Rachezeit - Emelie Schepp - E-Book

Rachezeit E-Book

Emelie Schepp

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Beschreibung

Eine Anwältin sollte stets die Wahrheit herausfinden. Was aber, wenn sie diese vertuschen muss?
Das spektakuläre Finale der Bestseller-Serie aus Schweden!


Auf Youtube verbreitet sich das Video eines jungen Mannes – der Sprengsatz an seinem Körper könnte jeden Moment in die Luft gehen. Verzweifelt versucht das Team von Kriminalinspektorin Mia Bolander den Ort zu identifizieren, an dem das Opfer versteckt ist, doch sie kommen zu spät … Die Staatsanwältin Jana Berzelius wird in die stockende Ermittlung hineingezogen. Bislang war es immer ihre Aufgabe, die schonungslose Wahrheit herauszufinden. Diesmal jedoch muss Jana alles dafür tun, um sie zu verbergen. Denn die Zeit für ihre Rache ist gekommen, und an ihren Händen klebt Blut ...

Alle Bücher der Jana-Berzelius-Reihe:
Nebelkind
Weißer Schlaf
Engelsschuld
Im Namen des Sohnes
Leichengrund
Rachezeit

Die Fälle von Jana Berzelius können einzeln gelesen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 469

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Buch

Auf YouTube verbreitet sich das Video eines jungen Mannes – der Sprengsatz an seinem Körper könnte jeden Moment in die Luft gehen. Verzweifelt versucht das Team von Kriminalinspektorin Mia Bolander den Ort zu identifizieren, an dem das Opfer versteckt ist, doch sie kommen zu spät … Die Staatsanwältin Jana Berzelius wird in die stockende Ermittlung hineingezogen. Bislang war es immer ihre Aufgabe, die schonungslose Wahrheit herauszufinden. Diesmal jedoch muss Jana alles dafür tun, um sie zu verbergen. Denn die Zeit für ihre Rache ist gekommen, und an ihren Händen klebt Blut …

Autorin

Emelie Schepp, geboren 1979, wuchs im schwedischen Motala auf. Sie arbeitete als Projektleiterin in der Werbung, bevor sie sich dem Schreiben widmete. Nach einem preisgekrönten Theaterstück und zwei Drehbüchern verfasste sie ihren ersten Roman: Der zuerst nur im Selbstverlag erschienene Thriller »Nebelkind« wurde in Schweden ein Bestsellerphänomen und als Übersetzung in zahlreiche Länder verkauft. Die Jana-Berzelius-Serie hat sich weltweit über eine Million Mal verkauft. 2016, 2017 und 2018 wurde Schepp mit dem renommierten CrimeTime Specsaver’s Reader’s Choice Award ausgezeichnet und damit bereits dreimal zur besten Spannungsautorin Schwedens gekürt.

Von Emelie Schepp bereits erschienen

Nebelkind · Weißer Schlaf · Engelsschuld· Im Namen des Sohnes · Leichengrund

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

Emelie Schepp

Rachezeit

Thriller

Deutsch von Annika Krummacher

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Nio liv« bei HarperCollins Nordic, Sweden.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2019 by Emelie Schepp

First published by HarperCollins Nordic, Sweden

Published by arrangement with Nordin Agency AB, Sweden

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe

© 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Sabine Thiele

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

Umschlagmotive: © ClarkandCompany/iStock.com; www.buerosued.de

JA · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-25650-0V001

www.blanvalet.de

Für meine Großeltern

Es schüttete, und der eiskalte Wind drang durch seine verschlissene Trainingshose. Fröstelnd drückte er sich an die Holzfassade des geschlossenen Jugendzentrums. Von hier aus konnte er die nasse Straße und das Buswartehäuschen überblicken, wo Zoran, Danne und Martin standen.

Die Kunden waren gekommen und gegangen, die Jungs waren fertig. Sie wollten nur die Geldscheine und die übriggebliebenen Tütchen zählen, dann durfte er nach Hause gehen.

Trotzdem hatte er Bauchschmerzen.

Er wollte eigentlich nicht hier herumstehen, wollte mit der Bande nichts zu tun haben, aber er hatte sich nicht getraut, Nein zu sagen. Die Jungs hatten gesagt, er solle Schmiere stehen. Er durfte keinen Fehler machen, und seine Konzentration durfte nicht für eine einzige Sekunde nachlassen.

Gegenüber von der Bushaltestelle erstreckte sich der Vrinneviskogen. Die Bäume bildeten in der Dunkelheit eine schwarze und bedrohliche Mauer. Er wandte gleich wieder den Blick ab, zog den Reißverschluss seiner Kapuzenjacke bis ganz nach oben und rieb die Handflächen aneinander, um seine von der Kälte steifen Finger zu wärmen.

Zwei Scheinwerfer ließen ihn erstarren. Shit! Näherte sich da etwa ein Auto? Ja, tatsächlich. Sollte er Alarm schlagen? Nein, das Auto bog an der kaputten Straßenlaterne ab.

Sobald es außer Sichtweite war, sah er wieder zu den Jungs hinüber.

Zoran zeigte in Richtung Wald. Er schien dort irgendetwas entdeckt zu haben. Die anderen beiden grinsten und nickten, steckten das Geld und die Tütchen ein und gingen rasch in Richtung Vrinneviskogen.

Er reckte sich, aber die drei waren schon zwischen den Bäumen verschwunden.

Warum waren sie einfach abgehauen?

Er warf einen raschen Blick auf die Straße. Kein Auto, kein Mensch. Nur schwarzer, regennasser Asphalt.

Plötzlich war ein Schrei aus dem Wald zu hören.

Er hielt den Atem an und lauschte. Einer der Jungs schrie irgendwas von Festhalten.

Vorsichtig ging er zum Waldrand und spähte zwischen den Bäumen hindurch. Jetzt konnte er von Weitem die Bandenmitglieder sehen.

»Was zur Hölle …«, murmelte er vor sich hin.

Die Jungs kämpften mit jemandem, der auf dem Boden lag. Doch er konnte nicht erkennen, wer es war. Das Ganze war ihm unheimlich.

Er stellte sich hinter einen Baum, trat von einem Fuß auf den anderen, wartete darauf, dass die Jungs zurückkommen würden, aber nichts geschah.

Dann schaute er hinter dem Baum hervor. Weder Zoran noch Danne oder Martin waren zu sehen.

Sein Herz schlug heftig, während er weiter in den finsteren Wald hineinging. Der Boden war weich und nass, es roch nach Erde und vermodertem Laub.

Er ging um einen Baumstumpf herum und schob ein paar ausladende Birkenzweige zur Seite, immer tiefer drang er in den Wald vor. Noch immer keine Bewegung, keine Stimmen.

Wo waren sie nur?

Inzwischen war sein Pulli vom Regen durchnässt, und die Zehen in den durchweichten Sneakers fühlten sich steif an. Es wäre besser, wenn er zu seinem Posten am Jugendzentrum zurückkehren würde.

In diesem Moment entdeckte er etwas, das ein Stück entfernt auf dem Boden lag.

Was mochte das sein? Ein Tier?

Er wischte sich mit dem Pulloverärmel den Regen aus dem Gesicht und ging langsam vorwärts. Ein Tier, bestimmt ein Tier, wiederholte er im Stillen. Dann blieb er abrupt stehen. Sein Körper schien zu Eis zu gefrieren. Vor ihm lag Zoran, sein Gesicht war mit etwas Klebrigem bedeckt. War das Blut? Ja, überall war Blut. Am Hals, auf der Jacke, am Boden.

Er taumelte rückwärts. Angst dröhnte in seinem Kopf, als er etwas weiter weg Danne und Martin liegen sah. Sie waren ebenso leblos, ebenso blutig.

»Shit, shit, shit«, keuchte er.

Dann hörte er einen Ast brechen, und sein Blick fiel auf eine Gestalt zwischen den Bäumen. Eine Frau. Ihr nasses Haar klebte am Kopf, und ihr Mund war fest geschlossen.

Er duckte sich hinter das nächste Gebüsch und hatte panische Angst, dass sie ihn entdecken könnte. Aber sie sah sich nicht um, kein einziges Mal, sondern ging langsam davon.

Drei Wochen später

1

»Ich schwöre, ich weiß nicht, wer sie umgebracht hat.«

Der dunkelhaarige junge Mann vor Kriminalobermeisterin Mia Bolander rutschte frustriert auf seinem Stuhl im Vernehmungsraum herum. Obwohl er vollkommen harmlos aussah, war der zwanzigjährige Armand Muric ein gewalttätiger junger Mann. Er war in mehrere Fälle von schwerer Körperverletzung involviert gewesen und erst vor ein paar Jahren aus einer Jugendstrafanstalt entlassen worden, wo er eine Strafe absitzen musste, nachdem er einem Gleichaltrigen vor einer Pizzeria in Hageby die Zähne ausgeschlagen hatte.

»Sie können ganz beruhigt sein. Ihre Freundin hat ausgesagt, dass Sie zu Hause waren. Sie stehen nicht unter Tatverdacht, wir wollen nur von Ihnen wissen, was an diesem Dienstagabend vor drei Wochen passiert ist«, sagte Mia und strich sich das blonde Haar aus der Stirn.

»Aber warum haben Sie mich dann hierherbestellt?«, fragte Armand Muric. »Wenn Sie ohnehin schon wissen, dass ich es nicht war?«

»Wie Sie sicher verstehen, ist mein Mandant empört darüber, dass er seit über einer Stunde in diesem Raum sitzen muss«, erklärte sein Anwalt, ein Mann mit breitem Schnurrbart und Doppelkinn.

»Das verstehe ich«, meinte Mia. »Aber ich muss wissen, wer Zoran Kader, Daniel Persson und Martin Lindberg im Vrinneviskogen getötet hat und wie wir den Täter fassen können. Ihr Mandant müsste etwas darüber wissen.«

»Müsste er das wirklich?«, erwiderte der Anwalt und faltete die Hände über seinem dicken Bauch.

»Ja, weil alle drei Komados waren. Genau wie er.«

Armand Muric rutschte wieder auf dem Stuhl herum.

»Nicht mehr«, sagte er. »Ich gehöre nicht mehr dazu.«

Mia ging die Geduld aus.

»Und genau deshalb müssten Sie uns die Namen aller Personen und Gruppen nennen können, von denen die Komados jemals bedroht worden sind, oder?«

»Hören Sie zu …« Armand Muric zog die Ärmel seiner Adidasjacke hoch und entblößte eine Reihe von Tätowierungen. »Ich habe mit der Bande nichts mehr zu tun. Ich verhalte mich seit über einem Jahr gesetzestreu, ich habe Arbeit, eine Familie, und ich will so gern …«

Er verstummte, schluckte schwer.

»Ich will so gern, dass mein Sohn stolz auf mich ist, okay?«, fuhr er fort. »Ich will ihm und meinen Geschwistern zeigen, dass man aussteigen kann, auch wenn man so viel Scheiße erlebt hat wie ich.«

Mia überlegte, was für Gefühle Armand Muric in ihr weckte. War es Mitleid? Vielleicht. Sie wusste, was es für eine Herausforderung war, aus einer Bande auszusteigen, und dass die Angst und die Müdigkeit, die sie in seinen Augen sah, echt waren. Sie hatte diesen Blick schon einmal gesehen. Aber das war lange her, und sie durfte jetzt nicht daran denken. Sie musste sich konzentrieren.

»Was für Scheiße haben Sie denn erlebt?«, fragte sie und verschränkte die Arme vor ihrem fusseligen schwarzen Pullover. »Werden Sie bedroht?«

»Nein«, antwortete er.

Mia musterte ihn.

»Und warum tragen Sie dann eine Schutzweste?«

Armand Murics Blick verdunkelte sich, und er schien seine Worte genau abzuwägen, bevor er schließlich antwortete: »Können Sie mich nicht in Ruhe lassen? Ich will einfach nur ein gutes Leben mit meiner Familie führen, okay? Sie bedeutet mir alles, wirklich alles.«

»Dann machen wir es so.« Mia beugte sich vor. »Wenn Sie uns einen Hinweis geben, durch den wir weiterkommen, sorgen wir dafür, dass sich unsere Kollegen vom Zeugenschutzprogramm noch heute bei Ihnen melden.«

Armand Muric schüttelte heftig den Kopf.

»Nein, nein …«

»Doch, und jetzt hören Sie mir mal zu«, sagte sie entschieden. »Wenn Sie uns helfen, dann helfen wir Ihnen.«

»Aber ich will Ihre Hilfe nicht, ich bin schon längst raus, und wenn ich irgendwas verrate, bin ich tot. Sie wissen ganz genau, wie es läuft.«

Mia seufzte. Das wusste sie natürlich, aber in ihrem Frust darüber, dass sie mit den Ermittlungen nicht weiterkamen, hatte sie darauf gehofft, mit ihm verhandeln zu können.

»Sie müssen entschuldigen, aber diese Vernehmung führt zu rein gar nichts«, schaltete sich der Verteidiger ein und zupfte an seinem Schnurrbart. »Wie mein Mandant schon sagte, kann er Ihnen nichts Neues mitteilen, also gibt es keinen Grund, ihn noch länger hier festzuhalten.«

Mia biss sich in die Wange und dachte nach. Sollte sie Armand Muric nach Hause gehen lassen? Auch wenn er nichts mit den Morden zu tun hatte, schien er von irgendjemandem bedroht zu werden. Aber er wollte keine Hilfe durch die Polizei.

»Ich werde Sie nicht länger festhalten«, sagte sie schließlich.

»Also kann ich jetzt gehen?« Armand Muric sah sie fragend an.

»Sie können gehen.«

Das Handy in ihrer Jeanstasche vibrierte. Mia zog es heraus und sah den Namen ihres Chefs Gunnar Öhrn auf dem Display. Sie wartete, bis Armand Muric und sein Anwalt das Zimmer zusammen mit einem Aufsichtsbeamten verlassen hatten, dann meldete sie sich.

»Was gibt es, Gunnar?«

»Bist du noch im Haus?«, fragte er.

»Ich bin im Vernehmungsraum und wollte gerade heimfahren.«

»Kannst du kurz hochkommen?«

»Warum denn?« Sie stöhnte.

»Ich möchte dir jemanden vorstellen.«

Kriminalkommissar Henrik Levin nahm den obersten Umschlag von dem kleinen Briefstapel. Vor den Fenstern ging gerade die Sonne unter. Es war erst Ende April, aber eine Hitzewelle war über das Land gerollt, und die Werbesendungen, die Henrik bereits aussortiert hatte, waren voll von Angeboten für Gartenmöbel und Grills.

Während er den Umschlag aufschlitzte, fiel ihm das rhythmische Pochen des Geschirrspülers im Hintergrund auf. Früher hatten die Kinder an einem Montagabend alles übertönt, aber Felix und Vilma hatten sich mit Kopfhörern und Computerspielen in ihren Zimmern verschanzt, und der kleine Vilgot schlief schon.

»Hier haben wir alles, was wir brauchen.«

Henrik sah seine Frau an, die ihm mit dem iPad gegenübersaß. Der Schein des Displays ließ ihr Gesicht blasser und magerer aussehen, als es ohnehin schon war. Der Arzt hatte gesagt, dass es ihr allmählich wieder besser gehen, es aber einige Zeit dauern werde, bis sie sich von dem traumatischen Erlebnis erholt hatte, das beinahe ihre Familie zerstört hätte.

»Mit einer frisch renovierten Küche, einem Kamin und – hör dir das mal an – einem eigenen Zugang zum Strand.«

Emma drehte das iPad in seine Richtung und zeigte ihm ein Foto von einem roten Häuschen mit weißen Fenstern.

»Wie findest du das?«

»Hübsch«, murmelte Henrik und zog die Stromrechnung aus dem Umschlag, während er verzweifelt versuchte, die Gedanken an den Serienmörder zu verdrängen, der Emma vor ein paar Wochen beinahe ertränkt hätte.

»Du schaust ja gar nicht.« Enttäuscht nahm sie das iPad wieder an sich.

»Doch, es ist sehr schön«, sagte Henrik und sah es sich noch mal genauer an. »Wirklich.«

Bei der Idee, ein Sommerhaus im Sankt Anna Schärengarten zu kaufen, hatte er zunächst gezögert. Aber Emma hatte darauf beharrt, dass ein kleines Paradies außerhalb der Stadt so schön sei, und er hatte beschlossen, der Sache eine Chance zu geben. Vielleicht würde es sie auf andere Gedanken bringen, damit sie ihre frühere Energie zurückbekam.

»Es hat auch einen Bootssteg.« Emma löste ihre Haarspange und ließ ihr braunes Haar über die schmalen Schultern fallen. »Stell dir vor, wir hätten ein kleines Motorboot …«

»Immer langsam mit den jungen Pferden«, protestierte Henrik und legte die Rechnung beiseite. »Was kostet das Haus?«

»Drei Millionen Kronen.«

»Drei Millionen?«

»Wir haben doch noch die Kreditzusage von der Bank«, fuhr sie schnell fort. »Und vergiss nicht, dass es ein Strandgrundstück ist.«

Sie machte einen Schmollmund, und er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Okay«, sagte er.

»War das ein Ja?« Sie fasste das Haar mit der Spange wieder zu einem Pferdeschwanz zusammen. »Könntest du dir vorstellen, zur Besichtigung zu gehen? Dann würde ich uns beide gleich mal anmelden.«

»Tu das«, sagte Henrik und nahm den nächsten Umschlag vom Stapel. Er war von der Polizeibehörde.

Emma sah ihn forschend an.

»Was ist das?«

»Keine Ahnung.« Er öffnete den Umschlag.

»Es hat hoffentlich nichts mit der Arbeit zu tun?«, fragte sie mit einem scharfen Unterton. »Du hast doch versprochen, dass du jetzt frei hast.«

»Es ist nur ein Foto«, sagte Henrik beruhigend. »Und Gunnar wünscht gute Besserung.«

»Darf ich mal sehen?«

Henrik legte das Bild vor sie auf den Tisch. Es war beim jährlichen Abendessen des Ermittlungsteams vor drei Wochen aufgenommen worden. Sie alle saßen an einem Tisch, der sich unter den vielen kleinen libanesischen Köstlichkeiten förmlich bog.

Gunnar sah übertrieben fröhlich aus. Neben ihm saßen seine Exfrau, die Kriminaltechnikerin Anneli Lindgren, und der IT-Forensiker Ola Söderström mit seiner abgetragenen Mütze, die er beharrlich das ganze Jahr hindurch trug, ob drinnen oder draußen. Gegenüber von ihnen hatten Mia, Henrik und Emma Platz genommen. Sie alle hatten in diesem Moment nicht geahnt, was sie noch erwartete.

»Alle waren dabei«, sagte Emma und sah ihn an.

»Alle außer Jana Berzelius …«, antwortete Henrik und nickte langsam.

Er hatte schon so oft darüber nachgegrübelt.

»Mama!«, rief Vilma aus dem oberen Stockwerk. »Kannst du mir was vorlesen?«

»Soll ich das übernehmen?«, schlug er vor. Er sah es als eine Gelegenheit, um auf andere Gedanken zu kommen.

Emma schüttelte den Kopf.

»Das ist schon okay. Aber weißt du was? Ich bekomme ein schlechtes Gewissen, wenn ich an Jana Berzelius denke.«

»Warum das denn?«, wollte Henrik wissen.

»Weil wir uns bei ihr noch nicht bedankt haben. Das hätten wir schon längst tun müssen. Können wir sie nicht am Donnerstag zum Abendessen einladen? Das Wetter soll richtig schön werden.«

»Ist dir das wirklich nicht zu viel?«, protestierte Henrik. »Du hast doch seit der ganzen Geschichte niemanden sehen wollen.«

»Wenn es jemanden gibt, den ich sehen möchte, dann die Person, die mir das Leben gerettet hat«, erwiderte Emma und straffte den Rücken.

Jana Berzelius, eine herausragende Staatsanwältin, hatte nicht nur Henrik bei der Jagd nach dem Serienmörder geholfen, sie hatte auch buchstäblich Emmas Leben gerettet. Eigentlich sollte er enorme Freude und Dankbarkeit verspüren, aber etwas bedrückte ihn auch. Ein unangenehmer Verdacht, den er viel zu lange ignoriert hatte.

»Mama!«, rief Vilma ungeduldig.

»Ich komme«, antwortete Emma, ehe sie Henrik wieder ansah. »Was ist los? Du siehst besorgt aus.«

»Nein, nein«, sagte er und wich ihr mit dem Blick aus. »Du hast recht. Natürlich sollten wir uns bei Jana Berzelius bedanken.«

»Kannst du ihr nicht eine SMS schicken und sie fragen, ob sie Zeit hat? Am Donnerstag um achtzehn Uhr?«

»Ja«, antwortete er zögernd. »Klar.«

»Ich weiß fast gar nichts über sie«, fuhr Emma fort. »Hat sie Familie?«

»Sie ist mit einem Anwalt namens Per zusammen. Per Åström.«

»Richte ihr doch aus, dass er gern mitkommen kann«, sagte sie und verließ die Küche.

Henrik seufzte schwer und lehnte sich zurück. Widerwillig zog er das Handy aus der Tasche, starrte eine Weile das dunkle Display an und begann dann eine Nachricht an Jana Berzelius zu schreiben.

»Was wolltest du? Klang so, als wäre es eilig.«

Mia schob die Tür auf und sah zu ihrem Chef hinter dem Schreibtisch. Seine Stirn war gefurcht, das dünne Haar zurückgekämmt, und sein Pullover hatte dieselbe gelbe Farbe wie der Block aus Post-it-Zetteln, der vor ihm lag.

»Mia.« Er lehnte sich nach hinten. »Ich weiß, dass du dich einsam fühlst, seit Henrik in Elternzeit gegangen ist.«

Sie verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf.

»Ich habe nie behauptet, dass ich mich einsam fühle, ich habe nur gefragt, warum wir keine Vertretung eingestellt haben.«

»Genau, und deshalb möchte ich dir gern Patrik Wiking vorstellen.«

Gunnar machte eine einladende Geste.

Mia schob die Tür ganz auf und sah einen Mann auf dem Besucherstuhl sitzen. Er erinnerte sie tatsächlich an einen Wikinger, mit seinen leuchtend blauen Augen, dem blonden Haar und dem üppigen Bart. Seine Kleidung wirkte abgetragen, die Jeans war verschlissen, und der Pullover wies eine Art Muster in Orange und Rostbraun auf.

»Du bist also der Dickkopf?«, fragte er zur Begrüßung und erhob sich.

»Wie? Worüber habt ihr geredet?« Mia starrte Gunnar an. »Findest du mich dickköpfig?«

»Dickkopf ist dein zweiter Name, und das weißt du auch. Aber ganz ruhig jetzt, wir haben nicht nur über dich geredet, sondern auch über alle anderen.«

»Ihr scheint ein gutes Team zu sein«, sagte Patrik und trat auf sie zu. »Ich habe Dickköpfe schon immer respektiert. Meine Exfrau hat mich immer einen verdammten Sturkopf genannt.«

Er lächelte sie an und reichte ihr die Hand.

»Patrik.«

»Mia.«

Während sie ihm die Hand schüttelte, versuchte sie sein Alter zu erraten, was ihr schwerfiel. Sie vermutete, dass er einige Jahre älter war als sie selbst, um die vierzig vielleicht. Groß und breitschultrig war er und betrachtete sie mit einem neugierigen Blick, der sie nervös machte.

»Erzähl mal«, sagte er. »Woran arbeiten wir momentan?«

»Gunnar kann dich auf den aktuellen Stand bringen. Ich habe keine Zeit.«

»Mia«, bat Gunnar. »Erzähl doch mal, nur ganz kurz.«

»Wir haben drei tote Bandenmitglieder, die in einem Waldgebiet aufgefunden wurden, und hundertfünfzig Seiten Polizeiermittlungen, die nichts Interessantes enthalten«, sagte sie. »Das ist alles.«

»Steht es wirklich so schlimm?« Patrik lächelte schief.

»Ja, und ich würde wahnsinnig gern auf Details eingehen, aber ich komme gerade aus der Vernehmung von Armand Muric und bin auf dem Heimweg.«

»Wie ist es gelaufen?«, wollte Gunnar wissen.

»Beschissen.«

»Er hat uns keine neuen Hinweise gegeben?«

»Nein«, antwortete sie. »Wenn wir nur einen Zeugen hätten, einen einzigen, wäre der Fall längst gelöst. Aber niemand hat was gesehen, niemand will was sagen. Wir wissen nicht mal, wer die Polizei verständigt hat. Ich habe diesen verdammten Fall so satt. Also entschuldigt bitte, wenn ich mich zu Hause mit einem kühlen Bier aufs Sofa lege, statt noch mehr Zeit mit diesem Fall zu vergeuden. Und mit dieser Vertretungssache.«

»Das war jetzt aber unnötig, Mia.«

»Nein, ich bin nur ehrlich, Gunnar. Das ist auch eine meiner großartigen Eigenschaften, von denen du unserer neuen Vertretung gern noch mehr erzählen darfst.«

Jana Berzelius hängte sich den Blazer über den Unterarm, ehe sie an der Wohnungstür in der Skomakaregatan klingelte. Per Åström lächelte überrascht, als er die Tür öffnete. Er hatte sich eine braune Lederschürze um die Taille gebunden, das weiße Hemd war am Hals aufgeknöpft, und das blonde Haar hing ihm in die Stirn.

»Was ist denn?«, fragte sie.

»Du bist so schön«, sagte er und ließ den Blick über ihr kurzärmliges rotes Kleid wandern.

»Ich habe es schon mal angehabt«, meinte sie.

»Und ich freue mich, dass du es wieder trägst.«

»Darf ich nicht reinkommen?«

»Ich bin noch nicht ganz fertig«, antwortete er mit einem Lächeln.

Jana musste sein Lächeln erwidern, als er sie erneut aus seinen verschiedenfarbigen Augen betrachtete. Per war der einzige Mann, den sie je ernsthaft gemocht hatte. Sie kannten einander seit mehreren Jahren, aber erst vor zwei Wochen hatte sie sich erlaubt, ihm zu zeigen, wie viel er ihr bedeutete. Es hatte in der Vergangenheit eine Zeit gegeben, als er nichts mit ihr zu tun haben wollte, aber darüber hatten sie nie gesprochen. Jetzt waren sie ein Paar, und sie würde ihn nie wieder loslassen.

»Fertig …«, sagte er. »Komm rein.«

Er trat einen Schritt auf sie zu und küsste sie leicht auf den Mund, ehe er in Richtung Küche ging.

Jana schloss die Tür und hängte ihren Blazer auf. Ihr Handy gab ein Signal von sich, und sie ging weiter durch das großzügige Wohnzimmer mit dem Einbaubücherregal und den hohen Fenstern, während sie die SMS von Henrik Levin las.

Per stand an der Arbeitsplatte aus Granit und goss Rotwein in zwei Gläser, als sie die Küche betrat.

»Henrik Levin und seine Frau wollen uns am Donnerstag zum Abendessen einladen«, berichtete sie. »Als Dankeschön für alles.«

»Das ist aber nett«, meinte Per und stellte die Flasche ab. »Im Hinblick darauf, was du für sie getan hast, solltest du eher eine Medaille oder so bekommen.«

Er deutete mit dem Kopf auf den Verband an ihrem Arm. Er bedeckte die Schussverletzung, die sie erlitten hatte, als sie Emma Levin rettete.

»Ich verstehe noch immer nicht, wie du diesen verrückten Serienmörder überwältigen konntest.«

Jana legte das Handy auf die Arbeitsplatte und schluckte schwer. Was sollte sie sagen? Dass sie ihn rein instinktiv getötet hatte, auf genau die Art, die sie als Kind hatte lernen müssen?

»Ich habe ziemlich viel Selbstverteidigung gemacht«, sagte sie knapp. »Findest du, dass wir zusagen sollen?«

»Aber natürlich«, sagte Per, nahm die Schürze ab und hängte sie über einen Stuhl. »Ich nutze jede Gelegenheit, um mit dir zusammen zu sein. Und es wäre nett, Henrik und Emma Levin zu treffen. Ich wünschte nur …«

»Was?«

»Dass wir noch mehr Zeit miteinander verbringen könnten. Es wäre so … Ich meine, du könntest auch mal hierbleiben, weißt du.«

»Du willst, dass ich bei dir übernachte?«

Per lächelte verlegen, sah ihr in die Augen und hielt ihren Blick eine ganze Weile fest. Dann ging er zu ihr und küsste sie vorsichtig. Seine weichen Lippen ließen sie erschauern. Sie drückte sich an ihn, spürte seine muskulösen Arme, seine Wärme, seinen Duft. Vorsichtig streichelte er ihr über den Rücken, ließ die Hände in Richtung Schulterblatt gleiten und weiter unter ihr offenes Haar. Doch je weiter sie sich dem Nacken näherten, desto unangenehmer wurde es ihr.

»Was ist?«, fragte Per, als sie sich ihm entzog. »Habe ich etwas falsch gemacht?«

»Nein.«

»Sicher? Denn ich frage mich allmählich, worum es eigentlich geht.«

»Was meinst du?«, fragte sie beunruhigt.

»Vielleicht irre ich mich ja«, sagte er und nahm ihre Hände. »Ich weiß, dass du mich magst, aber ich habe das Gefühl, als würde dich die ganze Zeit irgendetwas zurückhalten.«

Jana biss sich auf die Lippe. Es gab so vieles, was sie ihm erzählen wollte, aber sie konnte nicht.

»Ich bin nur hungrig«, sagte sie und lächelte rasch. »Wollen wir essen?«

Dienstag

»Es geht nicht mehr, Henrik. So schaut es aus.«

Mia hielt sich das Handy ans Ohr, während sie aus der Haustür in Haga trat. Ihre Wohnung war nicht groß, zwei Zimmer, Küche, Bad, aber sie war völlig in Ordnung und lag zudem nur ein paar Minuten zu Fuß vom Polizeirevier entfernt. Trotzdem ging sie weiter zu ihrem Auto, das ein Stück entfernt im Schatten stand.

»Natürlich geht es«, sagte Henrik beschwichtigend.

»Nein«, antwortete sie und schloss den Wagen auf. »Du musst deine Elternzeit unterbrechen und wieder arbeiten.«

»Jetzt beruhige dich bitte.«

»Ich bin ruhig!« Mia schob ein paar Bonbonpapiere vom Sitz, ehe sie Platz nahm. »Ich habe keine Ahnung, wie ich mit einem neuen Typen zusammenarbeiten soll. Und sag jetzt bitte nicht, dass sich das bestimmt noch einspielen wird, denn das wird nicht passieren.«

»Wie heißt er denn?«, fragte Henrik.

»Patrik Wiking, und er sieht auch genauso aus. Gib diesem bärtigen Muskelprotz einen Helm und eine Axt, und schon kannst du ihn in jedem naturhistorischen Museum ausstellen.«

Henrik lachte. Es gefiel ihr, wenn er lachte, denn er war fast immer ernst und konzentrierte sich auf die Ermittlungen.

Mia lehnte sich zurück und sah sich selbst im Rückspiegel. Verdammt.

Sie verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse, als sie die herausgewachsene Haartönung, die tiefen Falten unter den Augen und den viel zu hellen Puder sah, mit dem sie versucht hatte, die Augenringe abzudecken. Andererseits gab es niemanden, für den sie sich hätte aufhübschen müssen. Sie hatte eine Reihe von missglückten Affären hinter sich, und vor Kurzem war ihr klar geworden, dass sie auch über Tinder nicht ihre große Liebe finden würde. Irgendwo tief drinnen hatte sie die Hoffnung, eines Tages ein ganz normales Durchschnittsleben zu führen, so wie Henrik, aber im Moment hatte sie keine Energie, um sich auf eine ernsthafte Suche nach dem Richtigen zu begeben.

»Tut mir leid, dass ich dich so frühmorgens anrufe und störe«, sagte sie und löste ihren Blick vom Rückspiegel. »Wie geht es euch denn eigentlich?«

»Ach, ganz okay«, antwortete er. »Emma und ich leben von einem Tag zum nächsten.«

Mia zog den Pullover zurecht, der am Rücken hochgerutscht war.

»Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es ja. Du kannst froh sein, dass sie mit dem Leben davongekommen ist. Hast du eigentlich mit Jana Berzelius gesprochen, seitdem die ganze Sache passiert ist?«

»Nein, aber apropos … Weißt du noch, dieses Abendessen mit dem Ermittlungsteam, im libanesischen Restaurant? Warum war Jana Berzelius eigentlich nicht da? Du hast den Abend ja organisiert, und ich dachte, du wüsstest es vielleicht.«

Mia biss sich auf die Zunge.

»Hallo, Mia?«

»Ja, ich bin noch dran. Ich weiß auch nicht, warum sie nicht gekommen ist. Entweder hatte sie keine Zeit, oder das Lokal war nicht schick genug für sie.«

Die Wahrheit war, dass Mia »ganz zufällig« vergessen hatte, sie einzuladen. Sie spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Denn auch wenn sie sich lieber mit einer Statue unterhielt als mit der hochnäsigen Staatsanwältin, war es letztlich Jana Berzelius zu verdanken, dass Emma noch lebte, und sie hatte sich geschworen, künftig freundlicher zu ihr zu sein.

»Warum fragst du?«, fuhr sie fort.

Henrik schwieg eine Weile, ehe er antwortete.

»Die Frage ist, was du eigentlich von mir wolltest, als du mich angerufen hast, außer dich über deinen neuen Kollegen zu beschweren?«

»Genau das«, sagte sie, was ihn wieder zum Lachen brachte.

»Und wie läuft es mit den Vrinnevimorden?«, fragte er.

»Gar nicht.« Sie legte die Hand aufs Steuer.

»Keine neuen Spuren?«

»Nein. Gestern habe ich mit noch jemandem gesprochen, der nichts sagen wollte. Wir haben keinen Verdächtigen, wir sind weit von einer Festnahme entfernt, und auch die Mordwaffe haben wir bislang nicht gefunden.«

»Der Täter muss das Messer mitgenommen haben«, stellte Henrik fest.

»Oder die Täter«, sagte Mia. »Wir vermuten noch immer, dass es sich um eine Auseinandersetzung innerhalb der umkämpften Drogenszene handelt, die schließlich aus dem Ruder gelaufen ist.«

»Meinst du, es ist wirklich darum gegangen?«

»Worum denn sonst?«, entgegnete sie und runzelte die Stirn. »Du weißt doch selbst, dass es bei Bandenkriminalität fast immer um Drogen geht. Das Problem ist, dass wir seit fast einem Monat mit dem Fall beschäftigt sind. Ich weiß ja nicht, was Gunnar denkt, aber nur weil wir eine Vertretung bekommen, werden die Leute nicht plötzlich den Mund aufmachen.«

»Tut mir leid, Mia, jetzt muss ich die Kinder zur Schule bringen. Aber weißt du was?«

»Ja?«

»Das wird schon«, sagte er.

Idiot, murmelte Mia und lächelte vor sich hin, während sie das Handy zwischen die Autositze legte. Doch ihr Lächeln erstarb schon bald. Warum hatte er die Theorie über die Bandenkriminalität infrage gestellt? Was hatte ihn an den Vrinnevimorden so irritiert? Denn irgendwas war da.

Das Handy klingelte. Sie seufzte, als sie sah, dass es Gunnar war.

»Was ist denn jetzt?«, fragte sie knapp.

»Bist du unterwegs zum Polizeirevier? Bitte, sag, dass du hierher unterwegs bist.«

Gunnar klang aufgewühlt.

»Ich sitze im Auto«, sagte sie. »Wieso?«

»Es ist etwas Schreckliches passiert, Mia. Jemand hat ein Video bei YouTube hochgeladen.«

»Was für ein Video?«

»Von einem jungen Mann, an dessen Körper ein Sprengsatz befestigt ist«, sagte er. »Und du weißt genau, wer es ist.«

Jana stand vor dem hohen Spiegel in ihrem begehbaren Kleiderschrank. Langsam öffnete sie ihre weiße Seidenbluse, einen Knopf nach dem anderen, während sie an Per dachte. Gestern hatte er sie zum ersten Mal direkt gefragt, was sie zurückhielt. Es kam ihr so vor, als hätte er ihre Angst vor Nähe schon seit Längerem bemerkt, aber sich nie getraut, sie darauf anzusprechen.

Er wusste nichts über ihre Vergangenheit. Er würde nie begreifen, was sie erlebt hatte.

Jana atmete tief durch, schob das Haar zur Seite und strich mit den Fingern über die deformierten Buchstaben, die sie im Nacken trug.

Ker. Die Göttin des Todes.

Seit sie denken konnte, hatte sie alles getan, um die Narbe zu verbergen, und sie hatte panische Angst, dass Per herausfinden könnte, wofür die Buchstaben standen. Sie würde ihn verlieren, ihre Karriere, ihr ganzes Leben, wenn herauskam, dass sie als Kind zu einer Killerin erzogen worden war und dass sie selbst getötet hatte.

Kurze Erinnerungsfetzen zogen durch ihren Kopf. An den engen, stinkenden Container, die Reise über den Atlantik und die drei Männer, die sie und die anderen Kinder aussortiert hatten. Nachdem ihre Eltern erschossen worden waren, hatte man die Kinder auf eine Insel gebracht, weit vor der Küste bei Norrköping. Sie waren zu Killern ausgebildet worden, mit dem Ziel, ein Drogensyndikat zu schützen. Und sie hatten neue Namen bekommen. Namen, die in ihre Haut eingeritzt wurden und die sie für immer daran erinnern sollten, wer sie waren und wozu man sie gemacht hatte.

Natürlich war ihr klar, dass sie nur Kinder gewesen waren, hilflos in den Wahnsinn der Erwachsenen verstrickt. Aber sie konnte niemandem davon erzählen, insbesondere nicht, dass die Instinkte von damals immer noch da waren, obwohl seitdem so viele Jahre vergangen waren.

Jana legte das Haar wieder über den Nacken. Sie empfand nicht nur Panik davor, dass Per die Narbe sehen und die Wahrheit über ihren blutigen Hintergrund erfahren wollen würde. Da war auch noch etwas anderes. Eine intensive Sehnsucht, nach ihm.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als das Telefon klingelte.

Jana verließ den begehbaren Kleiderschrank, ging zu ihrem Bett und sah aufs Display. Unbekannte Nummer.

»Jana Berzelius«, meldete sie sich zögernd.

»Ich muss dich sehen.«

Unruhe breitete sich in ihr aus, als sie die Stimme ihres Vaters hörte. Karl Berzelius rief sie nur sehr selten an.

»Sofort«, fügte er hinzu. »Ich bin schon unterwegs.«

»Zu mir nach Hause?«, fragte Jana erstaunt.

»Ja.«

»Aber warum so eilig, worüber willst du reden?«

»Das wirst du gleich erfahren«, antwortete er und legte auf.

Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Sie hatte einen Verdacht, über was ihr Vater mit ihr reden wollte. Oder besser gesagt über wen.

Danilo Peña.

Den Mann, der Janas blutige Vergangenheit teilte und der immer eine Bedrohung für sie darstellte. Denn in seinem Nacken stand auch ein Name. Hades. Der Gott des Todes.

Sie beide waren die einzigen Überlebenden aus der Zeit auf der Insel, und er wusste genau, wie wichtig es ihr war, ihren gemeinsamen Hintergrund geheim zu halten.

Hass stieg in ihr auf, als sie an die vielen Male dachte, da er ihr damit gedroht hatte, ihre Identität preiszugeben. Wenn er weg wäre, dann müsste sie nicht mehr solche Angst davor haben, dass die Wahrheit ans Licht kommen könnte. Und sie könnte ihr Leben mit Per weiterführen, ohne befürchten zu müssen, dass Danilo sie wieder auseinanderreißen würde. Oder damit drohen, Per etwas anzutun, wenn sie nicht machte, was er wollte.

Danilo saß in der Klinik für Forensische Psychiatrie in Vadstena. Nach seiner Entlassung würde sie ihn umbringen, diesen psychopathischen Mistkerl. Sie würde ihn immer und immer wieder töten, bis sie ihn endgültig los war. Und es fühlte sich vollkommen unwirklich an, dass sie endlich erfahren würde, an welchem Tag das sein könnte.

Die Kamera glitt langsam über das verunstaltete Gesicht des Mannes. Das eine Auge war vollkommen zugeschwollen, das andere nur ein schmaler Schlitz. Die aufgequollenen Lippen bewegten sich, aber kein Wort war zu hören. Die Kamera schwenkte nach unten zur blutigen Adidasjacke.

»Was ist das denn?«

Mia starrte den Film an, der auf dem Computer im Konferenzraum abgespielt wurde.

Niemand aus dem Ermittlungsteam antwortete. Gunnar sah mit verbissenem Blick geradeaus, Ola kratzte sich an seiner gelben Mütze, Anneli spielte an ihrer dünnen goldenen Halskette herum, und Patrik hatte beide Hände in die Jeanstaschen geschoben. Obwohl sein kariertes Flanellhemd viel zu groß war, sah es wenigstens etwas anständiger aus als die Sachen, die er letztens angehabt hatte.

»Du erkennst ihn, oder?«, fragte Gunnar.

»Armand Muric. Wir haben ihn gestern hier bei uns vernommen.«

Sie sah wieder auf den Bildschirm. Unzählige Male hatte sie bei ihrer Arbeit misshandelte Menschen gesehen, ohne innerlich berührt gewesen zu sein. Aber jetzt, da sie das zerschlagene Gesicht des Zwanzigjährigen sah, wurde ihr eiskalt. Wie hatte sie ihn gehen lassen können? Warum hatte sie ihn nicht dabehalten und überredet, sich auf das Zeugenschutzprogramm einzulassen?

»Wie lange ist der Film schon auf YouTube?«

Patriks Stimme unterbrach ihre Gedanken.

»Seit sieben Minuten«, antwortete Ola und schob die Mütze nach oben. »Wir haben einen anonymen Tipp bekommen, kurz bevor der Film hochgeladen wurde. Wie ihr seht, wurde er von einer Person veröffentlicht, die sich MS-13 nennt. Das ist der Name eines riesigen Bandennetzwerks in Zentralamerika und den USA. Es gehört zu den gefährlichsten weltweit.«

Mia erhaschte gerade noch einen Blick auf ein Handy, das mit einer Art Sprengstoffweste mit Armand Murics Körper verbunden war. Dann wurde aus dem Bild herausgezoomt. Der Film wackelte kurz, als wäre die Person, die die Kamera hielt, nervös. Dann war das Video zu Ende, nach nur einer Minute und zwölf Sekunden.

»Wissen wir, wann das aufgenommen wurde?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Ola. »Aber es gibt einen Kommentar.«

Der IT-Forensiker lehnte sich über die Tastatur. Er war lang und dünn, obwohl er sich fast ausschließlich von Cola und Süßigkeiten ernährte, und er hatte die unglaubliche Fähigkeit, beinahe alles auf der Welt herauszufinden, wenn er nur einen PC und Internet zur Verfügung hatte. Rasch scrollte er hinunter zum Kommentarfeld und zeigte auf den Bildschirm, auf dem stand:

Um neun knallt’s in Hageby.

Hageby, dachte Mia. Der Stadtteil, der schon seit Jahren als Brennpunkt galt.

»Warum ist dieses Video hochgeladen worden?«, fragte Gunnar empört. »Wer tut so etwas?«

»Das kann doch nicht ernst gemeint sein.« Anneli schüttelte heftig den Kopf. »Man sprengt doch keine Menschen in die Luft.«

»Aber was, wenn jemand es trotzdem vorhat?«, entgegnete Mia und sah sie an. »Angenommen, Armand Muric sitzt tatsächlich gerade in diesem Raum?«

»Es ist zwanzig vor neun«, stellte Ola fest.

»Dann bleiben uns noch zwanzig Minuten«, sagte Patrik.

»Ola, spiel den Film noch mal ab«, bat Mia. »Wir müssen versuchen, ihn zu finden.«

»Bitte.« Ola klickte auf Play. »Aber es ist nicht gesagt, dass wir irgendwas sehen, was …«

»Ruhe.« Mia lehnte sich über seine Schulter. »Wir sehen einen fleckigen Fußboden, wir sehen eine schmutzig graue Wand …«

Die Anzahl der Aufrufe auf YouTube stieg die ganze Zeit und lag schon bei hundertzweiundsechzig. Das Video näherte sich dem Ende.

»Anhalten!«, rief Mia.

Ola klickte in dem Moment auf Pause, als aus dem Bild herausgezoomt wurde. Armand Murics zerschlagenes Gesicht war im Hintergrund zu sehen.

»Die leeren Regale, die Neonröhren«, sagte Mia. »Seht ihr das?«

Gunnar nickte. »Sieht aus wie ein verlassenes Lebensmittelgeschäft.«

»Noch achtzehn Minuten«, meinte Patrik.

»Also ein verlassener Laden in Hageby.« Ola scrollte durch die Kommentare, die allmählich eintrudelten:

Voll krank.

Finde ich auch. Wer lädt denn so einen Scheiß hoch?

Keine Ahnung, was das für ein Typ ist, aber ist ja gut, wenn sich das Ghettopack selbst ausrottet.

»Schau mal hier«, sagte Ola und zeigte auf den Kommentar eines Users, der sich Kirren011 nannte.

Cool, ich will den Knall sehen. Wo ist das?

MS-13 hatte geantwortet:

Wenn die Säulen noch da wären, würde die ganze Stadt den Knall sehen.

»Säulen?«, wiederholte Anneli. »Was meint er?«

»Irgendetwas, das leicht entzündlich ist«, überlegte Ola. »So was wie Gas, Benzin …«

»Zapfsäulen!«, rief Mia. »Armand Muric könnte in einer verlassenen Tankstelle sein.«

»Du hast recht«, sagte Gunnar. »Aber welche?«

»Die Uhr tickt«, bemerkte Patrik.

»Das wissen wir!«, fauchte Mia.

»Denkt mal nach«, fuhr Gunnar fort. »Wo in Hageby gibt es eine alte Tankstelle?«

»Die OKQ8«, sagte Anneli. »Ich weiß, dass die ihre Filiale in Hageby geschlossen haben.«

Ola tippte eifrig auf der Tastatur herum.

»Stimmt, die Tankstelle hat vor ein paar Jahren zugemacht.«

»Da muss Armand Muric sein«, sagte Mia. »Wir müssen hin!«

»Nicht ohne die Entschärfergruppe!«, mahnte Gunnar.

»Dann sag ihnen, dass sie sich beeilen sollen! Und sieh zu, dass YouTube das Video löscht.«

»Mia, in fünfzehn Minuten schaffen wir das nie und ...«

»Wir schaffen das!«, brüllte sie und lief aus dem Zimmer.

Jana war extrem angespannt, als sie die Tür öffnete und draußen ihren Vater stehen sah, der sich auf seinen Stock stützte. Der schwarze Mantel hing schwer auf seinen Schultern, und die stahlgrauen Augen musterten sie von oben bis unten.

»Erzähl«, sagte sie. »Wann wird er entlassen?«

»Ich bin mir gar nicht so sicher, ob du das wissen möchtest«, antwortete er und ging langsam an ihr vorbei in die Wohnung, ohne sich den Mantel auszuziehen.

Jana schloss die Wohnungstür mit einem kleinen Knall.

»Nichts auf der Welt will ich lieber wissen als den Zeitpunkt, an dem Danilo aus der Psychiatrie entlassen wird.«

»Jana. Du hast …«

»Nein«, unterbrach sie ihn und schüttelte den Kopf. »Jetzt sag bitte nicht, dass ich eine Wahl hätte. Die habe ich nämlich nicht! Danilo muss aus meinem Leben verschwinden. Ich kann nicht zulassen, dass er mich terrorisiert oder das zwischen Per und mir zerstört. Das darf nicht sein, also sag schon. Wann wird er entlassen?«

Ihr Vater ging schweigend weiter ins Arbeitszimmer.

Jana folgte ihm und beobachtete ihn, während er sich hinsetzte und beide Hände auf den Stock legte.

»Du hast doch dafür gesorgt, dass das Verwaltungsgericht die vorzeitige Entlassung aus dem Maßregelvollzug beschlossen hat!«, sagte sie frustriert. »Also warum sagst du nicht einfach, an welchem Tag er entlassen wird?«

»Weil du jetzt über andere Dinge nachdenken solltest!«, brüllte er.

Sie runzelte die Stirn und sah ihn verständnislos an.

»Wovon redest du?«

»Davon.«

Aus seiner Manteltasche zog Karl einen herausgerissenen Artikel aus den Norrköpings Tidningar und legte ihn auf den Schreibtisch.

Zögernd griff sie nach dem Zeitungsartikel. Eine eisige Kälte breitete sich in ihr aus, als sie die Überschrift las. Es ging um die Morde im Vrinneviskogen.

»Wann wolltest du mir davon erzählen?«, fragte er.

Sie schluckte angestrengt.

»Was erzählen?«

»Hör auf mit deinen jämmerlichen Versuchen, die Unschuldige zu spielen«, erwiderte er. »Das ist dein Werk, Jana. Wir wissen beide, dass du die drei Männer getötet hast.«

»Ganz ehrlich, ich verstehe nicht, was du …«

»Mir entgeht nichts!«, rief er und riss ihr den Artikel aus der Hand. »Wie oft muss ich es dir denn noch sagen?«

Jana schwieg.

»Dank meiner Kontakte habe ich erfahren, dass einem der Männer zweimal mit dem Messer in die Bauchgegend und einmal in den Hals gestochen wurde. Wer außer dir würde das tun?«

»Vater, hör bitte zu …«

»Nein«, unterbrach er sie. »Gib es schon zu. Gib zu, dass du sie getötet hast!«

Sie sah ihn an und nickte.

Karl legte den Artikel wieder auf den Schreibtisch und lehnte sich zurück.

»Warum?«, fragte er ruhig.

»Es war Notwehr.«

»Notwehr?«

Er schnaubte.

»Du verstehst mich nicht«, sagte sie verbissen. »Sie waren mit einem Messer bewaffnet und haben mich angegriffen.«

»Und das Messer?«, fragte er.

»Ich habe es abgewischt und in einen Abfallkorb geworfen.«

»Wo?«

»Warum willst du das wissen? Ich …«

»Wo?«, wiederholte Karl hart.

»Am Fußweg bei der Ravingatan, direkt vor dem Tunnel, der unter dem Söderleden hindurchführt.«

Ihr Vater erhob sich.

»Wie kannst du so nachlässig sein?«, fragte er und ging zu ihr. »Und wenn dich jemand gesehen hätte? Was hättest du dann getan? Hättest du denjenigen auch gleich mit umgebracht?«

»Mich hat aber niemand gesehen.«

Karl schnaubte wieder.

»Du hast alles aufs Spiel gesetzt, verstehst du das nicht? Du hast deine Karriere aufs Spiel gesetzt, dein Leben. Ist das der Dank? Für alles, was ich für dich getan habe?«

»Du hast mich erschaffen!«

Wut stieg in ihr auf.

»Sei nicht unverschämt, Jana.«

Er ging an ihr vorbei durch den Flur. Sie folgte ihm.

»Du weißt, dass es stimmt«, erwiderte sie. »Du hast mir den verdammten Namen in meinem Nacken gegeben!«

»Es reicht jetzt!«

Ihr Vater öffnete die Wohnungstür, trat ins Treppenhaus und drehte sich noch einmal zu ihr um.

»Du stellst eine Gefahr dar, Jana. Für dich selbst und für andere.«

»Danke, aber ich komme schon klar.« Sie knallte ihm die Tür vor der Nase zu.

Das Blut pochte in ihren Schläfen, als Mia zusammen mit Patrik vor der stillgelegten Tankstelle in Hageby hielt. Die Zapfsäulen, Lampen und Schilder waren schon lange abgebaut, die Fenster des Tankstellenshops zugenagelt, und die Metalltür an der Seite des schmutzig grauen Gebäudes war voller Graffiti. Die Streifenpolizisten, die sie begleitet hatten, sprangen aus ihren Wagen und begannen rasch, das Gelände abzusperren.

»Es ist 8.54 Uhr«, sagte Patrik. »Jetzt sind es nur noch …«

»Sechs Minuten, ich weiß!« Mia sah sich durch die Autoscheibe hektisch um. »Wo stecken die Entschärfer, verdammt?«

»Sie sind unterwegs.«

»Aber sie werden nicht herfinden, keine Chance.«

Sie kaute an ihrem Daumennagel.

»Wir wissen ja nicht mal, ob dieser Muric da drin ist«, meinte Patrik vorsichtig.

»Er ist da! Ich spüre es, und er wird sterben, wenn wir nichts unternehmen!«

Sie schnallte sich ab.

»Nein«, sagte Patrik und streckte den Arm aus, um sie zurückzuhalten. »Du bist verrückt, du darfst nicht …«

Mia ignorierte ihn, stieg aus und lief auf die Tankstelle zu. Kein Mensch war zu sehen, kein einziges Auto. Das Gelände war vollkommen leer.

»Mia!«

Patrik rief ihr hinterher, aber sie ging weiter über die Asphaltfläche und auf die Metalltür zu. Ihr fiel ein, dass die Tankstelle mit Sprengsätzen versehen sein könnte und dass sie keinerlei Schutzausrüstung trug. Trotzdem drückte sie die Klinke nach unten, doch die Tür ließ sich nicht öffnen.

»Wir können da nicht reingehen!«, rief Patrik, der sie eingeholt hatte. »Das Risiko ist zu groß, es bleiben uns nur noch ein paar Minuten!«

»Hilf mir lieber!«

Mia zerrte und zog an der Klinke. Die Tür knackte, und der Schweiß lief ihr den Rücken hinunter.

»Sie lässt sich nicht bewegen. Wir müssen das Schloss aufschießen.«

Patrik hantierte an seinem Holster herum.

»Mach schon!«, sagte Mia ungeduldig und zerrte ihre eigene Waffe heraus. »Pass auf!«

Mit drei schnellen Schüssen hatte sie das Schloss aufgeschossen. Die Knallgeräusche hallten auf dem einsamen Gelände wider.

Sie steckte die Pistole wieder ins Holster, zog die Tür auf und sah in den verlassenen Raum hinein.

»O Gott …«

Es war tatsächlich Armand Muric. Auch wenn sein Gesicht zugeschwollen war, erkannte sie ihn. Er bewegte sich nicht, sein Kopf war zur Seite gefallen. Leblos saß er auf einem Stuhl nahe der Wand. Auf der Adidasjacke waren Blutspritzer, auf dem hellgrauen Fußboden große rote Flecken.

Ihr erster Impuls war, zu ihm hineinzulaufen, aber Patrik packte sie.

»Es kann jeden Moment knallen. Wir müssen hier weg!«

»Hör auf!«, schrie sie, als er sie von der Tür wegzog. »Wir können ihn nicht hier zurücklassen!«

»Die Entschärfer sind jetzt da.«

Mia drehte sich um und sah zwei graue Kleinbusse, die auf das Gelände einbogen und parkten. Sie befreite sich aus Patriks Griff und lief zu den Kollegen.

Ihr Herz dröhnte in der Brust, während sie die Männer beobachtete, die mit Helmen und schweren Westen ausgerüstet aus den Kleinbussen stiegen. Armand Muric lebte noch, sie könnten es schaffen, ihn zu retten!

»Beeilt euch, er ist da drinnen!«, rief sie ihnen zu.

In diesem Moment blitzte ein heller Lichtschein auf, und eine enorme Druckwelle warf sie nach hinten.

Ein lauter Knall brachte das Bett zum Vibrieren. Ibrahim warf die Decke ab und richtete sich auf. Hatte er sich das nur eingebildet? Doch dann hörte er die unruhige Stimme seiner Mutter aus der Küche: »Oje, was war denn das?«

Er ging zum Fenster, zog die Jalousie hoch und sah auf den Innenhof hinaus. Alles sah aus wie immer. Der umgekippte Einkaufswagen, den niemand wegräumte. Die Parkbank, die so kaputt war, dass man nicht mehr darauf sitzen konnte. Und das identische Hochhaus gleich gegenüber, in dem fast alle Fenster mit Laken, Kartonstücken oder schwarzen Müllsäcken abgedeckt waren.

Doch irgendetwas ließ sein Herz heftiger schlagen.

In Hageby passierte sowieso schon viel Mist. Vor einem Monat hatte ein Neuntklässler dem Busfahrer ein Messer in den Bauch gestochen, weil der sich geweigert hatte, ihn ohne Fahrschein mitzunehmen. Und der Kiosk, wo Ibrahim und seine kleine Schwester gerne Eis kauften, war mehrmals überfallen worden. Das Allerschlimmste aber war vor drei Wochen im Wald passiert.

Dort durfte er nicht mehr hingehen, obwohl seine Mutter ihm sonst ziemlich viel erlaubte. Sie hatte ihm nicht erzählt, was passiert war, sie hatte nur gesagt, dass er sich vorsichtshalber von dort fernhalten müsse.

Aber er wusste es trotzdem.

Ibrahim ließ die Jalousie wieder herunter und ging zum Kleiderschrank, an dem ein großes Plakat von Real Madrid hing. Es war die Lieblingsmannschaft seines großen Bruders, und Ibrahim hatte es hängen lassen, als sein Bruder ausgezogen war. Er mochte es, genauso wie die kleinen Planeten auf der Tapete, das weiche Bett und die blaue Bettlampe.

Nur den Schreibtisch mochte er nicht. Die Platte war mit eingeritzten Kritzeleien übersät und sah leer aus, jetzt, da der Computer weg war. Er hätte gern auf einen neuen gespart, wusste aber nicht, wo er das Geld hernehmen sollte. Es war schon lange her, dass er zuletzt nach Taschengeld gefragt hatte, und er traute sich nicht, seine Mutter zu fragen, warum sie den Computer weggenommen hatte.

Er zog sich einen Kapuzenpulli und eine Trainingshose über. Dann trat er einen Schritt zurück, um sich im Spiegel auf der Innenseite der Tür zu betrachten. Die Kleider wirkten an seinem mageren Körper viel zu groß, das Haar war lockig, und am Kinn leuchteten zwei hässliche Pickel. Hätte er bloß stattdessen ein paar Bartstoppel, dann würde er bedeutend älter als vierzehn aussehen. Dabei spielte das Alter eigentlich keine Rolle. Alles hatte mit dem Blick zu tun. Wenn die Augen flackerten oder man nervös wirkte, konnte man in der Schule Probleme bekommen. Sogar Prügel. Das war auch so, wenn man jemanden zu lange ansah.

Mit schleppenden Schritten ging er in die Küche.

Seine Mutter saß mit dem Handy am Küchentisch und wischte schnell über das Display. Ihre dunklen Ponyfransen hingen ihr in die Stirn, sie hatte die kleinen Perlenohrringe angelegt und trug ihre übliche Arbeitskleidung, ein schwarzes Hemd mit einem Logo, das ihn an einen Kristallleuchter erinnerte. Er traute sich nicht, es laut zu sagen, aber er fand, dass es ihr richtig gut stand. Viel besser als die meisten anderen Kleidungsstücke, die sie besaß. Schließlich putzte sie auch in einem der besten Hotels der Stadt.

»Ich verstehe das nicht. Ich habe überall gesucht, aber niemand schreibt, was da passiert ist. Du hast den Knall auch gehört, oder?«

Sie sah ihn an.

»Ja«, antwortete er und stellte Schüsseln, Löffel und eine Packung Cornflakes für sich und seine kleine Schwester auf den Tisch.

Dann öffnete er den Kühlschrank, nahm die Milch heraus und schloss die Tür ein bisschen zu fest.

Durch den Luftzug flog ein Foto von seinem großen Bruder mit seinem kleinen Sohn auf dem Arm zu Boden. Seine Mutter warf ihm einen raschen Blick zu, ehe sie weiter auf ihrem Handy herumwischte.

Ibrahim stellte die Milch ab, hob das Foto vom Boden auf und befestigte es mit einem Magneten, der wie ein Marienkäfer aussah. Dann ließ er sich an den Tisch sinken und kippte einen Berg Cornflakes in eine der beiden Schüsseln.

»Nein, jetzt habe ich keine Zeit mehr zum Suchen«, sagte seine Mutter und legte das Handy weg. »Ich muss zur Arbeit, und du, junger Mann, musst in die Schule.«

»Wir fangen heute erst um halb zehn an …«

»… weil ihr heute Schulausflug habt, ich weiß«, ergänzte sie. »Aber ich will, dass du Fatima vorher in der Kita ablieferst. Denkst du an deinen Turnbeutel?«

»Der ist schon gepackt«, antwortete er und leerte die Milchpackung über den Cornflakes aus.

»Du hast ihn seit letzter Woche nicht ausgepackt, oder?« Seine Mutter beugte sich vor und zerzauste ihm leicht das Haar. »Du bist echt unmöglich.«

Ibrahim lächelte und griff nach dem Löffel. Er wollte ihn gerade in die Milch tauchen, als Martinshörner zu hören waren.

»O nein«, sagte seine Mutter. »Das klingt ja beinahe so, als wäre die Polizei zu uns unterwegs.«

Sie erhob sich und ging zum Fenster.

Ibrahim spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Aus irgendeinem Grund kam es ihm so vor, als wüsste er schon jetzt, was da Schreckliches passiert war.

Jana fuhr in hohem Tempo auf der E 22 in Richtung Hageby. Sie hatte eben einen Anruf mit der Information über den Sprengstoffanschlag bekommen, der ein Menschenleben gefordert hatte, und sie wollte den Tatort mit eigenen Augen sehen. Sie versuchte, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, doch das Gespräch mit ihrem Vater ging ihr nicht aus dem Kopf. Allein der Gedanke daran, dass sie ihm gestanden hatte, die Männer im Vrinneviskogen getötet zu haben, verursachte ihr Übelkeit. Zwar hatte sie schon befürchtet, dass die Wahrheit sie eines Tages einholen würde, aber damit hatte sie nicht gerechnet.

Ihr Vater hatte keine Ahnung, was an jenem regnerischen Dienstagabend geschehen war. An diesem Abend hatte sie die brutale Erkenntnis getroffen, dass Per ein Verhältnis mit einer anderen Frau hatte.

Jana biss die Zähne zusammen, während ihr Gehirn die unerträglichen Bilder von Per und Viktoria in der Tennishalle vor ihr abspielte, von ihrem Lächeln und ihren ineinander verflochtenen Fingern. Die Wut war wie rotglühender Stahl in ihr aufgelodert. Um sich abzulenken, war sie laufen gegangen. Viel zu schnell und viel zu lange war sie durch den Dauerregen gerannt, und als sie sich schließlich ins nasse Gras des Vrinneviskogen hatte sinken lassen, war sie atemlos und vollkommen erschöpft gewesen.

In diesem Moment waren die drei jungen Männer aufgetaucht. Sie hatten sie überfallen und festgehalten und hatten versucht, sie zu vergewaltigen.

Einer von ihnen, Zoran, hatte ihr ein Messer an den Hals gedrückt, während er sich die Hose aufgeknöpft hatte. Mit letzter Kraft hatte sie sich befreit, ihm das Messer aus der Hand gewunden, ihm zweimal in die Bauchgegend gestochen und einmal in den Hals. Genau wie sie es in den zahlreichen Trainingseinheiten ihrer Kindheit gelernt hatte.

Ein einziger Schnitt durch die Kehle des anderen Mannes hatte gereicht.

Ein Stich durch den Hals des Dritten.

Dann war sie gegangen.

Es war reiner Reflex gewesen. Sie hatte es einfach getan, getrieben von einem starken Überlebensinstinkt.

Wenn sie nicht genug Kraft gehabt hätte, um sich zu wehren, was wäre dann passiert? Und wenn sie die drei nicht getötet hätte – wie vielen anderen Frauen hätten die Männer etwas angetan?

Jana schüttelte den Kopf über sich selbst.

Das waren nur jämmerliche Ausflüchte. Die Männer waren tot, sie war schuld daran und hatte sich zudem in eine gefährliche Situation gebracht. Es war nachlässig gewesen, das Messer in den Abfallkorb zu stopfen, das wusste sie, aber sie war nach dem Überfall so erschöpft gewesen, dass sie nicht klar denken konnte.

Das Problem war, dass sie an den Geschehnissen nichts mehr ändern konnte.

Frustriert umklammerte Jana das Lenkrad.

Sie fuhr am Einkaufszentrum Mirumgallerian vorbei. Ihr Blick fiel auf das zuckende Blaulicht und die hohe Rauchsäule, die gen Himmel stieg. Sie bog ab, parkte ein gutes Stück von den Absperrungen an der Tankstelle entfernt und grübelte weiter über ihren Vater nach. Was würde er mit dem Wissen anfangen, dass sie hinter den Morden steckte? Er hatte ihr keine Erklärung geliefert, und sie hoffte, dass er nichts weiter unternehmen würde.

Aber was, wenn jemand anders erfuhr, dass sie die Männer getötet hatte? Wenn ihre dunkle Vergangenheit ans Licht kam?

Jana wollte es nicht wissen.

Wollte sich keine Sorgen darum machen.

Nicht jetzt.

Am besten niemals, dachte sie und stieg aus dem Wagen.

Der beißende Rauch erschwerte das Atmen. Mia hustete, als sie Jana Berzelius sah, die sich an der Menschenmenge vor der zerstörten Tankstelle vorbeidrängte. Die Staatsanwältin zeigte dem uniformierten Kollegen, der vor der Absperrung Wache hielt, ihren Ausweis. Er hob das blauweiße Band hoch, um sie durchzulassen, und versuchte die Schaulustigen daran zu hindern, den Ort zu fotografieren und zu filmen, wo sich soeben die furchtbare Tragödie ereignet hatte.

Mia zog die gelbe Rotkreuzdecke enger um sich und drehte sich zu Gunnar und Patrik um, die neben ihr standen. Schweigend betrachteten sie die Polizeistreifen, Feuerwehrautos und Rettungswagen, die inzwischen eingetroffen waren.

Die Zerstörung war enorm. Eine ganze Wandpartie war aufgerissen worden, und der asphaltierte Platz war mit Blechteilen, Glassplittern und Holzstückchen übersät.

Sie war so darauf konzentriert gewesen, ins Gebäude einzudringen, dass sie erst jetzt die Umgebung genauer in Augenschein nahm. Direkt neben der Tankstelle verliefen Straßenbahngleise, der Verkehr war vorübergehend eingestellt worden. Die Fenster in der Schule gleich gegenüber waren zerbrochen. Die evakuierten Schüler hatten sich auf einem kleinen Hügel versammelt, und einige der Kinder zeigten auf die Feuerwehrleute, die sich bemühten, die aus dem Gebäude emporschießenden Flammen zu löschen.

»Gut, dass Sie hier sind«, sagte Gunnar, als Jana Berzelius zu ihnen trat. »Wir müssen diesen Fall lösen und dem ganzen Mist, der hier passiert, einen Riegel vorschieben.«

Jana Berzelius nickte. Ihr dunkles Haar glänzte in der Sonne, ihre Haut war makellos, und ihre Bluse wies keine einzige Falte auf.

Mias Gesicht war schmutzig von der Explosion, und es klingelte in ihren Ohren. Patrik sah genauso dreckig aus. Sein Flanellhemd war staubig, und er hatte Schürfwunden an den Händen, nachdem die beiden von der Druckwelle durch die Luft geschleudert worden waren.

»Frau Berzelius, ich möchte Ihnen gern unseren neuen Kollegen vorstellen«, fuhr Gunnar fort. »Patrik Wiking wird uns in Henrik Levins Elternzeit unterstützen.«

»Wäre es nicht besser, wenn wir uns jetzt auf die Arbeit konzentrieren würden?«, unterbrach Mia genervt ihren Chef. »Eben ist ein junger Mann in die Luft gesprengt worden, da finde ich Smalltalk echt unangebracht. Wir sollten besser die Leute drankriegen, die hinter dem Anschlag stecken.«

»Ach, Mia.« Gunnar seufzte.

»Nein, Mia hat recht«, entgegnete Patrik. »Über mich gibt es ohnehin nicht viel mehr zu sagen, als dass ich ein ganz normaler Typ aus dem Provinzkaff Mjölby bin.«

Gunnar nickte.

»Dann kommen wir gleich zur Sache. Das Opfer heißt Armand Muric, und wir haben kurz vor der Explosion einen Hinweis bekommen, dass er sich in der stillgelegten Tankstelle befindet, mit einem Sprengsatz am Körper.«

Mia konnte es nicht fassen. Natürlich hatte es schon vorher Sprengstoffanschläge gegeben, aber sie hatten sich gegen Pizzerien, Restaurants und Mietshäuser gerichtet, es waren keine regelrechten Hinrichtungen gewesen. Was mochte Armand Muric gedacht haben, als er in der Tankstelle saß, mit der Bombe am Körper? Hatte er sie und Patrik noch bemerkt? Hatte er Angst gehabt, war er vor Schreck wie gelähmt gewesen? War ihm bewusst gewesen, was vielleicht gleich passieren würde?

»Wer hat Ihnen den Hinweis auf Murics Aufenthaltsort gegeben?«, fragte Jana Berzelius.

»Vermutlich derselbe Mistkerl, der ihn gefilmt und den ganzen Scheiß im Internet hochgeladen hat«, meinte Mia.

Sie wollte nicht wahrhaben, dass Armand Muric tot war, ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie selbst hätte getötet werden können, wenn Patrik sie nicht davon abgehalten hätte, das Gebäude zu betreten. Und sie schämte sich vor Gunnar, der sie offenbar für eine gedankenlose Idiotin ohne Urteilsvermögen hielt.

»Jemand, der sich MS-13 nennt, hat ein Video von Armand Muric veröffentlicht«, erklärte Gunnar. »Der Film wurde auf YouTube hochgeladen und zeigt, dass man Muric schwer misshandelt hat, ehe er in die Luft gesprengt wurde.«

»Wissen wir, wer dieser MS-13 ist?«, fragte Jana Berzelius.

»Nein, aber wir wissen, dass es der Name eines der schlimmsten Bandennetzwerke weltweit ist. Vermutlich ist der Typ ein Fan von denen«, murmelte Mia, während ein Auto mit dem Logo des schwedischen Fernsehens SVT heranrollte.

Eine Frau mit Mikro und vollen Lippen sprang heraus, gefolgt von einem Kameramann.

»Wir werden herausfinden, wer hinter dem Namen steckt«, antwortete Gunnar. »Das Video ist bei YouTube inzwischen gelöscht worden, aber Ola Söderström hat es sich vorher runtergeladen.«

»Die Tankstelle ist ja gut einsehbar, vielleicht hat jemand beobachtet, wie Armand Muric hergebracht wurde«, schlug Jana Berzelius vor.