Qwert - Walter Moers - E-Book

Qwert E-Book

Walter Moers

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Beschreibung

Zamonien in einer anderen Dimension: Wo das Lesen zum puren Abenteuer wird – Walter Moers auf Speed

Nach einem Sturz durch ein Dimensionsloch erwacht Qwert, der Gallertprinz aus der 2364. Dimension, in der Parallelwelt Orméa. Irritiert stellt er fest, dass er im Körper und der Rüstung eines attraktiven Ritters steckt, den er aus Trivialromanen kennt: Prinz Kaltbluth. Kein Wunder also, dass er zunächst eine gefesselte Schönheit befreien muss, die von einem dreiköpfigen Ungeheuer bewacht wird. Mit Hilfe seines unsichtbaren Degens Tarnmeister gelingt die Befreiung – doch die Gerettete entpuppt sich als gefährliche Janusmeduse, die alles Leben mit ihrem bösen Blick in Stein verwandeln will. Von nun an hat Prinz Kaltbluth eine ritterliche Verpflichtung: Er muss Orméa von der entfesselten Meduse erlösen. Ungünstig nur, dass er sich gerade unsterblich in sie verliebt hat.

Walter Moers schickt uns auf eine rasante Reise durch eine wahnwitzige Welt, die aus nichts als Abenteuern, Spannung, Ritterromantik, dialoglustigem Humor und reiner Fabulierlust besteht. In diesem atemlosen Pageturner, wo nichts ist, wie es scheint, und immer alles anders kommt, als man denkt, kreuzen sich die abenteuerlichsten Ideen und Bilder unserer Kultur, von antiken Mythen und Ritterromanen bis zu Fantasyfilmen; von den Nibelungen und der griechischen Sagenwelt über Don Quichote und König Artus´ Tafelrunde bis hin zu Monty Python.

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Seitenzahl: 736

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zamonien in einer anderen Dimension: Wo das Lesen zum puren Abenteuer wird – Walter Moers auf Speed

Nach einem Sturz durch ein Dimensionsloch erwacht Qwert, der Gallertprinz aus der 2364. Dimension, in der Parallelwelt Orméa. Irritiert stellt er fest, dass er im Körper und der Rüstung eines attraktiven Ritters steckt, den er aus Trivialromanen kennt: Prinz Kaltbluth. Kein Wunder also, dass er zunächst eine gefesselte Schönheit befreien muss, die von einem dreiköpfigen Ungeheuer bewacht wird. Mit Hilfe seines unsichtbaren Degens Tarnmeister gelingt die Befreiung – doch die Gerettete entpuppt sich als gefährliche Janusmeduse, die alles Leben mit ihrem bösen Blick in Stein verwandeln will. Von nun an hat Prinz Kaltbluth eine ritterliche Verpflichtung: Er muss Orméa von der entfesselten Meduse erlösen. Ungünstig nur, dass er sich gerade unsterblich in sie verliebt hat.

Walter Moers schickt uns auf eine rasante Reise durch eine wahnwitzige Welt, die aus nichts als Abenteuern, Spannung, Ritterromantik, dialoglustigem Humor und reiner Fabulierlust besteht. In diesem atemlosen Pageturner, wo nichts ist, wie es scheint, und immer alles anders kommt, als man denkt, kreuzen sich die abenteuerlichsten Ideen und Bilder unserer Kultur, von antiken Mythen und Ritterromanen bis zu Fantasyfilmen; von den Nibelungen und der griechischen Sagenwelt über Don Quichotte und König Artus’ Tafelrunde bis hin zu Monty Python.

»Der Autor Walter Moers verzaubert mit seinen Geschichten Groß und Klein.« Nicole Abraham, hr1

»Wer nun fragt, ob das alles nicht eher Kinderkram sei, gibt damit zu, dass er das Staunen, das Träumen und das Fürchten verlernt hat – und damit für die Literatur verloren ist.« Martin Ebel, Basler Zeitung

»Die explosive, skurrile Fantasie von Walter Moers ist immer eine Freude.« Titus Blome, ZEITONLINE

www.penguin-verlag.de

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QWERT

Ein Prinz-Kaltbluth-Roman in 43 Aventiuren

Enthaltend die wundersamen Abenteuer des Gallertprinzen Qwert Zuiopü in einer fremden Dimension unter Beteiligung seines treuen Knappen Oyo Pagenherz und des tapferen Reitwürmchens Schneesturm. Ferner der Janusmeduse Jadusa, der Riesengletscherzwerge Fünf, Sieben, Drei, Vier, Zwei, Sechs und Eins, der Rostigen Gnome und des Eisernen Ritters, des Gläsernen Ritters und seiner Kristallskorpione, des Hölzernen Ritters und eines Janusmännleins, einer Ruinenraupe und des Dornigen Tentakels, zahlreicher Kamelianer und Flederfrösche sowie des Diamantenen Ritters und des Einsamen Denkers.

Unter Benutzung des Handbuchs des Edelmännischen ­Ritterstandes

erzählt und mit zahlreichen Illustrationen versehen von Walter Moers

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2025 Penguin Verlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Rainer Wieland

Covermotiv: Walter Moers

Gestaltung und Satz: Oliver Schmitt, Mainz

Illustrationen: Walter Moers

E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-33355-3V001

www.penguin-verlag.de

www.zamonien.de

»Ritterakt, der: Vollkommen selbstlose That zum Wohle der Allgemeinheith, ohn langes Fackeln und ohn Ansehen der eigenen ­körperlichen und geistigen Gesundtheith.«

Handbuch des Edelmännischen Ritterstandes

»Ich bin davon überzeugt, dass es einen Punkt im Universum gibt, an dem sich alle künstlerischen Ideen kreuzen. Die kreative Dichte an diesem Ort muss enorm hoch sein.«

Hildegunst von Mythenmetz, Gespräche über das Orm

»Ich komme aus einer anderen Dimension.«

Qwert Zuiopü

1. Aventiure

Prinz Kaltbluth und

Die Jungfrau in Not

Qwert Zuiopü stürzte durch ein Dimensionsloch. Die monströse Ignoranz, die der Gallertprinz aus der 2364. Dimension angesichts solch ungewöhnlicher Umstände an den Tag legte, war verständlich: Er befand sich nämlich im Zustand der Saloppen Katatonie. Darunter versteht man jene Gelassenheit, die jeden überkommt, der durch ein Dimensionsloch stürzt – eine instinktive Schutzmaßnahme des Gehirns, um über das kosmische Ausmaß der unerhörten Ereignisse nicht den Verstand zu verlieren. Qwert war nun schon zum wiederholten Mal in ein Dimensionsloch gefallen und daher mit der Saloppen Katatonie, die über herkömmliche Gelassenheit weit hinausgeht, bestens vertraut.

Das da vorne ist wohl ein Sonnensystem, das gerade von einem Wurmloch verschluckt wird, dachte er seelenruhig, während er die galaktischen Sensationen, die ihn umgaben, betrachtete. Und das Ding da unter mir könnte ein Quasar sein oder sowas. Es müsste mich eigentlich bestürzen, wie wurscht mir das alles ist. Aber auch das ist mir wurscht.

Ein unsichtbares Netz schien sich um Qwert zu schlingen und seinen kosmischen Sturz zu bremsen. Die Sterne des Weltalls wirbelten herum wie die Flocken eines Schneesturms. Er hatte für einen Augenblick das unangenehme Gefühl, von innen nach außen gestülpt zu werden. Dann schlug er auf. Es war kein sehr harter Aufprall, er landete auf einer stabilen, aber dennoch leicht nachgiebigen Oberfläche. Ein Teppich? Aus Moos vielleicht? Wüstensand? Eine Wiese? Das war schwer zu sagen, da er noch nicht wagte, die Augen zu öffnen.

Bremsen, wirbeln, stülpen, aufschlagen – Qwert wusste genau, was das bedeutete: Sein Sturz durch das Dimensionsloch war zu Ende, er war in einer anderen Welt gelandet. Von der er bis jetzt nur behaupten konnte, dass sie über eine stabile Oberfläche verfügte, insofern man bei einer Dimension pauschal von einer einzigen Oberfläche reden konnte. Manche Dimensionen waren extrem vielschichtig, aus endlos übereinandergestapelten oder verschachtelten Ebenen, andere nur zweidimensional, einige weiträumig und unüberschaubar, und dann gab es welche, die so schmal waren wie ein Handtuch. Dimensionen konnten sehr unterschiedlich sein.

Aber erst einmal fand Qwert es durchaus begrüßenswert, dass er nicht auf einer durchlässigen Oberfläche gelandet war. Und nicht in kochende Lava gestürzt und auch nicht in eine sterbende Sonne, ein Schwarzes Loch oder auf einen Planeten, dessen Haut aus langen, spitzen Kristallnadeln bestand. Das Universum hielt zahllose solcher Möglichkeiten unvorteilhafter Landungen bereit – Ozeane aus ätzender Säure oder eiskaltem Stickstoff, Wüsten aus verstrahltem Treibsand oder Flüsse aus brodelndem Quecksilber, das sprechen konnte. Daher war ein halbwegs fester Boden, in dem man nicht umgehend versank, ertrank, verbrannte oder in seine Bestandteile aufgelöst wurde, grundsätzlich ein Glückstreffer für jeden Dimensionslochreisenden.

Qwert hielt immer noch die Luft an und die Augen geschlossen – das war prinzipiell zunächst einmal alles, was er in einer neuen Dimension tat. Vielleicht war die Atmosphäre aus giftigem Gas und ein einziger Atemzug genügte bereits, um ihn zu töten. Möglicherweise war es hier so hell, dass ihm ein voreiliges Blinzeln das Augenlicht rauben würde. Allerdings waren dies keine Schutzmaßnahmen, die sich allzu lange aufrechterhalten ließen. Bald – und was das Atmen anging: sehr bald – musste er sich den atmosphärischen Ver­hältnissen der neuen Welt stellen. Er wartete damit so lange, wie es irgend ging, aber schließlich blieb ihm einfach nichts anderes mehr übrig, als Luft zu holen.

»Hhhhhhh …«, er atmete kurz ein und hielt dann wieder den Atem an. Fünf Augenblicke Ungewissheit – einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfundzwanzig –, dann die Analyse: Die Luft war atembar. Zumindest nicht sofort tödlich. Weder beißend noch ätzend. Kein Husten­reiz. Keine unangenehmen oder beunruhigenden Gerüche. Das war … das war frischer Sauerstoff! Kühle Luft. Sie duftete nach Gras und Wiesenkräutern.

»Hhhhhhh …«, atmete Qwert noch einmal ein, diesmal schon etwas zuversichtlicher und länger.

»Hhhh … haahh … hooh …!« Qwert begann, regelmäßig und tief zu atmen.

Er öffnete ein Auge, langsam und vorsichtig. Das einströmende Licht war hell, aber nicht so blendend, dass es sein Augenlicht hätte gefährden können. Oder? Nein. Genau genommen war es hier so hell wie an einem schönen Sommertag. Der Himmel – das war doch ein Himmel über ihm? – war blau und wolkenlos, und es wehte ein frischer, angenehm kühler Wind. So weit, so gut.

Qwert blieb dennoch misstrauisch. Abgesehen davon, dass er sich in einer fremden Welt befand, hatte sich noch etwas anderes verändert. Etwas Funda­mentales, das mit ihm selbst zu tun hatte. Was das war, galt es als Nächstes herauszufinden. Er öffnete das andere Auge und hob den Oberkörper.

Moment mal! Seit wann hatte er denn einen Oberkörper? Er war doch ein Gallertprinz aus der 2364. Dimension! Er bestand aus einer amorphen, durchsichtigen Gallertmasse, in der so etwas wie ein Oberkörper bisher nicht ­vorgekommen war! Er bekam es mit der Angst zu tun, ihm wurde übel, und seine Beine wurden weich.

Beine? Qwert hatte noch nie Beine besessen. Er blickte vorsichtig an sich herab.

Aber ja, ganz klar, das waren Beine! Zwei lange, kräftige Beine. Sie lagen in saftigem grünem Gras und steckten in seltsamen Strumpfhosen, die aus kleinen eisernen Kettengliedern bestanden und mit silbernen Knie- und Schienbeinschonern gepanzert waren, die in der Sonne glänzten. Selbst seine Füße (ja, er besaß auch Füße!) waren gepanzert, mit Schuhen aus versilbertem Stahl. Unterhalb seines Kinns (seit wann hatte er ein Kinn?) befand sich ein silberner Brustpanzer mit einem Wappen darauf. Er verfügte jetzt also offensichtlich auch noch über einen stattlichen Brustkasten. Er konnte das kühle Metall des Kettenhemdes deutlich spüren. Um seine Hüfte schlang sich ein goldener ­Gürtel, der mit funkelnden Diamanten und Rubinen besetzt war.

Neben ihm lagen ein martialisch aussehender Helm und ein blankpolierter silberner Schild im Gras. War das ein Ritterhelm?

Einem Impuls folgend, ergriff Qwert beherzt den Schild, denn er verfügte nun offensichtlich auch über zwei lange Arme, die, wie sein Oberkörper, in einem Kettenhemd steckten. Er hob den Schild auf und blickte in die spiegelnde Oberfläche.

Qwert erschrak – und war zugleich angenehm überrascht. Das Erschreckende war: Was er darin sah, war kein Gallertprinz aus der 2364. Dimension mehr. Ganz und gar nicht! Sondern ein Mensch in einer Ritterrüstung. Das angenehm Überraschende war, dass es ein ausgesprochen attraktiv und sympathisch aussehender Mensch war, mit wallendem rotblondem Haar, braun­gebrannter Haut und klassisch schönen Gesichtszügen. Mit strahlenden grünen Augen, einer wohlgeformten Nase und einem hübschen Mund.

»Sein dichtes blondes und leicht gewelltes, halblanges Haar schimmerte in der Sonne wie reine Seide, und seine straffe, dezent gebräunte Haut, die sich über seine markanten Wangenknochen spannte, glänzte wie von Meisterhand poliertes Nussbaumholz. Zwei Smaragden gleich, funkelten seine geheimnisvollen grünen Raubkatzenaugen unter den halb spöttisch, halb verwundert hochgezogenen Brauen, zu denen sein Dreitagebart einen attraktiven Kontrast bildete.«

Qwert erschrak so heftig, dass seine ganze Rüstung klimperte. Was war das für eine Stimme? Wer sprach da? Er sah sich um, aber da war niemand. Noch war sein Blick getrübt, aber in seiner direkten Nähe befand sich niemand, so viel konnte er feststellen. Waren das die notorischen Nebenwirkungen und ­Folgeerscheinungen des Dimensionslochsturzes? Nach seinem letzten Sturz hatte er vorübergehend grüne Blitze in den Augenwinkeln gesehen und ein hohes Pfeifen gehört. Ein andermal hatte er einen hartnäckigen Schluckauf gehabt und einmal stundenlang gejodelt. Qwert schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf sein faszinierendes Spiegelbild. Sein Blick wurde immer klarer und schärfer. Er betrachtete das Wappen auf seiner gepanzerten Brust. Es bestand aus einem Schwert, einer Schreibfeder und einer Axt, die sich vor einem Herzen kreuzten.

Qwert stutzte. Moment mal! Er kannte dieses heraldische Zeichen. Das war doch das Wappen von Prinz Kaltbluth, dem edlen Kämpfer für ­absolute Gerechtigkeit und wahre Liebe aus den Büchern des Schriftstellers Graf Klanthu zu Kainomaz. Es prangte als Erkennungszeichen auf allen Büchern mit diesem populären Helden der Trivialliteratur. Er selbst hatte die meisten Prinz-Kaltbluth-Romane gelesen, manche sogar mehrmals.

»Neimn«, sagte Qwert laut. »Dsgibsochnich.«

Es war die Nachwirkung der Saloppen Katatonie, die ihm eine klare Artiku­lation momentan noch unmöglich machte – auch das kannte er schon. Er wollte noch mehr sagen, brachte aber nur einen seltsamen Ton hervor, der wie eine Mischung aus Ächzen und Schnarchen klang: »Hähgnäääh …« Offensichtlich besaß er noch keine richtige Kontrolle über seine Stimmbänder, Zunge und Lippen.

Aber plötzlich war er hellwach, ließ den Schild los und sprang auf seine Füße, was ihm trotz Rüstung und ohne jede vorherige Übung auf erstaunlich selbstverständliche Weise gelang. Er torkelte ein wenig hin und her, fand dann aber rasch sein Gleichgewicht und festen Stand. Wie von einer alten Gewohnheit geleitet, bückte er sich, griff nach dem silbernen Helm und setzte ihn auf. Umgehend war sein Blickfeld stark begrenzt, er sah die Wiese nur noch als schmales grünes Rechteck in völligem Dunkel, und das Atmen fiel ihm erheblich schwerer. Er blickte hinab auf den spiegelnden Schild, um sein Aussehen im Ganzen zu überprüfen. Was er dort sah, war ein stattlicher Ritter im ­Kettenhemd und mit weißem Umhang über den Schultern sowie einem Helm auf dem Kopf, der ihm ein ebenso geheimnisvolles wie kampfbereites Aussehen verlieh. Qwert kannte diesen Ritter! Er kannte dieses Bild bis ins kleinste Detail! Er sah aus wie das Ganzkörperporträt von Prinz Kaltbluth. Dieses Motiv prangte auf der Rückseite eines jeden Prinz-Kaltbluth-Abenteuers seiner umfangreichen, zerlesenen Sammlung.

Qwert geriet wieder ins Torkeln. »Ich hamich verwannelt«, lallte er. »Ich hamich in Prinz Kalbluh verwannelt.« Seine Zunge war immer noch schwer wie Blei, und seine Stimme klang seltsam blechern innerhalb des Helmes. Ihm war auch rasch viel zu warm darin, daher nahm er den Helm gleich wieder ab und warf ihn ins Gras.

»Haaah …«, machte Qwert. Er konnte sofort wieder leichter atmen.

»Wenn du dich lange genug im Spiegel bewundert hast, könntest du dich vielleicht freundlicherweise auch mal ein bisschen um mich kümmern.«

Da! Schon wieder eine Stimme! Aber diesmal war sie nicht in seinem Kopf – sie hörte sich ganz anders an und kam von weit her.

Qwert drehte sich um, wobei er etwas zu viel Schwung nahm und ein paar unbeholfene Schritte zur Seite torkelte. Er gab noch einmal dieses schnarchähnliche Geräusch von sich: »Hähgnääh …«

Erstmals erfasste er mit ungetrübtem Blick die ganze Szenerie, in der er sich befand. Es war eine von Sonnenlicht bestrahlte Waldlichtung mit einer üppig bewachsenen Sommerwiese. Ringsum standen Birken und Eichen sowie dichte Holunder- und Brennnesselbüsche, soweit er die Pflanzen korrekt einordnen konnte. Das Areal war zu seiner Linken von einem grauen Felsmassiv begrenzt. Darin klaffte ein dunkler Höhleneingang, groß genug, um einen Reiter zu Pferde durchzulassen.

Direkt neben der Höhlenöffnung stand ein großes Holzrad, darauf war mit groben Stricken ein junges Mädchen gebunden. Das Mädchen trug ein ­dunkles Gewand und hatte rabenschwarzes Haar, das ihm bis zur Hüfte reichte. Es war wunderschön.

»Die milchweiße Haut dieser Jungfrau, die sich offensichtlich in höchster Not befand, war wie die samtene Oberfläche eines frischgepflückten Pfirsichs, und ihre mandelförmigen, bernsteinfarbenen Augen gemahnten an die ­Sanftheit eines jungen Rehs. Ihr schier endlos langes Haar stürzte über ihre Schultern herab wie Ströme aus nachtschwarzer Seide, und ihre blutroten Lippen lockten wie eine gespaltene Süßkirsche, in der strahlend weiße Zähne schimmerten wie edelstes Porzellan.«

Ah, diese Stimme, schon wieder! Sie schien tatsächlich aus seinem eigenen Kopf zu kommen. Das war garantiert eine Nachwirkung seines Dimensionslochsturzes. Er hatte da schon Schlimmeres erlebt.

»Ich habe keine Ahnung, wo du so plötzlich herkommst, mein schöner Ritter«, rief das Mädchen aus der Entfernung und lenkte damit Qwerts ganze Aufmerksamkeit auf sich. »Aber dich schickt auf jeden Fall die Vorsehung. Mach mir die Fesseln ab! Hilf mir bitte hier raus!«

Schöner Ritter! Qwert schoss das Blut in den Kopf angesichts dieser schmeichelhaften Ansprache. Auch das war eine körperliche Erfahrung, auf die ihn seine bisherige Existenz als Gallertwesen nicht vorbereitet hatte. Dieses bildhübsche Mädchen hielt ihn für gutaussehend! Wie toll war das denn?!

Er gehorchte umgehend und wie unter Hypnose. In seiner Rüstung einer übergroßen, schlecht gelenkten Marionette ähnelnd, stakste er steifbeinig über die Wiese zu der Gefesselten. Dort angekommen, fing er an, ungeschickt an den Knoten zu friemeln.

»Ich gomme auseiner annern Dimenion«, lallte er, denn seine Zunge war immer noch bleischwer von der Saloppen Katatonie.

»Wie bitte?«, fragte das Mädchen.

»Ach, leglal …«, antwortete Qwert und konzentrierte sich auf das Ent­knoten der Fesseln. Seine nagelneuen Menschenfinger kamen ihm fremdartig und seltsam vor. Was machte man denn mit einem Daumen? Auch seine Beine funktionierten noch nicht ganz einwandfrei, es kostete ihn Mühe, auf der Stelle stehen zu bleiben und die Balance zu halten. Aber die Feinmechanik dieser Finger war schwerer zu beherrschen, sie gerieten sich andauernd gegenseitig in die Quere. Erschwerend kam hinzu, dass die Fesseln mit boshafter Sorgfalt geknüpft worden waren.

Qwert fühlte sich überfordert. Eine andere Dimension. Ein neuer Körper. Ein verwirrend schönes Mädchen mit rabenschwarzen Haaren und anstrengenden Wünschen. Komplizierte Knoten. Finger! Das alles kurz nach einem Dimensionslochsturz mit ewig langer Salopper Katatonie.

»Waren dies Zauberknoten? Wunderknoten allemal, denn sie waren ­derart raffiniert und kunstreich geknüpft, dass selbst der kenntnisreichste Entfesselungskünstler an ihnen verzweifelt wäre. Hatte sie vielleicht ein wahrer Dämon der Fesselungskunst ersonnen und mit zahlreichen Flüchen und alchemistischen Entknotungssicherungen versehen, auf dass es auch nicht die geschickteste Fingerfertigkeit zu vollbringen vermochte, diese dreimal verteufelten Knoten …«

»Ruhe!«, rief Qwert unwirsch, worauf der Redeschwall in seinem Kopf augenblicklich verstummte.

»Ich habe doch gar nichts gesagt«, flüsterte das Mädchen.

»Oh, äh, entschuldige, ich … bin immer noch etwas durcheinander«, stammelte Qwert. »Ich muss mich erstmal an die neuen, die, die … Verhältnisse hier gewöhnen. Ich höre da so eine blöde Stimme …« Seine Zunge schien plötzlich wie befreit.

»Du hörst Stimmen?« Das Mädchen sah Qwert misstrauisch an.

»Nur eine.« Er friemelte immer noch erfolglos an einem der verwirrenden Knoten. »Das kommt garantiert von meinem Sturz.«

»Du bist gestürzt? Von einem Pferd?«

»Ja. Nein. Nein. Ja. Ich meine …« Qwert hatte bereits Erfahrungen damit gesammelt, wie schwierig es sein konnte, mit den Bewohnern fremder Welten zu kommunizieren und ihnen selbst einfachste Dinge plausibel zu erklären. Daher unterbrach er sich selbst und sagte: »Genau. Von einem Pferd.«

»Meinst du, das wird irgendwann mal was mit den Fesseln?«, fragte das Mädchen, das nun spürbar unruhiger wurde. Es blickte sich ängstlich um. »Du solltest dich beeilen, sonst haben wir gleich den Medusenwächter am Hals.«

»Medusenwächter?«, fragte Qwert. Er hatte gerade mühsam den ersten Knoten gelöst, aber da warteten noch viele andere.

Wie zur Antwort drang aus der Felsenhöhle ein Geräusch. Es klang wie von einem wilden und sehr großen Tier, das auf dem Grunde eines Brunnens mit Wackersteinen gurgelte. Qwert hielt inne, hob den Kopf und horchte dem verklingenden Echo aus der Höhle nach. Sie schien sehr geräumig zu sein, dem Hall nach zu urteilen.

»Der Medusenwächter!«, rief das Mädchen entsetzt. »Er ist erwacht!«

Wieder drang ein Laut aus der Höhle, aber diesmal klang er wie das ­gierige Gekreisch eines ganzen Schwarmes von Finsterberggeiern. Etwas sehr Großes näherte sich mit schweren Schritten dem Ausgang der Felsenhöhle, Qwert konnte es an den Erschütterungen im Waldboden spüren. Sie klangen wie ferner Donner.

»Was zum Henker ist ein Medusenwächter?«, fragte Qwert. Er war gerade dabei, den zweiten Knoten zu lösen. Ein gutes Dutzend blieb noch übrig.

»Gut, dass du ein Ritter bist!«, sagte das Mädchen. »Du kannst ihn erledigen! Zieh deine Waffe!«

Qwert sah an sich herab. »Welche Waffe denn? Ich habe keine«, antwortete er wahrheitsgemäß.

Zum dritten Mal erscholl ein beängstigender Laut aus der Höhle, und diesmal klang er so gurgelnd und zischend wie ein Geysir beim Ausbruch.

»Da! Das ist er!«, schrie das Mädchen in höchster Panik, und Qwert blickte hinüber zum Höhlenausgang. »Der Medusenwächter!«

Qwert erstarrte und ließ von dem Knoten ab. Das Ungetüm, das aus der Höhle gestapft kam, besaß drei Köpfe, aber was ihn am meisten daran entsetzte, war sein riesiger insektenhafter Leib mit einem halben Dutzend Beinen und zwei transparenten Schwingen, die an Libellenflügel gemahnten. An beiden Seiten seiner chitingepanzerten Brust befanden sich große Krebsscheren, die gefährlich auf- und zuschnappten.

Einer der Köpfe hätte einem gewaltigen Urvogel gehören können, ein anderer einer viel zu großen Fledermaus. Der dritte einem monströsen Insekt, vielleicht einer Gottesanbeterin. Sie saßen auf drei enorm langen Hälsen, von denen einer befiedert, einer beschuppt und einer mit struppigem Fell bedeckt war. Das Untier fing an, mit seinen riesigen Flügeln zu schwirren, wodurch sich ein brausender, rabiater Wind über der Lichtung erhob, der Blätter und Gräser zum Tanzen brachte.

»Nimm den Degen!«, befahl das Mädchen panisch. »Schlag ihm die hässlichen Köpfe ab, bevor er spuckt!«

»Bevor er – spuckt?«, rief Qwert. »Was für einen Degen denn?« Er breitete hilflos die Arme aus. »Ich hab doch gar keine Waffe!«

»Den Unsichtbaren Degen des Gläsernen Ritters!«, schrie das Mädchen durch den Lärm. »Du trägst seinen edelsteinbesetzten Waffengurt! Also musst du auch seinen Degen besitzen!«

Qwert trat ein paar Schritte zurück und wandte sich dem Monstrum zu. Das arme Mädchen hatte offensichtlich über dem Anblick der Bestie den Verstand verloren. Dennoch griff er mechanisch an seine Hüfte.

»Kühl und beruhigend lag der Griff aus unsichtbarem Metall in Prinz Kaltbluths Hand. Er zog Tarnmeister, den legendären Wunderdegen aus geschmiedeter Unsichtbarkeit, welchen er in einem zwölftägigen Duell dem Gläsernen Ritter abgerungen hatte, aus seiner Schlaufe.«

Tatsächlich – Qwert spürte einen Schwertgriff in seiner Hand, obwohl er ihn nicht sehen konnte. Es gab ein metallisches, leise klimperndes Geräusch, als er unwillkürlich daran zog. Zzzsssing! Dann hatte er das Gefühl, ein längliches und nicht allzu schweres Ding in seiner Hand zu halten – ein Schwert? Einen Säbel? Einen Degen? Seine Augen konnten es nicht wahrnehmen, aber es fühlte sich konkret an. Und irgendwie – gut.

»Tarnmeister?«, murmelte er.

»Na los! Hau ihm die verdammten Köpfe runter!«, schrie das Mädchen. »Mach endlich! Er sammelt schon Säure!«

»Säure?«, fragte Qwert wie benommen. Er blickte wieder zu dem Mons­trum hinüber.

Der Kopf, der einem urzeitlichen Vogel ähnlich sah, öffnete seinen gewaltigen Schnabel. Qwert hörte wieder das vielstimmige Kreischen, in das die anderen beiden Köpfe mit Brüllen und Fauchen einstimmten. Dann gab es ein unappetitliches Geräusch, als würden große Schleimbrocken hochgewürgt. Das Monstrum wankte auf seinen Insektenbeinen hin und her, stellte das ­Flügelschwirren ein – und plötzlich spie der Vogelkopf einen armdicken, zischenden Strahl eitergelber Flüssigkeit in Qwerts Richtung. Whuuusch!

Qwert bewegte sich trotz seiner Rüstung so schnell, geschmeidig und kraftvoll wie eine Raubkatze und machte einen Riesensprung zur Seite, wodurch der gelbe Schleim haarscharf an ihm vorbeirauschte und einen bemoosten Baumstumpf hinter ihm traf. Der Stumpf verwandelte sich augenblicklich in eine flüssige Masse aus brodelndem Holzbrei.

Der Vogelkopf kreischte enttäuscht, gab aber gleich darauf wieder dieses würgende Geräusch von sich und spie einen zweiten Säurestrahl dorthin, wo Qwert jetzt stand.

Der machte eine athletische Hechtrolle vorwärts und kam fest auf beiden Füßen zum Stehen, während die übelriechende Säure in einem großen ­Holunderbusch verzischte.

Qwert war selbst am meisten überrascht von seiner Athletik und Beweglichkeit. Er hatte diese Sprünge so mühelos ausgeführt, als hätte er sie schon tausendfach praktiziert. Und die schwere Rüstung hatte ihn dabei überhaupt nicht behindert.

»Gut gemacht!«, rief das Mädchen. »Jetzt muss er erst neue Säure produ­zieren. Schlag zu! Schlag endlich zu!«

Das Monstrum stakste auf seinen hohen Insektenbeinen Qwert entgegen. Nun war es der Fledermauskopf, der ihn attackierte. Er schnellte auf seinem langen, schlangenartigen Hals nach vorn und fauchte ihn böse an. Qwert sah die riesigen gelben Fangzähne und spürte den giftigen Atem in seinem Gesicht. Diesmal machte er einen tadellosen Salto rückwärts aus dem Stand, um sich aus der Gefahrenzone zu bringen. Hoppla!, dachte er. Ein Salto! Ich wusste gar nicht, dass ich das kann.

»Nun mach doch endlich!«, rief das Mädchen verzweifelt. »Benutz den Degen! Und mach! Ihn! Kalt!«

»Gefahr lag in der Luft! Prinz Kaltbluth konnte sie körperlich spüren. Sie verteilte sich auf elektromagnetischem Weg knisternd in der Atmosphäre – das war der Weckruf für Tarnmeister! Dies war das Signal, welches dem Wunderdegen befahl, seine Kampfeslust zu aktivieren und auf Prinz Kaltbluth zu übertragen. Ein gewaltiger Stoß ging vom Griff des Degens durch den Arm des Prinzen, ein begeisternder Strom von martialischer Energie, der sich in seinem ganzen Körper gleichmäßig verteilte. Tarnmeister wollte tanzen.«

Diese Stimme nun wieder! Aber tatsächlich – Qwert spürte einen so rabiaten Schlag im Arm, als hätte er einen elektrischen Aal angefasst.

»Aaah!« Ein spitzer Schrei entfuhr ihm. Und dann schoss wirklich eine Woge martialischer Energie durch seinen ganzen Leib, die ihm die Haare zu Berge stehen ließ und ihn mit grenzenloser Zuversicht und Kampfeswillen erfüllte.

Tarnmeister will tanzen?, dachte er. Warum eigentlich nicht? Qwert hatte noch nie in seinem Leben getanzt, denn wie hätte er das auch tun sollen ohne Beine? Aber jetzt hatte er welche, muskulöse und durchtrainierte dazu. Und darüber hinaus das ermutigende Gefühl, er könne sich der Führung seines Tanzlehrers Tarnmeister sorglos anvertrauen.

Qwert ließ Tarnmeister ein paar unsichtbare Schnörkel in die Luft schreiben, leichthändig wie mit einem Florett. Ssst! Ssst! Ssst! Oder war es eher so, dass Tarnmeister selbst die Bewegung vollführte? Dass er ihn nach vorne zog, wie ein Hund an der Leine, der endlich losrennen wollte? Dieser Degen schien ein Eigenleben zu führen.

Und Tarnmeister wollte in der Tat tanzen! Die unsichtbare Waffe riss Qwert mit sich in die Gefahrenzone, mitten hinein in die Reichweite der schnappenden Scheren und Schnäbel und stochernden Beine.

Tarnmeister wirbelte Qwert um die eigene Achse und ließ ihn dabei in alle Richtungen gezielte Hiebe austeilen. Zack! Zack! Zack! Er zerrte seinen Arm so rabiat nach oben, dass Qwert sich zu einem kühnen Sprung genötigt sah – hoch genug, dass er eines der Beine der Bestie unter ihm wegsäbelte. Er landete wieder sicher auf den Füßen, ging in die Knie – und eine der Krebsscheren schnappte über ihm ins Leere. Er kam wieder hoch, während Tarnmeister ihn veranlasste, den langen Degengriff mit beiden Händen zu packen. Dann beschrieb die Waffe einen weiten Bogen über Qwerts Kopf hinweg und fuhr glatt durch einen der mächtigen Echsenhälse – es war der mit dem Insektenkopf. Und klatsch! plumpsten Schädel und Hals ins feuchte Gras.

Die beiden anderen Köpfe des Medusenwächters gaben infernalische Laute von sich, während grünes Blut aus dem Halsstumpf sprühte.

»Er hat noch zwei andere Schädel!«, rief das Mädchen. »Runter damit! Du kannst es!«

»Ich weiß«, antwortete Qwert. Er war erstaunt über das Selbstvertrauen und die Ruhe, die in seiner Stimme lag. Tarnmeister durchströmte ihn noch immer mit an Arroganz grenzender Zuversicht und Kampfeswillen.

Er vertraute sich einfach dem Degen an und hielt den Griff weiter fest mit beiden Händen. Er ließ sich in gewagten Pirouetten herumwirbeln, duckte sich unter einer schnappenden Schere hindurch – und zack! Klatsch! –, schon wieder lag ein Kopf des Ungeheuers auf dem Boden. Diesmal war es der Urvogel.

»Der hat ausgespuckt!«, rief das Mädchen begeistert. »Und jetzt den letzten! Mach ihn alle!«

Qwert sprang mit eleganten Sätzen über die nach ihm stochernden Beine, bis das Ungeheuer selber darüber stolperte. Er nutzte den Augenblick der Unsicherheit, um behende über eine der orientierungslos schnappenden Scheren auf den Rücken des Medusenwächters zu klettern und sich breitbeinig auf den Nacken des letzten Halses zu setzen. Dann nahm er Tarnmeister wieder in beide Hände und versenkte die unsichtbare Klinge tief im Genick des Scheusals, um seinen letzten wichtigen Wirbelstrang zu durchtrennen.

Der Medusenwächter torkelte verzweifelt gurgelnd und hilflos auf seinen vielen Beinen im Kreis, versuchte vergeblich, seinen Widersacher mit seinen Zangen zu packen, und brach schließlich knackend zusammen. Qwert sprang hinab ins blutgetränkte Gras.

Nun konnte er Tarnmeister zum ersten Mal sehen, sichtbar geworden durch die grüne Körperflüssigkeit des Medusenwächters, die an ihm haftete. Es war eine schmale und elegante Klinge, ein Degen, der nur auf einer Seite rasiermesserscharf geschliffen war. Er reinigte die Waffe, als folgte er einer alten Gewohnheit, mit einem Grasbüschel und gab ihr damit ihre Unsichtbarkeit zurück.

Qwert benutzte Tarnmeister anschließend sehr vorsichtig und respektvoll, um die Fesseln des Mädchens zu durchtrennen, mit so einer tödlichen Klinge musste er sehr behutsam umgehen. Dann steckte er den Unsichtbaren Degen in die Schlaufe und ließ den Griff los. Er bemerkte mit großem Bedauern, dass die fremdartige Energie in ihm augenblicklich erlosch und damit auch sein draufgängerisches Selbstbewusstsein. Er stand wieder so unsicher und schüchtern vor dem Mädchen wie zuvor.

»Vielen Dank, Kleiner …«, sagte die Schönheit und ordnete ihre schwarzen Haare.

Nun war Qwert noch mehr verunsichert. Wieso nannte ihn das Mädchen plötzlich Kleiner? Das dämpfte seine Hochstimmung fast ebenso wie das Abklingen der heroischen Energie. Gerade noch hätte er sich durchaus mit einem zweiten Medusenwächter angelegt. Aber jetzt …

»Das war ziemlich tapfer von dir«, ergänzte das Mädchen, während es sich die befreiten Handgelenke massierte.

Ziemlich?, dachte Qwert. Nur ziemlich? Das war mit Abstand die helden­hafteste, kaltblütigste und riskanteste Handlung seiner bisherigen Existenz. Allein gegen ein dreiköpfiges Monster, das zersetzende Säure versprühte, mit einer unsichtbaren Waffe vorzugehen – das war nur ziemlich tapfer?

»Ich habe noch nie jemanden mit dem Unsichtbaren Degen kämpfen sehen«, ergänzte das Mädchen zu Qwerts Erleichterung. »Das war toll! Nicht einmal der Gläserne Ritter selbst hätte das professioneller machen können. Ich danke dir!«

Das hörte sich schon besser an. Qwert hatte keine Ahnung, wer der Gläserne Ritter war, aber er hütete sich, nachzufragen, um ihre Lobeshymne nicht zu unterbrechen. Aber wieso ging ihm das, was sie von sich gab, überhaupt so nahe?

»Hör zu!«, sagte das Mädchen ernst und sah ihm tief in die Augen. »Ich weiß das alles wirklich sehr zu schätzen! Denn kein anderer hat es gewagt, mich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Niemand wäre so unglaublich dämlich gewesen, mich …« Sie unterbrach sich selbst, indem sie sich die Hand vor den Mund hielt.

»Ich meine, äh …«, fuhr sie rasch fort, »niemand wäre so unglaublich mutig gewesen, sich mit dem dämlichen Medusenwächter anzulegen.«

Na also!, dachte Qwert. Geht doch! Sie musste sich wahrscheinlich erst warmloben.

»Du bist etwas Besonderes. Du bist ein echter Ritter und hast ein reines Herz. Deswegen will ich ganz ehrlich zu dir sein. Willst du wissen, warum ich an dieses Rad gefesselt wurde?«

»Natürlich«, antwortete Qwert. »Ich will alles über dich wissen.« Dann ­errötete er wieder, weil ihm diese Bemerkung unziemlich vorkam. »Ich meine … ich möchte natürlich wissen, wer dir das angetan hat. Damit ich ihn, äh, demnächst zur Rechenschaft ziehen kann. Oder so.«

»Na schön«, sagte das Mädchen und seufzte. »Wo beginnen …? Es ist etwas kompliziert zu erklären.« Sie runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. Dann hellte sich ihre Miene wieder auf. »Vielleicht so: Stell dir vor, man würde eine Rangliste aufstellen! Mit den beliebtesten Personen von Orméa.«

»Orméa?«, fragte Qwert irritiert.

»Ja. Orméa. Das Reich, in dem wir uns befinden.«

»Ach so – Orméa!«, erwiderte Qwert. »Der Ort hier heißt Orméa. Verstehe.«

»Nein«, entgegnete das Mädchen. »Verstehst du nicht. Der Ort, an dem wir uns befinden, heißt der Endlose Abgrund. Orméa ist das Reich, in dem sich dieser Ort befindet. Ein Reich aus vielen Orten.«

Stimmt, dachte Qwert. Ich verstehe gar nichts. Dieser Ort heißt der Endlose Abgrund, obwohl nirgendwo so etwas wie ein Abgrund zu sehen ist. Aber die Welt, in die mich der Sturz durchs Dimensionsloch verschlagen hat, trägt offensichtlich den Namen Orméa.

»Ja, klar!«, sagte er und deutete auf seinen Kopf. »Der Sturz … Ich bin hier oben noch ein bisschen … du weißt schon.«

Das Mädchen lächelte. »Schon gut!«, entgegnete sie. »Also: Wer, glaubst du, würde ganz am Anfang dieser Liste stehen? Mit den beliebtesten Personen von Orméa.«

Qwert musste nicht lange nachdenken. »Du?«, fragte er zurück.

Die befreite Schönheit lachte auf eine Weise, die Qwert irritierte. »Falsch!«, sagte sie. »Sowas von falsch! Nein – dort würde eindeutig der Medusenwächter stehen. Mit großem Abstand vor allen anderen Kandi­daten.«

»Wie bitte?« Qwert war verblüfft. »Der Medusenwächter? Du meinst …«

»Genau. Die hässliche Kreatur, der du gerade die Köpfe abgesäbelt hast. Sie ist mit absoluter Sicherheit ein Geschöpf des Einsamen Denkers, darauf möchte ich wetten! Ja, der Medusenwächter ist hier momentan die beliebteste Person. Oder besser: Er ist es bis vor kurzem gewesen.« Das hübsche Geschöpf lachte wieder glockenhell auf.

Dieses seltsame Gespräch verwirrte Qwert immer mehr. Wer war denn jetzt dieser Einsame Denker?

»Äh … du willst damit sagen, dass ich gerade die beliebteste Person in, äh, Orméa umgebracht habe?«, fragte er verunsichert.

»So ist es.« Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Du hast noch einiges zu lernen, Kleiner. Du hast doch eben selber gesagt, dass du aus einer anderen Dimension kommst, richtig?«

Qwert nickte. Wieso nannte sie ihn jetzt wieder Kleiner? Und wieso versetzte ihm das jedes Mal einen Stich?

»Ich kenne mich nicht so besonders aus mit fremden Welten«, fuhr sie fort, »aber ich könnte mir vorstellen, dass dort ganz andere Schönheitsvorstellungen herrschen als hier. Ist das so?«

»Das kann gut sein«, antwortete Qwert. »Sogar andere Naturgesetze. Ich kenne Welten, in denen …«

»Lass mich ausreden! Ich habe da gerade dieses Ehrlichkeitsding am Laufen – das ist bei mir wirklich eine seltene Anwandlung, Schätzchen. Das solltest du ausnutzen.«

Schon wieder diese Wortwahl, die Qwert verunsicherte. Ehrlichkeitsding und Schätzchen, das waren Vokabeln, die ihm in diesem Gespräch irgendwie unangebracht vorkamen. Oder war er einfach nur zu dünnhäutig und empfindlich aufgrund des Dimensionslochsturzes?

»Also«, fragte das Mädchen, »kannst du dir vorstellen, dass man hier in Orméa den Medusenwächter für eine bewundernswerte und respektable Kreatur hält? Und mich für hässlich und hassenswert?« Sie schüttelte ihr wundervolles Haar.

Jetzt musste Qwert lachen. »Du beliebst zu scherzen!«, antwortete er. »Du bist das schönste Geschöpf, das ich jemals gesehen habe. Und die liebens­werteste Person, die ich … äh … ich …« Er verstummte und errötete schon wieder.

Das Mädchen lächelte bezaubernd. »In Orméa sind viele Dinge etwas anders, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Eigentlich die meisten. Genau genommen alle! Wenn man hier lebt, gewöhnt man sich daran, und es kommt einem irgendwann normal vor. Aber du solltest wirklich aufpassen! Sei auf der Hut! Bleib immer misstrauisch! Versprichst du mir das?«

Qwert nickte. Dieses arme Mädchen musste offensichtlich schlimme Erfahrungen gesammelt haben, die es extrem verbittert hatten, wenn es solche Ratschläge erteilte. Na ja, man hatte es immerhin an ein Rad gefesselt, und das über einen längeren Zeitraum! Vielleicht konnte er ihm helfen, darüber hinwegzukommen. Je länger er das Gesicht der Schönen betrachtete, desto hübscher wurde es.

»Das mit dem Medusenwächter hast du verstanden?«

»Dass er die beliebteste Person in Orméa ist? Das habe ich zur Kenntnis genommen, ja! Aber ich verstehe es nicht.«

»Gut. Immerhin. Und wenn man nun eine Liste aufstellen würde von den Personen, die in diesem Reich am unbeliebtesten sind – wer, glaubst du, würde da auf Platz eins stehen?«

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Qwert wahrheitsgemäß.

»Nun – das wäre die Janusmeduse.«

»Aha. Was ist eine Janusmeduse?«

Das Mädchen verdrehte die Augen. »Du kapierst es immer noch nicht, hm, mein schöner Ritter? Denk doch mal nach! Wenn das da der Medusenwächter war …«, sie deutete auf das massakrierte Monstrum, »wer bin dann wohl ich? Die Person, die er bewacht hat?«

»Äh … die Janusmeduse?«, fragte Qwert unsicher zurück.

»Genau!«, rief das Mädchen triumphierend. »Du hast es verstanden! Der Gute – das war der da. Der Medusenwächter. Das Böse, die Meduse – das bin ich.«

»So so«, sagte Qwert. »Du bist also eine Meduse. Allerdings eine sehr schöne Meduse, das muss ich schon sagen.«

»Vielen Dank! Aber die korrekte Bezeichnung ist Janusmeduse.«

Das Mädchen drehte den Kopf. Es drehte ihn so, wie es eigentlich unmöglich ist, um hundertachtzig Grad, bis sein schönes Gesicht komplett nach hinten verschwunden war. Stattdessen wandte es ihm nun das Antlitz zu, das sich auf der Rückseite seines Kopfes befunden hatte. Es war nicht nur grauenhaft hässlich, sondern so furchterregend, dass Qwert ein spitzer Schrei entfuhr.

»Ja, man nennt mich die Janusmeduse«, sprach es aus der schrecklichen Fratze nun mit einer anderen, grässlich verzerrt klingenden Stimme, »weil ich zwei Gesichter habe. Wem ich diese Seite hier zuwende, der wird zu Stein. Es tut mir leid, mein schöner Ritter, aber wenn man in einer anderen Welt ankommt, sollte man sich besser nicht gleich in fremder Leute Angelegenheiten mischen.«

Das Gesicht, in das Qwert nun blickte, war alt, sehr alt – hunderte, vielleicht tausende von Jahren. Grün glühende Augen starrten ihn hypnotisch an, die Haut war grau und schien hart wie Granit, durchfurcht von tiefen Falten und Rissen. Die Nase war lang und spitz wie die einer Heckenhexe, die Lippen dünn und von grünem Moos bewachsen. Durch die schiefen schwarzen Zähne schlug Qwert ein Pesthauch entgegen, der ihm beinahe die Besinnung nahm. Eine Made plumpste aus dem rechten Nasenloch, als die Meduse grässlich ­auflachte – und Qwert begann, zu Stein zu werden. Es knirschte und knackte in seinem Kopf, als würde sein Hirn in wenigen Augenblicken ausdörren, seine Zunge wurde starr und kalt, die Augen ließen sich nicht mehr bewegen. Er konnte spüren, wie sein Blut gerann, sich verdickte und verdichtete wie rasch trocknender Gips. Seine Haut wurde grau und gefror wie ein See im Winter.

»Nein – halt!«, rief da die Stimme des schönen Mädchens. Die Janusmeduse riss mit einem heftigen Ruck und einem grässlichen Knacken ihren Kopf herum und wandte ihm jetzt wieder ihr hübsches Gesicht zu. Sie sah ihn verträumt mit ihren betörenden Bernsteinaugen an und sprach: »He! Das ist anscheinend dein Glückstag, mein schöner Ritter. Der reinste Glücksritter bist du! Du meine Güte – sowas hab ich noch nie gemacht. Keine Ahnung, was mit mir los ist. Du musst die verborgene romantische Saite in meinem toten Herzen angeschlagen haben. Von der ich eigentlich gar nichts wusste!« Die Meduse lachte wieder auf bezaubernde Weise. »Hör gut zu, Kleiner! Es gibt erfreuliche Nachrichten: Ich schenke dir dein Leben! Aber ich schenke es dir nicht, weil du meines gerettet hast. Ich schenke es dir, weil ich wissen will, wie ein echter Kuss schmeckt.«

Qwerts Muskulatur entspannte sich. Die grauenerregende Kälte, die ihn ergriffen hatte, wich aus seinen Gliedern, sein Blut taute auf, seine Haut rötete sich, und er konnte sich wieder bewegen, wenn auch zunächst nur mühsam und schmerzhaft.

Die Meduse richtete ihre Haare. »Ich kann eigentlich kaum fassen, was ich hier tue, mein edler Ritter!«, sagte sie und kicherte mädchenhaft. »Aber wir ziehen das jetzt durch! Jawohl! Du bist der Einzige, der jemals in mein zweites Gesicht geblickt hat und anschließend nicht zu einer dekorativen Statue versteinert ist. Darauf darfst du dir was einbilden, du Glückspilz!« Sie sah ihn noch einmal lange an. »Ach, was soll’s!«, rief sie dann und presste ihre Lippen auf Qwerts Mund.

Unter allen Empfindungen, die Qwert jemals in seinem Leben – selbst die in seiner ursprünglichen Existenz als Gallertwesen – erfahren hatte, war diese die überwältigendste. Jede Angst, jeder Zorn, jede Verzweiflung, aber auch jeder Moment des Glücks, den er je empfunden hatte, wurde durch diese eine warme Berührung auf seinen Lippen ausgelöscht und bedeutungslos. Das war das Gefühl aller Gefühle! Eine Vielzahl von Gedanken und Empfindungen strudelten durch sein Hirn, von denen er keines richtig fassen konnte, aber dennoch wusste, dass sie alle wunderbar und wertvoll waren. Ihm war, als würde es nur diesen einen Moment in seinem Leben geben, auf den sich seine Existenz in ein paar wenigen Augenblicken reduziert hatte. Die Meduse löste ihre Lippen ganz langsam wieder und sah ihn verträumt an.

»Hmmm …«, machte sie genüsslich. »Das war es verdammt nochmal wert, mein schöner Ritter! Ich war hier für Ewigkeiten angekettet – aber dafür hat es sich gelohnt!«

Sie warf ihr Gewand so weit zurück, dass ihre Schultern und ein Teil des Rückens frei wurden. Es knackte ein paarmal unangenehm, und dann kamen hinter der Meduse zwei dünne, durchsichtige Flügel zum Vorschein, die sich knisternd entfalteten. Von ihrer Form her erinnerten sie Qwert an Fledermausflügel. Sie hatten eine enorme Spannweite, und die durchsichtigen Flughäute zwischen den Knochen schimmerten in allen Regenbogenfarben. Die Meduse sah nun aus wie ein wunderschönes, aber vermutlich bösartiges Insekt von einem sehr gefährlichen Planeten. Sie schlug mehrmals kraftvoll mit den Schwingen und erhob sich rauschend in die Lüfte.

»Aaaah!«, stöhnte sie wollüstig. »Ist – das – gut! Nach all den Qualen.«

Von hoch oben blickte sie lächelnd auf Qwert hinab. »Alsdann: vielen Dank, mein hübscher Ritter!«, rief sie. »Ich habe nicht weniger vor, als ganz Orméa zu versteinern. Jede einzelne Kreatur darin. Das wird meine Rache sein für all das, was sie mir angetan haben. Und du, mein schöner Prinz, hast mir dazu die Gelegenheit gegeben. Ich werde jedes Mal an dich denken, wenn ich jemanden versteinere! Versprochen! Denn bei jeder Versteinerung eines Lebewesens wächst meine Macht und meine Kraft. Und das habe ich ausschließlich dir zu ­verdanken. Heißen Dank, mein tapferer Retter aus einer anderen ­Dimension!«

Die Meduse schien noch einen Augenblick nachzudenken. Dann rief sie: »Und nimm dich in Acht! Man wird dich für den Gefallen, den du mir getan hast, in Orméa ganz furchtbar hassen. Ich kann mir schon denken, wie sie dich nennen werden: Medusenbefreier und Medusenwächtermörder und solche Sachen. Wahrscheinlich wirst du auf der Rangliste der verhassten Kreaturen in Windeseile auf die ersten Ränge springen. Vielleicht auf Platz zwei, direkt hinter mir. Du wirst es hier schwer haben. Sehr, sehr schwer, mein schöner ­Ritter! Und diejenigen, die es dir als Erste schwer machen werden, nahen bereits! Von hier oben kann ich sie schon sehen. Die Riesengletscherzwerge kommen! Und sie kommen schnell.«

Dann lachte die Meduse furchtbar, und weil sie dabei keine Miene verzog, wusste Qwert, dass sie es mit ihrem schrecklichen zweiten Gesicht tat. Endlich rauschte die Janusmeduse davon, hoch in den blauen Himmel, der Sonne entgegen. Und zum ersten Mal bemerkte Qwert, dass die Sonne, die am Firmament dieser Welt stand, von zartem Grün war.

Riesengletscherzwerge, dachte er. Orméa. Der Endlose Abgrund. Der Einsame Denker. Janusmeduse. Das waren eine Menge neuer Begriffe, die er sich in dieser anderen Welt merken musste. Doch, was war das? Bebte da der Boden unter seinen Füßen? Da – schon wieder! War das ein Erdbeben?

2. Aventiure

Prinz Kaltbluth und

Die Riesen­gletscherzwerge

Ja, der Waldboden unter Qwerts Füßen erzitterte tatsächlich in einem regelmäßigen Takt. Er blickte erschrocken auf und sah, dass aus dem Wald, über den die Janus­meduse entflogen war, ein Trupp von riesenhaften Gestalten gestapft kam, sieben an der Zahl. Jeder von ihnen war mindestens so hoch wie ein mehrstöckiges Haus, und sie alle sahen so aus, als seien sie aus gesplittertem Eis und verbackenem Schnee gebaut. Eiszapfen ragten in sämtliche Richtungen aus ihren frostigen Körpern, die in der warmen Luft dampften und bei jeder Bewegung knirschten und knackten wie berstende Eisschollen. Alle trugen riesige Keulen aus gefrorenem Wasser in den gewaltigen Pranken. Sie knickten die Bäume am Waldrand wie Streichhölzer und zertrampelten Büsche und Sträucher, als sie grunzend und keuchend auf die Lichtung traten. Ein winterkalter Hauch ging von ihnen aus, der Qwert frösteln machte. Mit diesen Kerlen, das erkannte er sofort, war nicht zu spaßen.

»Die sieben Riesengletscherzwerge sahen alle gleich aus, legten aber großen Wert auf ihre Individualität, auch wenn sie eigentlich immer in der Gruppe auftraten. Ihre Namen waren Zwei, Vier, Sieben, Sechs, Drei, Fünf und Eins. Als sie aus dem Wald kamen, begaben sie sich sogleich zu dem toten Medusenwächter, denn Riesengletscherzwerge sind für ihre fanatische Loyalität bekannt. Es kursierten zahlreiche Gerüchte über die rücksichtslose Brutalität, die sie jedem angedeihen ließen, der ihrem geliebten Medusenwächter etwas antun sollte. Wenn man sich bei ihnen auf irgendetwas verlassen konnte, hieß es, dann auf mangelnde Sensibilität sowie völlige Humor- und Gnadenlosigkeit. Aber das wahre Ausmaß ihrer Gewaltbereitschaft hatten sie noch nie unter Beweis stellen können, da bislang niemand so verrückt gewesen war, dem Medusenwächter auch nur ein Haar zu krümmen.«

Die Stimme in seinem Kopf hielt sich hartnäckig und kommentierte nun offensichtlich ungefragt und auf ziemlich seltsame Weise die Ereignisse auf der Lichtung, was zu Qwerts wachsender Verwirrung maßgeblich beitrug. Hatte sie vielleicht doch nichts mit dem Dimensionslochsturz zu tun? Riesengletscherzwerge?, dachte er erschrocken. Fanatische Loyalität? Das bedeutete ja wohl, dass er es mit einer Art Leibwächtertruppe für dieses von ihm erlegte Monstrum zu tun hatte. Und seit wann konnten Zwerge eigentlich riesig sein?

Qwert wollte sich aber weder mit der Herkunft dieser Stimme noch mit anderen bohrenden Fragen beschäftigen. Er wusste lediglich, dass er in ernsthaften Schwierigkeiten steckte, und suchte panisch die Gegend nach Flucht­möglichkeiten ab. Überall dichter Wald und ein Felsmassiv mit einer Höhle darin – weglaufen war ganz offensichtlich keine Option. Er trug diese lästige Rüstung, und die Riesenkerle benötigten gerade mal einen Schritt, wo er fünf brauchte.

Die Riesengletscherzwerge warfen sich über den Kadaver des Untiers, sie weinten und lamentierten und schlugen sich mit den Keulen vor die kantigen Eisschädel, was eine Reihe von unangenehmen, hohlen Geräuschen ­verursachte.

»Der Medusenwächter ist tot!«, jammerte einer von ihnen. »Der Mittelpunkt unseres Daseins.«

»Ohne ihn hat unser Leben seinen Sinn verloren!«, rief ein anderer.

»Wer das getan hat«, schnaufte ein dritter Hüne, »wird das wahre Ausmaß unserer Gewaltbereitschaft kennenlernen!«

Qwert entschied sich, einfach alles abzustreiten, falls sie ihn befragen sollten. Wie hätte man ihm auch etwas nachweisen können? Es gab keine Augenzeugen, die Janusmeduse war fort und seine Tatwaffe unsichtbar. Im Zweifel für den Angeklagten, nicht wahr? Frechheit siegt! Er konnte nur hoffen, dass das auch in Orméa galt.

Nachdem die Riesengletscherzwerge ihre Trauer über den Verlust des Medu­senwächters mühsam wieder unter Kontrolle gebracht hatten, kamen sie zu Qwert herübergewankt und glotzten ihn aus rotgeweinten Augen feindselig an.

»Sieben Fragen«, schluchzte der Riesengletscherzwerg namens Eins. »Von jedem von uns eine. Ich stelle die erste: Wer hat den Medusenwächter getötet?«

»Keine Ahnung«, antwortete Qwert schulterzuckend. »Ich kam zufällig hier vorbei, und da lag da dieser, äh … wie nennt ihr ihn? Medusenwächter?«

Die Riesengletscherzwerge nickten stumm, mit finsteren Mienen.

»Na ja, der, ähm, Medusenwächter lag hier schon im Gras, als ich aus dem Wald kam. Übel zugerichtet. Schlimme Sache. Wer macht denn sowas? War das ein Freund von euch?«

»Du hast den Medusenwächter nicht getötet?« Es war der Riesengletscherzwerg mit dem Namen Zwei, der die zweite Frage stellte.

Qwert breitete die Arme aus. »Nein! Natürlich nicht! Dieses riesige Monstrum? Ich? Womit denn?«, fragte er zurück. »Ich habe doch nicht mal eine Waffe.« Er zeigte ihnen seine leeren Handflächen.

»Frage Nummer drei: Hast du die Janusmeduse befreit?«, fragte der Riesen­zwerg namens Drei. Er deutete anklagend auf das Rad mit den gelösten ­Fesseln.

»Nicht, dass ich wüsste«, antwortete Qwert. »Ich habe hier sonst niemanden gesehen oder gar befreit. Was, äh, ist eine Janusmeduse?«

»Wir stellen hier die Fragen!«, schnauzte der Riesengletscherzwerg namens Vier. »Du bist also zufällig hier vorbeigekommen. Frage Nummer vier: Wo stammst du denn überhaupt her?«

Qwert entschied sich in diesem Fall für die Wahrheit. Was hätte er auch sonst antworten sollen? Er kannte sich in dieser Welt ja überhaupt nicht aus. »Ich, äh, komme aus einer anderen Dimension«, antwortete er mit so fester Stimme wie möglich.

Die Riesengletscherzwerge sahen ihn eine Weile schweigend an.

»Das sind völlig plausible Antworten«, sagte dann der Riesengletscherzwerg namens Fünf. »Er hat offenbar ein Alibi. Wir sollten ihn laufen lassen.«

»Moment mal!«, entgegnete der Riesengletscherzwerg namens Sechs. »Wir haben doch erst vier Fragen gestellt. Oder waren es drei?«

»Vier, glaube ich«, meinte der Riesengletscherzwerg namens Sieben. »Aber was sollen wir ihn denn noch fragen? Also mir fällt nichts mehr ein.«

»Mir auch nicht«, sagte Vier. »Das ist das erste Mal, dass wir die sieben ­Fragen stellen müssen. Wir haben überhaupt keine Übung im Verhören.«

»Wer hat überhaupt festgelegt, dass es sieben Fragen sein sollen?«, fragte Sechs. »Warum nicht sechs? Oder vier?«

»Keine Ahnung«, entgegnete Fünf. »Sieben scheint mir sowas wie eine magische Zahl. Wie Dreizehn oder Sechshundertsechsundsechzig. Die hat bestimmt irgendwer willkürlich aus dem Hut gezogen.«

»Vermutlich der Einsame Denker«, sagte Zwei. »Der denkt sich dauernd so bekloppte Sachen aus. Und dann müssen andere es ausbaden.«

Das läuft ja noch wesentlich einfacher, als ich gehofft habe, dachte Qwert. Kombinationsgabe und Durchhaltevermögen scheinen nicht zu ihren Stärken zu gehören.

»Na dann!«, rief er aufgeräumt. »Damit wäre unser Gespräch ja wohl beendet, oder? Ich kann nur hoffen, dass ihr den Übeltäter bald erwischt. Und hart bestraft! Ich, äh, gehe dann mal wieder meines Weges.« Er schickte sich an, über die Lichtung in den nahen Wald zu marschieren. »Einen schönen Tag noch! Und mein tief empfundenes Beileid wegen des Medusenwächters.« Es fiel Qwert nicht leicht, bei seinem Abgang so lässig wie möglich zu gehen und nicht zurückzublicken.

»Moment noch!«, sagte da der Riesengletscherzwerg namens Eins. »Eine letzte Frage … Nummer fünf oder so …«

»Ja …?«, entgegnete Qwert.

»Die hätten wir eigentlich zuallererst stellen sollen: Wie ist dein Name?«

Qwert blieb stehen und überlegte. Welchen Namen sollte er ihnen ­nennen? Qwert Zuiopü oder Prinz Kaltbluth? Machte das einen Unterschied? Namen sind Schall und Rauch. Letzterer passte doch wesentlich besser zu seiner Rüstung und seinem Aussehen, oder? Außerdem war er klangvoller und vertrauen­erweckender.

»Prinz Kaltbluth«, antwortete er kess.

Die Riesenkerle sahen ihn schweigend an.

»Prinz Kaltbluth?«, fragte Fünf. »Der Prinz Kaltbluth?«

»Genau!«, antwortete Qwert so selbstbewusst wie möglich. »Es kann nur einen geben, nicht wahr?«

»Du bist also der, der den Gläsernen Ritter im Duell besiegt hat?«

Was sollte er darauf antworten? Er war ein Ritter, und Ritter besiegten andere Ritter in Duellen. Das war eine ehrenvolle Angelegenheit. Daraus konnte ihm keiner einen Strick drehen. Vielleicht trug das sogar noch zu ­seiner Reputation bei.

»Äh, ja …«, antwortete er vorsichtig. »Der … bin ich.«

»Dann bist du folgerichtig auch der, der dem Gläsernen Ritter seine Waffe abgenommen hat?«, fragte Vier mit lauerndem Unterton in der Stimme. ­»Seinen Unsichtbaren Degen?«

Verdammt! Der Gläserne Ritter! Dass die Meduse ihn bereits erwähnt hatte, fiel Qwert zu spät ein. Er griff unwillkürlich an seine Hüfte, wo der unsichtbare Tarnmeister baumelte.

»Nehmt euch in Acht!«, rief Fünf. »Das ist tatsächlich Prinz Kaltbluth! Er trägt den edelsteinbesetzten Waffengurt des Gläsernen Ritters! Er hat den Medusenwächter kaltgemacht! Er befindet sich im Besitz von Tarnmeister!«

»Dann hat er auch die Janusmeduse befreit!«, ergänzte Zwei. »Und jetzt ist sie unterwegs, um alle Bewohner unseres Reiches zu versteinern!«

Die Riesengletscherzwerge wichen einen Schritt vor Qwert zurück.

Der dachte fieberhaft nach. Die Hünen schienen verunsichert, und seine größte Chance, ihnen zu entkommen, bestand wahrscheinlich darin, in die Höhle zu laufen, der das Ungeheuer entstiegen war. Vielleicht führte sie in ein Höhlensystem. Ihr Eingang war zwar recht groß, aber diese Riesenkerle mussten sich zumindest auf alle viere begeben, um sich hindurchzuzwängen. Wenn er einmal in der Grotte war, wären seine Chancen zu entkommen womöglich wesentlich höher.

In diesem Augenblick schlug der erste Eiszapfen neben ihm ein. Er war beinahe so groß wie Qwert selbst und hätte ihn zu Brei zermalmt, wenn der Hüne etwas besser gezielt hätte.

»Daneben, du Vollidiot!«, schnauzte Eins seinen erfolglosen Kumpan an. »Lass mich mal!« Er hob seinen mächtigen Zapfen wie einen Speer über den Kopf und schleuderte ihn in Qwerts Richtung. Der hätte ihn diesmal voll erwischt, wenn Qwert nicht reflexartig einen blitzschnellen Schritt zur Seite getan hätte, und so streifte das Geschoss nur seine Rüstung, krachte weit hinter ihm gegen eine gewaltige Eiche und teilte sie in zwei Hälften. Seine Reflexe waren ausgezeichnet! Dennoch war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis ihn eines dieser Geschosse erwischte. Qwert lief einfach los, mit klappernder Rüstung quer über die Lichtung, wobei ihm das hochgewachsene feuchte Gras und die Wildblumen die Flucht nicht gerade erleichterten. Dennoch war er erstaunt, wie rasch und leichtfüßig er sich in der Rüstung bewegte. Schild und Helm hatte er zurücklassen müssen, aber die hätten ihm bei einem Volltreffer auch nicht viel geholfen. Und rumms! – schlug der nächste Eiszapfen dicht hinter ihm ein.

Unversehrt erreichte er den Höhleneingang. Der schwarze Schlund im Felsmassiv sah nach einem verheißungsvollen Unterschlupf aus – nur noch ein kühner Sprung die Steinstufen hinauf, dann war er in Sicherheit. Der nächste Eiszapfen verfehlte ihn wieder nur um ein paar Handbreit und flog rauschend über ihn hinweg direkt in die Höhle hinein. Kein Rumms, kein Aufschlaggeräusch diesmal? Lautlos verschwand das Geschoss in der Öffnung. Qwert hatte keine Zeit, über dieses Phänomen nachzudenken. Mit einem letzten Satz rettete er sich in die Dunkelheit – und sprang ins Leere.

Qwert stürzte Hals über Kopf und panisch kreischend in einen Abgrund aus purer Finsternis.

»Ach herrje!«, sagte die Stimme in seinem Kopf. »Prinz Kaltbluth war aufgrund seiner athletischen Physis leichtfüßig seinen riesenhaften Häschern entronnen. Aber nur, um in den legendären Endlosen Abgrund zu stürzen.«

3. Aventiure

Prinz Kaltbluth und

Der Endlose Abgrund

Die Janusmeduse hatte recht gehabt: In dieser Welt war wirklich so einiges nicht, was es zu sein vorgab. Qwert war kein Gallertwesen mehr, sondern ein ­Ritter namens Prinz Kaltbluth. Das schöne Mädchen war kein schönes Mädchen, sondern eine bösartige Janusmeduse. Zwerge waren nicht klein und hilfs­bereit, sondern riesig und gewalttätig. Eine Höhle war keine Höhle, sondern ein Abgrund. Und er war auch nicht vorsichtig, wie die Meduse geraten hatte, sondern ein Idiot.

»Prinz Kaltbluth stürzte in einen Abgrund. Aber dies war kein herkömmlicher Schlund, keine normale Schlucht und auch keine gewöhnliche Klamm – dies war der Endlose Abgrund, der Abgrund aller Abgründe! Was ihn von allen anderen Abgründen unterschied und besonders auszeichnete, war, dass er tatsächlich endlos war. Wer in ihn hineinstürzte, würde bis ans Ende seines Lebens nichts anderes mehr tun, als immer nur abwärts stürzen und stürzen und stürzen, ohne jemals irgendwo aufzuschlagen.«

Hatte Qwert aufgehört zu schreien, weil sich diese Stimme wieder gemeldet hatte oder nur, weil ihm sein hysterisches Gekreische schließlich auch nichts half? Wie lange war er bereits durch diesen finsteren Schacht, durch diesen endlosen Tunnel aus ringsum wirbelndem schwarzem Nebel gestürzt? Nur wenige Augenblicke? Oder eine halbe Ewigkeit? Lange genug jedenfalls, damit er den höchsten Punkt seiner Angstkurve erreichen, die schlimmste Panik abklingen und er sich wieder zusammenhängende Gedanken machen konnte. Mit lang andauernden Stürzen war er ja durchaus vertraut. Leider war ihm bei diesem Sturz die Gnade der Saloppen Katatonie nicht vergönnt, weshalb ihm nichts anderes übrigblieb, als sich am Riemen zu reißen.

Immerhin besaß ein Sturz in den Endlosen Abgrund nicht das Drama eines normalen Sturzes. Er spürte keinen Gegenwind, hatte daher auch kein Rauschen in den Ohren, und es war eigentlich gar kein Fallen, sondern eher ein langsames Herabschweben oder Trudeln. Obwohl die Tunnelwand ringsum tiefschwarz war, konnte er erstaunlich gut sehen – als würde das Licht von oben in diesen düsteren Schlauch hineingesogen und mit ihm reisen. Wie bei einem Schwarzen Loch im Weltall, dachte Qwert. Nur viel kleiner.

»Bei einem Sturz in den Endlosen Abgrund stirbt man sehr langsam. Erst nach etlichen Tagen, manchmal erst Wochen, versiegen die körperlichen Ressourcen und man verendet auf qualvolle Weise. Bis die Lebenskraft endgültig erloschen ist, vegetiert man in einem sich endlos drehenden Teufelskreis aus Selbstvorwürfen und Suizidgedanken, begleitet von einem Gefühl der absoluten Hoffnungs- und Hilflosigkeit. Ein Aufschlag auf einem Felsen oder Nagelbrett wäre ein Akt der Gnade, der aber garantiert nicht erfolgt. Nichts ist grauenvoller als ein Sturz ins Unendliche bei vollem Bewusstsein.«

In dieser Dimension ist alles so maßlos übertrieben, dachte Qwert. Die Hässlichkeit des Medusenwächters! Die Bosheit der Janusmeduse! Die Gewaltbereitschaft der Riesengletscherzwerge! Die Abgründigkeit des Endlosen Abgrunds! Das alles kam ihm mittlerweile eher vor wie die Ausgeburt eines kranken Hirns als eine andere Welt. Und was war hier eigentlich mit den räumlichen Verhältnissen los? Überhaupt mit der Logik und den Naturgesetzen? Wo war das Höhlensystem geblieben, aus dem er das Echo der stampfenden Schritte des Medusenwächters so deutlich gehört hatte? Wie hatte der Medusenwächter aus einer Höhle kommen können, die gar keine Höhle war?

»Selbst nachdem ein Körper während des Sturzes in den Endlosen Abgrund gestorben ist, ist es noch nicht das Ende. O nein! Denn anschließend zerfällt er stürzend weiter: Das Fleisch verwest und löst sich nur zaghaft von den Knochen, und schließlich stürzt nur noch ein klapperndes Skelett in die ewige Tiefe, bis es in einzelne Knochen zerfällt. Aber auch die Gebeine stürzen immer weiter! Und da Knochen sich extrem langsam auflösen, kann es viele Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende dauern, bis diese Gebeine …«

»Aufhören!«, rief Prinz Kaltbluth. »Das ist ja nicht zum Aushalten! Reicht es nicht, dass ich in diesen ewigen Abgrund stürze? Muss ich mir dabei auch noch dieses Geschwafel anhören?« Überraschenderweise verstummte die Stimme augenblicklich.

Ich hätte den Kampf mit den Riesengletscherzwergen riskieren sollen, dachte Qwert. Weglaufen ist selten eine Lösung. Diese Kerle waren groß und stark, aber auch dämlich und feige – und ich bin in dieser Welt offensichtlich ein durchtrainierter Superritter. Und befinde mich im Besitz einer Wunderwaffe. Ich habe bereits den Medusenwächter erledigt. Meine Chancen wären vielleicht gar nicht so schlecht gewesen.

Unwillkürlich legte er seine Hand an den Griff von Tarnmeister. Aber diesmal gab es keinen elektrischen Schlag. Da strömte auch keine befeuernde Energie durch seinen Körper, die ihn mit Zuversicht und Kampfeswillen erfüllte. Qwert seufzte. Was konnte ihm ein Degen auch helfen bei einem ewigen Sturz in den Endlosen Abgrund?

»Prinz Kaltbluth erwog die letzte aller Möglichkeiten: Selbstauslöschung! War das nicht eine bewährte Lösung in hoffnungslosen Situationen? Das war doch zumindest eine Überlegung wert. Tarnmeister war scharf und spitz, seine wohlgeschliffene Klinge bot verschiedene Möglichkeiten, seinem eigenen Leben ein vorzeitiges und gnädiges Ende zu bereiten. Es gab da zum Beispiel gewisse Arterien, die man mit einem raschen und entschlossenen Schnitt …«

»Ruhe!«, rief Qwert. »Das reicht jetzt! Selbstauslöschung kommt gar nicht in Frage. Eher werfe ich Tarnmeister in den Abgrund.« Er packte den Schwertgriff fester. »Noch ein Wort, und ich schmeiße das verdammte Ding … Auah! Ah!«

Bevor Qwert seinen Satz beenden konnte, verspürte er einen stechenden Schmerz im Genick; es fühlte sich an, als hätte ihn eine kräftige Hand am Hals gepackt und versuchte nun, ihm den Kopf abzureißen. Ein rabiater Ruck ging durch seinen ganzen Körper und beendete schlagartig seinen Sturz. Er ließ den Degengriff los und hing in seiner Rüstung zappelnd da wie eine Marionette.

»Au!«, rief Qwert. »Aua!«

Dann vernahm er ein gleichmäßiges Rauschen über sich und drehte mühsam seinen Kopf, sodass er nach oben blicken konnte. Zuerst sah er nur zwei gewaltige Flügel, die über ihm auf und ab schwangen. Aufgrund ihrer einzigartigen Form und der schillernden Farben wusste er sofort, wem sie gehörten. Das waren die Schwingen der Janusmeduse, kein Zweifel! Es gelang ihm unter Schmerzen, den Kopf noch weiter zu drehen, bis er sie fast zur Gänze sehen konnte. Sie flatterte über ihm, hatte ihm ihr hübsches Gesicht zugewandt und hielt ihn mit etwas im Genick gepackt, das sich anfühlte wie große kräftige Vogelkrallen. Qwert fiel ein, dass er ihre Füße bisher noch gar nicht gesehen hatte, weil sie immer von ihrem langen Gewand bedeckt gewesen waren.

»Ich habe dich doch wiederholt davor gewarnt«, rief sie, »dass hier manche Dinge nicht das sind, was sie zu sein vorgeben. Und dir gesagt, dass du dich vorsehen sollst. Aber blindlings in einen schwarzen Schlund zu springen – das ist besonders dämlich. Oder ist das in deiner Dimension so üblich?«

»Nein«, krächzte Qwert mühsam, denn seine Retterin drückte ihm mit ihrem festen Griff auch die Atemluft ab. »Ich … ngh … war gerade dabei, es zu bereuen.«

»Und?«, fragte sie. »Was sagt man denn?«

»Wie bitte?«, ächzte Qwert.

»Nein – man sagt auf jeden Fall nicht ›Wie bitte?‹, wenn einem das Leben gerettet wird. Man sagt ›Danke schön!‹ Oder herrschen in deiner Dimension auch andere Gesetze in Sachen Höflichkeit?«

»Nein«, antwortete Qwert röchelnd. »Vielen Dank! Danke schön! Danke!«

»Na also«, sagte die Meduse. »Geht doch! Jetzt sind wir quitt, würde ich mal sagen. Du hast mich vor dem Medusenwächter gerettet, und ich rette dich aus dem Endlosen Abgrund. Eine Hand wäscht die andere.« Sie ließ mit der einen Vogelkralle Qwerts Hals los und packte stattdessen seine Rüstung bei der linken Schulter; und mit der anderen Kralle Qwerts rechte Schulter. Er baumelte nun stabil unter ihr und konnte wieder frei atmen.

»Ja«, keuchte er. »Jetzt sind wir quitt.«

»Hervorragend!«, rief die Meduse. »Dann kann ich dich ja wieder loslassen.«

»Nein!«, rief Qwert erschrocken. »Bitte nicht loslassen!«

Die Meduse lachte entzückend. »Haha! War nur ein Scherz, Kleiner! Keine Panik! Ich bin den weiten Weg nicht gekommen, um dich zuerst zu retten und dann wieder fallen zu lassen. Ich bin böse, aber nicht grundlos gemein.«

»Den weiten Weg?«, fragte Qwert. »Wie kommst du überhaupt hierher? Ich meine – ich verstehe die räumlichen Zusammenhänge in dieser Dimension nicht. Ich habe dich in entgegengesetzter Richtung über den Wald davon­fliegen sehen. Und jetzt bist du plötzlich hier – nachdem ich schon eine ganze Weile gestürzt bin. Wie ist das möglich?«

»Also, wirklich erklären kann ich dir das auch nicht«, antwortete die Meduse. »Nur so viel: Manchmal bewegen wir uns hier in Spongesprüs fort.«

»In … Spongesprüs?«

»Ja. So nennen wir das: SPONtane GEdankenSPRÜ