Wut kommt selten allein - Ralph Neubauer - E-Book

Wut kommt selten allein E-Book

Ralph Neubauer

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Beschreibung

Irrungen und Wirrungen der menschlichen Gefühlswelten, narzistische Verstrickungen, Verblendung und mörderische Wut sind Zutaten dieses Krimis. Gibt es einen Mord ohne Motiv? Schwer vorzustellen für Commissario Fabio Fameo und seinen Freund Carabiniere Tommaso Caruso. Beide ermitteln in verschiedenen Fällenund doch gibt es Verbindungen, die spät, sehr spät, ans Licht kommen. Die Ermittler begegnen auf ihrer Suche nach den Zusammenhängen der bunten Welt des Schauspiels, in der Gefühle professionell dargestellt werden. Aber was, wenn die auf der Bühne dargestellte Wut der Realität beängstigend nahekommt? Die Leser bewegen sich mit den Figuren des Krimis durch das Südtiroler Unterland und besuchen Kaltern, Neumarkt, Tramin und Altrei. Teile der Handlung spielen in Dorf Tirol, in Lana, Tisens und Prissian. Außerdem machen wir einen gedanklichen Abstecher in das bayerische Landshut.

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Für Niclas

Inhaltsverzeichnis

Kapitel Null

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Epilog: Neun Monate später

Null

Er spürte nichts, als es ihm geschah. Auf seiner Netzhaut war das Bild eingebrannt, das er nicht verstanden hatte. Etwas war auf ihn zugeschossen und dann war da nichts mehr. Nur noch das Nichts.

Es war wahnsinnig schnell gegangen. Dieser Ruck, diese Kraft. Kurz zuvor war er noch auf der Jagd. Er hatte Witterung aufgenommen, er hatte sich gute Chancen ausgerechnet. Adrenalin war in sein Blut geschossen.

Und jetzt – jetzt war er mausetot.

Hätte er zuvor ahnen können, was ihm zustoßen würde?

Nein.

Das hätte sich niemand vorstellen können.

Eins

Fabios Gedanken rankten sich um das anstehende Renovierungsprojekt. Die Fenster mussten alle erneuert werden. Denkmalgerecht. Nicht einfach die alten rausnehmen und neue Fenster rein. »Nein! So geht das nicht«, hatte man ihm mitgeteilt. Die Denkmalbehörde ist nicht leicht zu verstehen. »Die alten Fenster habt Ihr doch auch akzeptiert und das über viele Jahre. Jetzt soll ich diese sauteuren Fenster einbauen lassen, bloß weil es der Denkmalschutz will? Ich verstehe nicht, warum das bei mir jetzt gilt, aber vorher keinen interessiert hat«, hatte er getobt.

Aber genützt hat es nichts.

»Da hat halt früher einer nicht hingesehen. Kann sein. Aber wir sehen hin. Sie werden sehen, das sieht dann auch toll aus, wenn die Fenster zum Baudenkmal passen«, hatte man ihm noch mit auf den Weg gegeben.

Es gab solche Fenster nicht von der Stange. Die mussten alle einzeln angefertigt werden. Alles war vorgeschrieben. Maße, Material, alles halt. Der Fensterbauer hatte dann eine Kalkulation gemacht. Die Summe hatte Fabio erschauern lassen.

»Dafür bekommt man ein ganzes Haus«, hatte er Elisabeth gegenüber geächzt.

»Aber nur ein ganz kleines«, hatte seine Frau darauf geantwortet. Sie war die Nüchternere von ihnen beiden. Sie hatte auch keine Sorgen, dass es nicht klappen könnte, als sie sich vor knapp zwei Jahren entschlossen hatten, den Ansitz Esser zu kaufen. Ein riesiges Baudenkmal, dessen Grundmauern wahrscheinlich bereits im späten 14. Jahrhundert gelegt worden waren. Elisabeth hatte bereits Kontakt mit einem Heimatforscher aufgenommen. Gemeinsam wollten sie die Geschichte des alten Ansitzes erforschen. Elisabeth hatte sich in das alte Gemäuer verliebt.

Fabio war zunächst wenig begeistert, denn niemand konnte wissen, welche Kosten noch auf sie zukommen würden. Ein Neubau wäre leichter zu kalkulieren gewesen. Aber Elisabeth wollte unbedingt dieses historische Gebäude. Auch die Größe schreckte sie nicht. Im Gegenteil. Sie liebte diese Häuser. Groß, mit Charakter und mit Geschichte. Beim Erwerb hatten Fabios Eltern eine Geldspritze dazugegeben, sodass der Ankauf schnell perfekt war. Die folgende Innenrenovierung war dann aber schon eine echte Herausforderung. Bis Teile des Erdgeschosses und der ersten Etage so hergerichtet waren, dass die kleine Familie dort einziehen konnte, hatte es dann fast ein Jahr gedauert. Aber selbst ihr Sohn, Laurin, fühlte sich durch die Bauarbeiten nicht gestört. Für ihn war das Haus ein einziger riesengroßer Spielplatz.

Die Küche, gleich rechts vom Eingang, war den Handwerkern wirklich gut gelungen. Fabio und Elisabeth hatten Glück gehabt und die Wandvertäfelung eines alten, dem Abbruch geweihten Bauernhauses kaufen können. Die Restauratoren bauten diese Tafeln so in die Küche ein, als wären sie schon immer hier gewesen. Auch die Holztafeln der Decke stammten aus dem alten Gehöft.

In dieser Küche saß Fabio, nippte an seinem Morgenkaffee und grübelte über die Frage, wie zum Teufel er diese denkmalgerechten Fenster bezahlen sollte.

Seine Gedanken unterbrach der Klingelton seines Handys. Die Bereitschaft der Questura.

»Wo, sagen Sie? … Falknerpromenade? … Ja, kenne ich. Tirol. Ist sonst niemand da? … Nein – na gut. Ich fahr hin.«

Elisabeth schaute ihn fragend an. Sie hatte gerade noch Fabios Gedanken von seiner Stirn abgelesen, was nicht schwer war, denn ihr Mann redete seit Tagen von nichts anderem als von den Finanzierungsschwierigkeiten. Aber was für eine Information er durchs Telefon erhalten hatte, das verriet ihr seine Stirn nicht.

»Ich muss los. Sie haben einen Toten gefunden. In Dorf Tirol auf der Falknerpromenade.« Während er sprach, tippte er die Nummer von Tommaso in sein Handy.

»Morgen Tommaso, ich muss zu einem Toten in Tirol. Kann dich also heute nicht mitnehmen. Oder willst du mitkommen? … Nein? … Ja, heute Abend nehme ich dich wieder mit.«

Fabio und Tommaso hatten seit Jahren eine Fahrgemeinschaft. Und Fabios kleine Fulvia hatte sich daran gewöhnt, den gewaltig großen Tommaso aufzunehmen. Die drei waren ein gutes Gespann.

»Weiß man schon Genaueres?«, fragte Elisabeth, als sich Fabio die Jacke griff.

Er schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Die Meldung kam gerade rein. Wir wissen nur, dass ein Toter gefunden worden ist. Das ist erst mal alles.« Fabio streichelte seinem Sohn über den Kopf und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Laurin schaute seinen Papa an und fragte: »Fängst du jetzt den Mörder?«

»Bestimmt tue ich das. Aber nur, wenn es einen Mörder gibt. Vielleicht ist der Mensch auch einfach so gestorben. Das werde ich bald wissen.«

Fabio fragte sich, ob Polizistenkinder eine andere Wahrnehmung von der Welt bekommen als andere Kinder.

Elisabeth nahm ihn in den Arm. »Mach dir nicht so viel Sorgen. Das wird schon alles.« Aufmunternd kniff sie ihm in die Wange.

Laurin rief »Sorgen, Morgen, Borgen« und lachte dabei.

»Wie recht er doch hat«, dachte Fabio. »Ich habe Sorgen, auch noch morgen, und das Geld muss ich mir borgen.« Aber innerlich grinsen musste er auch.

*

Mit der Fulvia war es ein Katzensprung bis Tirol. »Die Leute sagen immer ›Dorf Tirol‹«, sinnierte er. Wahrscheinlich dann, wenn sie den Ort meinen und nicht die alte Grafschaft, um Verwechslungen auszuschließen. Aber richtig heißt der Ort eben ›Tirol‹.«

Ohne Tommaso an Bord der schmalen leichten Fulvia fuhr sich der Wagen richtig flott. »Ich müsste mir mehr Zeit nehmen, diese kleine Rennsemmel auszufahren«, überlegte Fabio. Seine Tagträume entführten ihn auf die Mendelstraße, auf der sich dieser Wagen bestimmt gut auskannte. Der Vorbesitzer war damit bei den frühen Mendelrennen gefahren. »Die finden zwar nicht mehr statt, aber ich könnte ja mal …«

Die Tagträume wurden durch die Ankunft in Tirol beendet und Fabios Aufmerksamkeit wandte sich seiner Aufgabe zu. Er wollte zu dem Toten auf dem Falknerweg. Er musste den Wagen auf der Hauptstraße parken und einige Schritte zu Fuß gehen. Der Falknerweg führte von der Hauptstraße direkt Richtung Schloss Tirol und war als reiner Fußweg ausgewiesen.

Fabio konnte schnell erkennen, wo er hin musste. Eine kleine Ansammlung von Personen stand um einen Menschen herum, der am Boden lag. Die Sanitäter waren zwar noch da, hatten aber offensichtlich schon festgestellt, dass sie hier nicht mehr helfen konnten. Sie hatten ihre Koffer schon gepackt und wirkten abmarschbereit.

Er zeigte seinen Ausweis und ohne Umschweife informierte ihn einer der Sanitäter: »Der Mann ist tot. Kann man nichts mehr machen. Ich sehe keine Verletzungen. Wie es aussieht, ist er an dieser Stelle zusammengebrochen. Ist ungewöhnlich, denn der Mann ist jung und sieht gesund aus. Aber kann immer mal passieren … Wir sind hier jedenfalls fertig und wollen jetzt gehen. Brauchen Sie uns noch?«

Fabio entließ die Sanitäter und ging zu dem Toten. Da lag ein junger Mann, bekleidet mit einer kurzen Sporthose, einem Funktions-T-Shirt und Laufschuhen. »Ein Jogger … Kollaps«, überlegte Fabio. Er bückte sich und betrachtete Gesicht, Schulterpartie, Rumpf und Beine. »Kein Blut. Keine offensichtliche Verletzung.«

Er stand auf. »Wer hat den Mann gefunden?«, fragte er in die Runde.

Eine Frau im Jogginganzug trat vor. »Ich … ich habe ihn gefunden.«

»So, wie er hier lag?«

»Ja.«

»Von wo sind Sie gekommen?«

Sie zeigte hinter sich in Richtung Schloss Tirol. »Ich bin von dort gekommen. Und da habe ich den Mann hier liegen sehen. Ich habe ihn angesprochen und als er sich nicht gerührt hat, habe ich ihn angestupst. Aber er hat sich nicht bewegt. Dann habe ich die Rettung angerufen.«

»Wie ist Ihr Name?«, Fabio zückte seinen Block und einen Stift.

»Mein Name ist Margarete Mannhall«, sagte die Joggerin und Fabio nahm Ihre Personalien auf. »Das hier ist meine Chefin«, sie deutete auf eine junge blonde Frau, »und das sind Kolleginnen von mir«.

Margarete Mannhalls Blickrichtung zeigte Fabio, wen sie damit gemeint hatte.

»Daniela Marini«, stellte sich die Frau vor, welche die Joggerin als ihre Chefin bezeichnet hatte. »Unserer Familie gehört das Hotel, gleich hinter uns. Wir stehen sozusagen direkt an unserem Garten. Frau Mannhall hat uns angerufen und die Situation geschildert. Da sind wir natürlich raus, um zu sehen, ob wir helfen können.«

Fabio notierte sich den Namen.

Daniela Marini fuhr fort: »Frau Mannhall arbeitet bei uns als Masseurin. Sie läuft jeden Morgen diese Strecke.« Ihr Blick schien dem Laufweg zu folgen. »Das ist schrecklich, dass so ein junger Mann hier einfach zusammenbricht.«

»Aber Sie haben nichts gesehen, bemerkt, oder ist Ihnen etwas aufgefallen?« Die Frage richtete sich an die Hotelchefin und die anderen beiden Frauen. Alle schüttelten den Kopf.

Eine der beiden Kolleginnen der Joggerin sagte: »Ich habe den Mann noch nie gesehen.«

Die andere meinte: »Er ist nicht vom Dorf. Wahrscheinlich ein Gast.«

»Kann ich bitte gehen? Mir ist ein wenig übel.« Das war die Joggerin.

Fabio nickte, und die beiden Frauen nahmen ihre Kollegin in die Mitte und gingen mit ihr den kurzen Weg zum Hotel. Die Hotelchefin blieb.

Fabio hatte alle Personalien aufgenommen und machte jetzt Fotos vom Auffindeort. Dabei fiel ihm eine Büste auf, die nicht weit von der Leiche auf dem Weg stand. Sie zeigte den Namensgeber des Weges, Hans Norman Falkner. Man konnte auch das Geburtsjahr und das Jahr seines Todes lesen. Automatisch rechnete Fabio das Lebensalter aus. »Von 1906 bis 1988 … dann ist er 82 Jahre geworden«, murmelte er.

»Ja, der Herr Falkner hat den Weg hier finanziert und das Denkmal auch. Er war auch berühmt«, antwortete Daniela Marini, so, als hätte Fabio danach gefragt.

»Ach ja? Nie von ihm gehört.«

»Er hat als Bergführer gearbeitet. Er war an der Rettungsaktion beteiligt, nachdem Auguste Piccard in den Ötztaler Alpen notlanden musste.«

»Auguste Piccard?«

»Das war ein berühmter Forscher, der sich als erster Mensch mit einem Ballon in die Stratosphäre hat tragen lassen. Das war 1931. Und als er am Gurgler Ferner notgelandet war, hat Hans Falkner ihn gerettet. So ist auch er berühmt geworden.«

»Sie sind ja ein wandelndes Lexikon.« Fabio war amüsiert, hier noch ein wenig Wissen einheimsen zu können.

»Ich gehöre zur Marini-Familie, die das Hotel betreibt. Da muss ich schon wissen, was es mit dem Weg auf sich hat, der die Grenze zu unserem Garten bildet.«

Fabio blickte auf die notierten Personalien auf seinem Block. »Wer gehört denn noch zur Familie?« Er wusste gar nicht, warum er das fragte. Wahrscheinlich nur, um die Zeit bis zum Eintreffen des Leichenwagens zu überbrücken.

Daniela wollte gerade antworten, als ein großer Hund angelaufen kam und an der Leiche schnüffeln wollte.

Fabio machte eine Bewegung mit dem Fuß, aber der Hund blickte ihn nur von unten an und knurrte leicht. Es schien keineswegs so, als wolle er sein Vorhaben, die Leiche zu beschnüffeln, unterbrechen. Ein Mensch, zu dem der Hund gehörte, war nicht zu sehen.

»Kennen Sie diesen Hund?«, fragte Fabio.

Daniela verneinte. »Hier auf dem Falknerweg werden sehr viele Hunde ausgeführt. Frauchen oder Herrchen werden sicher bald um die Ecke biegen … Wir haben hier im Dorf das erste Hundehotel im Land. Das war eine Idee, die damals exotisch anmutete. Aber die Nachfrage ist groß.« Im nachdenklichen Ton fügte sie hinzu: »Touristisch ist das schon ganz gut, aber den Bauern ist es halt nicht recht.«

»Wegen der Hinterlassenschaften … nehme ich an«, meinte Fabio, der Mühe hatte, den Hund davon abzuhalten, weiter an der Leiche zu schnüffeln. Der Hund war groß, dunkel und sah nicht freundlich aus. »Was mache ich bloß, wenn das Vieh nicht von der Leiche ablässt«, fragte er sich, als ein groß gewachsener schlanker Mann mit einer Leine in der Hand lässig des Weges kam. Der Mann beachtete die junge Frau und Fabio nur flüchtig, ging an den beiden vorbei, pfiff kurz und der Hund ließ von der Leiche ab und trottete weiter voran, Richtung Schloss Tirol.

»Der hat überhaupt nicht realisiert, dass hier ein Toter auf dem Weg liegt.« Fabio war ein wenig fassungslos. »Der war mit seinen Gedanken ganz woanders. Und den Hund hatte er nicht im Blick.«

Daniela Marini sah, dass Fabio irritiert war. Der Hundemann war bereits außer Rufweite. »Wollen Sie immer noch wissen, wer alles zur Marini-Familie gehört?«, fragte sie vorsichtig.

»Ja. Ja, gerne.« Fabio wandte sein Gesicht zu ihr, aber seine Gedanken drehten sich immer noch um die Art und Weise, wie der Hundemann reagiert hatte.

Daniela wollte gerade ansetzen zu erzählen, dass ihre Eltern das Hotel gegründet und über die Jahre erweitert hatten, dass sie und ihre Schwester Isabel nun zusammen mit den Eltern das Hotel leiteten, als Fabio fragte: »Kann es sein, dass hier auch andere Hundehalter zu so früher Stunde entlanggehen? Ich meine, Ihre Masseurin ist ja sehr früh unterwegs, wenn sie ihre Runde läuft. Gibt es zu so früher Stunde auch Menschen, die hier regelmäßig ihre Hunde ausführen?«

Fabio hatte diese Frage zwar laut gestellt, aber die Frage richtete sich nicht direkt an Daniela, sondern spiegelte Fabios spontane Idee, dass es vielleicht doch weitere Zeugen geben könnte, die etwas gesehen oder bemerkt haben könnten. Er wandte sich Daniela zu, die noch gar nichts gesagt hatte: »Ich meine, wenn Sie das eben gesehen haben. Da ist dieser Mann einfach an der Leiche vorbei und hat weder die Leiche, noch uns wirklich bemerkt. Er hat nicht einmal bemerkt, dass mich das Verhalten seines Hundes gestört hat.«

»So was habe ich öfter beobachtet. Meiner Meinung nach wollen manche Halter nicht so gerne auf ihre Hunde angesprochen werden. Es gibt ja viele, die ihre Tiere nicht im Griff haben, und die gucken dann eben weg und tun so, als hätten sie nichts gesehen. Es gibt natürlich auch viele, die gehen vorbildlich mit ihren Hunden um. Da gibt es nichts zu kritisieren.«

Daniela wog ab, beschrieb ihre Wahrnehmung, wertete nicht.

Fabio fragte: »Sind in Ihrem Hotel Hunde erlaubt?«

Daniela lächelte leicht. »Nein. Wir erlauben keine Hunde.«

Fabio nickte.

Es entstand eine Pause. Der Leichenwagen ließ auf sich warten. Fabio war froh, nicht alleine auf die Leiche aufpassen und Hunde abhalten zu müssen.

Er schaute sich um. Außer ihm, Daniela und dem toten jungen Mann war jetzt niemand mehr da. Es war anscheinend noch zu früh, um hier spazieren zu gehen – ausgenommen Hundehalter. Der Blick vom Falknerweg war grandios. Man blickte ins Vinschgau hinein, zur anderen Seite weitete sich das große Etschtal. Mit ein bisschen Mühe konnte er das Mittelgebirge von Tisens ausmachen. »Dort wohne ich«, sagte er und zeigte in die Richtung, in die sein Blick ging. »Allerdings ist Prissian nicht wirklich gut zu erkennen«, fügte er hinzu.

Daniela hörte interessiert zu. »Prissian, sagen Sie? Das kenne ich auch.«

»Ich habe dort den Ansitz Esser gekauft. Vor einem Jahr …«, hörte sich Fabio sagen. Gleichzeitig fragte er sich, warum er einer wildfremden, wenn auch sympathischen Frau, das alles erzählte.

Daniela dachte nach. »Ansitz Esser, ja, davon habe ich gehört. Wurde dort nicht der Ritter Oswald von Wolkenstein gefangen gehalten?«

Fabio horchte auf. »Der, nach dem der Ritt benannt worden ist?«

»Der Ritt?«

»Ja, der Oswald-von-Wolkenstein-Ritt, ein großes, sportlich sehr anspruchsvolles Reitspektakel in Seis, Kastelruth und Völs. Findet jedes Jahr Ende Mai statt. Nie davon gehört?«

»Doch, doch, aber wenn Sie ein Hotel leiten, haben Sie außer im Winter keine Zeit für so was. Nur im Winter ist hier im Dorf nichts los. Alle haben geschlossen, viele machen dann Urlaub. Sobald die Saison beginnt, geht es rund um die Uhr, ohne Feiertage und Wochenenden. Selbst wenn der Ritt direkt neben uns stattfinden würde, hätten wir Ende Mai kaum Zeit, ihn zu besuchen. Aber interessant, dass Oswald auch hierfür Namenspatron war.«

»Und Sie meinen, dass Oswald auf dem Ansitz Esser gefangen gehalten worden ist?«

»So genau weiß ich das nicht. Aber Oswald war ja nicht nur Ritter, sondern auch Minnesänger. In einem seiner Lieder hat er seine Gefangenschaft in der »Fall« beschrieben. Gemeint war mit der »Fall« wahrscheinlich die Fahlburg. Die liegt ja direkt neben dem Ansitz Esser, wenn ich das richtig erinnere.«

Fabio bestätigte das: »Ja, aus dem Fenster der alten Selchküche sehen wir direkt auf die Fahlburg. Die liegt etwas oberhalb.«

Daniela referierte weiter: »Also Oswald war wohl ein rauer Geselle und mit fremder Leute Eigentum ging er nicht zimperlich um, deshalb hatte er wohl auch Schulden. Darum nahm man ihn gefangen, kerkerte ihn ein und folterte ihn, damit er Papiere unterzeichnete, die seine Schuld dokumentieren sollten. Das soll auf der Fahlburg geschehen sein. Der Ansitz Esser war damals, ich glaube es war im Jahr 1421, als Oswald gefangen gehalten worden war, möglicherweise auch Gefängnis. Das ist ganz interessant, denn am Prissner Bach entlang gibt es einige interessante Gebäude. So auch der Ansitz Lidl, wahrscheinlich früher auch Gerichtssitz. Und der Ansitz Esser passt in diese Linie. Es kann daher gut sein, dass Oswald auch im Ansitz Esser eingekerkert war, zumindest für eine Zeit. Denn die Herrschaften nahmen nur ungern Gefangene in ihrem Schloss auf, wenn es ein passendes Gelass in der Nachbarschaft gegeben hat. Genaues weiß ich aber nicht. Das müsste man einmal erforschen.«

Fabio nickte anerkennend: »Sie wissen sehr viel. Vielen Dank. Das werde ich alles meiner Frau erzählen. Sie beschäftigt sich seit dem Erwerb des Ansitzes mit seiner Geschichte. Wenn ich mir die Keller so anschaue, kann ich mir durchaus vorstellen, dass sie auch als Zelle gedient haben könnten.«

Daniela machte Anstalten sich zu verabschieden. Es gab keinen Grund, die junge Hotelchefin noch länger mit Beschlag zu belegen. Sie ging, nicht ohne eine Einladung auszusprechen, einmal auf einen Kaffee vorbeizuschauen: »Unsere Terrasse bietet bei klarer Sicht einen tollen Ausblick über das ganze Etschtal und in den Vinschgau hinein. Bringen Sie doch Ihre Frau mit. Sie sind herzlich eingeladen.«

Fabio hatte jetzt Muße, den Blick zu genießen. Schloss Tirol war zu sehen. »Hier joggt die Masseurin also jeden Morgen«, dachte Fabio. Sein Blick überflog die Szene. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass es sehr intensiv nach Rosmarin duftete. »Merkwürdig, dass unsere Sinne so Manches ausklammern, obwohl es sehr präsent ist.« Aber den Duft nahm er erst jetzt wahr. In der Ruhe. Als er noch mit allen gesprochen hatte, war er dazu nicht in der Lage, obwohl er genauso intensiv war. Fabio ließ die Blicke schweifen, atmete jetzt bewusst und genoss die frühe Morgensonne. »Ein wirklich schön gestalteter Weg«, dachte er und betrachtete die Pflasterung aus kleinen rotbraunen Steinen. Als eine Art Relief waren Metallplättchen im Muster von Ginkgoblättern eingelassen. »Aufwendige Gestaltung«, dachte er, »Schöne Laternen haben sie hier auch.« Er nahm die bronzefarbenen Laternen mit ihren schön geformten Leuchtkörpern in den Blick, die hier in regelmäßigen Abständen den Weg säumten. »Nachts gibt das bestimmt ein besonders schönes Licht«, überlegte er, »Tirol ist ja auch eine Touristenhochburg. Da müssen sie schon was tun.«

Fabios Gedanken wurden durch die Ankunft der Leute vom Bestattungsinstitut unterbrochen. Er verfügte noch, dass die Leiche zunächst in das Pathologische Institut gebracht werden solle. »Soll Dr.  Phillipi sich die Sache einmal ansehen. Ich möchte schon wissen, warum ein so junger Mann plötzlich tot umfällt.«

Ein Problem gab es noch. Der junge Mann hatte keine Papiere dabei und den Zeugen war er auch nicht bekannt gewesen. Fabio nahm an, dass er in einem der vielen Hotels und Pensionen sein Quartier gehabt hatte. Dort würde man ihn sicher bald vermissen und dann eine Vermisstenanzeige stellen. Fabio hatte deshalb zur Sicherheit ein Foto vom Gesicht des Toten gemacht, auch um es möglicherweise in die Zeitung setzen zu lassen: »Wer kennt diesen Mann?« Aber er rechnete nicht damit, dass dies notwendig sein würde.

*

Zurück im Büro in der Questura in Bozen griff sich Fabio einen der langweiligen Fälle. Dies nur, weil er nicht so recht wusste, was er sonst tun sollte. »Das ist hier schon ein echter Gemischtwarenladen«, dachte er. Es gab immer mal wieder Fälle von Diebstahl, die schon ein wenig eigenartig waren. Hier zum Beispiel wurden Bienenvölker gestohlen. Das kommt schon vor, dass sich die Imker Bienenvölker gegenseitig stehlen. Mit mehr oder weniger großer Absicht. Aber dieser Fall ist schon eine Nummer größer. Denn es wurden nicht einzelne Völker aus einer größeren Anzahl von Völkern gestohlen, sondern ganze Völkerscharen. So, als fahre jemand mit einem Lkw durch die Lande und stehle die Bienenkörbe, wo er sie vorfindet.

Als Fabio über den wenigen Details grübelte, die vor allem Eduard in der Akte notiert hatte, rief ihn Carlotta zum Chef. Carlotta war die Seele des kleinen Zirkels um den Vicequestore, Fabio und seine beiden Assistenten Eduard und Francesca.

Das, was der Vice mit ihm zu besprechen hatte, war nicht erfreulich:»Setzen Sie sich bitte.« Mit einer Geste wies er Fabio einen Platz in der Sitzgruppe seines Büros zu. »Es geht um Ihre Zukunft.« Der Vice machte eine Pause. Nicht um die Sache in die Länge zu ziehen. Er wusste, was er sagen wollte. Er brauchte die Pause, um das, was er soeben erfahren hatte, zu verdauen.

»Ich hatte einen Anruf aus Rom.« Er blickte Fabio an. »Man hat mir mitgeteilt, dass man meinen Platz demnächst neu besetzen möchte. Und Sie haben auch schon jemanden … Aber das sind leider nicht Sie.«

Fabio musste schlucken. Vor sieben Jahren war er nach Bozen abkommandiert worden. Blöde Geschichte damals. Die Versetzung war die Quittung dafür, dass er bestimmten Kreisen aus Politik und Wirtschaft mit seinen Ermittlungen in einer Korruptionsgeschichte zu nahe gekommen war. Damals hatte man ihm diese Versetzung in die Provinz damit zu versüßen versucht, dass man ihm die Stelle des Vicequestore in Aussicht gestellt hatte. Die sollte er bekommen, sobald der Amtsinhaber in Pension gehe. Und nun diese Ankündigung.

»Es kommt noch schlimmer, mein lieber Fameo. Sie haben mir gesagt, dass man für meine Nachfolge eine alte Bekannte ausgewählt habe: Carmelita Cantallielo.«

Fabio entfuhr ein gequältes: »Nein!«

»Leider doch.« Der Vice nickte. Seine Augen schossen wütende Pfeile ab.

»Wieso? Wieso die Cantallielo?«

Der Vice zuckte leicht mit den Schultern. »Schwer zu sagen … Vermutlich gehen Typen wie sie niemals ganz unter. Irgendeinen Förderer wird sie schon noch haben – auch nach der Sache damals.«

Der Vice spielte darauf an, dass die Cantallielo bereits vor knapp sieben Jahren ein »Gastspiel« als Vicequestorin in Bozen gegeben hatte. Er selbst musste damals – aus Gründen, die bis heute niemandem bekannt geworden waren – plötzlich seinen Posten räumen, um der Dame Platz zu machen. Fabio hatte mit dieser neuen Chefin seine liebe Not und war deshalb froh gewesen, dass sie nach einer Plagiatsaffäre schnell wieder abgezogen worden war. Danach hatte er nie mehr etwas von ihr gehört. Und jetzt diese Nachricht.

»Mein lieber Fameo, ich muss deshalb mit Ihnen sprechen. Sie waren der auserwählte Nachfolger, und ich persönlich weiß, dass Sie diesen Posten sehr gut ausfüllen werden. Wenn ich Anfang nächsten Jahres in den Ruhestand gehe, dann ist es nach dem Telefonat, dass ich soeben geführt habe, sehr wahrscheinlich, dass ›die Dame‹ an meiner Stelle eingesetzt wird … Ich habe derzeit nur eine Idee, wie ich das verhindern könnte.«

Da der Vice schwieg, fragte Fabio nach einer kurzen Pause: »Und welche?«

Der Vice blickte Fabio in die Augen: »Ich stelle einen Antrag auf Verlängerung meiner Dienstzeit. Zwei Jahre wären maximal drin … Rom könnte den Antrag ablehnen. Aber es wäre eine Chance, ›die Dame‹ vorerst zu verhindern. Ich möchte, dass Sie sich das durch den Kopf gehen lassen. Ich selbst hatte nicht vor, noch länger diesen Posten auszufüllen. Wenn Sie sagen: ›Lassen Sie den Dingen seinen Lauf‹, dann werde ich nichts dergleichen tun. Wenn Sie aber sagen: ›Lassen Sie uns alles versuchen, diese Chefin zu verhindern‹, dann fällt mir derzeit nur diese Lösung ein. Auch müssten Sie mich dann noch zwei weitere Jahre ertragen. Für den Fall, man bewilligt mir die Verlängerung, ist es auch nicht sicher, dass man Ihnen im Anschluss an diese Zeit den Rang des Vicequestore wirklich anträgt.«

Der Vice stand auf. Fabio tat es ihm nach.

Die beiden Männer standen einander gegenüber. Der Vice legte seinen rechten Arm auf Fabios Schulter: »Denken Sie in Ruhe darüber nach. Ich werde versuchen, herauszufinden, was dahintersteckt. Vielleicht erfahre ich noch Einzelheiten von Interesse. Dann sehen wir weiter.«

Fabio bedankte sich und ging.

Carlotta sah ihm an, dass ihn etwas bedrückte. »Schlechte Nachrichten?«

Fabio verharrte und überlegte, ob er Carlotta jetzt schon einweihen sollte. Er entschied, es noch nicht zu tun. Stattdessen griff er nach einer Notlüge: »Es ist wegen des Toten im Dorf Tirol. Der Vice scheint besorgt.«

Carlotta runzelte leicht die Stirn und dachte: »Lügen kann er nicht, der Fabio. Aber wenn er lügt, dann ist es etwas, was ihn persönlich betrifft. Da bohre ich jetzt nicht nach. Der kommt schon noch …« Sie lachte: »Ach, du machst das schon.«

Fabio nickte und ging.

*

Auf der Heimfahrt saß Tommaso, wie gewöhnlich, neben ihm in der Fulvia. Es tat heute besonders gut, den Freund an der Seite zu haben. Dieser spürte auch gleich, dass ihm etwas auf der Seele lag. Fabio berichtete von seinem Gespräch mit dem Vice.

Tommaso, der die ganze Geschichte mit der Cantallielo miterlebt hatte, meinte dazu nur: »Scheiße!« Diesen Ausdruck verwendete er sonst nie.

Sie schwiegen eine Zeit lang. Jeder war in seinen Gedanken versunken.

Fabio erinnerte sich an die Konflikte, die er damals mit Carmelita Cantallielo hatte: Wie sich die Dame mit dem falschen Doktortitel ihm gegenüber aufgespielt hatte, wie sie versucht hatte, seine Ermittlungen zu beeinflussen und ihn von wichtigen Schritten abzuhalten.

Tommaso erinnerte sich auch an die Dame. Wie sie über eine von ihr gelenkte Medienberichterstattung Stimmung erzeugen wollte, die ihrer Partei in die Hände spielen sollte. Er mochte solche Parteigünstlinge nicht. Menschen, die über Beziehungen auf Posten gehoben wurden und dort schnell Karriere machten. Leistung zählte da nicht, sondern nur unbedingte Treue und Zuverlässigkeit zur Partei oder zu bestimmten Personen in der Partei. Wenn es gelang, dann wurden diese Typen immer weiter nach oben durchgereicht. Die Arbeit derer, die etwas von dem Geschäft verstanden, wurden von diesen Günstlingen beeinflusst, gelenkt, sabotiert und – wenn es ihnen passte – in die Bedeutungslosigkeit geführt.

Fabio atmete durch und dachte: »Diese Gedanken schiebe ich jetzt zur Seite.« Er wandte sich an Tommaso: »Ich hatte heute eine Leiche. Und du?«

Tommaso verstand die Gründe des Themenwechsels. Jetzt war nicht die Zeit, Lösungen zu finden oder Ratschläge zu geben. Das Faktum musste zunächst verdaut werden. Man musste darüber schlafen. Lösungen finden sich. Er antwortete: »Ich habe auch eine Leiche. Aber schon etwas länger. Davon habe ich noch gar nichts erzählt.«

Fabio: »Ein Mord?«

Tommaso musste grinsen. Fabio hatte jetzt zwei Jahre lang keinen Mord mehr gehabt – nur Kleinkram. Tommaso wusste, dass das für seinen Freund nicht das Schlechteste war. Vor knapp zwei Jahren hatte er dieses alte Baudenkmal gekauft und war seither mit Umzug, Renovierung, Umbau ausgelastet. Einen anstrengenden Arbeitsalltag hätte Fabio in dieser Zeit gar nicht gebrauchen können. Aber Tommaso wusste auch, dass Fabio am liebsten Morde ermittelte. Weil man da tiefer in menschliche Abgründe blicken konnte, weil bei diesen Fällen oft archaische Gefühle eine Rolle spielten, weil es immer etwas mit dem zu tun hat, was verborgen in der menschlichen Seele schlummert. Das herauszufinden, machte seinem Freund Spaß. Deshalb war er gerne Polizist.

»Wahrscheinlich kein Mord. Wahrscheinlich ein Unfall … aber ein komischer Unfall.«

»Erzähl!« Fabios Interesse war sofort geweckt. »Du weißt doch, dass ich glaube, dass es viele unentdeckte Morde gibt. Viele Todesfälle sind eben nicht natürlich, sie wirken nur so. Es fehlt an ordentlich durchgeführten Leichenschauen. Wenn wir da aktiver wären, würden wir viele Todesfälle in einem anderen Licht sehen.«

Tommaso und Fabio hatten sich immer wieder darüber unterhalten, dass es höchst wahrscheinlich ist, dass insbesondere ältere Menschen von ihren Angehörigen auf perfide Weise zu Tode gebracht werden, ohne dass es wie ein Mord aussieht. Da gab es Stürze die Kellertreppe hinunter, die wie ein Unfall aussahen. Da gab es Vergiftungen, die wie ein Herzstillstand aussahen. Da ereigneten sich Unfälle in den Bergen, bei denen nachgeholfen worden war. Viele Todesfälle in Südtirol zögen Polizeiarbeit nach sich, würden die Toten öfter von einem sachverständigen Leichenschauspezialisten untersucht. Da waren sich die beiden Polizisten sicher. Auch Dr.  Phillipi, der Gerichtsmediziner, hatte ihnen zugestimmt. Aber der Arzt war der Einzige weit und breit, der sich auf diese Kunst verstand. Und er hatte mehr als genug Arbeit.

Tommaso berichtete: »Unsere Carabinieri haben in einem der Täler rund um Altrei eine weibliche Leiche gefunden. Das war vor drei Tagen. Es handelt sich um eine 65-jährige Frau aus Tramin. Ihr Name ist Maria Steinegger. Sie war keine besonders sportliche Frau, würde ich sagen. Aber wir fanden sie an einer Stelle, auf die man nur stürzen kann, wenn man zuvor einen Jägersteig hochklettert. Also, ich meine, richtig klettert. Es ist steil, der Weg ist nicht überall befestigt, einfach gefährlich für jemanden, der den Weg nicht kennt. Ich frage mich schon, wieso diese eher unsportliche Frau einen solchen Weg genommen haben könnte. Jedenfalls liegt die Vermutung nahe, dass sie ihn genommen hat.«

»Du glaubst nicht an einen Unfall?«

»Doch … schon … Sie hatte viele gebrochene Knochen, innere Verletzungen und war daran verblutet. Aber wieso ist sie da rauf? Das kann ich mir nicht erklären – und ihr Mann auch nicht.«

»Sie war verheiratet?«

»Mit Naz Nußbaumer. Einem der größeren Winzer in Tramin. Hat auch Ländereien in Montan und in den Tälern rund um Altrei. Er stammt aus Montan.«

Tommaso rieb sich die Stirn, so als müsse er seine Gedanken dahinter neu sortieren.

»Wir haben versucht, herauszufinden, von wo sie herabgestürzt sein könnte, und haben dann diesen alten Jägersteig gefunden. An einer besonders steilen Stelle fanden wir einen Gegenstand, den wir der Toten zuordnen konnten. Ein Fernglas. Das hat ihr gehört, hat ihr Mann gesagt. Diese Stelle ist wirklich gefährlich. Es geht von dem kleinen Pfad, der ins Gestein gehauen ist, steil bergab. Deshalb gibt es dort auch eine Sicherung mit einem Stahlseil, an dem man sich festhalten kann. Das Fernglas lag auf dem schmalen Weg. Ich frage mich, wieso gerade dort? Ich stelle mir vor, diese unsportliche Frau macht sich auf diesen nicht leicht zu gehenden Weg. Warum, wissen wir nicht. Sie hat ein Fernglas dabei. Der Weg wird sehr schmal und an seiner schmalsten Stelle geht es steil bergab. Da habe ich das Fernglas doch am Band um den Hals – oder? Dann hätte ich es nicht in der Hand, zumal ich mindestens eine Hand für das Stahlseil bräuchte. Lieber hätte ich dann beide Hände frei. Dann aber wäre das Fernglas bei einem Absturz nicht auf dem Weg zum Liegen gekommen, sondern es wäre mit in die Tiefe gestürzt. Wir haben es aber auf dem Weg gefunden. Also muss die Tote es in einer ihrer beiden Hände gehalten haben, bevor sie abgestürzt ist. Komisch, nicht wahr? Eine eher behäbige Frau geht ein hohes Risiko ein, wenn sie sich nicht gut an dem Stahlseil festhält, wenn sie schon unbedingt diesen Pfad nehmen will. Warum geht sie das Risiko ein?«

»Und was hast du veranlasst?«

»Das ist es ja. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass jemand nachgeholfen hat. Die Frau hatte sehr wahrscheinlich einen Unfall. Ich habe erst einmal erreicht, dass der Staatsanwalt die Leiche nicht freigegeben hat. Jetzt habe ich etwas Zeit. Denn mir gehen unsere Gespräche nicht mehr aus dem Kopf. Wenn wir die Leiche untersuchen lassen könnten, dann finden wir vielleicht etwas, habe ich mir gedacht.«

»Aber du kannst die Leiche nicht einfach so – ohne Verdacht – untersuchen lassen?«

»Ich muss schon etwas in der Hand haben. Dr.  Phillipi steigt mir aufs Dach, wenn ich ihm ständig neue Leichen liefere. Er weiß doch kaum noch wohin mit all der Arbeit. Sein Institut ist mehr als ausgelastet.«

»Und jetzt?«

Tommaso wiegte seinen Kopf leicht hin und her. Um seinen Mund bildeten die Gesichtsmuskeln ein Schmunzeln: »Nun, Dr.  Phillipi bildet doch jetzt auch Nachwuchs aus … und da habe ich ihm ein bisschen geholfen.«

»Du hast was?«

»Die Leiche ist nicht als Verdachtsfall bei ihm eingeliefert worden, sondern als Anschauungsfall für seine Studenten.« Tommaso machte ein unschuldiges Gesicht. »Die Frau ist fast 300 Meter tief gefallen. Nur gebremst durch Aufschläge auf Gesteinsvorsprüngen. Was glaubst du, wie die Leiche aussah? Da können Studenten doch viel lernen. Und, wer weiß? Vielleicht finden die ja was.«

»Du hast was? Ich glaub es nicht. Studenten schnippeln jetzt an ihr rum? Weiß das der Mann der Toten?«

»Nein. Er weiß es nicht. Er wollte, dass seine Frau eingeäschert wird – hat mir der Bestatter gesagt.«

»Die Leiche war schon beim Bestatter?«

»Nein, denn wir haben die Leiche erst einmal konfisziert. Aber den Bestatter kenne ich gut.« Tommaso schaute etwas verträumt aus dem Fenster der Fulvia. »Sie macht jetzt nur einen kleinen Umweg über die Pathologie, bevor sie eingeäschert wird. Weiß ja keiner.«

Fabio musste laut lachen. »Tommaso, Tommaso! Was soll ich sagen?«

»Nichts. Am besten nichts. Zu niemanden … Weißt du, wenn der Mann es nicht so eilig mit der Einäscherung gehabt hätte, wäre ich vielleicht gar nicht auf den Gedanken gekommen.«

»Du hast den Mann im Verdacht?«

»Nein … Ich fand es nur komisch. Da stürzt eine Frau zu Tode. Das kommt hier in den Bergen vor. Die Situation ist aber merkwürdig. Habe ich gerade beschrieben. Und der Mann scheint nicht zu trauern. Sagt mir der Bestatter. Und er will, dass die Leiche eingeäschert wird. Das ist hier in der Gegend eher selten. Da habe ich mir gedacht, vielleicht will der Mann etwas verbergen. Was auch immer, ich weiß es nicht. Und da fiel mir ein, dass Phillipi neulich erzählt hat, dass er Leichen zum Üben für seine Studenten braucht. Nun, vielleicht finden die ja was. Wenn nicht, wird keiner etwas merken. Denn der Asche kannst du nicht mehr ansehen, was dem Menschen angetan wurde.«

Fabio pfiff durch die Zähne. »Und was machst du, wenn die Studenten etwas finden?«

Tommaso grinste: »Ermitteln, was sonst?« Mit einem Blick auf Fabio: »Und deine Leiche?

»Ach, nichts Besonderes. Ein junger Mann ist beim Joggen zusammengebrochen. Keine Verletzung, keine äußeren Einwirkungen. Den habe ich zu Phillipi geschickt. Todesursache unklar und bei einem so jungen Mann auch ungewöhnlich. Muss abgeklärt werden. Aber ansonsten nur das Übliche. Wir wissen noch nicht, wer er ist. Warten ab, bis ihn jemand als vermisst meldet. Wird schnell gehen, hat wahrscheinlich in einem der Hotels in Tirol gewohnt. Ein Urlaubsgast wahrscheinlich … Da scheint mir deine Leiche interessanter zu sein.«

»Möchtest am liebsten ermitteln …? Aber nichts da, die gehört uns, den Carabinieri!«

Inzwischen hatte die Fulvia die steile Auffahrt nach Prissian hinter sich gebracht und der Wagen rollte langsam über die alte steinerne Brücke, die den Prissianer Bach überspannte.

»Du kannst mich hier raus lassen. Ich möchte noch ein bisschen zu Fuß gehen«, sagte Tommaso.

Fabio war es recht, denn er konnte dann sofort nach der Brücke rechts abbiegen, hinein in die kleine schmale Sackgasse an deren Ende der Ansitz Esser lag, sein denkmalgeschütztes Haus, dessen Fenster ihm derzeit Sorgen machten.

Zwei

»Wann ist denn jetzt die Beerdigung?« Zenz Nußbaumer wollte von seinem Vater wissen, ob der Termin zur Beisetzung seiner Mutter schon feststand. Ihm kam das überhaupt nicht gelegen, dass sie verunglückt war. Die Premiere seines Stückes ging ihm durch den Kopf. Anfang Juli würde sie stattfinden, und er hatte jetzt jeden Tag viel zu tun und konnte unmöglich fehlen.

Sein älterer Bruder Bartl schaute ihn verächtlich an. Ihn ärgerte Zenz’ Art schon immer. »Der denkt immer nur an sich. Immer nur daran, dass es für ihn passt.« Das war seine Einschätzung, soweit es seinen Bruder betraf.

Ihr Vater wirkte wie immer: unwirsch. Es schien, als mache es ihm nicht viel aus, dass seine Frau gerade mal drei Tage tot war.

Bartl wusste, eine glückliche Ehe war es nicht, was seine Eltern verbunden hatte. Vielleicht am Anfang. Aber es waren mehr der Hof, der Grund und das Geld, was die beiden zusammenhielt. Und jetzt war sie tot. Abgestürzt. Er konnte es nicht begreifen. »Was zum Teufel hat Mutter in diesen Bergen gewollt? Gut, sie kannte sich da ein wenig aus. Sein Vater kommt von dort. Er hat dort Grund. Keinen so guten, wie ihn die Mutter hier in Tramin gehabt hat«, überlegte Bartl. Er hing seinen Gedanken nach.

Die Mutter war Alleinerbin von 15 Hektar bester Weinlage in Tramin. Als sie heiratete, haben die Leute gesagt: »Da heiratet ein Waldbauer die Weinlage.« Für Naz Nußbaumer war die Heirat mit Maria Steinegger von Vorteil. Er hatte Wald, viel Wald. In Montan und in den Tälern rund um Altrei. Etwas zerstückelt, schwer zu bewirtschaften. Wein brachte mehr Geld, war ertragreicher. Ein Jahr nach der Hochzeit kam Bartl zur Welt, drei Jahre später Zenz. Ihre Kindheit war nicht heiter. Zenz, der sensiblere von den beiden Jungen, hielt es auch nicht lange aus. Mit 18 verließ er den Hof, ging nach Innsbruck, lernte Schauspiel und so was. Dass er jetzt zurückgekehrt war, wunderte alle. Zwanzig Jahre hatte er sich nicht blicken lassen. Und kaum war er wieder da, verunglückte ihre Mutter.

Bartl sah keinen Zusammenhang, aber es war ihm, als zöge Zenz das Unglück an. »Was wollte er wirklich hier?«, hatte er sich immer wieder gefragt.

»Theaterspielen«, hatte er ihnen erzählt und von seinen anderen hochtrabenden Plänen.

»Aber da habe ich ihm erst einmal einen Strich durch die Rechnung gemacht …«, dachte Bartl. »Mit mir nicht, Brüderchen! Sich zwanzig Jahr hier nicht sehen lassen, die Arbeit auf dem Hof den anderen überlassen und dann plötzlich hier auftauchen, mit diesen völlig idiotischen Ideen, und alles durcheinanderbringen. Nicht mit mir. Stell dich hinten an. Ganz weit hinten.« Bartl bekam diesen Gedanken gar nicht mehr aus dem Kopf. Auch nicht jetzt, wo es darum ging, die Mutter zu beerdigen.

»Der Bestatter hat gesagt, dass es dauert, bis man die Leiche eingeäschert hat. Aber er gibt uns Bescheid.« Naz Nußbaumer machte nie viele Worte. Was er seinen Söhnen verschwieg, war die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft die Leiche noch nicht freigegeben hatte. »Was sollen die sich auch Gedanken machen. Alles unnütz. Das dauert jetzt halt noch etwas länger, dann wird Maria eingeäschert und dann ist Schluss damit.«

Drei

In der Questura sichteten sie immer als Erstes am frühen Morgen, ob sich in der Nacht etwas ereignet hatte, das in Form eines Berichts oder einer Notiz den Weg auf den Schreibtisch gefunden hatte. Francesca, Eduard und Fabio trafen sich danach auf einen Espresso in der Kantine der Questura und besprachen kurz den vor ihnen liegenden Tag.

Francesca erzählte, dass sich gestern am späten Abend die Pension BelVilla aus Tirol gemeldet habe. Einer ihrer Gäste werde vermisst. Die Beschreibung passe auf den toten Jogger.

»Fährst du hin?«, fragte Fabio in Richtung Francesca. »Personalien, Angehörige, das Übliche. Ein Foto des Toten liegt auf dem Schreibtisch. Nimm es mit. Ich habe dir ja gestern schon erzählt, was ich gesehen habe. Wir warten noch auf den Bericht von Dr.  Phillipi. Aber da erwarte ich nichts Aufregendes. Fürs Erste wäre es gut, wenn wir die Angehörigen unterrichten können.«

Francesca trank ihren Kaffee aus und ging.

»Und du?« Fabio sah Eduard an.

»Nur Routine. Du weißt, dieser Diebstahl von Bienenvölkern. Passiert hier ja immer mal wieder, dass einzelne Völker gestohlen werden. Aber dieser Fall, wenn es ein Fall ist und nicht mehrere, der ist ungewöhnlich, weil ganze Völkerscharen abgeräumt wurden. Dazu braucht es eine gewisse Logistik. Das wäre neu … aber ich bin noch bei der Schadensaufnahme und habe erste Zeugen vernommen. Ich habe noch keine Idee, wie ich weiter vorgehe. Aber mir fällt da schon noch was ein.«

Fabio wusste seine beiden Assistenten also gut beschäftigt. Er hatte überlegt, ob er sie schon heute über das Gespräch mit dem Vice unterrichten sollte. Zumindest Francesca hatte die Cantallielo kennengelernt.

Auch seine Frau war erstaunt über diese Nachricht gewesen. Als er seine Befürchtungen geäußert hat, dass im Fall, dass es so kommt, wie es ihm der Vice ausgemalt hatte, er ja auch nicht den erhofften Gehaltssprung einfahren würde, hatte Elisabeth ihm nur gesagt: »Mach dir deshalb keine Sorgen. Es reicht doch!«

Das hatte Fabio dann aber doch nicht verstehen können. Sie kannte doch auch den Kostenvoranschlag für die Fenster. Das Haus würde noch viel mehr Geld fressen. Da wäre so ein Gehaltssprung schon ganz gut. Insoweit verstand Fabio das Gottvertrauen seiner Frau nicht. Er machte sich Sorgen darüber, wie es weitergehen konnte, und sie meinte: »Das klappt schon irgendwie.« Wenn seine Eltern nicht eine erkleckliche Summe zum Kaufpreis dazugegeben hätten, würden sie jetzt überhaupt nicht über die Finanzierung von neuen Fenstern diskutieren, sondern überlegen, wie sie den Kredit zurückbezahlen würden. Er hatte sich daher vorgenommen, heute noch einmal mit dem Schreiner zu reden. Vielleicht ließ sich ja am Preis noch etwas drehen.

*

Francesca war froh nach Tirol fahren zu können. Ein leichter Auftrag. Personalien feststellen, also nichts Besonderes. Es war ein schöner Tag. Die Luft war warm, es roch schon nach Sommer. Sie hatte das Fenster des zivilen Polizeiwagens heruntergelassen. Die MEBO1 war fast leer, was selten vorkam. Sie hatte keine Eile, fuhr deutlich langsamer, als es das Tempolimit zugelassen hätte. Sie träumte vor sich hin.

Francescas Gedanken wurden jäh unterbrochen, als mit lautem Motorgeräusch ein getunter Mercedes an ihr vorbeirauschte. »Den kauf ich mir!«, schoss es ihr durch den Kopf. Es war klar, dass der Wagen viel schneller fuhr, als es erlaubt war. Einem Impuls folgend gab sie Gas, merkte aber schnell, dass sie Schwierigkeiten haben würde, dem Mercedes zu folgen. Ihr Wagen hatte einen kleinen Motor mit wenig PS. Sie konnte sich aber Typ, Farbe und Teile des Kennzeichens merken. Der Wagen war in Deutschland zugelassen. Das Stadtkennzeichen war ein »K«. »K wie Köln«, überlegte Francesca und ließ den Raser davonfahren. »Ich bin nicht bei der Verkehrspolizei.« Aber insgeheim ärgerte es sie, dass sie sich so eine lahme Kiste aus dem Fuhrpark gegriffen hatte. »Hätte ich doch den Alfa genommen.«

Tirol lag oberhalb von Meran. Francesca musste an den Gärten von Trauttmansdorff vorbei, sich dann ein wenig durch den Stadtteil Obermais wuseln, anschließend den Weg ins Passeiertal einschlagen und schließlich führte der Weg nach einer scharfen Linkskurve hinauf ins Dorf Tirol. Es schien, als bestünde es aus einer Ansammlung von größeren und kleineren Hotels. Ein durch und durch touristisch ausgerichtetes Dorf. In kurzen Abständen fanden sich Wegweiser, die zu den verschiedenen Hotels wiesen. Francesca hatte gelesen, dass Tirol knapp 2.500 Einwohner hat und in den rund 5.000 Betten pro Jahr acht- bis neunhunderttausend Gäste übernachteten. »Auf den Straßen sieht man also hauptsächlich Fremde«, dachte sie, als sie langsam die Hauptstraße entlangfuhr – Ausschau haltend nach dem Namen der Pension, von der die Vermisstenmeldung abgegeben worden war. Die Hauptstraße ist nicht sehr lang und so war es auch nicht schwer, den richtigen Hinweisgeber auf die Pension BelVilla zu finden.

Als Francesca ihren Wagen auf dem Parkplatz der Pension in der Keschtngasse abstellte, grinste sie innerlich. Sie parkte genau neben dem »Rennfahrer«, der sie auf der MEBO geärgert hatte. Weißer Mercedes aus Köln, tiefergelegt, mit allen denkbaren Tuninganbauten. Dicke Schweller, verbreiterte Kotflügel, dicke Reifen, vier Auspuffrohre und die hinteren Fenster natürlich mit schwarzer Folie verdunkelt. Die Motorhaube war noch warm. »Eine echte Zuhälterkarre, ein Potenzhobel, für Typen, die auf dicke Hose machen«, dachte Francesca. »Vielleicht mache ich mir einen Spaß daraus, den Halter anzusprechen«, dachte sie. Möglicherweise wohnte er hier.

Sie zeigte ihren Dienstausweis der jungen Frau, die ihr öffnete.

»Ich bin Isabel Marini, die Inhaberin der Pension BelVilla, und ich war es auch, die die Polizei gestern Abend informiert hat. Es tut mir leid, dass ich erst so spät angerufen habe«, begann sie das Gespräch, »aber das kann ich ganz gut erklären.« Sie bot Francesca an, Platz zu nehmen. Im relativ großzügigen Eingangsbereich gab es eine moderne Ledersitzgruppe. »Möchten Sie einen Kaffee?«

Francesca nickte dankbar und nutzte die Gelegenheit, sich umzusehen, als die junge Frau hinter einer Tür verschwand, um den Kaffee zu holen. BelVilla war keine Pension familiärer Art. Von dem eher ungewöhnlich großen Empfangsbereich führte eine breite Treppe nach oben und auch nach unten. Lediglich zwei Türen waren zu sehen. Hinter einer war Isabel Marini verschwunden. Der Raum war eher kühl eingerichtet. Weiß war die dominierende Farbe. Außer an einigen abstrakten Bildern konnten die Augen nur an einer üppig bestückten Bodenvase hängen bleiben. Kein Raum, um sich länger darin aufzuhalten, fand Francesca.

»Dieser Raum hat nur die Funktion, dass die Gäste ihr Gepäck abstellen können«, mit diesen Worten stellte Isabel Marini zwei Kaffee auf die Tischplatte. »Das Haus ist praktisch zweigeteilt. Ich wohne im Untergeschoss und das obere Geschoss besteht aus zwei Ferienwohnungen«, erklärte sie. »Die Wohnungen habe ich an eine Gruppe junger Männer aus Köln vermietet. Einer von Ihnen ist vermutlich der junge Mann, der beim Joggen zusammengebrochen ist.« Sie nippte an ihrem Kaffee und forderte damit Francesca auf, es ihr gleichzutun.

Francesca zeigte ihr das Foto, das sie von Fabios Schreibtisch mitgenommen hatte.

»Ja, das ist er. Ganz sicher. So ein junger Mann. Wie konnte das nur passieren?« Isabel Marini wirkte betroffen. »Wissen Sie, warum er zusammengebrochen ist?«

»Nein, das wissen wir noch nicht, aber wir untersuchen es. Was ich jetzt brauche, sind seine Meldedaten. Wie heißt er, von wo kommt er her? Und dann würde ich auch gerne mit den anderen jungen Männern sprechen. Wie viele sind es denn?«

»Sie waren vier. Sie haben sich über ein Buchungsportal angemeldet. Ich hatte sie vorher noch nicht als Gäste. Sie haben beide Wohnungen gemietet. Jede der Wohnungen hat ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer mit Küchenzeile, außerdem einen großen Balkon, fast schon eine Terrasse, könnte man sagen.«

»Und wie sind die so? Ich meine, sind es ruhige Gäste, oder eher nicht?«

»Das kann ich Ihnen gar nicht so genau sagen. Wissen Sie, ich arbeite im MARINIs giardino Hotel, ein paar Hundert Meter von hier. Da bin ich praktisch den ganzen Tag und komme erst sehr spät wieder hierher. Eigentlich schlafe ich nur hier. Die jungen Männer habe ich kaum getroffen. Wenn ich morgens zur Arbeit gegangen bin, schliefen sie noch, und wenn ich abends so gegen 22 Uhr wieder zurückkam, dann waren sie noch nicht da. Ich glaube, die gehen lange aus.«

»Wo kann man denn hier lange ausgehen?«

»Im Dorf hier eher nicht. Aber es gibt schon Diskotheken oder Tanzclubs, die lange aufhaben … Ich nehme jedenfalls an, dass sie eher dorthin gegangen sind, denn um 22 Uhr stand ihr Wagen niemals vor der Tür.«

»Dieser weiße Mercedes aus Köln?«

»Genau der. Mit dem sind sie gekommen. Gefahren hat ihn der junge Mann, der jetzt verunglückt ist.«

»Wie heißt denn der junge Mann?«, fragte Francesca, um Struktur in das Gespräch zu bekommen.

»Sein Name ist Sebastian Kleinfuhrmann. Er war noch so jung. Ich glaube, die sind alle so zwischen 28 und 30 Jahren alt.«

»Seit wann haben Sie ihn vermisst?«

»Die anderen aus der Gruppe haben am Abend bei mir nachgefragt, ob er sich bei mir gemeldet hat. Das kam mir schon komisch vor. Denn, wie gesagt, wenn ich nach Hause komme, waren sie normalerweise schon unterwegs. Aber dann hat es bei mir Klick gemacht. Ich meine, der junge Mann ist ja quasi vor dem Hotel, in dem ich arbeite, gefunden worden. Das habe ich natürlich mitbekommen. Meine Schwester hat ihn noch gesehen. Ich meine, sie war dabei, als der Polizist gekommen ist, um alle zu befragen. Das hat sie mir natürlich erzählt. Passiert ja auch nicht alle Tage so was – zum Glück. Ich habe allerdings nicht geahnt, dass es sich um einen meiner Gäste handelt. Ich war so früh noch nicht im Hotel. Gefunden hat ihn unsere Masseurin. Die joggt jeden Morgen auf dem Falknerweg.«

»Ihre Masseurin?«

»Das Hotel ist ein Familienbetrieb. Wir sind die Marinis. Meine Eltern, meine Schwester und ich betreiben das Hotel. Ich wohne hier, meine Schwester und meine Eltern im Hotel. Deshalb sagte ich wohl ›unsere Masseurin‹. Sie ist bei uns angestellt. Es ist ihre erste Saison bei uns. Meine Schwester wollte ihr den Tag frei geben, aber sie hat gemeint, dass es ihr nicht so viel ausgemacht hat. Sie hat also gearbeitet. Unsere Gäste lieben sie. Wissen Sie, wie unsere Gäste sie nennen? ›Magic Mäggi‹ nennen sie die Masseurin, weil sie magische Hände habe. Das sagen zumindest die Gäste.«

»Als die anderen jungen Männer Sie am Abend ansprachen, da haben Sie sich gedacht, dass der fehlende junge Mann der sein könnte, der am Morgen vor dem Hotel tot aufgefunden worden war, richtig?«

»Ja, genau so war es. Dann habe ich die Polizei angerufen. Ich habe mich schon gewundert, dass die jungen Leute überhaupt noch da waren. Sonst waren sie um diese Zeit schon unterwegs im Nachtleben. Aber vielleicht hat es auch daran gelegen, dass sie morgen abreisen.«

Francesca überlegte kurz: »Wissen Sie etwas über das Verhältnis der jungen Leute untereinander? Waren das Freunde oder gab es schon mal Streit?«

Isabel Marini überlegte, zog dann die Stirn ein wenig kraus. »Ich weiß nicht, ob das wichtig ist. Aber es gab da was … Also ich bin zwar normalerweise von morgens bis abends im Hotel, aber manchmal bin ich auch für kurze Zeit hier, um etwas zu holen oder etwas zu tun. Vor zwei Tagen war ich gegen Mittag hier, um mich um den Garten zu kümmern. Von meiner Wohnung geht es in den Garten. Die jungen Männer hatten die Türen zum Balkon weit offen. Soweit ich es verstanden habe, waren sie beim Frühstück. Da meine ich gehört zu haben, dass sie sich stritten. Aber ich habe nicht gehört, worum es ging … Es ging mich ja auch nichts an.«

»Dann wird es vielleicht das Beste sein, wenn ich mit den anderen drei spreche. Aber zuvor muss ich Sie um die Adresse und alle Daten bitten, die Sie über den jungen Mann haben, denn wir müssen seine Angehörigen unterrichten.«

»Ich glaube, die drei Freunde von Herrn Kleinfuhrmann sind kurz vor Ihnen gekommen. Ich rufe gleich auf ihrem Zimmer an.« Isabel Marini verschwand wieder hinter der Tür.

Das wusste Francesca schon, denn sie war ja von dem schnellen Mercedes aus Köln auf der MEBO sehr schnell – viel zu schnell – überholt worden. »Zufälle gibt’s«, sinnierte sie, während sie auf die Männer wartete.

Es dauerte keine Minute und Francesca war umringt von drei gut aussehenden jungen Männern um die dreißig. Gebräunt, schlank bis muskulös, sportlich, salopp gekleidet und alle drei Charmebolzen – so jedenfalls gaben sie sich.

Francesca zeigte auch ihnen das Foto und alle bestätigten sofort, dass es sich um ihren Kumpel Sebastian handele.

»Dann wäre die Identität schon einmal festgestellt«, dachte Francesca und setzte sich mit den dreien in die Sitzgruppe. »Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Freund tot ist.«

Die Reaktion der Kumpels war eher von Neugier als von Betroffenheit geprägt. So kam es Francesca vor.

»Wie ist das denn passiert?«, wollten sie wissen. Und: »Wie und wann?«, »Hatte er einen Unfall, oder ist er überfallen worden?« Das waren die Fragen, mit denen sie Francesca bombardierten. Nicht einer zeigte Trauer oder war bestürzt.

Francesca beobachtete das nur, kommentierte es nicht, sondern wandte sich an die drei:»Dann erzählen Sie mal. Wann haben Sie Ihren Freund Sebastian zum letzten Mal gesehen?«

Ein großer Blonder, der sich ihr als Christian vorgestellt hatte, sagte: »Wir haben uns eine Wohnung geteilt. Gestern Morgen, als ich wach wurde, war Sebastian nicht mehr da. Als wir zu Bett gegangen sind, da habe ich ihn noch gesehen. Das war das letzte Mal.«

Die anderen beiden stimmten zu: »Wir waren abends noch unterwegs, sind so gegen 3 Uhr morgens hier angekommen und dann sind wir in unsere Wohnungen. Klaus und ich in unsere Wohnung, Christian und Sebastian in ihre.«

»Und Ihnen ist es nicht komisch vorgekommen, dass Ihr Freund Sebastian nicht beim Frühstück dabei war, auch mittags nicht aufgetaucht ist?«

»Doch, schon«, sagte Klaus.

»Aber auch wieder nicht«, sagte Christian. »Sebastian war manchmal komisch. Es konnte schon vorkommen, dass er alleine los ist, ohne uns Bescheid zu geben. Das hat uns jetzt nicht wirklich gewundert … Kommt schon, sagt auch mal was!« Damit meinte er seine Kumpels.

»Wir hatten Streit«, sagte Klaus. »Nichts Ernstes, aber jetzt tut es mir fast leid.«

»Worum ging es denn bei Ihrem Streit?«

»Ach, wir sind halt hier, um Frauen kennenzulernen. So Urlaubsflirts halt. Wir machen jede Nacht Party. Das geht hier ganz gut. Wir fahren immer in den Musikantenstadel in Marling. Das ist so ein Tanzschuppen. Der hat bis 3 Uhr morgens auf. Da lernt man schnell jemanden kennen. Nur der Sebastian, der hatte echt Pech. Er ging immer leer aus. Das hat ihn wohl wütend gemacht.«

»Der wurde immer schnell wütend«, flocht Christian ein. »Dann war er unausstehlich. Er hat allen Ernstes gemeint, ich würde ihm die Bräute ausspannen. So ein Spinner. Er hat halt nicht so die Chancen. War ja auch irgendwie nur so ein Angeber. Das kommt nicht immer gut bei den Frauen an.«

»Sie haben sich also nicht gut miteinander verstanden?«

Die drei drucksten herum und redeten durcheinander: »Das kann man so nicht sagen …« »Immerhin hat er uns in seinem Auto mitgenommen …« »So übel war er auch wieder nicht.« – »Aber er wollte mit uns mithalten – bei den Frauen, verstehen Sie – und das, ja das war eben nichts. Satz mit X …« »Der kam halt nicht so an.«

Francesca kombinierte. »Das Auto, ist das dieser getunte weiße Mercedes aus Köln, der vor der Tür parkt?«

Klaus nickte: »Genau der.«

»Das ist der Wagen von Sebastian?«

Die drei nickten.

Christian fragte etwas plump: »Wie ist das denn jetzt? Wenn Sebastian doch nun tot ist, kann ich das Auto nach Köln fahren, oder wie geht das jetzt? Wir reisen morgen ab und wenn wir den Wagen nicht nehmen können, haben wir ein Problem.«

Francesca wunderte sich über die Sorgen dieser jungen Männer. Da ist einer ihrer Freunde gestorben und alles, was sie interessiert, ist, ob sie seinen Wagen mitnehmen können. Kein echtes Interesse daran, wie der Freund oder Kumpel ums Leben gekommen ist, kein Zeichen von Trauer. Da war die Pensionschefin schon stärker mitgenommen als einer dieser »Freunde«.

Sie überlegte. Die Frage, ob sie das Auto des Verstorbenen mitnehmen könnten, würde sie den jungen Männern heute nicht beantworten. Sie fragte vielmehr: »Kann ich mal die Wohnung sehen und seine Sachen?«

Etwas unwillig begleitete sie Christian in die Ferienwohnung, in der er und Sebastian gemeinsam gewohnt hatten. Es war eine hübsche und zweckmäßig eingerichtete Wohnung. Obere Etage mit Blick auf die Talseite – also die teurere Seite. Es gab einen Balkon, von dem aus man rechts bis nach Burg Tirol und links bis tief ins Etschtal Richtung Bozen schauen konnte. Auf dem kleinen Balkontisch lag ein Fernglas.

»Ihres?«, fragte Francesca und zeigte auf das Glas.

Christian war mit seinen Gedanken nicht ganz bei der Sache. Er überlegte zu lange, fand Francesca, bis er ein »Nein« herausbrachte.

»Also gehörte es Sebastian?«

Christian nickte.

Francesca nahm es auf, hielt es sich vor die Augen und suchte mit dem Glas die Gegend ab. »Was wird ihn interessiert haben?«, fragte sie sich. Nach einer Weile fand sie den Falknerweg, der sich zur Burg Tirol hinzog. »Also hatte er den Platz, an dem er sterben würde, mit seinem Fernglas sehen können«, sinnierte sie. Aber das hatte wohl kaum Bedeutung. Sie wandte sich wieder dem Zimmer zu.

»Darf ich mal seine Sachen sehen?«

Etwas zögerlich wies Christian auf einen der Schränke. Francesca schaute sich den Inhalt an. Ihr fiel nichts auf, was besonders oder außergewöhnlich gewesen wäre. Badesachen, Hosen, Hemden. »Hat Sebastian Verwandte? Eltern, Geschwister, andere Angehörige?«

Christian murmelte etwas wie: »Vollwaise. Alles geerbt, Einzelkind.«

»Das brauche ich jetzt doch etwas genauer, junger Mann.« Francesca fühlte sich inzwischen von dem jungen Kerl nicht genügend ernst genommen. »Also, Sebastian hat keine Eltern mehr und er war Einzelkind, richtig?«

»Ja.«

»Wissen Sie, ob die Großeltern von Sebastian noch leben, ob seine Eltern Geschwister hatten? Also, ob Sebastian Verwandte hatte?«

»Nein. Das weiß ich nicht so genau. Wir kannten ihn ja erst seit einigen Wochen.«

»Ach so! Aber sie und die anderen beiden, sie sind schon Freunde?«

»Wir drei kennen uns seit der Schulzeit. Sebastian haben wir in einem Kölner Club kennengelernt. Er hat auf dicke Hose gemacht, alle Runden bezahlt und so. War ganz nett und für uns auch praktisch. Dann hat er den Vorschlag gemacht, eine Woche hierherzukommen. Hier wäre immer was los, partymäßig … Er hat auch sofort gesagt, dass er fahren würde. Hat ja auch diese übel gute Karre. Wahrscheinlich vom Geld seiner Eltern, nehme ich mal an. Na ja, und da haben wir halt gedacht, warum nicht. Dass der so ein Komischer war, wussten wir nicht – und überhaupt: So doll ist das mit Partymachen hier auch wieder nicht. Es gibt wohl nur diesen einen Tanzschuppen.«

»Wie komisch war der denn?«

»Komisch halt. Wir sind jeden Abend raus, Party machen. Klar, wir wollen uns hier amüsieren. Und die Mädels hier sind echt krass. Kommen aus allen Ecken und wollen alle nur das eine. Das, was wir auch wollen. Nur der Sebastian hat keine abbekommen. Was weiß ich warum. War vielleicht nicht der Typ dafür. Das hat ihn echt wütend gemacht und er hat mit uns jedes Mal rumgezankt. Als ob wir daran Schuld gewesen wären. Ich hatte echt keine Lust mehr auf ihn. Aber was sollte ich machen. Ich hatte das Zimmer mit ihm zusammen.«

Während Francesca zuhörte, war sie ins Bad gegangen und betrachtete die Rasierwässer, die Deostifte, die Zahnbürsten.

»Wir mussten halt noch bis morgen durchhalten. Schließlich wollten wir mit ihm wieder zurückfahren. Wäre sonst zu teuer geworden, jetzt noch eine Zugfahrt zu bezahlen … Ich habe mich auch nicht gewundert, dass er heute Morgen nicht im Bett war, als ich aufgewacht bin. Ich war sogar eher froh, dass ich den Kerl nicht sehen musste.«

»Was ist denn das hier?« Francesca hielt Christian eine Medikamentenschachtel vors Gesicht.

Christian wurde ungehalten: »Lassen Sie die liegen, das sind meine.«

»Was ist das denn?« Francesca gefiel der Ton des jungen Mannes gar nicht. Immer, wenn es um ihn ging, wurde er frech.

»Das geht sie nichts an.«

Francesca überlegte kurz. »Sind Sie eben mit dem Mercedes gefahren?«

»Was soll das jetzt wieder?«

»Ja oder nein!« Francesca wurde laut.

»Ja, aber warum wollen Sie das wissen?«

»Weil ich Sie eben noch auf der MEBO gesehen habe. Geschwindigkeitsbegrenzungen interessieren Sie wohl nicht … junger Mann? Und jemand, der mit viel zu hoher Geschwindigkeit durch Südtirol rast, den frage ich halt, was er so einnimmt … Ich kann das aber auch mitnehmen und untersuchen lassen.«

»Ist ja schon gut. Schon gut.« Christian war rot im Gesicht angelaufen. Ob aus Wut oder aus Scham, war nicht auszumachen. »Das sind Betablocker.«

»Betablocker? In so jungen Jahren?«

Christian senkte den Blick. »Ja. Finde ich auch scheiße. Aber ich brauche die – leider.«

»Nun gut. Das geht mich auch nichts an … Eine Frage noch: Können Sie sich vorstellen, dass Sebastian die Dinger genommen hat? Vielleicht weil er meinte, es wäre etwas anderes?«

Christian blickte Francesca erstaunt an. »Nein – das kann ich mir nicht vorstellen. Er hat mich gefragt, was das für Pillen sind, und ich habe es ihm gesagt. Ich glaube nicht, dass er freiwillig meine Betablocker genommen hat. Das wäre ja auch doof. Einem Gesunden können die Dinger auch ordentlich schaden.«

Francesca nickte. Sie hatte nur noch eine Frage: »Was hat Sebastian denn so gemacht, beruflich, meine ich?«

»Ich glaube, er hat studiert. Das weiß ich aber nicht so genau. Er hat immer von der Uni geredet. Aber wenn ich so richtig darüber nachdenke, dann hat er uns nie erzählt, was genau er dort macht oder was er dort studiert.« Nachdenklich fügte er hinzu: »Ist schon komisch, dass mir das erst jetzt auffällt. Irgendwie war er ohne Eigenschaften. Es gibt nichts, was mich mit ihm verbindet. Außer, dass er immer die Runden bezahlt hat … Aber, das ist jetzt echt wichtig: Können wir den Wagen nehmen, um nach Hause zu fahren? Das wäre nämlich echt total blöd, wenn wir den Zug nehmen müssten. – Dafür ist eigentlich kein Geld mehr da.«