Radikale Wende - Lena Schilling - E-Book

Radikale Wende E-Book

Lena Schilling

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Beschreibung

»Wie radikal darf Protest sein? Dürfen Schüler:innen die Schule bestreiken, wenn sie keine andere Möglichkeit sehen, auf die Klimakrise aufmerksam zu machen, unter der sie von allen derzeit lebenden Generationen am längsten zu leiden haben werden? Dürfen Aktivist:innen sich vor Bagger setzen, wenn diese keine neuen Schienen für eine klimagerechte Mobilität bauen, sondern eine Straße, die schon nach wenigen Jahren wieder überlastet sein wird? Ich glaube, wir dürfen nicht nur – wir müssen. Ich möchte euch erzählen, warum ich politisch aktiv bin, warum so viele andere Menschen aktiv sind und warum du, wenn du es noch nicht bist, auch aktiv werden solltest. Denn was wir jetzt erleben, ist der Anfang einer Bewegung, deren Ende noch offen ist.« Mit einem Vorwort von Konstantin Wecker und einem Gastbeitrag von Johannes Stangl

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LENA SCHILLING

Radikale

WENDE

Weil wir eine Weltzu gewinnen haben

Mit einem Vorwort von Konstantin Weckerund einem Gastbeitrag von Johannes Stangl

PurePrint®

innovated by gugler* DruckSinn Gesund. Rückstandsfrei. Klimapositiv. drucksinn.at

– produziert nach den Richtlinien des Österreichischen Umweltzeichens, Gugler GmbH, UW-Nr. 609, www.gugler.at

Der Umwelt zuliebe #ohnefolie

Besuchen Sie uns im Internet unter: amalthea.at

© 2022 by Amalthea Signum Verlag GmbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung und Satz: Johanna Uhrmann

Umschlagfoto: © Christian Eder

Lektorat: Gudrun Likar

Herstellung: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

Gesetzt aus Dolly, Museo und Alegreya

Designed and printed in Austria

ISBN 978-3-99050-231-0

eISBN 978-3-903441-00-2

FÜR ALLE KÜNFTIGEN AKTIVIST:INNENUND JETZT SCHON AKTIVEN,FÜR ALLE, DIE NACH HOFFNUNG SUCHENIN EINER WELT, IN DER WIR ZYNISCHWERDEN KÖNNTEN.

Inhalt

VORWORT

von Konstantin Wecker

EINFÜHRUNG

WIE ALLES BEGANN

EURE PROFITE

HAPPY BIRTHDAY, CLUB OF ROME!

HINTER DEN BARRIKADEN

GROSSE WORTE

DAS GUTE LEBEN FÜR ALLE?

ÜBER FREUNDSCHAFT

TAKE BACK THE STREETS

WANN, WENN NICHT JETZT?WER, WENN NICHT WIR?

Gastbeitrag von Johannes Stangl, Mitbegründer von Fridays for Future in Österreich

ZWISCHEN SCHULTERKLOPFEN UND RIPPENBRUCH

EIN APPELL AN DICH

LOBAU? BLEIBT!

LOKALER PROTEST, GLOBALER KAMPF

GESCHICHTE UND ERFOLGE VON SOZIALEN BEWEGUNGEN

EINE WELT ZU GEWINNEN

ANMERKUNGEN

DANK

DEINE BUCHPLAYLIST

Vorwort

„Ich singe, weil ich ein Lied hab“ heißt eines meiner allerersten Lieder. „Nicht, weil es euch gefällt.“ Und das ist mein künstlerisches Lebens- und Überlebensmotto geblieben.

Und ich hörte nie auf zu träumen von einer herrschaftsfreien Welt, „wo der Menschen Miteinander unser Sein zusammenhält“. Ich werde auch nicht aufhören, diesen Traum von Utopia weiter zu träumen.

Wie freue ich mich nun, trotz aller erschreckenden politischen und sozialen Entwicklungen des neuen Jahrtausends, vor allem in den vielen Aktivist:innen von Fridays for Future und den globalen Bewegungen für Klimagerechtigkeit, gegen das Patriarchat und den Krieg junge Menschen im Gespräch und schriftlich zu erleben, die von Utopia nicht nur träumen, sondern sich mit Herz und Seele dafür einsetzen, „dass diese Welt nie ende“.

Ich habe „Radikale Wende – Weil wir eine Welt zu gewinnen haben“ der Wiener Klimaaktivistin Lena Schilling geradezu verschlungen – zeigt es uns doch einmal mehr das uns Alte vielfach beschämende großartige empathische Engagement vieler junger Menschen von heute. Lena schreibt als Aktivistin aus dem Alltag, aus ihrem Lebensumfeld, und sie bringt die Sichtweisen aus diesem Umfeld differenziert ein. Stichworte wie Streik, Klimakrise, Demo, Profit, Club of Rome oder „Lobau? Bleibt!“ werden mitten aus dem Leben betrachtet, in Aussagen und Handlungen unmittelbar Beteiligter, Menschen wie du und ich.

Ambitioniert schreibt Lena, dass sie mit ihrem Buch erreichen möchte, „warum du, wenn du es noch nicht bist, aktiv werden solltest“.

Und sie konkretisiert: „Politisch aktiv zu werden und selbst zu beginnen, die Gesellschaft zu verändern, ist die einzige Lösung für die Klimakrise. Aber wie? Indem wir erkennen, dass es die eine richtige Antwort nicht gibt, sondern bloß eine Sammlung von Ideen, basierend auf historischen und eigenen Erfahrungen, wie wir diese Welt gemeinsam verändern können.“

Das ist genau der Ansatz, dem ich von Herzen gerne zustimme: Wir müssen es gemeinsam und von unten tun. Als älterer Träumer und Künstler möchte ich deshalb allen den Rat geben: Bewahren wir uns als Aktivist:innen unsere Autonomie und Unabhängigkeit, lasst uns an einer globalen und horizontalen Solidarität gegen alle imperialen Mächte arbeiten. Wir müssen gerade erleben, wie schnell wir von Politiker:innen wieder Atomkraft, Kohle, Waffen und soziale Ungerechtigkeit verkauft bekommen, die sich mit grünen Versprechungen haben an die Macht wählen lassen.

Auf meiner Reise nach Utopia werde ich weiter für eine herrschaftsfreie Welt kämpfen, denn nur eine sozial gerechte Welt solidarischer Menschen wird uns von Kriegen, Klimawandel, Rassismus, Patriarchat und Kapitalismus befreien.

Eine weltweite Bewegung von unten halte ich für viel realistischer als die tödliche und zerstörerische Machtpolitik der Militärblöcke. Denn nur eine solche Bewegung kann das jahrtausendealte Patriarchat stoppen, das sich vor allem auch durch Kriege und militärischen Gehorsam immer wieder aufs Neue an der Macht hält.

Lenas Buch möge uns alle motivieren, weiter an Utopia zu glauben und alles dafür zu tun, die Welt für die kommenden Generationen nicht nur erträglich, sondern lebenswert zu gestalten.

Konstantin Wecker

Einführung

Es ist der 3. September 2021, 13:34 Uhr, in Hirschstetten, einem Teil von Donaustadt, dem 22. Wiener Gemeindebezirk. Die Mittagssonne steht hoch am Himmel und brennt auf die Baustelle der Stadtstraße herab. Sie ist Teil eines umstrittenen Autobahnprojekts am Rande der Stadt, das ein Naturschutzgebiet – die Lobau – untertunneln soll. Neben mir rauschen im Sekundentakt Autos vorbei.

Da, wo noch vor vier Tagen Bagger den Mutterboden abgetragen haben, steht eine kleine Sandburg, die Aktivist:innen gebaut haben. Genau da sitze ich gerade im Schatten einer Baggerschaufel auf dem sandigen Boden. Aus einer kleinen Bluetooth-Box dringt das Lied „Gekommen um zu bleiben“ von der Band Wir sind Helden. Ein leichter Windzug bläst in die bunten Zelte vor mir, die wir in den letzten Tagen eines nach dem anderen aufgestellt haben. Zwei Frauen in roten Maleranzügen spazieren Händchen haltend über das Gelände und singen mit: „Dann sagt ihr: ‚Schau, the end is near, now bitte face your final curtain.‘ Ah, wir sind schlau, wir bleiben hier, für die Gesichter, die empörten. Diese Geister singen schief und sind nicht einfach auszutreiben. Entschuldigung, ich sagte: ‚Wir sind gekommen, um zu bleiben.‘“ Ich lächle und schaue ihnen hinterher.

Die lahmgelegte Baustelle wird von Bauzäunen abgegrenzt, die mit bunt bemalten Kartonschildern verziert sind. Dahinter liegen dort, wo noch keine Straße ist, Felder. Andere Bauzäune werden gerade abgebaut und bilden das Materiallager, über das eine blaue Plane gespannt wird. Die Mittagshitze ist erdrückend, und die in den letzten, fast schlaflosen Nächten angestaute Müdigkeit macht es mir schwer, die Augen offen zu halten.

Vor vier Tagen fiel der Entschluss: Wir bleiben! Wie lange? Wissen wir noch nicht.

Am Eingang der Baustelle hängt ein Banner, auf dem steht: „Wer Straßen sät, erntet Widerstand.“ Dieser Satz markiert den Anfang der längsten Baustellenbesetzung, die es in Österreich je gegeben hat. Das wissen wir zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht. Es gab keinen klaren Plan. Aber wäre es wie erwartet gelaufen, wären wir schon nicht mehr hier. Nun wurde die Baustelle jeden Tag genutzt. Bloß eben nicht zum Bau der Stadtstraße, sondern zum Aufbau des Widerstands gegen sie. Tage zuvor hatten junge Aktivist:innen von unterschiedlichen Organisationen die Bauarbeiten für eines der größten Straßenbauprojekte der jüngeren Geschichte blockiert und nach dem Abzug der Polizei ihre Zelte aufgestellt. Die Zeitungen titelten dazu „Die Radikalisierung der Klimabewegung und die radikalisierten Klimakids“.

Und ein Raunen ging durch das Land: „Dürfen die das?“ Vonseiten der FPÖ sieht man bereits die bestehende Ordnung gefährdet und fordert die sofortige Räumung sowie Strafen für die Aktivist:innen. Sie sind empfindlich, die Verteidiger dieser gefährlichen Ordnung, gegen die wir Widerstand aufbauen.

Wie schon am Anfang der Debatte um Fridays for Future wurde heiß diskutiert, welche politischen Mittel gesellschaftlich legitim sind. Wie radikal darf Protest sein? Dürfen Schüler:innen die Schule bestreiken, wenn sie keine andere Möglichkeit sehen, auf die Klimakrise aufmerksam zu machen, unter der sie von allen derzeit lebenden Generationen am längsten zu leiden haben werden? Dürfen Aktivist:innen sich vor Bagger setzen, wenn diese keine neuen Schienen für eine klimagerechte Mobilität bauen, sondern eine Straße, die schon nach wenigen Jahren wieder überlastet sein wird? Ich glaube, wir dürfen nicht nur – wir müssen.

Wer Straßen sät, pflanzt Autos. Deshalb erntet er Widerstand. Während die Klimakrise immer bedrohlicher wird, steigt die Zahl der Autos auf Österreichs und Deutschlands Straßen permanent an. Jedes Jahr gibt es einen neuen Höchststand an neu zugelassenen Pkws. Am 1. Jänner 2022 waren es in Deutschland 48,54 Millionen Fahrzeuge1 und in Österreich 5,13 Millionen2.

Das liegt kaum daran, dass den Menschen das Bewusstsein für die Klimakrise fehlt, sondern zum einen an konkreten politischen Entscheidungen für den Ausbau der Straßennetze und zum anderen am konsequenten Abbau der Bahninfrastruktur.

Weltweit stellen sich Menschen nach jahrelangen Demonstrationen, Appellen und Bitten an Entscheidungsträger:innen jetzt gegen fossile Bauprojekte, gegen den Abbau von Kohle und das Abholzen von Wäldern. Die meisten dieser Proteste und Besetzungen werden medial groß begleitet und nach Monaten oder Jahren polizeilich brutal geräumt. Klimaaktivist:innen wird mit Klagen in Millionenhöhe gedroht, sie werden von der Polizei festgehalten.

Protest ist offenbar nur so lange legitim, wie er nicht dazu führt, dass sich tatsächlich etwas ändert. Aber es muss sich sehr viel ändern. Seit über 50 Jahren wissen wir um die Grenzen des Wachstums Bescheid, seit Jahrzehnten benennen Wissenschaftler:innen die Ursachen der Klimakrise. Ihre Modelle zeigen, was wir auch in Europa in den letzten Jahren bereits am eigenen Leib erfahren können: dass die Klimakrise unsere Existenz, wie wir sie kennen, zerstören kann.3 All das ist also ein alter Hut. Und trotzdem ist der Kampf gegen die Klimakrise die größte Herausforderung der Menschheit und setzt uns wie keine andere unter Zeitdruck. Wie wir ihr begegnen können, ist die wichtigste politische Frage, für die wir so dringend Lösungen brauchen.

Während Menschen also seit Jahren überall auf der Welt appellieren und protestieren, um unsere Lebensgrundlagen zu erhalten, lautet das ernüchternde Fazit: Wir sind meilenweit von jedem beschlossenen Klimaziel entfernt und nähern uns mit erschreckender Geschwindigkeit Kipppunkten, nach deren Erreichen sich nichts mehr umkehren lässt. Manche davon haben wir sogar bereits erreicht.

Es gab 26 erfolglose Klimakonferenzen,4 die allesamt mit leeren Versprechungen und Lippenbekenntnissen geendet haben. Eine Menge schöner Worte, während die Regenwälder nach wie vor gerodet werden und es in der Antarktis 40 Grad mehr hat, als es sollte5. Fast täglich gibt es neue Horrormeldungen über brennende Wälder, schmelzende Gletscher, Hitzetage, Dürren und Fluten.

Der Vorsitzende der letzten UN-Klimakonferenz 2021 in Glasgow, Alok Sharma, entschuldigt sich bei seinem Abschlussplädoyer bei den nächsten Generationen und den Delegierten und bricht in Tränen aus.6 Er weiß, dass die Regierenden, die sich auf keine auch nur annähernd ausreichende politische Lösung einigen konnten oder wollten, versagt haben. Klimagipfel für Klimagipfel rücken die Klimaziele und die Einhaltung des Übereinkommens von Paris aus dem Jahr 2015 in immer weitere Ferne.

Luisa Neubauer, eine deutsche Klimaschutzaktivistin, sagt dazu: „Seit dem letzten globalen Klimagipfel im November 2021 bleiben 99 Monate bis 2030, und bis dahin müssen die Emissionen um 50 % fallen. Die aktuellen Klimapläne aller Regierungen zusammen werden dazu führen, dass die Emissionen um 16 % steigen.“7

Politiker:innen entscheiden nicht für sich selbst, welche Gefahren sie mit ihrer Untätigkeit produzieren. Die meisten von ihnen haben zu viel Geld und es bleibt ihnen zu wenig Zeit auf dieser Welt, um von der Klimakrise noch voll und ganz erfasst zu werden. Diesen Luxus haben die meisten anderen Menschen auf dieser Welt nicht. Es ist kaum zu ertragen, dass die Politik so zielstrebig die Zukunft der nächsten Generationen an die Wand fährt. Fast die Hälfte aller Jugendlichen (45 %) weltweit haben Angst vor den Folgen der Klimakrise. Im Rahmen der Lancet Planetary Health-Studie (2021) wurden 10 000 Menschen von 16 bis 25 Jahren befragt: 75 % von ihnen finden die Zukunft beängstigend.8 Ich auch. Zu Recht. Denn wir zerstören aktiv die Voraussetzungen und die Grundlagen unseres Lebens.

Die notwendigen Entscheidungen werden aber nicht getroffen. Es zählt offenbar eine andere Notwendigkeit als eine lebenswerte Zukunft. Was zählt, ist der Profit von Konzernen und die Macht von Lobbys. Ihr Reichtum beruht auf der Ausbeutung des Planeten und des Großteils der auf ihm lebenden Menschen.

Die reichsten 10 % der Weltbevölkerung stoßen mehr als 50 % der Treibhausgas-Emissionen aus9 und besitzen gleichzeitig 85 % des weltweiten Vermögens10. Die Klimafrage ist eine soziale Frage. Sie ist eine Frage der gesellschaftlichen Macht und der Demokratie. Die Menschen, die am wenigsten zur Klimakrise beitragen, sind gleichzeitig diejenigen, die am meisten unter deren Konsequenzen leiden werden. Das gilt global, aber auch für Europa. Die Menschen im Globalen Süden müssen schon jetzt vor Dürren, Naturkatastrophen und Überschwemmungen fliehen oder versuchen, irgendwie damit zurechtzukommen. Menschen in Küstengebieten müssen dem Meeresspiegel beim Steigen zusehen, im Wissen, dass ihr Zuhause überschwemmt werden wird. Laut einer Studie von Greenpeace werden bis 2040 200 Millionen Menschen ihr Zuhause verlieren.11 Das sind so viele, dass sie zusammengenommen die Einwohnerschaft des fünftgrößten Landes der Welt bilden.

Aber auch in Europa treffen heiße Sommer die Menschen am meisten, die wenig Geld haben. Zum Beispiel, weil sie sich keine Klimaanlage leisten können. Das Gleiche gilt für kalte Winter in schlecht gedämmten Wohnungen bei steigenden Energiepreisen. Europa hat sich von fossilen Energien abhängig gemacht, die wir von autokratischen Regimen beziehen und die eine endliche Ressource sind. Und trotzdem steigt der Energieverbrauch jedes Jahr an, obwohl wir uns das schon lange nicht mehr leisten können.

Die Wohnung je nach Bedarf zu heizen oder zu kühlen oder wenn man es trotzdem nicht mehr aushält, einfach in Urlaub zu fahren: Das können sich nicht alle leisten. Die Klimakrise verstärkt die soziale Ungerechtigkeit, während Milliardäre wie Richard Branson und Jeff Bezos mit einem Flug ins All so viele Treibhausgas-Emissionen verursachen wie ein Mensch der ärmsten Milliarde in seinem ganzen Leben.12

Mich macht das wütend. Und auch ein bisschen ratlos. Es ist der Globale Norden – die Industriestaaten –, der maßgeblich für die Krise verantwortlich ist, und es ist ein Großteil der Weltbevölkerung, der unter den Folgen am meisten leiden wird. Das ist absolut keine neue Erkenntnis.

Protest ist also nicht nur legitim, er ist notwendig. Die Regierenden hatten lange genug Zeit, überlegt und vorausschauend zu handeln. Stattdessen haben sie den kurzfristigen Vorteil gewählt, weil sie keine unpopulären Entscheidungen treffen wollten oder nicht dafür sorgen konnten, dass die notwendigen Entscheidungen populär werden. Was denken sie sich, wenn sie Kinder sehen, die Schilder hochhalten, auf denen steht: „Hört auf wissenschaftliche Erkenntnisse.“

Wir haben in der Schule Brecht gelesen und gelernt: „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Die Klimakrise und ihre Folgen führen schon jetzt zu Katastrophen. Um sie einzudämmen, haben wir kaum mehr als acht Jahre Zeit. Wir müssen also die großen Fragen nach Wandel, Gerechtigkeit und Verteilung stellen.

Daraus entsteht der radikale Kampf einer Generation, die sagt: Es darf kein „Weiter wie bisher“ geben, denn das kann sich die Menschheit einfach nicht leisten. Diese Generation demonstriert und streikt – gegen die Ausbeutung von Menschen und endlichen Ressourcen und gegen die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Ja, wir sind diese Generation, und wir sagen: Wir nehmen die Zukunft jetzt selbst in die Hand. Denn nichts zu tun und die Gegebenheiten einfach so hinzunehmen, ist eine Entscheidung, die schwerwiegende Konsequenzen hat.

Dieses Buch ist kein Klimabuch, denn ich bin keine Klimawissenschaftlerin, und es ist auch keine umfassende Analyse der Gesellschaft und ihrer Entwicklung. Ich werde nicht die eine Lösung finden, um die großen Herausforderungen, vor denen wir als Menschheit stehen, zu lösen. Aber ich möchte, dass alle, die dieses Buch lesen, danach nicht mehr so auf die Welt schauen können wie bis jetzt. Ich möchte euch erzählen, warum ich politisch aktiv bin, warum so viele andere Menschen aktiv sind und warum du, wenn du es noch nicht bist, auch aktiv werden solltest. Denn was wir jetzt erleben, ist der Anfang einer Bewegung, deren Ende noch offen ist.

Wie alles

begann

Der erste weltweite Klimastreik, an dem sich auch Österreich beteiligt, füllt am 15. März 2019 die Straßen Wiens. Gleich muss ich das erste Mal auf eine riesengroße Bühne gehen. Zehntausende Menschen auf dem Heldenplatz, und ich klammere mich zitternd an den Zettel mit meiner Rede. Die Vorbereitungen für diesen Streik waren so anstrengend, dass ich seit Wochen Fieber habe. Es fällt mir schwer, mich auf den Beinen zu halten. Mein damaliger Freund reicht mir die Thermoskanne, und ich nehme einen Schluck Tee. Die Mischung aus Medikamenten und Adrenalin hält mich irgendwie aufrecht. Ich weiß, dass ich längst über meine Grenzen hinausgegangen bin, aber ein bisschen muss mein Körper noch durchhalten.

Ich lese einen Satz meiner Rede noch einmal: „In über 90 Ländern wird heute gestreikt, überall auf der Welt stehen junge Menschen auf und gehen nicht in die Schule, sondern auf die Straße.“ In 90 Ländern – das ist fast jedes zweite Land der Welt. Ich wusste damals noch nicht, dass es beim nächsten weltweiten Klimastreik noch viel mehr sein würden. Dann würden Menschen in 2966 Städten in über 150 Ländern auf die Straße gehen.13 Wie viele Millionen Menschen an diesen größten weltweiten Streiks teilgenommen haben, lässt sich nicht genau sagen. Aber es waren viele Millionen Menschen gleichzeitig auf der Straße, um für die Bewältigung der Klimakrise einzutreten. Ein Schulterklopfen reißt mich aus den Gedanken. Ich muss auf die Bühne.

Liebe Schülerinnen, liebe Schüler,

ich möchte heute in eurem und unserem Namen an die Regierungen appellieren. Ihr habt dem Pariser Klimaabkommen zugestimmt, ihr habt unterzeichnet, also haltet die 1,5-Grad-Grenze auch ein! Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben bereits alle Ergebnisse offen dargelegt. Ihr müsst die Maßnahmen dafür setzen. Wir fordern hier und heute eine mutige Klimapolitik!

Ihr habt alle Möglichkeiten, und ihr wisst, wie es geht. Warum zögert ihr noch länger und nehmt uns mit jedem Moment des Nichtstuns ein bisschen Zukunft?

Diesen Appell haben wir gemeinsam immer und immer wieder an die Regierungen der Welt gerichtet. Auf den Straßen Wiens ebenso wie in kleinen Dörfern, in Europa genauso wie in Indien, an die ganze Staatengemeinschaft. Was hat sich geändert? Nichts? Je nach Situation sagen die Regierenden: „Eure Stimme ist so wichtig, danke für euer Engagement.“ Oder: „Ihr müsst auch die demokratischen Mehrheiten akzeptieren, hört auf.“ Je nachdem, wie es ihnen gerade passt. Mich beschäftigt, wovon es abhängt, was ihnen gerade passt oder nicht.

Warum verabsäumen es Regierungen auf der ganzen Welt zu handeln?

Wir haben uns mit Entscheidungsträger:innen getroffen. Das war meistens ziemlich ernüchternd bis frustrierend. Mir wurde gesagt: „Das liegt nicht in meiner Verantwortung“, „Da bin ich nicht die richtige Ansprechperson“ oder „Da müsst ihr euch an wen anderen wenden“.

Das Fazit dieser Begegnungen: Politiker:innen sind überzeugt davon, nichts verändern zu können und zu wenig gesellschaftliche Macht zu haben, um wirklich etwas gestalten zu können. Oder sie wollen grundsätzlich keine weitreichenden und zukunftsweisenden Entscheidungen treffen.

Mir wird in Diskussionen, ob auf kleinen oder großen Podien, immer wieder gesagt: „Wir tun, was wir können“, „Es ist kompliziert“ oder „Das liegt nicht in meinem Verantwortungsbereich“. Wie kann es sein, dass die, die wir wählen, damit sie über die gesellschaftliche Entwicklung bestimmen oder sie gestalten, nicht die Verantwortung dafür übernehmen, unsere Zukunft zu sichern?

Nach diesem ersten Klimastreik steige ich in die U-Bahn. Mein Kopf sinkt gegen die kühle Scheibe. Endlich, denke ich. Ich freue mich auf ein warmes Bad. Mein Blick wandert drei Reihen nach vorne.

Ein Mädchen, vielleicht 13 oder 14 Jahre alt, hat ihr Schild neben sich abgestellt. Darauf hat sie einen Koala gemalt. Daneben steht: „Wir brennen für eure Profite.“ Das macht mich traurig.

Sie wendet sich an eine ältere Dame, die ihr gegenüber sitzt, und sagt: „Oma, warum kommst du nicht mit auf unsere Streiks? Du sagst immer, man soll gut auf sein Rückgrat aufpassen in dieser Welt und sich von niemandem etwas sagen lassen. Macht dir das alles keine Angst?“

Die Frau richtet ihre Brille gerade, und ich sehe, wie sie gerade antworten will, doch das Mädchen spricht weiter.

„Seit Monaten brennt es in Australien. In der Antarktis und in Sibirien ist es fast 40 Grad heißer, als es dort sein sollte. Papa hat gestern in der Zeitung gelesen, dass in Afrika die schlimmste Heuschreckenplage seit Jahrzehnten herrscht und der Welthunger wieder zunimmt. Wie kann es sein, dass es nicht genug für alle gibt?“

„Mona, Liebes, das ist schon alles richtig“, erwidert die Frau. „Aber was meinst du, was wir gestreikt haben, als es Brandbomben auf den Vietcong geregnet hat, als die Amerikaner oder die Franzosen jeden Präsidenten in Afrika oder Südamerika, der sich der Politik des Westens widersetzt hat, umbringen haben lassen? Glaub mir, die Regierungen tun nicht unbedingt, was richtig ist.“

Das Mädchen setzt sich aufrechter hin. Und wird lauter. „Und was ist mit den Stürmen, die in Großbritannien, Frankreich und Italien Schäden in Millionenhöhe verursachen? Den riesigen Erdrutschen in Indien, den Tornados in Deutschland? Ich will einfach nicht mehr lesen, wie immer heftigere Wirbelstürme Hunderte Tote und Millionen Obdachlose verursachen14. Das gibt es doch rund um die Welt. Super-Hurricanes in den USA, der Karibik und in Mittelamerika, Überflutungen in China und Japan mit Tausenden Toten. Auch in Österreich überschwemmen immer häufiger Flüsse Ortschaften, und wochenlang brennen Wälder. Seit ich geboren wurde, ist diese Welt in der Krise, und sie rutscht immer tiefer rein. Warum ist das den Leuten, die entscheiden dürfen, so egal?“

„Ob ihnen das egal ist, weiß ich nicht. Das ist wahrscheinlich von Fall zu Fall verschieden. Manche sind sicher so abgebrüht, dass sie ihre verständnisvollen Worte vorm Spiegel üben müssen. Andere meinen das, was sie sagen, wahrscheinlich sogar ernst. Dass sie handeln müssen, wissen sie natürlich. Alle wissen das. Das wussten sie schon immer. Deshalb ist es ihnen ja so wichtig, euch zu zeigen, dass sie das tun. Sie beteuern, dass wir alle auf derselben Seite stehen, am selben Strang ziehen. Aber sobald es um konkrete Fragen geht wie etwa die Mobilität in den Städten und an den Stadträndern Wiens oder um die Frage der Energieversorgung – tja, dann sieht das ganz anders aus.“

Ich sehe, wie Mona nach ihrem Schild greift, am liebsten würde ich das Mädchen in den Arm nehmen. Die Fenster der U-Bahn sind halb gekippt, ich weiß nicht, ob mir deshalb ein Schauer über den Rücken läuft oder wegen dem, was das Mädchen als Nächstes sagt.