Queersensible Seelsorge - Kerstin Söderblom - E-Book

Queersensible Seelsorge E-Book

Kerstin Söderblom

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Beschreibung

Christlich und queersensibel im Kontext Seelsorge – geht das? Das vorliegende Buch zeigt anhand konkreter Fallbeispiele, wie berührend und befreiend diese Verbindung sein kann. Kerstin Söderblom erzählt praxisnah, anhand lebensgeschichtlicher Miniaturen queerer Ratsuchender, was Queersensible Seelsorge ist. Die Grundlage bildet dabei die Auswertung von Fallbeispielen aus der Seelsorge- und Kasualpraxis. Zusätzlich werden queerfreundliche seelsorgliche Predigtimpulse, queere Re-Lektüren biblischer Texte, Gebete und Rituale vorgestellt. Das Buch enthält spannende und berührende Geschichten aus einer pastoraltheologisch zumeist noch komplett ignorierten Welt. Es verbindet professionelle Seelsorgearbeit mit der Frage, wie sie für queere Personen angemessen und respektvoll angeboten werden kann.

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Kerstin Söderblom

Queersensible Seelsorge

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen,

ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA;

Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland;

Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: © rkit/Pixabay

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99359-1

Inhalt

VORWORT

EINLEITUNG

EINORDNEN

IWas ist Seelsorge?

1Annäherung an Seelsorge

2Persönliche Standortbestimmung

3Biblisch-theologische Grundannahmen

4Annäherung an queertheologische Ansätze

WAHRNEHMEN

IIKontext

1»Outside the box«

2Lernwege

3#OutInChurch

4Pluralisierung der Lebensformen und Geschlechtsidentitäten

5Vorbilder in gelebter Selbstannahme

6Respektvolle Begleitung und Seelsorge als Initialzündung für Engagement

IIIFallbeispiele

1.Fallbeispiel: »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll!«

1.1Begegnung

1.2Queere Re-Lektüre der Ostergeschichte

1.3Resonanzen

2.Fallbeispiel: »Ich trenne mich, um mich selbst wieder zu finden!«

2.1Begegnung

2.2Queere Re-Lektüre der Jakobsgeschichte

2.3Resonanzen

3.Fallbeispiel: »Es ist die Hölle!«

3.1Begegnung

3.2Queere Re-Lektüre der Geschichte des Propheten Elia

3.3Resonanzen

4.Fallbeispiel: »Ich passe in keine Schublade!«

4.1Begegnung

4.2Queere Re-Lektüre der Josefsgeschichte

4.3Resonanzen

5.Fallbeispiel: »Was ist eigentlich normal?«

5.1Begegnung

5.2Queere Re-Lektüre des Doppelgebots der Liebe

5.3Resonanzen

VERSTEHEN

IVErste Erkenntnisse

1Rahmen: Sichere Orte und Zeiten

2Haltung: Wertschätzung und Respekt

3Wissen: Kenntnis von Minderheitenstress

4Bewertung: Perspektivwechsel und Handlungserweiterung

5Herausforderung: »Clobber Passages«

6Werkstatt: Queere Re-Lektüren biblischer Texte

7Reflexion: Die Rolle der Seelsorger:innen

VUmgang mit »Clobber Passages«

1Herausforderung

2Theologische Einordnung und Erklärung der »Clobber Passages«

3Fazit

UMSETZEN

VIQueersensible Seelsorge bei Kasualhandlungen

1Trauungs- und Segnungsgottesdienste

1.1Anfrage

1.2Queere Re-Lektüre des Buchs Ruth

1.3Resonanzen

1.4Fazit

2Taufen in Regenbogenfamilien

2.1Anfrage

2.2Queere Re-Lektüre von Jesaja 43,1b

2.3Resonanzen

2.4Fazit

3Coming-out in der Konfirmand:innengruppe

3.1Anfrage

3.2Queere Re-Lektüre der Geschichte von David und Jonathan

3.3Resonanzen

3.4Fazit

4Namensfest im Kontext von Transitionen

4.1Anfrage

4.2Queere Re-Lektüre der Geschichte vom äthiopischen Eunuchen

4.3Resonanzen

4.4Fazit

5Trauerfeiern im queeren Umfeld

5.1Anfrage

5.2Queere Re-Lektüre von Johannes 8,12

5.3Resonanzen

5.4Fazit

6Schlussfolgerungen

VIIQueersensibel seelsorglich predigen

1»Steh auf und geh!« – die Heilung am Teich Bethesda queer erzählt

1.1Predigt

1.2Resonanzen

2»Komm heraus!« – die Auferweckung des Lazarus queer erzählt

2.1Predigt

2.2Resonanzen

3»Zachäus und die Scham« – die Geschichte vom Zöllner queer erzählt

3.1Predigt

3.2Resonanzen

4Vom Verlieren und Wiederfinden – die Geschichte vom verlorenen Sohn queer erzählt

4.1Predigt

4.2Resonanzen

5»Out of the Box!« – jenseits von Schubladen queer erzählt

5.1Predigt

5.2Resonanzen

6»Du sollst ein Segen sein!« – vom Segen queer erzählt

6.1Predigt

6.2Resonanzen

7»Jakob, Rahel, Lea & Co.« – Familienstreit im Hause Jakob queer erzählt

7.1Predigt

7.2Resonanzen

8Schlussfolgerungen

DEUTEN

VIIIQueersensible Pastoraltheologie der Vielfalt

1Queersensible Seelsorge – Anforderungen an die Person der Seelsorger:in

2Queersensible Seelsorge – Lebensdeutung im Lichte biblischer Geschichten

3Queersensible Seelsorge – wechselseitiges Beziehungsgeschehen

4Queersensible Seelsorge – wertschätzende Ressourcenorientierung

5Queersensible Seelsorge – Sprachschule für Selbstwert und gesellschaftliches Handeln

6Queersensible Seelsorge – innovativer Motor für gastfreundliche und inklusive Gemeinden

7Queersensible Pastoraltheologie der Vielfalt – lebenszugewandt, kreativ und transformativ

Glossar

(Selbst-)Reflexionsfragen für eine queersensible Seelsorge

1.Persönlich

2.Strukturell

3.Konsequenzen

Checkliste für geschützte Räume – »Safe(r) Spaces« in der Seelsorge

Literatur

Auswahl an Netzwerken, Einrichtungen und Beratungsstellen

Dank

VORWORT

Seit über zwanzig Jahren arbeite ich als offen lesbisch lebende Pfarrerin in verschiedenen kirchlichen Positionen. Personalverantwortliche meiner Landeskirche, der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), haben mich schon als junge Theologiestudentin ermutigt, mein Studium nach meinem Coming-out nicht aufzugeben. Sie betonten, dass sie ihr Personal aufgrund seiner Qualifikation einstellten und nicht aufgrund seiner Lebensform. Gleichwohl erklärten sie mir auch, dass meine Lebensweise für manche Gemeindeglieder vor Ort schwierig werden könnte. Und es war tatsächlich ein nicht immer einfacher Lernweg für alle Beteiligten.

Seit meinem Coming-out in den 1980er Jahren ist viel passiert. Es gibt in vielen Landeskirchen die Trauung für alle, lesbische und schwule Pfarrpersonen wohnen als Paare im Pfarrhaus, trans* Personen arbeiten auch nach ihrer Transition in kirchlichen Berufen. Zumindest in den meisten evangelischen Landeskirchen in Deutschland ist das so.

Schaut man allerdings in die weltweite ökumenische Kirchenlandschaft, sind Kirchen viel zu oft Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Rechtsevangelikal gesinnte Menschen aller Konfessionen – offen auch für nicht religiöse fundamentalistische und rechtsextreme Positionen – organisieren sich international, um sich für traditionelle Familienwerte einzusetzen.

Nicht wenige Pfarrpersonen und kirchliche Mitarbeitende verurteilen queere Menschen in Predigten und Ansprachen öffentlich und drohen ihnen mit Hölle und Verdammnis. Manche stacheln ihre Gemeindeglieder sogar mit der Bibel in der Hand zu Hass und Ausgrenzung auf. Immer wieder werden queere Personen nach einem freiwilligen oder erzwungenen Coming-out aus Gemeinden oder religiösen Gruppen ausgeschlossen. Soziale Kontakte und Netzwerke gehen verloren und nicht selten werden queere Personen verbal oder tätlich angegriffen. Kyrill I., der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche in Moskau, hat als einen Kriegsgrund für den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine angegeben, russische Familienwerte gegen die westliche »Schwulenseuche« und gegen Christopher-Street-Day-Paraden beschützen zu müssen.

Kein Wunder, dass queersensible Seelsorge bis heute dringend notwendig ist. Queere Gläubige brauchen Schutzräume, in denen sie von ihren Erfahrungen erzählen können, ohne sich dafür rechtfertigen oder Angst vor Re-Traumatisierungen haben zu müssen. Sie brauchen Orte, an denen sie erleben können, dass queer sein und gläubig sein kein Widerspruch ist, sondern selbstverständlich zusammenpasst.

Genau dafür setze ich mich als Pfarrerin leidenschaftlich ein. Ich engagiere mich für Respekt und Gleichberechtigung queerer Menschen an verschiedenen kirchlichen Orten: in der Verkündigung, in kirchlichen Diskussionsveranstaltungen und in der Bildungsarbeit, in Seelsorge und Beratung. Und von Anfang an haben mich queere Gläubige oder solche, die religiös auf der Suche sind, um Seelsorge und Beratung gebeten. Der Bedarf war und ist groß. Ein explizit queerfreundliches Seelsorgeangebot ist in kirchlichen Kreisen dagegen nach wie vor überschaubar.

Wie wichtig queersensible Seelsorge ist, zeigt sich auch in meiner jetzigen Tätigkeit als Hochschulpfarrerin der Evangelischen Studierendengemeinde (ESG) in Mainz. Studierende ganz verschiedener Fachrichtungen haben mich von Beginn an auf queersensible Seelsorge und Beratung hin angesprochen. Denn auch junge Leute erleben täglich, wie schwierig es ist, gleichzeitig queer und gläubig zu sein. Glücklicherweise sind queersensible Seelsorgeangebote in der katholischen (KHG) und evangelischen Hochschulgemeinde in Mainz gut aufgestellt. Das ist aber bei Weitem nicht überall so.

Zudem gibt es dazu im deutschsprachigen Raum meines Wissens bisher keine einzige Buchveröffentlichung. Weder in der Seelsorgeausbildung noch in der Fort- und Weiterbildung ist ein queersensibler Ansatz offiziell Thema, geschweige denn Teil eines curricularen Konzepts.

Aus all diesen Gründen entschied ich mich Anfang 2022, meine Seelsorgeerfahrungen zu diesen Themen anhand von verdichteten Fallbeispielen aufzuschreiben und auszuwerten. Ein dreimonatiger Studienurlaub, den meine Landeskirche ihren Pfarrer:innen alle zehn Jahre ermöglicht, gab mir Zeit und Ruhe, um den Plan in die Tat umzusetzen.

Was ich mir von diesem Buch erhoffe: dass queersensible Seelsorgeperspektiven nachvollziehbar werden und bereits bekannte Erkenntnisse vertieft werden können.

Was ich mir wünsche: dass das Buch Anregungen gibt für die Seelsorgepraxis vor Ort und Material bietet für Module einer queersensiblen Seelsorgeaus- und -weiterbildung.

Kerstin Söderblom

EINLEITUNG

Das Buch ist nach dem Fünfschritt Einordnen (Kapitel I), Wahrnehmen (Kapitel II–III), Verstehen (Kapitel IV–V), Umsetzen (Kapitel VI–VII) und Deuten (Kapitel VIII) gegliedert. Dafür kläre ich im ersten Kapitel meinen Seelsorgebegriff und beziehe diesen auf queertheologische Grundannahmen. Im zweiten Kapitel führe ich in den gesellschaftlichen und kirchlichen Kontext des Themas ein. Im dritten Kapitel beschreibe und verdichte ich mithilfe von fünf anonymisierten Fallbeispielen aus meiner Seelsorgepraxis exemplarisch Herausforderungen und Chancen der Seelsorge im queeren Kontext. Im vierten Kapitel formuliere ich erste fallnahe Erkenntnisse daraus für eine queersensible Seelsorge.

Im fünften Kapitel notiere ich einige zentrale Aussagen zu den sogenannten »Totschlagtexten« (»Clobber Passages«), also den biblischen Passagen, die gegen queere Menschen zitiert werden, um sie abzuwerten oder zu verdammen. Dies ist für eine queersensible Seelsorge notwendig, da Seelsorgesuchende um die Einordnung und Erklärung der Passagen im Seelsorgegespräch immer wieder ringen. Im sechsten Kapitel verdichte ich anhand von fünf Fallbeschreibungen Seelsorgehandlungen bei Kasualgottesdiensten im queeren Kontext, die ich als Gemeindepfarrerin und später als Pfarrerin im Evangelischen Studienwerk in Villigst erlebt habe. Ich beschreibe die Segnung eines gleichgeschlechtlichen Paares, eine Taufe im Kontext einer Regenbogenfamilie, Konfirmandenunterricht mit dem Coming-out eines Jugendlichen, ein Namensfest im Rahmen einer Transition und eine Trauerfeier im Rahmen der Beerdigung eines schwulen Mannes. Anschließend reflektiere ich die Bedeutung seelsorglicher Arbeit im Rahmen von Kasualien im queeren Kontext. Im siebten Kapitel stelle ich sieben seelsorgliche Predigtimpulse vor, die ich in unterschiedlichen Kontexten gegeben habe und die eine queersensible seelsorgliche Arbeit initiiert oder unterstützt haben, und beschreibe mir bekannte Resonanzen. Im achten Kapitel formuliere ich Schlussfolgerungen und Grundanforderungen an eine queersensible Seelsorge. Abschließend notiere ich zentrale Sätze für eine queersensible Pastoraltheologie der Vielfalt. Glossar, (Selbst-)Reflexionsfragen zu queersensibler Seelsorge, eine Checkliste für Safer Spaces, Literaturverzeichnis, eine Auswahl an Netzwerken, Einrichtungen und Beratungsstellen runden das Buch ab.

Alle Bibeltexte zitiere ich aus der revidierten Lutherbibel von 2017 oder aus der Bibel in gerechter Sprache. Hinzu kommen eigene Übersetzungen.

Ich verstehe dieses Buch als schriftlichen Reflexionsprozess meiner Seelsorgepraxis aus queertheologischer Perspektive. Ich beziehe mich dabei auf »Good Practice«-Beispiele aus meiner über zwanzigjährigen Seelsorgepraxis, bei denen nach meiner Auffassung etwas über den Einzelfall hinaus gelernt werden kann. Selbstverständlich habe ich andere Beratungen erlebt, die aus verschiedenen Gründen nicht gelungen sind oder bei denen ich aus fachlicher Sicht an Grenzen stieß und die ich daher an spezialisierte Fachkräfte weiterüberwiesen habe.

Es ist ein Buch aus der Praxis für die Praxis. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass es haupt-, neben- und ehrenamtlich Aktive in der Seelsorge einlädt, mit Freude und persönlichem Gewinn queersensibel zu beraten.

EINORDNEN

I Was ist Seelsorge?

1 Annäherung an Seelsorge

Leibhafte Wegbegleitung

Der auferstandene Jesus hat zwei Jünger nach Emmaus begleitet. Sie erkannten ihn nicht. Jesus hat ihnen zugehört, mit ihnen geredet und mit ihnen ein Stück Weg geteilt. Er nahm ihre Sorgen und Nöte ernst und nahm ihre Verunsicherung wahr. Jesus aß und trank mit ihnen und teilte schließlich Brot und Wein mit ihnen. So hatte er es früher getan, sodass die beiden Jünger ihn endlich wiedererkennen konnten. Es fiel ihnen wie Schuppen von den Augen. Jesus war wieder da. Wie konnten sie ihn vorher nicht erkannt haben? Er war von den Toten auferstanden, halleluja! Durch die Begegnung mit dem auferstandenen Jesus fassten sie neuen Mut. Nachdem Jesus wieder verschwunden war, gingen sie zurück nach Jerusalem, um den anderen von ihrem freudigen Erlebnis zu berichten.

Diese biblische Geschichte aus Lukas 24 ist Grundlage meiner Gedanken zur Seelsorge. Seelsorge ist in diesem Sinn leibhafte Wegbegleitung, achtsames Zuhören und eine zeitlich begrenzte Anteilnahme an den kleinen und großen Sorgen und Krisen an ganz unterschiedlichen Alltagsorten des Lebens. Fragen und Schweigen, Zuhören und Begleiten waren entscheidende Interventionen des auferstandenen Jesus. Außerdem mobilisierte er bei den Jüngern leibhafte Erinnerungen an gute Tage, indem er das Abendmahl mit ihnen teilte. Durch die vertraute rituelle Handlung setzte er innere Kraftquellen der Jünger frei und veränderte ihren Blick auf die Zukunft: Nicht mehr Verzweiflung, sondern Hoffnung prägten ihre Perspektive auf das Leben.

Den ganzen Menschen ansehen mit Körper, Geist und Seele

Seelsorge heißt nach meinem Verständnis, den ganzen Menschen anzusehen und anzusprechen, mit Körper, Geist und Seele. Denn in ihrer Ganzheit sind Menschen G:ttes Ebenbild. Sie sind von G:tt einzigartig geschaffen und wunderbar gemacht (nach Psalm 139,14). Deshalb sind Respekt, Empathie und Wertschätzung gegenüber allen Menschen unhintergehbare Grundbedingungen für die Seelsorge. Menschen können in ihrer Vielfalt und Besonderheit aber nur dann erkannt werden, wenn sie zugleich in ihren familiären Bindungen, sozialen Systemen und gesellschaftspolitischen Zusammenhängen begriffen werden. Dafür ist die Bezugnahme auf die Humanwissenschaften unerlässlich.

Psychologische und psychosoziale Einsichten sind genauso relevant wie systemische, sozioökonomische, raum- und geschlechtersensible, gegebenenfalls interkulturelle und interreligiöse Dimensionen. Für die Seelsorge folgt daraus, die Selbst- und Weltsicht der Ratsuchenden anzuhören und ihren Selbstdeutungen respektvoll zu begegnen. Dafür ist es notwendig, Differenzen zu den eigenen Vorstellungen wahrzunehmen, auszuhalten und nicht zu bewerten. Ein solches seelsorgliches Handeln braucht Differenzsensibilität und die Fähigkeit der »Interpathie«, wie es der amerikanische Seelsorger David Augsburger in Ergänzung zur Empathie formuliert hat (vgl. Augsburger 1986, S. 27–32). Interpathie bedeutet, die eigene Sicht für eine begrenzte Zeit zurückzustellen und sie durch die Sicht der anderen substanziell zu erweitern.

Sinnstiftung und Lebensdeutung

Die Ratsuchenden kommen im Seelsorgegeschehen als »simul iustus et peccator«, also als gerechte und zugleich sündige Menschen in den Blick und erfahren, dass diese Ambivalenz spätestens seit Martin Luther aus evangelischer Sicht zum Menschsein genuin dazugehört. Diese Erkenntnis kann Druck und Stress nehmen und dazu ermutigen, ruhiger und gelassener auf lebensgeschichtliche Konflikte, Brüche und Leerstellen im Seelsorgegespräch zu schauen. Wenn G:ttes Wort angesichts von solchen Krisen mithilfe von biblischen Geschichten, Symbolen, Psalmen oder Gebeten zum Klingen gebracht wird, kann G:ttes liebende Annahme und die Rechtfertigung der Menschen »allein aus Gnade« konkret erlebbar werden. Dann trauen sich Ratsuchende, Schuld- und Schamgefühle anzusprechen und eigene Fehler zu benennen. Dadurch werden menschliche Lebensgeschichten und die Heilsgeschichte G:ttes aufeinander bezogen und miteinander verknüpft. Die christliche Seelsorge sieht die Menschen folglich nicht nur in ihrer Begrenztheit, sondern vor allem in ihrer Potenzialität als vor G:tt aufgerichtete Individuen. Kraftquellen, Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten kommen ins Spiel, die sich in seelsorglichen Freiräumen entfalten können. Seelsorge ist in diesem Sinn immer auch Orientierungsangebot, Sinnstiftung und Lebensdeutung angesichts von krisenhaften Lebenserfahrungen.

Wo findet Seelsorge statt?

Seelsorge kann in kurzen Alltagsgesprächen auf der Straße, im Supermarkt oder vor der Kirchentür stattfinden. Sie geschieht in der Kinder- und Jugendarbeit und in der Schule am Rande von Elternabenden oder im Gespräch mit Jugendlichen oder Konfirmand:innen. Ihren festen Ort hat die Seelsorge im Gemeindeleben bei Kasualgesprächen, wie Tauf-, Trau- oder Trauergesprächen, bei Geburtstagsbesuchen und bei Begegnungen mit älteren Menschen, Kranken, Sterbenden und ihren Angehörigen. Seelsorge findet aber auch als Teil von übergemeindlicher sozialdiakonischer Arbeit mit Erwerbslosen, Wohnungslosen, in der Arbeit mit Migrant:innen, LSBTIQ+-Personen, mit HIV-Positiven, Suchtkranken oder mit anderen Gruppierungen statt. Schließlich ist die Spezialseelsorge ein ganz eigenes Feld. Sie geschieht an spezifischen Orten wie z. B. im Krankenhaus, an Universitäten und Hochschulen, in der Schule, in der Psychiatrie, im Gefängnis, im Altersheim, am Flughafen oder im Hospiz. Seelsorge in der Gemeinde ist im Verhältnis zur Seelsorge an übergemeindlichen Orten nicht wichtiger oder unwichtiger, nicht besser oder schlechter, sondern jeweils anders und stets konkret. Die verschiedenen Seelsorgeorte können nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Wie geschieht Seelsorge?

Seelsorge ist ein ganzheitliches und interaktives Kommunikationsgeschehen. Es hat verbale, nonverbale und energetische Anteile. Alle Sinne sind daran beteiligt. Dabei wird ein Resonanzraum für Schmerz und Trauer, aber auch für Freude, Dankbarkeit und andere Gefühle eröffnet und als Schutzraum angeboten. Gerade in Gesprächen am Ende des Lebens, mit trauernden Angehörigen oder mit traumatisierten Menschen spielen Schweigen oder nonverbale Gestik, Mimik, Haptik und Ritualhandlungen eine wichtige Rolle. Liturgische Klage, Gebet, Psalmlesung, Gesang und Segenshandlungen können darin vorkommen. Energiefluss durch Handauflegung und Segensgesten, Berührungen bis hin zu Umarmungen sind möglich, dürfen den Ratsuchenden aber nur behutsam angeboten und auf keinen Fall übergestülpt werden. Genauso wichtig ist es, in der Seelsorgebegegnung präsent zu sein, Gefühle und Trauer auszuhalten, Themen in sich aufzunehmen (Containment), Ressourcen freizusetzen (Coping) und nicht zu zerreden. Manchmal geht es auch nur darum, mit den Ratsuchenden zu schweigen angesichts von unsagbarem Schmerz, wenn Worte nicht mehr hinreichen.

Beim Seelsorgegeschehen lauert gleichzeitig die Versuchung vonseiten der Seelsorger:innen, Rezepte und Ratschläge auszugeben, eigene Grenzen zu übersehen und in Selbstüberschätzung oder hektische Betriebsamkeit zu verfallen. Besonnenheit, Demut und die Kenntnis der eigenen Grenzen helfen dabei, Seelsorgegespräche verantwortlich zu gestalten. Deshalb werden die Rolle der Seelsorger:innen und ihre Grenzen regelmäßig in Supervision und in kollegialer Intervision reflektiert und bearbeitet.

Zum Schluss noch einmal das, was mir am wichtigsten ist: Seelsorge heißt, den einzelnen Menschen mit den Augen G:ttes und den Augen der anderen wahrzunehmen. Das schafft Freiräume und Hoffnung auf Veränderung.

2 Persönliche Standortbestimmung

Sorge um das Wohlbefinden der Menschen, die Seelsorge beanspruchen, treibt mich als Seelsorgerin an. Der Wunsch, dass es ihnen mit Körper, Geist und Seele gut gehen möge, begleitet mich seit über zwanzig Jahren in meinem Tun. Gleichzeitig wünsche ich mir, den Menschen die biblische Botschaft der Befreiung aus Unrecht und Unterdrückung mit auf den Weg zu geben. Die biblischen Geschichten erzählen von Anerkennung derjenigen, denen Leid geschah, die am Rand standen oder ausgegrenzt wurden. Ich bin überzeugt davon, dass diese Botschaft auch heute noch aktuell ist. Deshalb ist es mir wichtig, dass Seelsorger:innen wachsam vor allem auf diejenigen schauen, die bedroht und diskriminiert werden oder am Rande stehen. Es sind zumeist alte oder kranke Menschen, sozial Abgehängte, Menschen anderer Herkunft und Hautfarbe, körperlich und geistig Beeinträchtigte oder queere Menschen. Ihre Erfahrungen sind für mich theologisch existenziell relevant. Und ihre Alltagsthemen und Sorgen stellen für mich zentrale Herausforderungen für Theologie und Seelsorge dar.

Mein Augenmerk richte ich in diesem Buch auf die Situation von queeren Menschen, die sich gleichzeitig als gläubig oder religiös interessiert bezeichnen. Viele von ihnen haben ausgrenzende und demütigende Erfahrungen an kirchlichen Orten gemacht. Sie wurden und werden an einigen Orten, vor allem in (rechts-)evangelikalen Kreisen aller Konfessionen, immer noch abschätzig als Christ:innen zweiter Klasse angesehen (vgl. Schulz 2022, S. 76–80; vgl. auch weitere lebensgeschichtliche Beispiele in Platte 2018). Ihre Lebensform oder ihre Geschlechtsidentität machen sie zu Personen, die in Sünde leben, nicht dazupassen oder angeblich den Gemeindefrieden stören.

Der Perspektivwechsel hin zu ihren Sorgen, Themen und Wünschen ist für mich eine zentrale theologische Aufgabe und keine Randnotiz. Diese Sichtweise begleitet mich, seitdem ich mich während meines Theologiestudiums mit befreiungstheologischen Ansätzen beschäftigt habe.1 Alle diese Ansätze sind kontextuelle Theologien. Ihr Gehalt muss immer wieder konkret und alltagsnah auf den entsprechenden Kontext bezogen werden und hat keine allgemeine Gültigkeit. Von diesen theologischen Ansätzen habe ich gelernt, kontextsensibel und konkret theologisch zu arbeiten. Audre Lorde, Katie Cannon, Sarah Vecera und andere haben mich gelehrt, Fragen von Rassismus, Kolonialismus, Homo- und Transfeindlichkeit nicht gegeneinander auszuspielen, sondern in ihrer strukturellen und intersektionalen Verwobenheit in meine theologische Reflexionsarbeit miteinzubeziehen (vgl. Vecera 2022; Lorde 1984/2021).2

Neben einer differenzierten und kritischen Aufnahme befreiungstheologischer Ansätze sind für mich in den letzten zwanzig Jahren vor allem die Konzepte wichtig geworden, die im Kontext der sogenannten Globalen Nordens die Blickrichtung auf soziale Privilegien, Hautfarbe und Geschlechtergerechtigkeit für Theologie und Seelsorge erweitert haben.3 Solche Ansätze fordern theologische Binnenkonzepte im Hinblick auf gendersensible, antirassistische und postkoloniale Themen heraus. Queertheologische Ansätze wie die von Marcela Althaus-Reid, Linn Tonstad und Patrick Cheng haben es mir schließlich ermöglicht, mich mit queertheologischen Anliegen zu beschäftigen und sie in den deutschsprachigen Kontext zu übertragen (vgl. Tonstad 2018; Cheng 2011; Althaus-Reid 2000, 2003).

Vor diesem Hintergrund bin ich an einer Theologie und Seelsorge interessiert, die queere Menschen in ihren Alltagsbezügen zu Wort kommen lässt und ihre Stimmen zu Gehör bringt. Lange Zeit ist in theologischen kirchlichen Debatten lediglich über sie gestritten worden. Es ist an der Zeit, sie in Theologie und Seelsorge als Subjekte und Expert:innen ihrer eigenen Lebensgeschichten ernst zu nehmen und ihnen zuzuhören. Dafür erkunde ich, welche Bedingungen in der Seelsorge erfüllt sein müssen, damit queere Menschen angstfrei Seelsorgeangebote annehmen und sich sicher und respektiert fühlen können.

Theologische und seelsorgliche Arbeit ist für mich insofern keine neutrale Beschäftigung, sondern solidarisches Begleiten derjenigen, denen Unrecht oder Leid widerfahren ist. Wenn sie zu mir zum Seelsorgegespräch kommen, höre ich ihnen aufmerksam zu und nehme sie als Subjekte ihrer Lebensgeschichte ernst. Ziel ist es, die Ressourcen und Widerstandskräfte der Seelsorgesuchenden zu aktivieren, damit sie Handlungsmöglichkeiten entdecken und umsetzen lernen, die sie im Spannungsfeld von persönlichen Herausforderungen und strukturellen Gegebenheiten stärken.

3 Biblisch-theologische Grundannahmen

Biblische Geschichten können in der queersensiblen Seelsorge nach meiner Erfahrung eine wichtige Bedeutung haben – gerade weil queere Personen biblische Texte oftmals nur als Waffe gegen sich erlebt haben. Dabei hat die Bibel doch eine zentrale Gesamtbotschaft: G:tt ist bei unterdrückten und an den Rand gedrängten Menschen und ergreift für sie Partei. Der Kern von G:ttes Verkündigung ist Heilung von unheiligen Verhältnissen und Beziehungen und ein friedliches Zusammenleben aller Menschen. Ob in großen biblischen Erzählungen oder kleinen Miniaturen, diese Botschaft setzt sich immer wieder durch. Trotz oder gerade weil biblische Texte auch innerhalb des Alten und Neuen Testaments in sich enorm vielfältig oder sogar widersprüchlich sind. Die Texte decken einen Zeitraum von vielen Jahrhunderten ab und reflektieren ganz unterschiedliche kulturelle, sozialpolitische und wirtschaftliche Verhältnisse. Insofern können biblische Texte nur im innertextlichen Kontext und im historischen Zusammenhang gelesen und verstanden werden. Gleichwohl zieht sich die Gesamtbotschaft durch die Bücher der Bibel hindurch. Die Texte richten sich gegen unterdrückerische Strukturen und stehen für ganzheitliches Wohlergehen (Schalom) und ein lebenswertes Leben für alle ein. Die Ermutigung für ein aufrechtes und respektvolles Miteinander ist auch für die Seelsorge zentral. Im Folgenden nenne ich noch einige andere bedeutsame Facetten.

Ohne Vorbehalte zuhören

Jesus ließ sich ohne Vorbehalte von sogenannten Außenseiter:innen einladen und setzte damit Zeichen, die für mein Seelsorgeverständnis entscheidend sind. Jesus besuchte Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Hautfarbe, Geschlechtsidentität und ihrem sozialen Status. Er hörte ihnen zu, aß und trank mit ihnen, nahm ihre Lebensgeschichte ernst und schaute auf ihre Ressourcen, um Dinge, unter denen sie litten, zu verändern und ihr Leben zu transformieren. Jesus war zugleich Gesprächspartner und Fürsprecher, Vorbild und Initiator von Veränderung. Er konfrontierte starre Lehrsätze und sprach sich für ein menschenfreundliches Miteinander aus. Er holte diejenigen, die am Rande standen, in die Mitte seiner Aufmerksamkeit und kritisierte Selbstgefälligkeit. Zu diesen Gedanken habe ich 2016 auf meiner Website ein Gedicht veröffentlicht. Es heißt: »Ohne Vorbehalte« (Söderblom 2016):

Ohne Vorbehalte

»Ich lade euch ein!« (Matthäus 9,9–12)

Jesus lässt den Zöllner Gastgeber sein.

Er kommt gerne. Er isst und trinkt mit ihm.

Was der? Der ist doch unmöglich! Ein Halsabschneider!

Jesus genießt, was ihm geboten wird, ohne weitere Fragen.

Er teilt das Mahl mit dem Außenseiter.

Was der? Der ist doch unmöglich! Ein Halsabschneider!

Jesus weiß: Wer dem anderen ohne Vorbehalte begegnet, der kann überrascht werden.

Jeder und jede hat eine Chance verdient.

Was der? Der ist doch unmöglich! Ein Halsabschneider!

Jesus interessiert der Protest nicht.

Andere sind empört.

Warum isst Jesus nicht bei uns?

Warum bei diesem Außenseiter?

Jesus spricht mit allen.

Er holt sie vom Rand in die Mitte.

Er bezieht die Ausgegrenzten ein.

Er gibt den scheinbar Nutzlosen,

den Fremden und Anderen ihre Würde zurück.

Was der? Der ist doch unmöglich! Ein Halsabschneider!

Jesus begegnet Einsamen, Fremden,

Kranken und Außenseiter:innen.

Er verurteilt sie nicht.

Stattdessen hört er ihnen zu,

nimmt sie ernst,

will ihre Geschichte verstehen.

Er etikettiert nicht,

steckt nicht in Schubladen,

grenzt nicht aus.

Jede:r hat eine Chance verdient.

Denn in jedem Menschen kann mir G:tt begegnen.

Im Gegenüber G:ttes Ebenbild sehen

G:tt hat die Menschen männlich und weiblich geschaffen und alles dazwischen. Genauso wie G:tt Licht und Finsternis mit Morgen- und Abenddämmerung und allem anderen dazwischen geschaffen hat; genauso wie Wasser und festes Land mit Mooren, Sümpfen und Marschland und allem anderen dazwischen. Ebenso hat G:tt die Tiere im Wasser, auf dem Feld und in der Luft und alle anderen Lebewesen dazwischen geschaffen. Auch wenn in den Schöpfungsberichten nur dualistische Gegenüberstellungen vorkommen, so umfassen sie doch alle Phänomene und Geschöpfe dazwischen. Denn alles in allem ist G:ttes Schöpfung. Und alles dazwischen gehört dazu, auch nichtbinäre, trans* oder intergeschlechtliche Personen. Und nach biblischem Zeugnis ist jeder Mensch G:ttes Ebenbild (Genesis 1,27 f.).

Jeder und jede ist einzigartig, ein Original vor G:tt und von G:tt gesegnet. Dieser Segen wird jedem Menschen ohne Vorleistung »allein aus Gnade« geschenkt, wie es Martin Luther formuliert hat. Allein aus Gnade wird jedem Menschen uneingeschränkt Würde zugesprochen. Zugleich setzt G:tt die Menschen im ersten Schöpfungsbericht als Statthalter:innen der ganzen Schöpfung auf Erden ein. Das heißt, G:tt traut den Menschen ethisch und ökologisch verantwortliches Handeln zu. G:tt erwartet von den Menschen, achtsam und respektvoll mit der Schöpfung und ihren menschlichen, tierischen, pflanzlichen und allen stofflichen Wesen umzugehen, statt die Schöpfung rücksichtslos auszuplündern, zu verschmutzen oder zu zerstören.

Christliches Menschen- und Weltbild gehören demnach zusammen. Sie sind geprägt und getragen von G:ttes Zuspruch und von G:ttes Segen. Beides ermutigt und ermächtigt die Menschen, verantwortlich und achtsam miteinander und mit der gesamten Schöpfung umzugehen und zusammenzuleben. Gleichzeitig ist damit der Anspruch verknüpft, genau diese Verantwortung besonnen, ökologisch bewusst und friedlich füreinander und miteinander zu gestalten. Im Krisenfall, bei Problemen und in Notlagen bedeutet diese Haltung, kollektiv und individuell wachsam zu sein und füreinander einzustehen. Genau diese Haltung ist auch für eine christlich fundierte Seelsorge bedeutsam.

Befreiung aus Unterdrückung weitererzählen

Dort, wo Menschen unterdrückt werden, wo ihnen Unrecht und Gewalt widerfährt, wo sie ausgegrenzt oder ihrer Rechte beraubt werden, dort gilt ihnen G:ttes befreiende Botschaft. Das ist der Zuspruch, den G:tt bereits Moses, Mirjam, Aaron und dem ganzen Volk Israel im Buch Exodus mit auf den Weg gegeben hat. G:tt sprach damals zu Mose sinngemäß: Zieht aus der Sklaverei aus und sucht euch einen anderen Ort, einen gerechten und friedlichen, an dem ihr ohne Unterdrückung leben könnt. Ich werde bei euch sein. Ich werde euch bei Tag und bei Nacht begleiten und euch Orientierung geben. Aber schützt die Alten, Witwen und die Fremden! Denn ihr ward selbst Fremde in Ägypten.

Zuspruch und Anspruch G:ttes gehören zusammen. Sie sind zugleich Ermutigung und Ermächtigung zur Verantwortungsübernahme. Ungerechte Zustände sollen verlassen werden oder durch soziales, christliches und gesellschaftspolitisches Engagement so verändert werden, dass die Menschen von Betroffenen zu Beteiligten werden, von Objekten zu Subjekten ihrer Lebensgeschichte und ihrer Lebenswelt. Dafür brauchen die Menschen gerechte gesellschaftspolitische Bedingungen, Teilhabe, Sicherheit, gesunde Ernährung und Bildung. Dazu gehören auch körperliche, seelische und geistige Unterstützung. Diakonie und Seelsorge, alltagstaugliche Verkündigung und gemeinschaftliches Handeln haben hier eine miteinander verbundene Aufgabe zu bewältigen, die nur im klugen und besonnenen Zusammenspiel gelingen kann.

Den Leib Christi leben

Nach paulinischem Verständnis (Römer 12,4–6; 1. Korinther 12,12–27) gehören die Menschen mit ihren unterschiedlichen Lebenserfahrungen, Lebensformen, Fähigkeiten und Begabungen alle zum einen Leib Christi. Nur gemeinsam kann der Leib Christi christliches Leben lebendig verkörpern und glaubwürdig ausstrahlen. Gleichwohl sind die Glieder unterschiedlich. Sie haben verschiedene Funktionen, Qualitäten, Kontexte, Lebensgeschichten und Nöte und bilden gerade in ihrer Vielfalt die Einheit der christlichen Gemeinschaft ab.

Für mich ist dieses Leitmotiv zentral, um die Menschen in ihren Unterschieden wahrzunehmen und als gleichwertige Teile des Leibes Christi anzuerkennen und willkommen zu heißen. Ausgrenzung, Abwertung und Verdammnis gehören nicht dazu. Wohl aber Achtung vor den anderen, Offenheit und Gastfreundschaft. Nur so können auch Menschen angesprochen und berührt werden, die bisher G:ttes befreiende Botschaft noch nicht erlebt haben – diesseits und jenseits der Kerngemeinde. Diejenigen, die anders leben, eine andere Sprache sprechen, eine andere Hautfarbe haben, kulturell und religiös ganz unterschiedliche heilige Schriften und Symbole kennen oder religiös unmusikalisch sind, sie alle sind Suchende und Pilger:innen auf ihrem Lebensweg. Indem christliche Begegnungsräume zu Rastplätzen und zu Schutzräumen werden, in denen Menschen sich gegenseitig Lebensgeschichten erzählen und etwas voneinander lernen, kann der Leib Christi wachsen und nach innen und außen wirken. Auch Gottes Nächsten- und Feindesliebe können dadurch konkret wirksam werden. Seelsorge, die dieses Bild christlicher Gemeinschaft bedenkt und ernst nimmt, trägt aktiv dazu bei, dass Menschen sich trotz oder gerade wegen ihrer Unterschiedlichkeit in Freude und im Leid zugehörig fühlen können.

In der Taufe nicht mehr männlich noch weiblich sein

»Da ist nicht mehr jüdisch noch christlich, da ist nicht mehr versklavt noch frei, da ist nicht mehr männlich noch weiblich. Denn alle seid ihr eins in Christus!« (Gal 3,28).

An dieser Stelle des Galaterbriefs zitiert Paulus eine ältere urchristliche Taufformel. In dieser Formel werden Griechen und Juden, Herren und Sklaven, Frauen und Männer nicht mehr auf soziale, kulturelle oder religiöse Rollen festgelegt, sondern alle gemeinsam ohne Unterscheidung in Stellung und Stand in die Nachfolge Christi berufen. Das war nicht nur eine zukünftige Vision, sondern wurde zu einer normüberschreitenden Aktivität, die urchristliche Gemeinschaften auszeichnen sollte. Alle Geschlechts-, Religions- und Klassenunterschiede galten durch die Taufe als überwunden. Die Taufe realisierte sozusagen bereits anteilig himmlische Verhältnisse auf Erden: real, konkret und erlebbar – zumindest in christlichen Gemeinden. Diese urchristliche Taufformel bildet bis heute eine wichtige Grundlage für geschlechtersensible Überlegungen.

»Denn ihr seid alle eins in Christus und Erben der Verheißung!«, heißt es bei Paulus weiter (Gal 3,29). Die durch den Heiligen Geist gewirkte Kraft der Taufe überwand damals Normen und Grenzen und sie lädt auch heute noch dazu ein.

Zur Freiheit berufen

»Zur Freiheit seid ihr berufen!« – So heißt es im Galaterbrief weiter (Gal 5,13). Und zwar nicht zur Freiheit der Beliebigkeit, sondern zur Freiheit, G:ttes Liebe in ganz verschiedenen Stimmen, Bildern und Geschichten zu bezeugen, weiterzugeben und selbst zu leben. Damit öffnen Menschen Räume, um im Geist der Fürsorge und Achtung ihr Leben zu leben. Das heißt für mich: achtsam mit sich selbst und anderen umzugehen und ressourcenorientiert zu handeln. Es bedeutet, einander zu achten und nicht zu bevormunden, einander zu unterstützen und nicht übergriffig zu werden, Freiräume für ein fröhliches und buntes Miteinander zu gestalten und zu schützen.

Ziel ist es, ein Stück Weg miteinander zu gehen, die Seelsorgesuchenden bei Klippen und Hindernissen zu begleiten und die befreiende Botschaft des Evangeliums erfahrbar zu machen. Es geht um Angebote, die Freiräume öffnen, und nicht um dogmatische Belehrung. Es geht darum, G:ttes Zuspruch erlebbar zu machen und G:ttes Liebe weiterzugeben. Denn sie ist den Menschen von G:tt zuerst geschenkt worden, ohne dass Menschen dafür etwas tun müssten.

Kraft, Liebe und Besonnenheit aktivieren

»G:tt hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern den der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit« (2. Tim 1,7).

Wenn Seelsorger:innen Kraft, Liebe und Besonnenheit als Ressourcen für sich mit in Seelsorgegespräche nehmen und aktivieren können, haben sie neben Demut und Gottesglaube ein gutes geistliches Rüstzeug, auch wenn sie Zweifel und Verzweiflung überkommen. Tod und Sterben, Unrecht, Krankheit und Not sind Themen, die Seelsorger:innen regelmäßig begleiten. Deshalb ist die Arbeit mit den eigenen Ressourcen und den persönlichen Widerstandskräften wichtig. Die Reflexion der eigenen Rolle und der persönlichen und professionellen Grenzen ist eine mitlaufende Aufgabe, die nicht aufhört, solange Seelsorge geschieht.

4 Annäherung an queertheologische Ansätze

»Queer« ist ein englisches Wort und eigentlich ein Schimpfwort für Lesben, Schwule und alle, die im Hinblick auf ihre Sexualität oder Geschlechtsidentität anders sind. »Queer« heißt auf Deutsch so viel wie schräg, pervers, seltsam. Seit den 1980er und 1990er Jahren haben LSBTIQ+-Personen den Begriff für sich in eine positive Ressource umgewandelt. Queer dient als Selbstbeschreibung für all diejenigen, die sich nicht in heteronormativen Kategorien von Sexualität und Lebensformen und/oder sich nicht in binär aufgeteilten Geschlechtsidentitäten wiederfinden. Der Begriff »queer« überschreitet diese Normen und Kategorien bewusst, verflüssigt und erweitert sie.

In diesem Sinn sind queere Theologien keine theologische Disziplin, sondern umfassen verschiedene theologische Forschungsperspektiven. Sie reflektieren Erfahrungen von Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder einer nichtbinären Geschlechtsidentität Ausgrenzung oder Zurücksetzung erleben oder als anders abgestempelt werden. Insofern sind queere Theologien kontextbezogen und konkret. Sie verkörpern kritische Reflexionsansätze und Suchbewegungen im Plural.

Queere Forschungsperspektiven sind darauf ausgerichtet, scheinbar selbstverständliche heteronormative Vorstellungen von Sexualität und Geschlechtsidentitäten zu hinterfragen und Grenzen zu überschreiten, also zu »queeren« (vgl. Söderblom 2020b, S. 146–150). Dabei werden auch patriarchale Machtstrukturen und hegemoniale Männlichkeitsbilder aufgedeckt (vgl. Söderblom (2009, S. 71 ff.).

In Ansätzen queerer Theologien werden sexuelle Vielfalt und diverse Geschlechtsidentitäten nicht mehr länger defensiv gerechtfertigt, sondern als gegeben vorausgesetzt (vgl. Tonstad 2018). Im Hinblick auf den biblischen