränderten Zeitordnung ist eine Grundlage für die Auseinandersetzungen mit Zeitlichkeit. Diese Erfahrung einer veränderten Zeitordnung resultiert ebenfalls aus der AIDS-Pandemie. Die Konfrontation mit dem massenhaften Sterben und der damit verbundene Topos einer abgebrochenen Zukunft sind hier geknüpft an gesellschaftliche Ausgrenzung und Isolation. Diese Erfahrung von Zeit ist damit eng gebunden an Zuschreibungen nach sexuellen Identitäten.

Was ich unter dem Stichwort Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit in den Queer Studies fasse, ist keine klar eingrenzbare Diskussion, die sich nur mit einem ganz bestimmten Aspekt von Zeitlichkeit auseinandersetzt oder mit ontologischen Fragen zur Zeit. Vielmehr sind es sehr diverse Fragestellungen und Zeitkonzepte, die hier zusammenkommen. Dies wird schon 2007 in der bereits erwähnten Roundtable-Diskussion mit dem Titel Theorizing Queer Temporalities: A Roundtable Discussion deutlich, in deren Rahmen Elizabeth Freeman gemeinsam mit acht weiteren Theoretiker*innen,2 die sich in ihrer Arbeit mit Fragen nach Zeitlichkeiten auseinandersetzen, über ihren turn towards time spricht (Dinshaw et al. 2007).

In der Diskussion selbst, ordnen sich die Diskutant*innen dieser Hinwendung zur Zeit mit ihren unterschiedlichen Konzepten zu, aber sie beschreiben dabei kein Metakonzept oder eine umfassende Idee von Zeit. Im Gespräch wird stattdessen deutlich, dass sie sowohl Fragen nach den Möglichkeiten von Geschichtsschreibung, als auch Fragen nach Politiken oder Verkörperungen, die auf zeitlichen Logiken basieren, stellen und für ihre jeweiligen Ansätze auf sehr unterschiedliche Zeitkonzepte zurückgreifen. So sind es bei Lee Edelman psychoanalytische Zeitkonzepte, ausgehend von der Figur des Todestriebs in psychoanalytischer Theorie (vgl. ebd., 181) oder bei Roderick A. Ferguson Konzepte der Philosophie, etwa Benjamins Geschichte der Zeit oder auch Derridas Zeitbegriff (vgl. ebd., 180). Im Verlauf der Diskussion wird außerdem herausgearbeitet, darauf weist Annemarie Jagose hin, dass die Konzepte von Zeit und Geschichte sehr abstrakte Konzepte sind. In Bezug auf eine Queere Zeitlichkeit fragt sie zudem, wie Konzepte, die sich gegen Linearität, chronologische Erzählformen und auf Zukunft ausgerichtete Politiken wenden und bereits eine Tradition außerhalb der Queer Studies haben, hier anschließbar sein können (vgl. ebd., 186f.).

Sind solche Formen und Theorien bereits mit Queerness zu beschreiben? Die Diskutant*innen stellen sich die Frage, was die Hinwendung zu Fragen nach Zeit und Zeitlichkeiten befragbar macht. Die Beschäftigung mit Zeit und Zeitlichkeit ist eine Möglichkeit, diese als Ordnungsprinzipien zu begreifen und strukturelle Fragen nach Machtverhältnissen zu stellen. Zeitordnungen in ihren unterschiedlichen Figurationen, als Historiografie, als Taktungen, reproduktive Logiken oder narrative Konventionen wie Linearität, werden auf ihre Normativität in Bezug auf Geschlechterkonstruktionen und Begehren in den Blick genommen.

Die Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit ist, wie bereits skizziert, an sehr unterschiedliche Theorien und Konzepte gebunden. So finden sich wichtige theoretische Grundlagen etwa in Konzepten der Biopolitik (vgl. Freeman 2010; Luciano 2007), in Konzepten der Psychoanalyse (Edelman 2004; Bersani 2010) oder auch in marxistisch geprägten Ansätzen (Halberstam 2005; Muñoz 2009). Das bringt die Schwierigkeit einer Systematisierung mit sich, da nicht alle Positionen von den gleichen Ansätzen oder theoretischen Rahmungen ausgehen. Vielmehr erscheint die Hinwendung zur Zeitlichkeit in den Queer Studies als eine Fokusverschiebung, die zu (Re)Lektüren sehr unterschiedlicher Ansätze und Theorien führt und über die Fragen danach gestellt werden können, welche Zeitkonzepte diesen zugrunde liegen oder durch sie überhaupt sinnhaft erscheinen. Erst eine solche Fokusverschiebung erlaubt es also, Gegenstände unter dem Aspekt ihrer zeitlichen Konstitution zu untersuchen und gleichzeitig Werkzeuge und Methoden auf ihre eigenen zeitlichen Logiken hin zu befragen. Welche zeitlichen Konzepte bringt etwa die Psychoanalyse in akademische Auseinandersetzungen ein? In welcher Form wird Zeitlichkeit in marxistische Ansätze eingebunden? Es gibt in den queerenAnsätzen zur Zeitlichkeit den Bereich der Erinnerungen, der Archive und Historiografie und es gibt den Bereich aktueller Verkörperungen und Anforderungen, der Fragen nach der zeitlichen Strukturierung und den biopolitischen/gouvernementalen Implikationen einer Jetztzeit, die zu körperlichen Einschreibungen oder psychischen/physischen Affektbindungen werden, aufwirft.

Was könnte Queerness in Bezug auf Zeitlichkeit sein? Elizabeth Freemans Zusammenführung der unterschiedlichen Positionen versucht diese Annäherung über die Idee der »relationality« (2010, 188). Sie fragt, ob nicht allen Positionen gemein ist, neue Formen von Bezüglichkeit zu denken.

»The rubric of time at least seems to offer the possibility of unmaking the forms of relationality we think we know. Implicit in much of this is Foucault’s suggestion that homosexuality is a way of inaugurating, creating, proliferating, shifting social relations. In this sense, might homosexuality (let’s call it queerness) itself be a form of future-making, of re-creating the social, though perversely enough, not in the name of the future?« (ebd.)

In den Fokus rückt hier die Zeitlichkeit als eine Form, soziale Beziehungen zu strukturieren. Das Gespräch mit Foucault, Von der Freundschaft als Lebensweise (Foucault 1984), auf das Freeman im obigen Zitat verweist, ist immer wieder zentral in den Beiträgen zu queerer Zeitlichkeit. Foucault betont darin die historisch kontingente Entwicklung der Idee von Homosexualität und spricht sich dafür aus, Formen von (sexuellen) Beziehungen eben nicht mit Bedeutungen zu füllen, sondern über eine Leere zu kennzeichnen und gerade dadurch zu erweitern.

Die Betonung der Relationalität, die Elizabeth Freeman bei allen ihren Mitdiskutand*innen herausstellt, bezieht sich auch auf die in der Diskussion thematisierten Konstruktionen von communities. Bei der Mediävistin Carolin Dinshaw ist es zum Beispiel die Frage nach der Möglichkeit, »communities across time« zu bilden, sie spricht in Bezug auf die eigene historische Arbeit außerdem von der Idee eines »touching across time« (Dinshaw et al. 2007, 178).3 In der Auseinandersetzungen mit Zeitlichkeit ist auch die Frage der Konstruktion von communities und ihren Normativitäten enthalten. Diese Konstruktionen von communities werden in der vorliegenden Arbeit als Fragen nach Bewegungsgeschichte_n aufgenommen.

Die Hinwendung zum Thema der Zeitlichkeit in den Queer Studies hängt eng mit weiteren Schwerpunktverschiebungen der Forschungsrichtung, etwa mit dem sogenannten affective turn zusammen, hier kommt es in zentralen Texten zu Überschneidungen. So fragt Ann Cvetkovich (2003) nach einem Archiv der Gefühle, Dana Luciano (2007) untersucht Trauer als ein zeitliches Phänomen und Lauren Berlant (2011) und Sara Ahmed (2010) fokussieren Glück und Optimismus als auch zeitlich bestimmte Phänomene und Anforderungen. Viele dieser Arbeiten untersuchen affektive Phänomene auch unter zeitlichen Aspekten. Sie interessieren sich im weitesten Sinne also auch für Formen von Verkörperungen oder psychische/körperliche Reaktionen in gesellschaftspolitischen Verhältnissen. Oder, noch einmal anders gefasst, für die affektiven Bedingungen für historische Formen von Verkörperungen, die über zeitliche Strukturen bestimmt sind.

Eine weitere Überschneidung findet sich zwischen queererZeitlichkeit und Positionen eines archival turn, der sich auch bereits in den von den Queer Studiesaufgeworfenen Fragen zur Zeitlichkeit in Bezug auf einen Rückgriff auf die Vergangenheit, abzeichnet. Hier geht es auch um Perspektiven auf Historiografie, insbesondere mit dem Fokus auf den normativen Aspekt von Archiven und die Suche danach, was ein queeres Archiv auszeichnen könnte. Beschreibt ein queeres Archiv eine Struktur des Archivs oder beschreibt es die Dinge, die darin aufbewahrt werden und auf nicht-heterosexuelle Biografien verweisen? Im Hinblick auf queere Geschichte werden dabei auch affektive Ereignisse und Dinge genannt, aber auch materielle Gegenstände und immaterielle Konfigurationen sowie flüchtige Phänomene und die Frage nach der Möglichkeit ihrer Bewahrung oder ihres Zugriffs in Archiven.

Was macht die Hinwendung zur Zeitlichkeit damit beschreibbar? Es sind gesellschaftspolitische Verläufe, die in ihrer zeitlichen Struktur, als Taktung, als Linearität auftauchen und zu befragbaren Phänomenen werden. Wenn Zeit als eine bedeutungsgebende Struktur begriffen wird, die festsetzt, wie Geschichte erzählt wird, stellen sich sowohl Fragen nach sozialen/gesellschaftlichen/politischen Taktungen und ihren Effekten als auch nach den Grundlagen von Bedeutungsproduktion, nach den zeitlichen Bedingungen, unter denen etwa Identitätspositionen bedeutungsvoll aufgeladen werden.

Nicht nur die Möglichkeit, Geschichten als queere Geschichte und Lebensverläufe zu bewahren, ist Gegenstand der hier untersuchten Auseinandersetzung, auch die Frage danach, was im Zugriff auf und in Deutungen von Vergangenheit passiert, wird diskutiert. Hier wird eine medienwissenschaftliche Perspektive interessant: Wie kann eine mediale Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stattfinden, die diese nicht in teleologischen Narrativen linear verengt und abschließend mit Bedeutung versieht? Unter welchen medialen Voraussetzungen findet Geschichte statt? Zunächst soll in diesem Kapitel die Auseinandersetzung der Queer Studiesmit Zeitlichkeit kurz skizziert werden, bevor dann der Fokus hin zu Überschneidungen mit filmwissenschaftlichen Ansätzen, beginnend mit dem nächsten Kapitel, verschoben wird. Wie stark ist die Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit in den Queer Studies auch über Zeitordnungen geprägt, die über Film selbst produktiv sind oder hier sogar erst hergestellt werden?

2.2Die (Un-)Möglichkeit queerer Zeitlichkeit

Für einen konkreten Einstieg in eine detaillierte Darstellung unterschiedlicher Ansätze zu queerer Zeitlichkeit eignet sich zunächst J. Jack Halberstams In a Queer Time and Place (2005), wobei Halberstam von der Möglichkeit einer queer temporality ausgeht und diese auch durch Beispiele untermauert. Davon, dass es eine – wie auch immer geartete – Queere Zeitlichkeit geben könnte, gehen nicht alle Beiträge zur Frage der Zeitlichkeit in den Queer Studies aus, die im Folgenden referiert werden. So geht es in anderen Beiträgen zu dieser Thematik um die Analyse normativer Zeitlichkeiten, die Suche nach subversiven Momenten hierin und Fragen nach gesellschaftlich produktiven Figurationen von Zeit, etwa in Bezug auf Zukunft und Vergangenheit. In einem zweiten Schritt stelle ich die beiden Positionen vor, die die Diskussion um Fragen nach Zeitlichkeit in den Queer Studiesin Gang gesetzt haben, nämlich Lee Edelmans Absage queerer Politiken, die an Leo Bersanis Besetzung der Figur der Negativität anschließt. Beide haben gegen Möglichkeiten queerer Positionen in heteronormativen Kontexten argumentiert und aufgezeigt, wie diese Normativität über zeitliche Logiken stabilisiert wird. Zum Abschluss dieses Unterkapitels stelle ich dann mit José Esteban Muñoz eine nach Halberstam zweite Gegenposition hierzu vor, die auch Queerness gleich zu einem zeitlichen Moment werden lässt.

In J. Jack Halberstam 2005 erschienenem Buch In a Queer Time and Place wird die Möglichkeit Queerer Zeitlichkeit zentral. Als QueereZeitlichkeit versteht Halberstam dabei solche Zeitlichkeit, die sich normativen Zeitstrukturen entgegensetzen, also zeitlichen Logiken, die auf Reproduktion, Altersangemessenheit oder Langlebigkeit basieren: Reproduktion als Formen von Verkörperungen kollektiver Logiken, die sich zum Beispiel in binären Geschlechtervorstellungen, aber auch in der Institution der Familie und ihrer Zeitlichkeit zeigen, vermeintliche Altersangemessenheit als Erfordernis sozial akzeptierter Verhaltensweisen und Langlebigkeit als Ideal für Beziehungen, aber auch Biografien (vgl. Halberstam 2005, 5). Halberstams Definition von queerer Zeit lautet:

»›Queer Time‹ is a term for those specific models of temporality that emerge within postmodernism once one leaves the temporal frames of bourgeois reproduction and family, longevity, risk/safety, and inheritance« (ebd., 6).

Halberstams Konzept einer Queeren Zeitlichkeit ist stark an die Frage nach der Möglichkeit von Lebensentwürfen und Biografien gebunden, die sich normativen Abläufen entziehen. Er untersucht, wie gesellschaftspolitische Anforderungen der Reproduktion und die mit ihnen verbundenen normativen Zeitlichkeiten im Blick auf die Zukunft (temporär) ausgesetzt werden können. Momente einer Verweigerung normativer zeitlicher Logiken – widerständige Praktiken also – findet Halberstam vor allem in subkulturellen Kontexten und dort, wo der Binarismus von Jugend und Erwachsenenalter ausgesetzt ist (vgl. ebd., 2). Zentral ist dabei die Idee, dass diese queeren Zeiten keineswegs ein Außen normativer Zeiten beschreiben, sondern gerade innerhalb derselben funktionieren und sie dadurch subvertieren können. Gerade die Anforderungen individueller Verkörperungen werden als zeitliche Anforderungen beschreibbar, denn Halberstam macht deutlich, wie sehr zeitliche Strukturen Sex, (Geschlechts)Identitäten, Begehren und biografische Entwürfe bestimmen. Sein Begriff queerer Zeitlichkeit ist bereits eng mit der Idee eines queeren Archivs verknüpft, da ein Ausgangspunkt seines theoretischen Interesses das um die Erinnerung an die Person Brandon Teena4 herum vorhandene Archiv ist.

J. Jack Halberstams positive Hinwendung zu queeren Zeiten (und Orten) ist eine direkte Antwort auf Fragen der Negativität, die in den Queer Studies von Bersani (2010) und Lee Edelman (2004) aufgerufen wurden. Halberstam weist, obschon er nach queerer Zeitlichkeit sucht, darauf hin, dass eine strikte Trennung in heteronormative und Queere Zeitlichkeiten und Strukturen nicht sinnvoll ist, da sie nur in Bezug zueinander zu denken sind. In heteronormativen Zeitordnungen gibt es immer wieder Brüche, Auslassungen, Störungen, die als Queere Zeitlichkeiten vor dem Hintergrund dieser normativen Zeitlichkeiten lesbar werden.

Die Negativität findet bei Edelman ihren Ausdruck in einer Ablehnung von Politiken und einer Verweigerung, sich in diese einzuschreiben. Zentraler Gegenstand seines 2004 erschienenen Buchs No Future!Queer Theory and the Death Drive ist die Zukunft. Edelmans hier besonders interessierende These lautet dabei, dass auf Zukunft ausgerichtete Politiken und Erzählungen schon strukturell heteronormativ sind.

In No Future!Queer Theory and the Death Drive nimmt Edelman queere Politiken, die auf rein formale Gleichstellung zielen, zum Ausgangspunkt seiner theoretischen Überlegungen zur Zeitlichkeit.5 Er argumentiert, dass solche Gleichstellungspolitiken Queerness nicht bewahren könnten, da die gesellschaftliche Gleichstellung nur über die Aufgabe der Queernesszugunsten der, der Gleichstellung zugrunde liegenden, heteronormativen Struktur funktioniert. Anders gesagt kann Queerness kein Teil dieser Struktur sein, daher bleibt ihr nur das Außen (vgl. ebd., 13ff.).

Die Bezugspunkte von Edelmans appellativer und polemischer Theorie sind (akademische) Bedeutungsproduktion, identitätspolitische Bewegungen und Queer Theory. Er taucht im Kontext der Diskussion einer queer temporality als eine der maßgeblich beteiligten Personen auf. Ihm geht es im Blick auf identitätspolitische Bewegungen dabei nicht so sehr um die Analyse der zeitlichen Strukturierung etwa des Sozialen, sondern um eine Perspektivierung von Bedeutungsproduktion für identitätspolitische Bewegungen. Bedeutung(sproduktion) ist für Edelman ein Versprechen, das er unter Bezugnahme auf die Psychoanalyse Jacques Lacans als ein niemals einzulösendes ausmacht.

Mit dem Konzept der Negativität schließt Edelman an Leo Bersanis Verortungen queerer Politiken in der AIDS-Pandemie an (Bersani 2010 [1987]). Gemeinsam haben ihre Positionen einen anti-social oder anti-relational turn inden Queer Studies mitbegründet. Die Arbeiten beider basieren auf psychoanalytischen Ansätzen, mit denen sie sexuelle Identitäten und Begehren im Kontext gesellschaftlicher Ordnungen theoretisieren. Die Erkenntnis über die grundlegende heteronormative Strukturierung dieser Ordnungen erst führt bei beiden Theoretikern zu einer Hinwendung zur Negativität. Diese Hinwendung zur Negativität ist zugleich eine Antwort auf eine positiv affirmative Politik und die damit verbundene Hoffnung auf Anerkennung und sie ist in ihrer theoretischen Grundlage, den psychoanalytischen Theorien Freuds und Lacans, begründet.

Bereits 1987 veröffentlicht Bersani seinen Aufsatz Is the rectum a grave? zur Verortung schwuler Sexualitäten in US-amerikanischen wie britischen Medien zur Zeit der frühen AIDS-Pandemie.6 Er zeigt darin die Logiken auf, über die schwule Männer und auch Menschen mit Suchterfahrung durch AIDS als Personen konstruiert werden, die zu den Anderen der Gesellschaft werden und diese gleichzeitig bedrohen.

Bersanis Essay wendet sich gegen die positive, optimistische Annahme, dass Sexualität politisiert werden kann und subversive Praktiken als politische (soziale) Praktiken stark gemacht werden können. Seine Analyse gesellschaftlicher Verortungen von Sex und damit einhergehend von sexuellen Identitätskonstruktionen ist dagegen eindeutig pessimistisch bzw. negativ. Die gesellschaftspolitisch wirkmächtigen Narrative über Sex sind – so führt er aus – medial von Gewalt, zum Beispiel in Form von Misogynie und Homophobie und Mechanismen des Ausschlusses bestimmt. Subversive Erzählungen könne es nicht geben, da jegliche Form der Verortung von Sexualität Teil dieser machtvollen Verortungen werde.

Bersani zeigt auf, wie sich Machtverhältnisse in Diskursen über Sex immer wieder über phallozentrische Narrative, Misogynie und Homophobie stabilisieren.7 Eine positive politische Verortung ist darin verunmöglicht, dies begründet bei ihm die Umkehr in die Negativität, auf die sich dann auch Edelman fokussiert.

In No Future! fasst Edelman Politik als ein auf Logiken der symbolischen Ordnung basierendes Projekt, in dem Queerness nur als Negativität bestehen bleiben kann. Er positioniert sich in seinem theoretischen Ansatz quasi performativ jenseits von Bedeutungsproduktion und einer politischen Verwendung seines Texts.

Auch bei ihm ist das Subjekt ein psychoanalytisch bestimmtes Subjekt und es ist Edelmans nicht-politisches Anliegen, diesem Subjekt das Genießen frei von Bedeutung zu ermöglichen. Denn gerade der binären Struktur des Politischen gilt es, nach Edelman, zu entkommen. Dabei zeigt er keine möglichen Alternativen auf, sondern besteht eben auf dem Moment der Negativität. Jegliche Affirmativität geht bei Edelman mit dem Verschwinden queerer Positionen einher, weil es eine heteronormative Struktur ist, die hier Bedeutung verspricht (vgl. Edelman 2004, 2).