Radikale Kompromisse - Yasmine M'Barek - E-Book
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Radikale Kompromisse E-Book

Yasmine M'Barek

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Beschreibung

Ohne Kompromisse keine Zukunft! Mehr und mehr kennzeichnet radikale Kompromisslosigkeit unsere Diskurse in Politik und Gesellschaft. Gleichzeitig wird klar: Wir kommen kaum voran. Über drängende Themen wie Klimawandel, Impfpflicht, Rassismus bei der Polizei oder Gleichberechtigung zwischen Klassen oder Geschlechtern wird heftig polemisiert, ohne dass es zu Ergebnissen kommt. Die Fronten sind klar: Ihr oder wir. Yasmine M'Barek zeigt, dass es auch anders geht. Dass wir uns dringend vergegenwärtigen müssen, warum wir es verlernt haben, miteinander zu sprechen, und wo die Fehler in der Kommunikation der Idealisten liegen, die in der Konsequenz Kompromisse verhindern, die uns als Gesellschaft weiterbringen würden. Dabei erklärt sie den scheinbar unanfechtbaren Mythos der schwarzen Null (die außerhalb Deutschlands völlig unbekannt ist), warum der Ausstieg aus der Atomkraft ein gutes Beispiel dafür ist, warum man die Meinung der Realisten nicht vernachlässigen sollte, um negative Folgen zu vermeiden, und warum sich der Generationenkonflikt nur lösen lässt, wenn man ihn von der Schuldfrage löst. Radikale Kompromisse ist ein hellsichtiges Plädoyer dafür, zu echter Realpolitik zurückzukehren und mit ihrer Hilfe Wege zu finden, die Mitte der Gesellschaft für die weitreichenden Veränderungen zu gewinnen, vor denen wir unmittelbar stehen. Demokratie bedeutet in erster Linie, miteinander zu sprechen, für Ideen zu werben, und Kompromisse zu schließen, statt die eigene Ansicht gegen den Widerstand der anderen durchzudrücken. Andernfalls verlieren wir alle – trotz der vielen guten Ideen, die derzeit kursieren. Der Erfolg einer Ampelkoalition wird sich auch daran messen lassen müssen, ob ihr genau das gelingt.   "Radikale Kompromisse ist ein überfälliges Plädoyer für die Offenheit und Lernbereitschaft unserer Gesellschaft, und ganz grundsätzlich für die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie. Yasmine M'Barek skizziert anhand von Beispielen aus dem richtigen Leben schonungslos, wie durch aktivistisch geführte Debatten, vermeintlich moralisch Überlegene gegen vermeintlich von Veränderungen Verunsicherte gegeneinander ausgespielt werden und wir dabei die Spaltung unseres Landes riskieren.  Aber das Buch ist mehr als eine Gegenwartsanalyse: Der Autorin gelingt es mit ihrer reflektierten Art, an uns alle zu appellieren: dass wir erklären, ohne erhobenen Zeigefinger, dass wir mutige Anstöße geben, ohne zu missionieren, dass wir Kritikfähigkeit lernen, ohne uns gekränkt einer Debatte zu verschließen. Seid komplexer! Das Buch ist ein großartiger Appell an uns alle, und zeigt, wie wichtig es ist, die Herausforderungen unserer Zeit in einem konstruktiven Miteinander zu meistern." - Andreas Scheuer "Eine der einflussreichen jungen Journalistinnen des Landes." - Markus Lanz  

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Seitenzahl: 195

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Yasmine M’Barek

Radikale Kompromisse

Warum wir uns für eine bessere Politik in der Mitte treffen müssen

Hoffmann und Campe

Für Noah, Angela, Samir und Léon

»Im Grunde bin ich der Meinung, dass ein Schriftsteller seiner inneren Wachstumskurve folgen und auf das Beste hoffen sollte.«

 

DORIS LESSING

Das erste KapitelVon einer Bahnfahrt, dem Gendern und Sprachverboten

»Die Vorstellung einer heiligen, okkulten Wahrheit, zu der nur eine Initiation den Zugang eröffnet, verstellt den Blick auf die Dimension ihrer Entstehung und ihres Werdens. Was verschleiert ist, wird in einer starren Unzeitlichkeit begriffen. Es ist für alle Ewigkeit verborgen. Nun gibt es aber auch im Geheimen ein Werden.« Anne Dufourmantelle[1]

Liebe Leser,

wie verändert sich eine Gesellschaft? Wie schaffen wir es, uns tiefgreifend neu zu formieren, ohne dass wir als Gemeinschaft auseinanderbrechen und alles im Chaos endet? Das sind die drängenden Frage unserer Zeit. Genau weiß das wahrscheinlich niemand. Ich glaube, es hilft bereits, zu erkennen, was dabei kontraproduktiv ist. Dann ist man bereits einige Schritte weiter. Und dazu kann ich Ihnen einiges sagen. Lassen Sie uns also damit anfangen, zu überlegen, was eine Gesellschaft hindert, sich zu verändern.

***

Hat meine Anrede Sie bereits stutzig gemacht? Richtig gelesen, ich favorisiere das generische Maskulinum. Das heißt, ich benutze generell die männliche Form, wenn ich spreche und schreibe, eine generelle Anrede, die alle Menschen mit einschließt. Zum Beispiel würde ich auch sagen: »Liebe Zuschauer …« Eigentlich ist dies die üblichste Form aller Ansprachen, mit der die meisten von uns – ob die sogenannte Generation Z (also die ab 1996 geborenen) oder die Boomer – sozialisiert wurden. In der Schule, beim Kinderarzt, beim Beantragen eines Reisepasses oder im Radio – immer galt die männliche Pluralform als allumfassend.

Sprache ist stetig im Wandel. Begrifflichkeiten werden überprüft und gegebenenfalls geändert. Auch Anreden und ihre Wirkung – also wen man ansprechen möchte und wie die Ansprache verstanden wird – werden hinterfragt. So auch beim sogenannten Gendern. Jetzt stellt sich die spannende Frage, weshalb ich diesen Einstieg gewählt habe. An der Frage des Genderns zeigt sich ziemlich exemplarisch, wie wir gesellschaftliche Debatten führen: nämlich ohne dass wir einen Konsens anpeilen, obwohl es alle betrifft. Ein gutes Beispiel dafür also, wie Debatten nicht funktionieren. Meine Präferenz, mit dem generischen Maskulinum zu gendern, ist weder gut noch schlecht. Es ist schlicht eine Option. Zusätzlich momentan aber auch ein durchaus politischer Standpunkt: weil ich so schreibe und spreche, obwohl ich mit der akademischen Tiefe der Genderdebatte vertraut bin. Dabei meine ich, wie bereits erwähnt, damit alle Menschen. Das mag das generische Maskulinum nicht sofort suggerieren, aber allein, dass wir darüber nachdenken, dass das generische Maskulinum nicht alle miteinschließen könnte, ist ja schon eine Folge der Debatte und somit politisch.

Die Debatte darum, ob und wie man gendert, hat groteske Ausmaße angenommen und dazu geführt, dass sich wildfremde Menschen auf der Straße anpöbeln oder Bücher nicht mehr gekauft werden, wenn darin nicht gegendert wird oder vielleicht noch eher gerade, wenn darin gegendert wird.

Wenn Journalisten gendern, dann bekommen sie Nachrichten, in denen ihnen vorgeworfen wird, dass der Journalismus ja gar nicht mehr neutral sei. Linksgrün sei nun überpräsent, einen Text mit Gendergaga könne man ja gar nicht mehr lesen. Wenn ich nicht gendere, fragen mich Menschen, weshalb ich das mache, ob ich bewusst diskriminiere oder es nur vergessen hätte. Falls ersteres der Fall sei, dann seien sie von mir enttäuscht.

Ich nehme das keineswegs persönlich, denn es ist eine durchaus berechtigte Frage, ob man diskriminiert oder nicht. Viel interessanter daran ist, dass deutlich wird, vor welchen Problemen der Journalismus steht. Intern beschäftigt die Debatte, ob man nun gendern soll oder nicht, ganze Redaktionskonferenzen. Journalisten fragen sich, welche pädagogische Aufgabe sie gegenüber den Lesern haben. Oder haben sie überhaupt keine? Eine Kettenreaktion.

Dabei interessiert das Gendern, das scheinbar unseren Bekanntenkreis in Gut und Böse teilt, den kleinen Mann – hier wortwörtlich – gar nicht sonderlich. »Ich hab doch nichts dagegen, mein Gott, wieso ist immer alles gleich so fürchterlich« – so begann eine Konversation im Zug (natürlich im ICE, denn alle zu Selbstüberschätzung neigenden Journalisten reichern ihre Thesen mit Anekdoten aus dem echten Leben an, das sich nun mal zu einem großen Teil in Zoom-Calls, Taxen und Zügen abspielt). Ich entschuldige mich bereits jetzt für die Unannehmlichkeiten, denn dies wird nicht die letzte Anekdote auf Reisen gewesen sein, die sie in diesem Buch von mir hören werden.

Der Mann im Zug war mittelalt, seine Kleidung hatte einen großen Wollanteil, und seine Ledertasche war sicherlich ein Weihnachtsgeschenk. Er las die Frankfurter Allgemeine Zeitung (die auch für ihre interne Diskussion rund ums Gendern bekannt ist – man möchte ja keine Leser umerziehen oder sich der linksgrünen Trendwende anbiedern). Ihm gegenüber saß ich, die erkennbar migrantische Person, zusammen brausten wir in der 1. Klasse eines Intercity-Express in Richtung Berlin – die Aggressionen der Zugteilung in Hamm hatten wir bereits hinter uns. Unser Gespräch startete, weil der Mann mich ganz direkt fragte, was denn ich von diesem Gendern halten würde. So narzisstisch, wie man als Schreiber nun oft ist, dachte ich sofort kurz darüber nach, was in Gottes Namen mich in seinen Augen für diese Ansprache qualifizierte. Werde ich hier marginalisiert, brauchte er die Bestätigung einer jungen Frau, dass seine Weltanschauung doch nicht menschenfeindlich sei, oder war er einfach dringend auf der Suche nach jemandem zum Reden?

»Um ehrlich zu sein, ich gendere persönlich nicht, falls Sie das wissen wollen.«

»Da scheinen Sie ja zu den vernünftigen Personen Ihrer Generation zu gehören.«

»Nein, das denke ich nicht.«

»Na gut, dann nicht.«

Stille. Wo kommt nur dieser Drang her, Menschen anhand ihrer Sprache in Vernunft und Unvernunft einzuteilen? Wir waren uns im Grunde einig, trotzdem war ich auf Hundertachtzig. Wieso zur Hölle generalisierte dieser Herr eine ganze Generation?

»Würde es Sie denn stören«, fragte ich, »wenn ich gendern würde? Was hätten Sie gesagt, wenn ich so geantwortet hätte?«

»Nun ja, dass Sie Leute umerziehen wollen, die damit nie ein Problem hatten. Ich meine, haben wir keine anderen Probleme?«

Er schaut mich verblüfft an.

»Sie anscheinend nicht.«

»Bitte?«

»Da Sie sich ja so sehr am Gendern des Gegenübers zu stören scheinen, haben Sie das Problem.«

»Aber ich habe mit dieser Diskussion doch nicht angefangen! Haben die Leute wirklich nichts anderes zu tun? Ich war auch schon auf Demos.«

Himmel!

»Befreien Demobesuche jetzt von der Teilnahme an gesellschaftlichen Diskussionen?«

»Ich meine ja nur, es gibt doch anständige Dinge, für die man sich einsetzen kann.«

»Sie werten jetzt eine politische Debatte ab, die Ihnen von niemandem aufgezwungen worden ist?«

»Oh doch, die FAZ gendert zumindest nicht, aber die Öffentlichen machen das ja mittlerweile, man kann dem ja nicht entfliehen.«

»Gott segne das reiche Angebot der Medien.«

Er schnaufte.

»Sie sind arrogant.«

»Und Sie verrennen sich.«

Bis Berlin gab es dann nur noch ein paar abgeneigte Blicke, Irritierung und Genervtheit über 37 Minuten Verspätung. Quintessenz: Der Diskurs fällt doch oft genau darauf zurück – auf die Ergötzung des Individuums, die Verabsolutierung der eigenen Meinung. Sowohl von meiner als auch seiner Seite in diesem Fall, so ehrlich muss man sein.

Woher kommt diese Kompromisslosigkeit? Sie zieht sich neuerdings durch alle Debatten in Deutschland wie eine rote Schnur. »Jeder nach seiner Façon?« Längst nicht mehr. Die eigene Meinung konstituiert die Welt, wie sie zu sein hat.

Wenn es nach den Zahlen geht, ist die Sache klar: Rund 65 Prozent der Deutschen wollen nicht gendern. Bei den Anhängern der Grünen sind es knapp 50 Prozent. Innerhalb der SPD sind 57 Prozent dagegen, in der Union gar 68 Prozent. Viel größer wird die Ablehnung bei den Linken mit 72 Prozent, darauf folgen die FDP mit 77 und die AfD mit 83 Prozent. Und besonders spannend: Die Zahlen sind seit der letzten Erhebung vor einem Jahr, nach all den Debatten und Forderungen, nicht etwa gesunken, sondern gestiegen.[2] Wieso ist das Gendern dann überhaupt so ein großes Thema, wo es doch offensichtlich keinen Konsens gibt? Die Diskussion ist längst über die sachliche Analyse hinweg – ob man selbst gendert oder nicht, ist ein Politikum, eine Einstellung, die keineswegs leicht zu entfärben ist.

Man kann auf verschiedene Arten Gendern. Man kann zum Beispiel auch das generische Femininum verwenden. Dann würde es »Liebe Leserinnen« heißen, womit alle Geschlechter angesprochen sein sollen, genau wie bei »Liebe Leser«. Man kann auch ganz explizit Männer und Frauen benennen: »Liebe Leser und liebe Leserinnen«. Aber wie gesagt, das sind dann ganz konkret zwei Geschlechter, was jene Menschen ausschließen würde, die sich keinem der binären Geschlechter zuordnen. Binär sind Mann und Frau. Um auch nichtbinären Menschen gerecht zu werden, könnte man jetzt mit einem Sternchen oder Binnen-I gendern. Außerdem gibt es noch den Doppelpunkt und den Unterstrich, also zum Beispiel so: »Liebe Leser_innen« oder »Liebe Leser:innen« – meistens verbunden mit einer hörbaren Sprechpause. Das soll dann alle existierenden Geschlechter explizit mitmeinen.

Übrigens, und das wird später auch noch mal wichtig: Das Wissen darüber zu haben, was genau was bedeutet und meint und wie diese Begrifflichkeiten korrekt verwendet werden, ist ein höchst akademisches Privileg und zugleich das größte Laster dieser Debatte. Um so inklusiv sprechen und den Gedankengang dahinter nachvollziehen zu können, bedarf es einer hohen Schuldbildung, verbunden mit der Möglichkeit, an der Debatte auch auf sprachlicher Ebene teilnehmen zu können.

Mit welchen Begriffen wir von etwas sprechen, ist politisiert. Aus emanzipatorischer und intersektionaler Sicht ist das einzige Gendern, das nicht diskriminiert, das mit Sternchen. Intersektional ist ein Sammelbegriff, der Überschneidungen oder Gleichzeitigkeiten von Diskriminierungen bezeichnet. Mit einer abgewandelten Sprache möchte man darauf aufmerksam machen – uns intersektionaler denken lassen. Daran ist sicher nichts verkehrt, sollte man doch eigentlich davon ausgehen können, dass Menschen zumeist keine Intention verfolgen, sich gegenseitig zu disrespektieren.

Das klingt für viele vermutlich einleuchtend, manche würden gar sagen: Wer könnte jetzt nicht mehr vom Gendern überzeugt sein?

Der Spiegel schrieb in einer viel diskutierten Titelgeschichte über das Gendern: »Mit gewachsenem Selbstbewusstsein beanspruchen (marginalisierte) Gruppen das Recht, sich über den Sprachgebrauch sichtbar zu machen und ihren Platz in der Gesellschaft zu definieren. […] Das Ziel ist in allen Varianten vermutlich das gleiche: Wo bisher Diskriminierung war oder gewesen sein könnte, sollen jetzt Identität und Anerkennung wachsen.«[3]

Ich mag nun die steile These aufstellen, dass zur Zeit das Gegenteil der Fall ist. Der Diskurs ist mittlerweile polemisiert und undurchsichtig. Das Einzige, was bis jetzt klar ist: Es gibt nur für und wider. Bestimmt wird das durch die beiden an der Debatte beteiligten »Lager«. Man ist entweder ein linksgrüner Moralist, oder jemand, der den privilegierten Sprachfetischismus der liberal-konservativen Bubble auslebt. Damit ist letztlich gemeint, dass es nur ein richtiges oder falsches Benutzen von Gender gibt, und die Wahl, die man selbst trifft, einen automatisch einer politischen Kategorie zuteilt. Subjektive Perspektiven spielen schon längst keine Rolle mehr.

Mittlerweile ist das längst keine Nischendiskussion mehr, die Frage nach Inklusion durch Sprache ist überall angekommen. An Universitäten soll gegendert werden. Konservative befürchten, ihre Bachelorarbeit werde schlechter bewertet, wenn sie das generische Maskulinum verwenden. Apple wird gendern. Der Staat solle das Gendern gesetzlich verbieten.

Schaut man sich zum Beispiel auf sozialen Medien wie Twitter oder Facebook um, dann echauffieren sich die Konservativen allerorten über das »Gendergaga« (wobei die Nutzung dieses Ausdrucks eine gewisse Ironie birgt, regen sich Konservative doch gerne über die Verrohung der deutschen Sprache – etwa durch das Gendern – auf, schöpfen und reproduzieren aber selbst ein so grässliches Wort) – Friedrich Merz landet damit mal schnell in den Tagesnachrichten,[4] oder Journalisten stellen belustigt fest, dass in der Wahlarena ja niemand nach dem Gendern fragt,[5] es im Prinzip also das Volk gar nicht zu interessieren scheine.

Christoph Ploß wurde mit seiner Forderung, dem Staat das Gendern zu untersagen[6] über Nacht zum Youngstar der CDU: »Endlich einer, der sich mal traut, etwas zu sagen« so die Antworten, oder: »Ja, die Gendergagalobby sollte mal mit der Wirklichkeit konfrontiert werden, den kleinen Mann interessiert es nicht«. Daraufhin gab es wiederum von der anderen Seite hämische Kommentare: Wieso, fragte man, fordern Konservative, eine Formulierung zu verbieten, mit der Begründung, dass niemand einem anderen vorschreiben könne, wie richtig gesprochen werde? Man fordert Verbote, um Verbote zu verhindern? Paradox.

»Es ist ein Unterschied«, bemerkte dazu Anna Schneider von der Welt, »ob man gendern generell verbieten will (fände ich falsch, ist jedermanns eigene Entscheidung) oder ob man an den Staat und seine Institutionen den Anspruch stellt, ideologiefrei zu bleiben.«[7]

Ja, das Gendern hat sich zu einer identitätspolitischen Scheindebatte entwickelt. Daran sind sowohl Gegner als auch Befürworter Schuld. Auch, wenn ich kein Freund des Schuldbegriffs bin.

Nun ist der Versuch einer gesellschaftlichen Veränderung im Sinne der Gemeinschaft eine selbstlose Intention. Etwas zu tun, das für alle gut sein soll, kann man zunächst einfach mal menschlich nennen – wie zum Beispiel die solidarische Aufnahme aller Geflüchteten. Denn per se – da könnten wir uns außerhalb rechtsradikaler, antidemokratischer Räume einig sein – ist es doch ein völlig logischer Gedanke, jenen zu helfen, die in Gefahr sind. Doch die Ausführung solcher menschlichen Vorhaben wird immer auch ein Minus mit sich bringen. Auf der eigenen oder anderen Seite. Um auf unser geliebtes Gendern zurückzukommen: Wenn ich mich dafür entscheide, mich im öffentlichen Raum fürs Gendern einzusetzen, wähle ich aus, wie ich das tue. Kompromissbereit, absolut, plakativ, dosiert. Alle Wege haben ihre Daseinsberechtigung.

Wenn man nun ein Befürworter des Genderns ist, ist man leider auch verantwortlich für die Durchsetzung bzw. für den Umgang mit den Problemen, die die eigene Forderung mit sich bringt. Die Vermittlung und Etablierung eines neuen Ansatzes in der ganzen Gesellschaft ist eine große Aufgabe – die an ihren Vertretern hängt, ganz sachlich gesagt. Alle Positionen haben sich mit ihren Konsequenzen zu beschäftigen. Sollte man ein Vorhaben verfolgen, das trotz eines allgemeinen Anspruchs und der Intention, für alle gut zu sein, von der Mehrheit nicht so aufgefasst wird, sollte es Gegner haben, wird der Einsatz dafür etwas kosten. Dann muss man sich reinhängen und überzeugen. Die Journalistin Teresa Bücker jedoch schrieb letztes Jahr auf Twitter: »Wenn man auf gendergerechte Sprache kontert ›Haben wir nichts Wichtigeres zu tun?‹, dann könnte man auch sagen: Dann brauchen wir uns auch nicht aufregen und können uns schnell an diese kleine Änderung gewöhnen.«[8]

So macht man es sich schlicht zu einfach. Dies würde nun mal einen generellen Konsens voraussetzen, der augenscheinlich nicht vorliegt. Kurz gesagt: Da diejenigen, die das Gendern mit Sternchen etablieren wollen, momentan in der Unterzahl sind, müssen sie Überzeugungsarbeit leisten. Ganz nach Marx, der davon überzeugt war, dass eine Idee zur materiellen Gewalt werden kann, sobald sie von der Masse ergriffen wird. Was beim Gendern augenscheinlich nicht der Fall ist. Doch statt zu überzeugen, wird häufig nur auf die anderen geschimpft.

Schnell oder einfach ist hier übrigens gar nichts. Diese Begriffe sollten wir uns mit Blick auf große gesellschaftliche Veränderungen bereits jetzt aus dem Kopf streichen. Denn unsere Debatten laufen nicht rein demokratisch, sachlich oder gar logisch ab. Meistens kommt es im Laufe des Diskurses zu Nebenwirkungen. Beim Gendern ist das ganz auffällig: Das Sternchen manifestiert jetzt die politische Gesinnung. Natürlich ist das völliger Quatsch, gendern doch mitunter etwa auch Liberale oder Konservative. Vielleicht gendern auch einige inzwischen nicht mehr, weil es bereits so politisiert ist. Wie wahnsinnig diese ganze Debatte ist, zeigte vor allem der konservative Wahlkampf 2021. Söder twitterte zwei Tage vor der Wahl: »Dem Umerziehungsgeist, den die linken Parteien beim Gendern zeigen, dürfen wir nicht nachgeben. Wir stellen uns gegen solche Absurditäten. Wir lassen uns nicht vorschreiben, wie wir zu schreiben und zu denken haben!«[9] Außerdem warnte er die bayerischen Universitäten Mitte September, dass er »kein Gender-Gesetz und keine Gender-Strafzettel«[10] akzeptieren werde (an einigen Universitäten waren Punktabzüge bekannt geworden, wenn auf das Gendern verzichtet wurde).

Sehr viele Menschen in Deutschland sehen im Gendern vielleicht keine so große Gefahr. Der politisierte Twitter-Wähler aber schon. Söder wurde gefeiert, User auf TikTok kommentieren Dinge wie »Gott sei dank gibt es noch normale Menschen und Probleme«. Der Ursprungsgedanke der Linken, der der Ausgangspunkt der Debatte gewesen war, endet somit im populistischen Loch. Dabei, wie gesagt, ist der Ansatz ja ein durchaus berechtigter. Die drastische Konsequenz der Forderung lautet nur leider: Freiheit wird zu Unfreiheit der Masse.

Die Härte, mit der solche Veränderungen eingefordert werden, haben einen großen Nachteil: Die Angegriffenen, die im System die Deutungshoheit innehaben, leiden kaum unter den Attacken, auch nicht zwingend jene, die Veränderung fordern. In erster Linie trifft es die, deren Situation eigentlich verbessert werden soll. Dann scheint die Argumentation, wie sie zum Beispiel von der taz-Journalistin Carolina Schwarz formuliert wird, zwar verständlich, brettert aber auf polarisiertes Unverständnis: »Gerade Journalist:innen tragen Verantwortung dafür, alle Menschen – auch sprachlich – abzubilden. Zudem dient Sprache nicht nur der Abbildung, sondern formt auch unsere Wirklichkeit, weswegen es wichtig ist, nicht einen Großteil der Gesellschaft zu exkludieren.«[11]

Zu oft bewegen sich die Idealisten ausschließlich in ihrer eigenen akademischen Bubble. Und die Gegner nähren sich aus solchen Debatten. Alles, was aus diesen aggressiven Diskussionen resultiert, ist dann Resistenz oder Resilienz – also eine Ablehnung oder Ignoranz des kompletten Diskurses. Und die Stärkung der eigenen Front.

Am Ende ist das, worüber diskutiert wird, immer nur das Framing. Das wiederum erzeugt Wut bei den Linken. Natürlich werden die Befürworter, berechtigterweise, auch Teil der polarisierten Debatten. Die Intention, etwas Gutes für alle bewirken zu wollen, verlieren viele überzeugte Idealisten auch während des Kampfes, wenn es an die eigene Existenz geht, und der unsachliche Diskurs zwischen politischen Strömungen das eigentliche Thema dominiert. Das Private wird politisch, oder anders gesagt: In der Politik interessiert Privates schlicht nicht.

***

Am Ende stellt das Gendern wirklich nur ein kleines Problem dar. Denn eins kann ich Ihnen bereits jetzt sagen: Auf solche Fragen wird es nie die eine Antwort geben, und je eher man sich dessen bewusst ist, desto besser ist man vorbereitet auf den manchmal recht fragwürdigen Endbahnhof des Kollektiven. Lassen Sie mich zu dem kommen, wofür dieses Buch plädiert: Kompromisse.

Damit meine ich nicht das verhätschelte Aufgeben der Demokratie, also das stumpfe Akzeptieren eines »Mehr ist nicht zu holen«, sondern den naiven Kern unserer Politik: Das höchste Gut der Demokratie ist der Kompromiss, aus ihm speist sich all das, was unser System eigentlich so stark macht.

Wahrscheinlich kannten Sie diese Debatte bereits. Wahrscheinlich auch dieses lästige Gefühl, das sich breitmacht, wenn man merkt, dass eine Diskussion selbstgefällig wird. Zu einer reinen Wiederholung des allerseits bereits Gesagten wird. Sie haben mit Sicherheit Ihre eigene Meinung zum Thema Gendern. Spoiler: Selbst wenn Sie denken, Sie hätten keine, sind Sie für jene im Diskurs entweder ignorant oder stumpf. Abseits der Twitter-Blase gilt aber auch: Wir sind in Deutschland Teil der Demokratie. Eine parlamentarische. Politik setzt sich aus Impulsen zusammen, die aus allen politischen Strömungen fließen.

Was bedeutet das für die wichtigen Debatten unserer Gesellschaft? Ich denke, sie brauchen dringend eine Diskussions- und Analyseebene, die ebenjene Stagnation verhindert. Christian Lindner würde an dieser Stelle den Meinungspluralismus als höchstes Gut der Demokratie deklarieren. Ganz so schmalzig vermag ich’s nicht zu formulieren, aber: Die Demokratie zeichnet sich durch die Fusion verschiedenster Theorien und politischer Profile aus. Das mündet in meist guten Kompromissen und Möglichkeiten für alle, einen Raum zu finden.

Ich vertrete keine Hufeisentheorie – Linke sind demokratisch, Rechte Nazis, das ist klar –, es geht vielmehr darum, dass es mich geradezu wurmt, dass die Linke ihr Potenzial für die langfristige Beeinflussung der Politik verkennt. Immer wieder. So gab auch eine Politikerin der Linken in einem Gespräch mir gegenüber ehrlich zu: Das meiste, was heute politisch umgesetzt werde, seien linke Ideen, die noch vor zwanzig Jahren als radikaler Mist abgestempelt wurden. Es ist interessant, sich zu vergegenwärtigen, wer die Sozialpolitik von Kanzlerin Merkel in dieser Form bereits in den neunziger Jahren forderte. Sie werden überrascht sein, wie viele Punkte der von den Sozialdemokraten und Christdemokraten aufgesetzten Koalitionsverträge Ursprungsideen der Linken in sich tragen. (Womit ich nicht per se die Partei meine, sondern die politische Richtung als solche.) Natürlich ist es für die Linken jetzt zu spät, das noch für das eigene Image nutzbar zu machen, aber andererseits scheint die Verunglimpfung aller anderen politischen Parteien auch keine gute Grundlage dafür zu sein, Veränderungen schneller voranzutreiben, wenn man auf die letzten zwei Jahrzehnte schaut.

Unsere Debattenkultur führt uns geradewegs ins Nirwana: Ist es nicht absurd, dass Margarete Stokowski mal eine Lesung abgesagt hat, weil der Laden auch Bücher von Sarrazin im Regal hatte? Wem hat das genutzt? Sarrazin, den Rechten, oder den Antifaschisten, den Migranten?

Wie soll man also weiterkommen, all diese Sackgassen verhindern? Achtung: Folgende Erläuterung werden Sie fortlaufend in diesem Buch wiederfinden. Es ist die sogenannte These dessen, was in diesem Buch zum Ausdruck kommen soll, und was ich gerne tapezieren möchte in jedem Diskussionsraum dieses Landes: Wann haben wir aufgehört zu verstehen, wie gesellschaftliche Veränderungen so stattfinden, dass sie auch dort ankommen, wo sie ankommen sollen?

Radikale Kompromisse braucht das Land! Demokratische Progressivität hat sich stets wie folgt bewiesen: Idealisten zeigen die Grundprobleme des Systems auf, Realisten suchen Lösungsansätze, die Stagnierenden werden überzeugt. Was heißt das für unsere Debatten heute?

Das Beispiel linke Sozialpolitik wurde bereits genannt. Veränderungen kommen, wenn man es schafft, die Mitte der Gesellschaft für sie zu begeistern. Vielleicht werden wir in vierzig Jahren wirklich gendern, weil die Grundidee, alle miteinzubeziehen, sich von der Aggressivität, diese unbedingt sofort durchsetzen zu müssen, gelöst hat. Vielleicht ist sie dann so oft durchgekaut, dass irgendwann alle sich in Ruhe eine Meinung bilden können und zu dem Entschluss kommen, dass es besser so wäre. Vielleicht wollen dann achtzig Prozent der deutschen Bürger gendern, inklusive mir. Dann ist es eine mehrheitsfähige, demokratische Sache.

Aus Idealisten, Realisten und Stagnierenden ergibt sich eine wichtige Kette. Diese Kette hat in Deutschland eine lange Tradition. Aber einige Faktoren wie dieses Internet und die Symbiose der etablierten Parteien der Mitte haben uns vergessen lassen, wie gut diese Kette eigentlich ist und wie sie funktioniert. Dabei ist sie der einzige Weg, alle Beteiligten so gut wie möglich in Veränderungsprozesse einzubinden. Wir müssen wieder zu akzeptieren lernen, dass es keinen Nenner der Selbstverständlichkeiten gibt. Wir müssen wiederentdecken, dass wir mit nichts effektiver sind als mit radikalen Kompromissen.

Dieses Buch ist kein Manifest für einen starken Liberalismus. Aber durchaus getragen von der festen Überzeugung, dass sich genau über ihn eigentlich alles abspielt, was in einer Demokratie geschafft wird, was oft gerne »progressiv« genannt wird. Unser grundlegendes Verständnis der Demokratie leitet sich davon ab – und stellt uns das Mittel der radikalen Kompromisse zur Verfügung. Daraus ergibt sich eine wichtige Erkenntnis, die wir nicht vergessen dürfen, um welche Themen es auch geht: Wer fordert, hat nicht automatisch recht oder das Hoheitsrecht in der Debatte. Auch eine augenscheinlich faire Forderung bedeutet nicht direkt, dass sie sofort passieren muss und immer richtig ist.

Das zweite KapitelAls Friedrich Merz und ich uns einmal einig waren. Und was Herr Stöckl von der AEG mit der schwarzen Null zu tun hat

»Das Wesen der Demokratie ist der Kompromiss.« Willy Brandt

Jetzt fragen Sie sich vielleicht, wann denn je gute Intentionen und Idealismus die Politik behindert hätten. An verschenkten Optionen sind ja wenn überhaupt die Politiker schuld und nicht die Bürger, die nur ihre politischen Wünsche kundtun. Idealistische Ideen können doch unmöglich »schuld« sein an verfehlter Politik oder Konsequenzen, die so nicht intendiert waren. Das ist ja wohl der falsche Begriff, wenn Einzelne etwas Gutes für die Allgemeinheit fordern, oder so ähnlich. Ich habe tatsächlich schon öfter über diese Frage diskutiert.