Rache ist honigsüß - Ralph Neubauer - E-Book

Rache ist honigsüß E-Book

Ralph Neubauer

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Beschreibung

Ein Unfall, alte Todesfälle, Dorfgeflüster, Gerüchte und familiäre Rivalitäten breitet der erste Band der Reihe „Südtirolkrimi“ vor seinen Lesern aus. Zunächst scheint es nur ein Unfall zu sein. Kein Fall also für Commissario Fabio Fameo, der aus Rom nach Bozen versetzt und in Südtirol noch nicht richtig angekommen ist. Sein kriminalistischer Scharfsinn führt allerdings auf eine Spur, die nicht nur die Hintergründe für den Unfalltod erhellen. Hinter dem dubiosen Unfall im Dorf Prissian verbirgt sich eine Geschichte, die tief in der Vergangenheit wurzelt. Zu Tage kommen Mordtaten, die nie als solche erkannt worden waren. Und dahinter steckt möglicherweise ein System. Fabio Fameo muss sich in Südtirol zurechtfinden, Menschen und Gepflogenheiten einer dörflich geprägten Gesellschaft kennenlernen. Ein neuer Partner und eine neue Liebe helfen ihm, Südtirol und seine Menschen zu verstehen und zu schätzen. Dieser Krimi führt die Leser in die Dörfer im Mittelgebirge von Tisens.

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Seitenzahl: 354

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel Null

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Ein Nachwort

Literaturliste

Erläuterungen

Null

Dünner Rauch stieg auf und kräuselte sich im leichten Wind. Das Vorderrad des auf der Seite liegenden Traktors drehte sich langsam und quietschte leicht. Sonst war kein Geräusch zu hören. Alle Vögel hatten schlagartig mit ihrem Morgengezwitscher aufgehört. Maria lag benommen auf dem Boden. Als sie dann den alten Sepp zerquetscht unter seinem Traktor liegen sah, schrie sie.

Später würde sie zu Protokoll geben, dass der alte Bauer – mit seinem Traktor die Straße von der Brücke her kommend – heruntergefahren war. So wie jeden Morgen um halb neun.

Maria ging den Weg von ihrem Haus zu ihrem Friseursalon und der alte Sepp kam auf seinem Traktor vom Dorfgasthaus Zur Brücke. Dort bekam man schon ab acht Uhr Kaffee oder ein Glas Wein. Maria würde sich erinnern, wie sie der Sepp angesehen hatte. Eigentlich hatte er durch sie hindurchgesehen, hatte sie gar nicht bemerkt. Sein Oberkörper war plötzlich nach vorne gesunken, ganz plötzlich, und dabei hatte er den Lenker nach links verrissen. Der Traktor war ungebremst auf sie zugefahren. Sie hatte noch zur Seite springen können und der Traktor hatte den niedrigen Zaun an der Stelle durchbrochen, an der sie gerade noch gegangen war. Dann war er die niedrige Böschung hinuntergefallen.

Eins

Fabio Fameo saß vor dem Vögele am Bozner Obstmarkt und genoss einen Espresso. Dazu aß er ein Tramezzino mit einer leckeren Füllung aus Ei, Thunfisch, Schinken und Majonäse.

Der Bozner Sommer war unerträglich, fand er. Im Kessel der Bozen umgebenden Berge staute sich die Hitze. Früh am Morgen ging es einigermaßen. Ab zehn war es dann über 30 Grad heiß und kaum auszuhalten. Allerdings hatten die Bozner den Bogen raus, das hatte er schon bald feststellen müssen, nachdem er hierherversetzt worden war.

»Mein lieber Fameo«, hatte der Questore zu ihm gesagt, »ich habe für einen Mann wie Sie eine bessere Verwendung als hier in der Questura in Rom.« Das hatte ihn schon misstrauisch gemacht. Etwas Besseres, als in Rom bei der Polizei zu arbeiten, gab es für ihn nicht. Und das wusste auch sein Chef. »Sie sind für Leitungsaufgaben bestimmt«, war der Questore fortgefahren. Schon bald könne er Vicequestore werden − nicht gleich in Rom, erst einmal auf dem Land. Und dann werde man sehen, ob er auch dieser Aufgabe gewachsen sei. Und so hatte man ihn in die Provinz nach Bozen abkommandiert.

Der Vicequestore in Bozen werde in zwei Jahren pensioniert und dann, wenn er, Fameo, sich bewähre, sei es nicht ausgeschlossen, dass er … und so weiter. Spätestens da war sicher, dass man ihn in Rom loswerden wollte. Und jetzt saß er seit drei Monaten in Bozen. Leiter der Polizia Criminale. Dem Vicequestore direkt unterstellt. Sozusagen der Erste Kommissar Bozens. Aber als er am ersten Tag um acht Uhr seinen Dienst in der schmucklosen Bozner Questura antreten wollte, empfing ihn kein salutierender Poliziotto, so wie er es aus Rom gewohnt war. Auch Sekretärin Carlotta war noch nicht da. Nur die Putzfrau schaute ihn verwundert an und meinte, sie sei mit seinem Zimmer noch nicht fertig, ob er nicht lieber erst einen Kaffee in der Bar der Questura nehmen wolle.

Vor zehn ist in Bozen nichts los. Oder genauer, mit den Boznern ist vor zehn nichts los. So um zehn sitzen oder stehen sie in den vielen kleinen Bars, nehmen einen Espresso, essen ein wenig und plaudern kurz mit dem Wirt. Dann gehen sie zur Arbeit. Im Bozner Sommer, das hatte er schnell gelernt, bedeutete das, bis zwölf durchzuhalten, um dann zu einer drei Stunden währenden Mittagspause zu entschwinden. Die einen gehen ausgiebig essen, die anderen nach Hause, einen Mittagsschlaf halten. Nach drei am Nachmittag kommen die meisten für weitere knappe drei Stunden und verschwinden dann in ihren Gärten, sofern sie einen besitzen. Um ihn kümmerte sich in der Questura niemand. Positiv betrachtet konnte man sagen, der Vicequestore ließ ihn in Ruhe. Die anderen hielten Distanz.

In den ersten Wochen hatte er sich gefühlt, als sei er amputiert worden. In Rom war er gewöhnlich 12 bis 13 Stunden im Büro gewesen, er hatte interessante Fälle bearbeitet. Der letzte war es dann wohl auch, der ihm die Versetzung eingebracht hatte. Wenn man der Macht zu nahe kommt, keilt sie aus. Das hatte er begriffen. In Bozen hatten sie ihn jetzt ausgebremst.

Auch im wörtlichen Sinne. Hier läuft die Welt ganz einfach viel langsamer. Er hatte sich die Ermittlungsakten der letzten Jahre geben lassen. Hier und da ein Mord oder Totschlag, alles Beziehungstaten. Viele Verfahren wegen illegalen Aufenthalts, meist Prostituierte aus Fernost oder Nordafrika. Viele Verkehrsdelikte, teils mit tödlichem Ausgang, wegen der vielen Bergstraßen. Ein bisschen Betrug, ein bisschen räuberische Erpressung, viel Kleinzeug halt. Da war er aus Rom ganz andere Kaliber gewohnt. Zuerst hatte alles in ihm rebelliert. In Rom war er ein erfolgreicher Ermittler, fast ein Star. Und jetzt sollte er Eierdiebe jagen. Er hatte auch einige Auseinandersetzungen mit seinen laxen Untergebenen. Aber die gaben ihm danach einfach keine Angriffsfläche mehr. Er hatte das Gefühl, einen Pudding an die Wand nageln zu wollen. Schließlich hatte er beschlossen, es dabei zu belassen.

Und jetzt saß er morgens um zehn im Vögele und genoss die einzigen Stunden des Hochsommertages, an denen man frei durchatmen konnte. Und er vermutete, dass es all die anderen Figuren aus der Questura ebenso machten. Dem Vicequestore sagte man nach, dass er auf dem Parkett eine gute Figur abgebe. Im Büro jedenfalls war er höchst selten anzutreffen.

Wahrscheinlich gab er im überwiegenden Teil seiner Arbeitszeit eine gute Figur ab. Fabio Fameo hatte beschlossen, die Arbeitsweise der Questura in Bozen zu studieren, aber nicht zu ändern. Dass man in Rom echtes Interesse an seinem Fortkommen hatte, konnte er jetzt sicher ausschließen. Die wollten ihn in Bozen beerdigen. Deshalb hatte er vor, sich wieder mehr um sich selber zu kümmern. In den letzten fünf Jahren hatte er so viel gearbeitet, dass er kaum noch Sport getrieben hatte. Er sah zwar nach wie vor ganz gut aus, aber wenn er den sich leicht abzeichnenden Bauchansatz wieder loswerden wollte, dann musste er jetzt wieder aktiver werden. Mit Zweiunddreißig geht das auch alles nicht mehr so schnell, hatte er irgendwo gelesen. Und um eine neue Bleibe wollte er sich auch kümmern. Die Polizei hatte ihm für den Übergang eine ihrer Dienstwohnungen gegeben. Ein kleines, mieses, dreckiges Loch war das, mitten in der stickigen Altstadt von Bozen, durch die sich von morgens ab zehn bis abends um acht Touristenmassen wälzten und nachts die Betrunkenen die Bürgersteige entlangtorkelten.

Zwei

Als Fabio Fameo auf dem Weg zu seinem Büro Carlotta, der Sekretärin des Vicequestore, begegnete, wurde er mit einem Lächeln bedacht. »Warum lächeln Sie?«, fragte er sie. »Sehe ich heute etwa besonders gut aus oder besonders komisch, oder ist es bloß, weil Sie sich auf das Wochenende freuen?«

»Commissario«, gurrte sie zurück, »es hängt schon mit dem Wochenende zusammen. Ich habe heute nach der Mittagspause frei. Mein Freund hat ein Wochenendhaus auf dem Ritten und bei dieser Hitze halten es bloß die Touristen in Bozen aus.«

Fameo war nicht überrascht. Er hatte gehört, dass alle, die es sich irgendwie leisten konnten, eine Hütte, ein kleines Häuschen oder auch ein komfortables Wochenendhaus auf dem Bozner Hausberg, dem Ritten, besaßen. In der Höhe war die Hitze erträglich, die Luft besser. Und dass die Bozner bereits im Laufe des frühen Freitags in die Höhen entwichen, um frühestens am Montag im Laufe des späten Vormittags wieder am Arbeitsplatz einzutreffen, hatte er bereits registriert. Es interessierte sowieso niemanden. Der Vicequestore, so hatte er gehört, werde heute ohnehin nicht erwartet. Nur, dachte er, was mache ich selbst an diesem gottverdammten Wochenende? Auf keinen Fall wollte er in seinen miesen zwei Zimmern hocken und schwitzen. Er könnte an den Gardasee fahren, überlegte er. Dort kannte er noch ein paar Leute.

Aber ob die sich noch an ihn erinnerten? Und was die wohl sagen würden, wenn er dort unvermittelt auftauchen würde?

Rom war für einen Wochenendausflug zu weit weg. Außerdem war es nach der Trennung von Cinzia nicht einfach, im gemeinsamen Bekanntenkreis einfach so weiterzumachen, als sei nichts passiert. Alles Mist! Lustlos griff er zur Ausgabe der 24DerTag24, einer der deutschsprachigen Zeitungen in Südtirol. Dank seiner deutschen Mutter, der er die deutsche Sprache verdankte, fiel es ihm nicht schwer, sich in Südtirol zu verständigen. Bozen war wenigstens eine italophile Ecke Südtirols. Aber was war das schon gegen das Leben in Rom?

»Bauer tödlich verunglückt«

In Prissian ist ein Bauer mit seinem Traktor eine Böschung hinuntergestürzt. Nach den Angaben der örtlichen Carabinieri scheint der Bauer nach einem Schwächeanfall die Kontrolle über sein Gefährt verloren zu haben, welches den Bauer unter sich begrub, als es in den Graben fiel. Der Bauer ist noch am Unfallort seinen tödlichen Verletzungen erlegen.

Wo liegt eigentlich dieses Prissian? Welche Carabinieristation ist zuständig? Ich weiß eigentlich noch nichts von meinem Bezirk, sagte Fameo zu sich selbst. Er holte die Übersichtskarte und fand den kleinen Ort Prissian als eines von zwei Dörfern auf den Höhen des Tisner Mittelgebirges, auf etwa 600 Metern Höhe über dem Etschtal gelegen. Die zuständige Carabinieristation war in Terlan, einem Weinanbauort im Etschtal, nur eine viertel Autostunde von Bozen entfernt. In Fameo reifte ein Plan für seine Wochenendgestaltung. Er würde die Carabinieristation in Terlan besuchen, unangemeldet. Sozusagen dienstlich. Und dann würde er nahtlos ins Wochenende gleiten. Irgendwo in den Bergen sich ein Quartier suchen, ein bisschen wandern, gut essen und, wer weiß, vielleicht gab es auch ein Dorffest irgendwo. Warum sollte er als Einziger in Bozen bleiben? Sekretärin Carlotta sagte er, dass er einen auswärtigen Termin habe, und wünschte ihr ein schönes langes Wochenende. Den Fahrer der Bereitschaft wies er an, den Wagen bereitzuhalten. Mit einigen wenigen Dingen wie Zahnbürste, frischer Wäsche, leichter Kleidung und seinen geliebten Ledersandalen, die er schnell aus seiner Wohnung holte, nahm er im Dienstwagen Platz und befahl dem Fahrer, ihn zur Carabinieristation in Terlan zu bringen. Auf der Fahrt erfuhr er vom Fahrer, dass der Leiter dieser Station ein Maresciallo Aiutante war, Tommaso Caruso hieß und aus Sardinien stammte.

Es war kurz vor zwölf, als der Wagen auf den Hof der Carabinieri-Station rollte. Fameo stieg aus und betrachtete die Station. Blättriger gelbgrauer Putz reflektierte die gleißende Mittagssonne. Der staubige, schmucklose Vorhof lag direkt an der Durchgangsstraße. Die vorbeifahrenden Autos schienen die Verkehrsregeln angesichts der Polizeigewalt besonders streng einzuhalten. Sie fuhren alle eher langsamer als erlaubt. Die Ankunft Fameos schien von niemandem bemerkt worden zu sein. Jedenfalls zeigte sich niemand. Fameo betrat die Carabinieri-Station und klopfte kurz und energisch an die erste Bürotür. Ohne eine Reaktion abzuwarten, öffnete er die Tür und trat ein. Das Erste, was ihm auffiel, war der Deckenventilator, der stoisch seine Kreise drehte und dabei leicht quietschte.

Ansonsten bewegte sich in dem Raum nichts und niemand.

Die beiden Schreibtische waren nicht besetzt. Ein kleines Kofferradio dudelte leise Unterhaltungsmusik. Fameo holte Luft und rief: »Ist niemand da?« Keine Antwort. Der Blick in das durch eine Verbindungstür zu erreichende zweite Büro war ihm durch das in den Raum ragende Türblatt verstellt. Er wollte gerade die Tür anfassen, um sie weiter zu öffnen, als er ein Rumpeln aus dem Zimmer vernahm. Ein junger Carabiniere lugte um die Ecke. Es war deutlich, dass er nebenan geschlafen hatte. Seine Augen waren noch ganz verklebt und sein Hosengürtel war gelöst. Fameo räusperte sich. »Commissario Fameo aus der Questura in Bozen«, stellte er sich kurz vor. »Kann ich Maresciallo Caruso sprechen?« Der junge Carabiniere war zu verdutzt, um das zu tun, was man ihm beigebracht hatte, salutieren und Meldung machen. Fameo ließ es dabei. In Südtirol ist eben alles anders. Und Rom ist weit weg. Was soll’s. Und als der junge Carabiniere immer noch nicht reagierte: »Nun, junger Mann, können und wollen Sie mir bitte helfen? Ich möchte zu Maresciallo Caruso. Noch heute!« Der Carabiniere erwachte aus seiner Erstarrung. Dabei fand seine rechte Hand sogar den Weg an seinen Kopf. »Der Maresciallo, natürlich, sofort, ich werde ihn holen, sofort Commissario!« Dann salutierte er noch einmal, ging schnell davon und ließ Fameo im Raum stehen. Über den Umgang mit ranghöheren Polizisten der Polizia di Stato haben die hier wirklich noch nie etwas gehört, dachte Fameo. Oder es ist wieder die alte Geschichte.

Welche Polizeieinheit ist die bessere? Die Polizia di Stato oder die Carabinieri? Wo bin ich hier bloß hingeraten? Pennt der doch während der Dienstzeit. Und wie das hier aussieht. Klein, speckig, uralte Büromöbel, drei verschiedene Sorten Stühle, ein Computer aus der frühen Steinzeit und ein antikes Telefon mit Wählscheibe. Die Farbe der Wände war ursprünglich wohl weiß gewesen. Geblieben war ein schales Mausgrau, oder war es ein frisches Steingrau? Eher doch ein fahles Aschgrau. Über diese Betrachtungen betrat Maresciallo Caruso den Raum.

Caruso war ein Mann von stattlicher Größe. Mindestens einen Meter 95 schätzte Fameo. Über den breiten Schultern thronte ein kantiger, aber fast kahler Schädel. Die wenigen verbliebenen Haarinseln waren millimeterkurz geschoren. Zusammen mit der Narbe über der linken Wange verlieh dies Caruso das Aussehen eines Piraten, zumal sich dicke Armmuskeln unter dem Uniformhemd abzeichneten. Caruso hatte scharfe, graublaue Augen. Sein Blick wirkte stechend, lauernd. »Sie sind ein Commissario aus Bozen? Ich kenne Sie nicht. Darf ich Ihren Dienstausweis sehen?« Fameo reichte ihn rüber. Der Maresciallo las den Namen laut vor. »Fabio Fameo also. Sie sind der Neue aus Rom, richtig? Es ist lange her, dass einer aus der Questura uns hier besucht hat. Hat Ihr Besuch einen bestimmten Grund?« Fameo war sich nicht sicher, wen er da vor sich hatte. Der Maresciallo machte einen entspannten Eindruck.

Jedenfalls war er von seinem Besuch nicht sonderlich beeindruckt. Eher erstaunt, dass sich jemand aus Bozen für seine kleine Station zu interessieren schien. »Maresciallo Caruso«, fing Fameo das Gespräch an, »ganz richtig, ich bin neu hier.

Und ich komme aus Rom. Sie kommen aus Sardinien?« Maresciallo Carusos Augenbrauen gingen hoch. »Das wissen Sie?«

Caruso lächelte leicht. »Ja, ich komme aus Sardinien. Ich bin als junger Carabiniere hierhergekommen. Jetzt tue ich hier in dieser Station seit über dreißig Jahren meinen Dienst. Ich glaube manchmal, man wird mich hier beerdigen«, der Maresciallo lachte. »Aber ich bin unhöflich. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Etwas zu trinken vielleicht?« Fameo nickte: »Gerne, wenn ich Ihnen keine Umstände mache.« Der Maresciallo musterte Fameo. Er schien nicht gekommen zu sein, um Ärger zu machen. Caruso wurde mutiger. »Commissario, wenn Sie heute nur deshalb gekommen sind, um uns kennenzulernen, würde ich Sie auch zum Essen einladen. Nichts Besonderes, aber das, was wir hier auf dem Land gewöhnlich zu uns nehmen.« Fameo war angenehm überrascht. Die Frage, wie er sein langes Wochenende am besten einleiten solle, war hiermit beantwortet. Er nahm daher die Einladung dankend an. Was sich Caruso darunter vorstellte, wurde ihm schnell klar. Caruso wohnte in der oberen Etage der Station. Dort bewohnten er und seine Frau eine kleine Dienstwohnung. Hinter dem Haus hatten sie einen Gemüsegarten angelegt. Seine Frau war gerade dabei, das Mittagessen vorzubereiten. Caruso wusste, dass niemand den Kochkünsten seiner Frau widerstehen konnte, und plante daher, den Commissario mit einem guten Essen für sich einzunehmen. Wenn er den Commissario so vor sich sah, wirkte der irgendwie verloren, einsam und unzufrieden.

Weiß der Teufel, warum der heute hier aufgetaucht ist. Jedenfalls ist er bisher damit nicht herausgerückt. Ein gutes Essen hat noch jeden Mann aufgemuntert. Außerdem kann man am Küchentisch mehr erfahren als in der Amtsstube. Und so kam es, dass Fabio Fameo an einem heißen Freitag vor einem Berg selbstgemachter Spaghetti con fiori di zucca zu sitzen kam. Die Kürbisblüten kamen aus dem eigenen Garten. Anschließend gab es Obst und dann Espresso. Carusos Frau kochte phantastisch. Das Tischgespräch ging während des Essens vom Wetter zum Bozner Treibhausklima und irgendwann bemerkte Caruso: »Commissario, was ist der Grund für Ihren Besuch in Terlan? Gibt es etwas, was ich für Sie tun kann?« Fameo räusperte sich: »Ich hatte die Idee, mir eine Carabinieristation des Bezirks anzusehen. Der Bezirk ist groß und ich möchte mir ein Bild machen von den Menschen, der Landschaft, den Mentalitäten, den Zusammenhängen. Ich möchte meine neue Umgebung kennenlernen.« Caruso atmete innerlich auf. Von diesem Commissario waren also zunächst keine Schwierigkeiten zu erwarten. Der war nur neugierig.

»Die Menschen hier, Commissario, sind anders als in der Großstadt. Das werden Sie bestimmt schon festgestellt haben.

Aber schon die Bozner unterscheiden sich von den Menschen hier im Etschtal und auf den Höhen links und rechts vom Tal.

Und wiederum ganz anders sind die Menschen in den engen, kleineren Tälern und auf den Bergbauernhöfen. Die Südtiroler sind italienische Staatsbürger, sie fühlen sich aber nicht als Italiener. Mit uns Italienern haben sie mittlerweile ihren Frieden gemacht. Aber vor dreißig Jahren, als ich hier anfing, war die Carabinieristation wie eine Festung ausgebaut. Die Autonomiebewegung der Südtiroler hatte auch Terroristen hervorgebracht. Als Carabiniere war man damals hier verhasst. Heute ist das anders. Man respektiert uns zwar, aber ein Grundmisstrauen bleibt. Und unsere Aufgaben haben sich dramatisch gewandelt.«

»Erzählen Sie mir davon, Maresciallo, das ist alles interessant für mich. Ich habe in Rom nur wenig über den Norden Italiens mitbekommen. Über die Geschichte Südtirols habe ich etwas gelesen. Ich kenne die Trennung von Österreich, die Italianisierung des Landes, die kurze Zeit des Nationalsozialismus und die Kämpfe um die Autonomie. Nicht dass ich mich auskennen würde, aber die groben Abläufe verstehe ich. Ich habe zum Beispiel gelesen, dass die Männer hier Schürzen tragen. In Bozen habe ich das aber bisher nicht gesehen. Ist da was dran?«

»Ja, Commissario«, sagte Caruso, »in Bozen und Meran sieht man die Schürzen selten. Sie sind übrigens blau. Hier auf dem Land tragen sie viele Männer. Zumeist die älteren, die selber noch den Faschismus erlebt haben. Die blaue Schürze ist ein Symbol für das Tirolertum. Die könnten sich auch draufsticken: »Schaut her, ich bin und bleibe ein Tiroler!«

»Dann sind die Südtiroler wohl sehr eigen, so wie die Sarden?«

Caruso hob den Finger und lachte: »Keine Vergleiche mit den Sarden! Aber der Vergleich würde auch hinken. Die Menschen hier sind ehrlich, fleißig, rechtschaffen. Zumindest die Alten. Die Jungen sind mittlerweile wie sie halt überall sind.

In Südtirol läuft die Zeit mittlerweile schneller. Vor zwanzig Jahren war es noch ein verträumtes Land mit paradiesischer Landschaft. Heute hat der Tourismus das Bild wesentlich geändert. Die Leute verdienen gutes Geld damit. Das wirkt sich aus. Ich mache Ihnen das an unseren Aufgaben deutlich. Früher, also vor dreißig Jahren, hatten wir Carabinieri es mit der einen oder anderen Wirtshausschlägerei zu tun. Wenn wir zufällig zur Stelle waren. Denn normalerweise regeln die hier auf dem Land alles untereinander. Vielfach mussten wir auf Geheiß von oben die Leute kontrollieren. Es gab Schmuggel − über die Pässe nach Österreich. Und heute? Heute hat jeder ein Auto. Wir sind fast ausschließlich mit der Verkehrssicherung beschäftigt. Dabei möchte ich sagen, dass wir als einziges Regulativ die Verrückten davon abhalten, sich zu Tode zu fahren.

Gerade die jungen Leute rasen mit hochmotorisierten Kleinwagen über die Pässe. Die veranstalten nachts Wettrennen.

Mit 160 Stundenkilometern rasen die den Gampenpass hinauf und herunter. Jedes Jahr haben wir Tote zu beklagen. Wir müssten noch mehr beklagen, wenn wir Carabinieri nicht ständig auf der Hut wären. Wir ziehen Führerscheine ein, legen Autos still, mahnen und strafen. All das, um Schlimmeres zu verhindern. Außerdem wissen wir, dass zum Wochenende die Alkoholfahrten zunehmen. Dann suchen die Trinker ihre Schleichwege durch die Obstplantagen. Aber wir kennen alle ihre Schleichwege und niemand kann sich ausrechnen, wo wir auftauchen. Aber, Commissario, glauben Sie mir, das macht alles keinen Spaß mehr. Ich bin hier mit fünf Carabinieri für ein recht großes Gebiet zuständig. Wir können nicht überall sein. Und jetzt im Sommer kommen noch die Motorradfahrer aus Deutschland und Österreich dazu. Die kommen jedes Wochenende, um die kurvenreichen Passstraßen zu befahren.

Fast jedes Wochenende kommt es dabei zu oft tödlichen Unfällen. Es gibt im Sommer kein Wochenende, an dem meine Leute keine Berichte schreiben müssen. Ganz ehrlich, mir war es lieber, Schmuggler zu jagen. Das hatte einen Reiz. Aber die Dinge ändern sich, die Welt bleibt nicht stehen und Südtirol ist längst in der Moderne angekommen. Aber auf den Bergen und in den Dörfern, da können Sie noch einen Hauch von dem erleben, was Südtirol ausmacht.«

»Das sollte ich vielleicht versuchen«, sagte Fameo. Er hatte soeben den Entschluss gefasst, sein Wochenende in einem der Dörfer zu verbringen, um den Hauch zu erleben, den Südtirol ausmacht. Wenn ich schon hierher verdammt worden bin, dann will ich auch wissen, mit welchem Menschenschlag ich es zu tun habe. Zu Caruso gewandt sagte er: »Der Grund, warum ich nach Terlan gekommen bin, liegt in meiner Zeitungslektüre. Der 24DerTag24 hat über einen Unfall mit einem Traktor in einem Dorf mit dem Namen Prissian berichtet. Ihre Station ist zuständig und ich habe mir gedacht, jetzt fahre ich mal dorthin.« Der Maresciallo atmete auf. »Commissario, den Bericht über den Unfall habe ich heute früh fertig gestellt. Sie können ihn gern lesen.« Der Maresciallo machte eine Pause.

»Dieser Unfall ist schlimm. Wir haben eine Augenzeugin. Daher wissen wir, dass dem Fahrer des Traktors übel geworden sein muss. Nach der Aussage der Zeugin ist er plötzlich zusammengeklappt. Der Traktor sei dann aber weitergefahren, und zwar einen kleinen Abhang hinunter. Die Unfallstelle ist eine Dorfstraße, die zu dem Anwesen des Bauern führt. An einer Seite ist die Straße mit einem niedrigen Zaun begrenzt, hinter dem Zaun ist eine Obstplantage. Das Grundstück liegt zwei Meter tiefer als die Straße, und dort ist der Traktor hinuntergefallen. Das Tragische ist, dass der Traktor den alten Mann unter sich begraben hat. Er wurde regelrecht zerquetscht. Ich glaube nicht, dass er hat leiden müssen. Den Grund für den Schwächeanfall kann man nur annehmen. Der Mann war 84 Jahre alt, gehbehindert und − den Aussagen einiger Dorfbewohner nach − in den letzten Jahren zunehmend schwächer geworden. Es sieht alles nach einem altersbedingten Schwächeanfall aus.« Der Commissario unterbrach den Maresciallo.

»Ein Bauer, der mit 84 noch Traktor fährt? Musste er noch arbeiten?« Caruso lächelte leise. »Commissario, die Männer hier oben sind von einer eigenen Art. Sie tragen blaue Schürzen, um uns Italienern zu zeigen, dass sie hier diejenigen sind, die das Sagen haben. Die meisten haben Grund und Boden und ringen ihm ihr ganzes Leben lang fleißig seine Früchte ab. Ob der alte Bauer noch gearbeitet hat, weiß ich nicht. Aber es ist nicht unwahrscheinlich. Was ich herausgefunden habe, ist lediglich, dass er aufgrund einer Verletzung stark gehbehindert war. Deshalb hat er jeden Weg mit seinem Traktor gemacht.

Das ist übrigens ein Ding, das sollten Sie sich mal ansehen − steht bei uns in der Garage. Ich habe ihn vorsichtshalber hier sichergestellt. Fahrtüchtig ist der jetzt sowieso nicht mehr. Es ist ein alter Urus, polnisches Fabrikat, Baujahr so gegen 1948, ein echtes Unikum. Mit dem ist der Maier, so hieß der Bauer, jeden Morgen den kurzen Weg von Schloss Katzenzungen zum Gasthaus Zur Brücke gefahren. Keine vierhundert Meter sind das. Dort hat er ein Glas Wein getrunken, vielleicht auch einen Kaffee, was weiß ich, und ist dann wieder nach Hause gefahren. Jeden Tag, Jahr für Jahr.«

»Er wohnte in einem Schloss?«, wollte Fameo wissen.

»Schloss Katzenzungen ist eine alte Burg aus dem 12. Jahrhundert. Sie gehört dem alten Maier. Seit drei Generationen hat die Bauernfamilie Maier sie in ihrem Besitz. Sie ist ziemlich heruntergekommen, ein altes Gemäuer halt. Ich möchte da nicht wohnen. Sie können es sich ja mal ansehen. Wenn Sie hier aus dem Fenster schauen, über das Etschtal hinweg, dann sehen Sie auf der anderen Seite ein Mittelgebirge. Das ist der Vorbichel. Dahinter gibt es eine Hochebene, das Gemeindegebiet von Tisens. Dort finden Sie die zwei Dörfer Prissian und Tisens. Allein diese beiden Dörfer haben vier Burgen oder Ansitze. Wenn Sie die Straße von Nals aus nach Prissian nehmen, dann führt direkt rechts nach dem Ortseingang ein Weg zum Schloss Katzenzungen.« In Fameo reifte ein Gedanke zur weiteren Gestaltung seines Wochenendes. »Kann man da oben auch ein Quartier bekommen?«

»Kein Problem, die leben da oben vom Fremdenverkehr. Es gibt überall Pensionen und auch einige Hotels. Jetzt ist da wenig los, da werden Sie ohne Probleme eine Unterkunft finden.«

Caruso musterte Fameo. »Commissario, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber wenn ich Ihnen eine Empfehlung geben darf?«

»Nur zu! Ich bin dankbar für jeden Hinweis.«

»Nun, wenn Sie mit den Leuten in Kontakt kommen wollen, dann sollten Sie wissen, dass die Prissianer dafür bekannt sind, dass sie Fremde gerne auf den Arm nehmen. Sie frotzeln jeden.

Allerdings wird Ihnen das nicht passieren, wenn sie dort oben so modisch angezogen sind, wie jetzt. Jeder erkennt in Ihnen den Großstädter und man würde die Distanz suchen.«

Fameo musste schmunzeln. Das hatte der Maresciallo nett ausgedrückt. Er hätte auch sagen können: »Lieber Commissario, Sie sehen aus wie ein Lackaffe, und so würde man Sie da oben auch behandeln.« Fameo hatte eine Schwäche für ausgewählte Garderobe. Seine Anzüge waren nach Maß gefertigt.

Die Stoffe sehr wertvoll, und das sah man ihnen auch an. Seine Schuhe waren handgearbeitet und stets poliert. Er wusste, dass sein Erscheinungsbild ihn eitel erscheinen ließ. Aber das war er nicht. Er hatte einfach Spaß an stilvoller Garderobe. Dafür gab er sein Geld auch gerne aus. Gute Kleidung war ihm einfach wichtig. In Rom war das kein Problem. Da liefen fast alle in seiner Umgebung so herum. Aber schon auf der Questura in Bozen ging es anders zu. Hier auf dem Land war er mit seinem Anzug wahrscheinlich wirklich einfach »overdressed«.

»Ich habe noch ein paar Sachen zum Wechseln dabei. Eine einfache Leinenhose und ein Paar Sandalen. Ich dachte, heute ist Sandalenwetter«, grinste er den Maresciallo an. »Meinen Sie, ich sollte mich hier umziehen, bevor ich mich unter die Dorfbevölkerung mische?«

Der Maresciallo musste jetzt lachen. »Das ist eine gute Idee, Commissario. Tarnung ist gut. Sie können sich im Nebenzimmer umziehen, wenn Sie wollen. Ich empfehle Ihnen auch, nicht mit einem Polizisten dort hinaufzufahren, wenn Sie nicht wollen, dass man Sie als Polizeibeamten erkennt. Ich kann Ihnen ein Zivilfahrzeug zur Verfügung stellen, nichts Besonderes, aber unauffällig.«

Fameo strahlte: »Bestens, so machen wir es. Ich sage nur meinem Fahrer Bescheid, dass er jetzt zurückfahren kann.«

Als Fameo seine eilig eingepackten Utensilien aus dem Wagen holte, stellte er fest, dass die Frau des Maresciallo seinen Fahrer gleichfalls mit einem Mittagessen versorgt hatte. Nette Leute, dachte Fameo. Er schickte seinen Fahrer nach Hause und vereinbarte, dass er ihn hier am Montag zu Mittag wieder abholen solle.

Jetzt kann das Wochenende beginnen, freute sich Fameo.

Und als er sich umgezogen hatte, fühlte er sich in seiner Leinenhose, dem kurzärmeligen weißen Hemd und seinen Sandalen so, als sei er in der Sommerfrische am Meer. »Gibt es dieses Wochenende irgendwo ein Fest?«, wollte er wissen. Der Maresciallo schüttelte den Kopf. »Nein, dieses Wochenende haben wir es hier ruhig. Kein Fest, keine Alkoholkontrollen, also für uns ein ruhiges Wochenende. Genießen Sie doch einfach die Ruhe in den Bergen. Geselligkeit finden Sie auch in den Gasthäusern. Die gibt es da oben genügend. Bis um elf Uhr abends haben die alle offen.«

Fameo nickte nur. In Rom geht es um elf erst richtig los.

Und hier ist um elf alles vorbei. Bozen war da ähnlich. Es gab zwar hier und da Kneipen, die länger aufhatten, aber ein richtiges Nachtleben war das nicht. In Südtirol ist eben alles anders.

Maresciallo Caruso versorgte Fameo mit einem alten Fiat Punto und einer Übersichtskarte der Gegend, in der das Revier der Carabinieristation eingezeichnet war. Außerdem erhielt er die Telefonnummern der Bereitschaft und Carusos Privatnummer, für alle Fälle. Und dann fuhr er nach Prissian.

Drei

15 Prozent Steigung hatte die Straße, die von Nals nach Prissian führte. Der alte Punto tat sich schwer, die Steigung im zweiten Gang zu nehmen. Die Straße zog sich haarnadelkurvig nach oben. Von Terlan aus sah das gar nicht so weit aus, dachte Fameo. Aber die Dörfer lagen wirklich recht hoch. Er hatte von Caruso noch erfahren, dass die Straße vor zwanzig Jahren eher einem Eselssteig glich. Es sei damals immer sehr mühsam gewesen, die höher gelegenen Dörfer aufzusuchen.

Jetzt gehe das alles besser. Aber nur, wenn der Motor durchhält, dachte Fameo, der die Temperaturanzeige beobachtete.

Das Ortsschild von Prissian begrüßte ihn bereits, bevor er irgendetwas von dem Ort sehen konnte. Jetzt näherte sich die Temperaturanzeige dem roten Bereich. Nun muss es aber bald kommen, sonst kocht mir der Motor, grummelte er, als nach der nächsten Linkskurve die Steigung aufhörte und der Blick auf eine kleine Kapelle fiel, deren grünes Dach in der Nachmittagssonne funkelte. Vor der Kapelle hielt Fameo den Wagen an und stieg aus. Rechts von der Kapelle erhob sich ein gewaltiges mittelalterliches Bauwerk. Der Grundriss schien beim ersten Betrachten einfach geometrisch wie ein Quadrat geformt zu sein. Beim genaueren Hinsehen waren Grundriss und Fassade aber eher asymmetrisch. Die hohen glatten Wände mit den relativ kleinen Fensteröffnungen und den unter dem Dachfirst angebrachten Pechnasen wiesen es als Burg aus. Ob dies das Schloss des Unfallopfers war? Fameo spazierte neugierig näher. Eine kleine Tafel am Fuß eines ansteigenden, mit groben Steinen gepflasterten Weges, der direkt zu dem einzigen Tor der Burg führte, wies die Burg als Schloss Katzenzungen aus. Was für ein Name, dachte Fameo, als er eine Bewegung links unterhalb des Weges registrierte.

Dieses Areal war mit Weinlaub komplett überrankt. Wie ein großes Dach wölbte sich die Weinrebe über eine große Wiese. Unter diesem riesigen Blätterdach kam ein hagerer alter Mann hervor, der ihn neugierig und ziemlich hemmungslos musterte. Fameo schaute den Mann an. Er mochte sechzig bis siebzig Jahre alt sein − schwer einzuschätzen. Er war mager, fast schon klapprig. Seine spärlichen Haare waren ungepflegt und von unbestimmbarer Farbe. Ocker bis Gelbgrau.

Er trug eine dreckige dunkle Hose, ein schäbiges Hemd und eine blaue Schürze! Ob so die Dorfbewohner Südtirols aussahen? Das Einzige, was an dem Mann angenehm auffiel, waren seine klaren blauen Augen. Sein Mund wirkte irgendwie blöd, der Gesichtsausdruck einfältig, aber die Augen waren hellwach. Fameo beschloss, Kontakt zu dem Einheimischen aufzunehmen. Er räusperte sich und einer Eingebung folgend, sprach er den Mann auf Deutsch an: »Eine imposante Burg haben Sie hier.« Der Mann starrte ihn weiter an. »Ich bin das erste Mal hier. Ich überlege, ob ich hier ein paar Tage Urlaub machen soll.« Der Mann verzog keine Miene, musterte Fameo aber weiterhin mit unverhohlenem Interesse. »Darf ich fragen, wer Sie sind? Gehören Sie zu der Burg?« Jetzt reagierte der Mann erstmals. Er verzog sein Gesicht zu einer Fratze, die vielleicht ein Lächeln sein sollte. Er hatte eine dünne Stimme: »Nein, nein. Ich habe hier nur geschlafen. Unter der Rebe. Ist eine alte Rebe. Viele hundert Jahr alt. Viel Schatten hier. Nicht so heiß.« Dann verstummte er wieder, schaute Fameo aber erwartungsvoll an. Fameo wusste nicht, was er noch sagen sollte. Also fragte er ins Blaue: »Wem gehört denn die Burg?«

Das Männlein heulte kurz auf. Dann sprach es: »Tot, tot, vom Traktor erschlagen. Böser Fall, böser Fall. Jetzt sind sie alleine, beide alleine.« Fameo begriff, dass er tatsächlich vor dem Schloss des verunfallten Bauern stand. Die Neugier ließ in fragen: »Wer ist denn jetzt alleine?« Das Männlein schaute ihn verschreckt an, als ob er eine schlimme Frage gestellt hätte. Aber es richtete sich auf und zeigte auf das Schloss: »Da, die beiden, Schwester und Frau des Bruders. Jetzt sind sie da alleine. Böse, böse.« Fameo beschloss, keine weiteren Fragen zu stellen. Offensichtlich war der Mann nicht ganz dicht.

Er wandte sich zum Gehen. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie der Mann ihm eine Hand entgegenstreckte. Er wollte sich vielleicht förmlich von ihm verabschieden. Fameo blickte dem Mann in die Augen, als er ihm die Hand schüttelte, und wurde dabei das Gefühl nicht los, dass der Alte vielleicht gar nicht so verrückt war, wie er wirkte. Was hatte der Maresciallo ihm gesagt? Die Prissianer führen Fremde gerne an der Nase herum. War das jetzt schon dieses Frotzeln?

Fameo ging langsam zu seinem Wagen zurück. Die Augen des Alten klebten förmlich an ihm. Das konnte Fameo spüren.

Doch als er sich noch einmal umblickte, war von dem Alten nichts mehr zu sehen. Einfach verschwunden. Völlig geräuschlos. Trotzdem fühlte er sich beobachtet. Neben der Burg lagen zum steilen Hang noch zwei Wohnhäuser. Aber alle Fensterläden waren geschlossen, vermutlich wegen der Mittagshitze.

Aber es war hier oben deutlich angenehmer als im Tal, stellte Fameo fest. Es ging ein leichter Wind, der die Hitze erträglicher machte. Bei seinem Auto angekommen, blickte er die Straße hinunter. Rechter Hand lag ein Sägewerk, linker Hand lagen verschieden große Häuser, verborgen hinter hohen Hecken. Der Straße folgend fiel ihm ein schönes weißes Haus mit großen Balkonen auf, die üppig mit roten Geranien prahlten. »Wenn das eine Pension ist, dann fange ich da an zu fragen«, sagte Fameo zu sich selber. Das Haus hatte einen Namen, Trogerhof, und ein Schild wies darauf hin, dass Zimmer frei seien. Der alte Punto schien froh zu sein, unter dem geräumigen Garagendach der Pension Trogerhof Pause machen zu dürfen. Fameo betrachtete sein Gefährt kritisch. »Bergabwärts fährt der bestimmt besser.« Fameo betrachtete die Berglandschaft, die sich hinter der Pension aufbaute. Nach gemächlich ansteigenden Obstwiesen gab es freie Flächen, dann Wald, dann begann die Zone, in der keine Bäume mehr wachsen, dann kam der Fels.

Alles hübsch gestaffelt und ineinander verschoben, verwoben, verwinkelt, mit Licht- und Schattenspiel, darüber kreiste ein Greifvogel − alles wie aus einem Bilderbuch. Die Pension selber war von Obstbäumen und Beerenhecken umgeben. Fameo sah reife Pfirsiche, reife Feigen, reife Marillen, noch nicht reife Pflaumen, reife Himbeeren, Johannisbeeren, Stachelbeeren, und eine ganze Apfelplantage grenzte an die Pension. In einem geräumigen Stall sprangen zwei Langohren und wuselten mehrere Meerschweinchen. Auf der Wiese blühte der Klee und im Hintergrund konnte er einen Bauerngarten ausmachen. Außerdem sah er Weinreben und an Pergolen kultivierte Kiwis.

»Bin ich hier im Paradies?«, frage sich Fameo. Er wurde durch die freundliche Ansprache einer attraktiven blonden Frau aus seinen Gedanken gerissen. Sie mochte Anfang dreißig sein, trug ein blaues ärmelloses T-Shirt und eine kurze helle Hose.

Lange braune Beine kamen da zum Vorschein. Es war die junge Wirtin selber. Brigitte Unterholzner konnte ihm auch für das Wochenende ein Zimmer mit Frühstück vermieten. In den Sommerwochen sei hier nicht viel los. Außer ihm sei noch ein einzelner Herr aus Deutschland hier. Fameo verstaute die wenige Habe in seinem Zimmer und beschloss, essen zu gehen.

Brigitte nannte ihm die drei Dorfgaststätten, das Gasthaus Zur Brücke, den Mohrenwirt und den Prissianerhof. In dieser Reihenfolge säumen sie die Dorfstraße, er könne keines der Häuser verfehlen. Fameo verließ das Grundstück der Pension und wandte sich nach links, der Dorfstraße folgend. Und da fiel ihm der durchbrochene Zaun auf, den er nicht bemerkt hatte, als er die Pension ansteuerte. Das könnte die Stelle sein, an der der Traktor den Zaun durchbrochen hatte. Fameo erinnerte sich an den Unfallbericht des Maresciallo. Der Maresciallo hat den Ort sehr plastisch beschrieben. An der Unfallstelle ging es nicht sehr tief hinunter. Unterhalb der Straße lag eine Obstbaumplantage. Fünf der Bäume waren völlig niedergedrückt.

Dort war der Traktor wohl aufgeschlagen. Der Bauer darunter.

Fameo versuchte sich vorzustellen, wie das passiert sein konnte. Der Traktor durchbricht den Zaun fast im rechten Winkel und kippt dann nach vorne. Der Fahrer muss dabei aus dem Sitz geschleudert worden sein. Vielleicht ist der dann genau dort liegen geblieben, wohin der Traktor, nachdem er mit der Schnauze voran aufschlug, umgekippt ist. Wäre der alte Mann auf die andere Seite geschleudert worden, würde er wahrscheinlich noch leben. Scheußlicher Tod. Aber, ich bin nicht hier, um die Arbeit des Maresciallo zu machen, sondern um ein schönes Wochenende zu verbringen, dachte er sich. Die Küche Südtirols soll ja auch ganz gut sein, obwohl, in Rom …, seufzte er innerlich.

Das Gasthaus Zur Brücke lag wirklich an einer Brücke, die einen Gebirgsbach überspannte. Sie war sehr alt und wahrscheinlich für den gemütlichen Lastverkehr mit dem Ochsenkarren konzipiert. Die Breite der Brücke war durch die enge Bauweise der direkt an sie grenzenden Häuser bestimmt. Eines davon war das Gasthaus. Im Gastraum dominierte Holz. Gemütlich sah es aus. Es gab auch eine lange Theke, so wie Fameo es von Rom kannte, um mal eben einen Espresso zu sich zu nehmen oder ein Glas Wein. An kleinen Tischen saßen Männer verschiedenen Alters. Die Älteren trugen blaue Schürzen.

Vor ihnen stand ein Glas Wein. Als er den Raum betrat, verstummten die Gespräche kurz und die Männer musterten ihn.

Dann setzte das Gespräch wieder ein. Man sprach Deutsch, oder besser einen Dialekt, der dem Deutschen glich. Fameo hatte einen bayerischen Onkel, der Bruder seiner Mutter. Der sprach ähnlich. Also grüßte Fameo in die Runde mit einem bayerischen »Grüß Gott!« und alle grüßten ganz normal zurück. Wie der Maresciallo gesagt hatte, besser, man sprach Deutsch hier oben. Fameo setzte sich an einen freien Tisch und ließ sich die Speisekarte bringen. Er hatte einen Mordshunger. Als Hauptgericht würde er das Ossobuco nehmen, das stand fest, aber er schwankte beim Vorgericht zwischen Penne mit Pesto und der kalten Gemüsesuppe, Gaspacho. Er entschied sich für die kalte Suppe. Wegen der Hitze. Zum Fleischgang bestellte er einen Lagrein Dunkel. Den kannte er schon aus Bozen und fand ihn nicht schlecht. Mit dem Wasser brachte man ihm einen »Gruß aus der Küche«, mit Bärlauch und Ricotta gefüllte Ravioli, leicht mit brauner Butter überzogen und hübsch auf einem großen weißen Teller serviert. Das ließ sich gut an, dachte er. Schon im Dorfgasthaus, in dem viele Einheimische verkehren, wird man mit einem Gruß aus der Küche verwöhnt. Fameo fühlte sich wohl. Das Wochenende konnte beginnen. Das Quartier war in Ordnung, die Versorgungsfrage gelöst, jetzt brauchte er nur noch Unterhaltung.

Vielleicht erfuhr er hier im Gasthaus, was hier am Wochenende abging. Er stellte seine Ohren auf Lauschposition. Er brauchte einige Zeit, bis er sich in den Dialekt eingehört hatte. Auch war es ihm nicht möglich, alles zu verstehen. Aber die Stimmung war eher betrübt, so viel konnte er verstehen. Man sprach über den Unfall des Maier Sepp. Den Unfall mit dem Traktor. Einer meinte etwa, dass der Sepp in letzter Zeit eh schlecht ausgesehen habe. Ein anderer widersprach. Man war sich nicht einig, ob der Sepp ein schwaches Herz gehabt habe.

»Nie hat der ein schwaches Herz gehabt. Der Doktor hat immer gesagt, den Sepp müsse man totschlagen, so gesund sei der.

Das hat der Sepp immer erzählt. Ich glaub nicht ans Herz.« Der andere erwiderte: »Ja was glaubst du denn dann? Weißt es eh wieder besser.« Die übrigen aus der Tischrunde nickten zustimmend. Der nicht an das Herz glaubte, sagte: »Werdet es schon sehen. Das war kein Unfall, nie war das ein Unfall. Und das Herz war es auch nicht. Den haben’s fertigmachen wollen, jawoll, ich sag’s euch, fertigmachen haben’s den wollen. Und geschafft haben sie’s auch.« Die Nachbarn schüttelten den Kopf. »Geh weiter, du alter Narr. Was redest da für einen Unfug? Wer hätt’ denn dem Sepp was antun wollen? Du spinnst dir was zusammen.« Der Angesprochene schaute finster in die Runde: »Ihr wisst doch alle, dass mit dem Sepp nicht gut auskommen war. Ewig hat der mit allen Nachbarn gestritten. Mal war’s die Grenze, mal war’s das Vieh, immer hat der herumprozessiert mit allen. Tät mich nicht wundern, wenn es einem da mal zu viel geworden ist. Dem Nachbarn in Nals hat er das Wasserrecht streitig gemacht. Dem ist doch die Ernte im letzten Jahr am Stamm vertrocknet. Also wenn der keine Wut auf den Sepp gehabt hat! Und wie der mit seinen Leuten umgegangen ist. Alle haben nur schuften müssen. Glaub nicht, dass der auch nur einen Gedanken an deren Zukunft verschwendet hat.« Die anderen am Tisch murrten, aber nickten zustimmend. Man war sich einig, dass man sich um die Frauen kümmern müsse, wo jetzt der Sepp nicht mehr da sei. Und ob der Bruder wohl zur Beerdigung kommen werde, fragte man sich.

Und ob die beiden vorher in Frieden auseinandergegangen seien. »Der Bruder hat’s doch auch nicht bei ihm ausgehalten.

Fort ist er, sobald er hat können. Und nie haben wir ihn wieder gesehen.« Und Fameo erfuhr so auch, dass die Beerdigung am kommenden Montag sei. Na, dann bin ich ja schon wieder weg, dachte er gerade, als seine Suppe serviert wurde. Eine kalte Tomatensuppe mit Einlagen von frischem Gemüse, garniert mit einem Kranz aus frisch aufgeschnittenen Cocktailtomaten. Dazu gab es kleine, mit Knoblauch eingeriebene und mit Olivenöl beträufelte warme Weißbrotecken. Lecker! Über dem Genuss vergaß Fameo auf die Gespräche zu achten. Und so merkte er auch nicht, dass sich ihm langsam und vorsichtig ein alter Mann näherte, der vor seinem Tisch zu stehen kam, als er gerade die Suppe beendet hatte. Als er aufblickte, schaute er in das Gesicht des alten Mannes, den er als Ersten neben der Burg getroffen hatte. Er lächelte Fameo etwas linkisch an.

Fameo begriff nicht, was er von ihm wollte und ob er etwas von ihm wollte. Allerdings registrierte er die Blicke der anderen Dorfbewohner, die die Situation − wie es schien − amüsiert betrachteten. Der Wirt erschien und wollte den Teller abräumen. Er stockte kurz, wand sich an Fameo und fragte, ob es geschmeckt habe. Dabei drängte er den Alten bewusst etwas zur Seite. Dies allerdings eher vorsichtig und mit einer gewissen Zurückhaltung. So als wolle er ihm sagen, dass er den Gast nicht stören solle, aber ansonsten hierbleiben könne. Schließlich sprach der Wirt den Alten an: »Georg, magst eine Brotzeit?« Der Alte nickte, wand aber nicht den Blick von Fameo.

»Magst dich da hinübersetzen?« Der Wirt zeigte auf einen Tisch in der Nähe der anderen Einheimischen. Der Alte reagierte nicht. Er schaute Fameo einfach nur weiter an. Der Wirt schien bemüht zu sein, Fameo eine Belästigung durch den Alten zu ersparen. Er behandelte diesen aber mit Respekt.

Anscheinend gehört der Alte irgendwie dazu, dachte Fameo.

Und eigentlich habe ich hier noch keinen weiteren Kontakt geknüpft. Also, was soll`s, dachte er und sagte zu dem Alten: »Wenn Sie mögen, können Sie sich auch gerne zu mir setzen«, und unterstrich seine Worte noch mit einer einladenden Handbewegung. Die abwehrende Geste des Wirts und die unmittelbar folgende Annahme des Angebots durch den Alten