Radikalislamische YouTube-Propaganda - Lino Klevesath - kostenlos E-Book

Radikalislamische YouTube-Propaganda E-Book

Lino Klevesath

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Beschreibung

In der öffentlichen Debatte wird Online-Videos aus dem Spektrum des radikalen Islam zugeschrieben, einen großen Einfluss auf junge Menschen auszuüben. Doch wie nehmen junge Muslim*innen und Nicht-Muslim*innen diese Videos tatsächlich wahr? Wie stark wird ihre Sicht auf die Inhalte von ihrem Religionsverständnis, ihrer sozialen Zugehörigkeit und aktuellen politischen und gesellschaftlichen Debatten in Deutschland beeinflusst? Diese qualitative Studie untersucht die Rezeption ausgewählter radikalislamischer Videos von Marcel Krass, Ahmad Armih (bekannt unter dem Pseudonym »Ahmad Abul Baraa«) sowie von Yasin Bala (»Yasin al-Hanafi«).

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Die Reihe wird herausgegeben von Stine Marg.

Lino Klevesath, Annemieke Munderloh, Joris Sprengeler, Florian Grahmann, Julia Reiter

Radikalislamische YouTube-Propaganda

Eine qualitative Rezeptionsstudie unter jungen Erwachsenen

Dieses Buch ist entstanden an der Forschungs- und Dokumentationsstelle (FoDEx) an der Georg-August-Universität Göttingen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-No- Derivs 4.0 Lizenz (BY-NC-ND). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de Um Genehmigungen für Adaptionen, Übersetzungen, Derivate oder Wiederverwendung zu kommerziellen Zwecken einzuholen, wenden Sie sich bitte an [email protected] Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

© 2021 transcript Verlag, Bielefeld

Covergestaltung: Arne L. Gellrich Korrektorat: Philipp Heimann Print-ISBN 978-3-8376-5648-0 PDF-ISBN 978-3-8394-5648-4 EPUB-ISBN 978-3-7328-5648-0https://doi.org/10.14361/9783839456484

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Editorial

1.Einleitung

1.1.Radikaler Islam im Netz

1.2.Forschungsstand

1.3.Forschungsfrage

2.Methodik, Forschungsdesign und Materialauswahl

2.1.Zur Auswahl der Videos

2.2.Zur Analyse der Videos

2.3.Die Methode des fokussierten Interviews

2.4.Zum Sample und zur Durchführung der Interviews

2.5.Zur Analyse des Interviewmaterials

2.5.1.Herleitung der Religionsverständniskategorie

2.5.2.Herleitung der autoritären Tendenzen

2.5.3.Herleitung der Frames

3.Videoquellen und -inhalte

3.1.Marcel Krass und sein Video »Was ist Scharia?«

3.1.1.Biografischer Hintergrund von Marcel Krass

3.1.2.Rhetorik, Auftreten, Videogestaltung und Rezeption

3.1.3.Videoinhalt: Was versucht Krass zu vermitteln?

3.2.Yasin al-Hanafi und sein Video »Ist Erdogan ein Diktator?«

3.2.1.Biografischer Hintergrund von Yasin Bala alias Yasin al-Hanafi

3.2.2.Rhetorik, Auftreten, Videogestaltung und Rezeption

3.2.3.Videoinhalt: Was versucht Hanafi zu vermitteln?

3.3.Abul Baraa und sein Video »Hätte der Prophet Dich geliebt?«

3.3.1.Biografischer Hintergrund und Webpräsenz von Ahmad Armih alias »Abul Baraa«

3.3.2.Rhetorik, Auftreten, Videogestaltung und Rezeption

3.3.3.Videoinhalt: Was versucht Abul Baraa zu vermitteln?

3.3.4.Über Abul Baraas Konstruktion der Ingroup

3.3.5.Über Abul Baraas Konstruktion der Outgroup und sein Weltbild

3.4.Das Naschid »Ġurabā« (»Die Fremden«)

3.4.1.Zum Video

3.4.2.Text des Naschids

4.Videorezeption – Ergebnisse

4.1.Die Rezeption des Naschids

4.2.Yasin al-Hanafi: Politischer Meinungskampf

4.2.1.Kritik an westlicher Überheblichkeit

4.2.2.Medien

4.2.3.Externe Identitätszuschreibung

4.2.4.Zwischenfazit

4.3.Marcel Krass: Gerechtigkeit und Islam

4.3.1.Gerechtigkeit

4.3.2.Islam und Staat

4.3.3.Zwischenfazit

4.4.Ahmad Abul Baraa: Religiosität

4.4.1.Religiöse Identität der Muslim*innen

4.4.2.Abgrenzung von der Outgroup

4.4.3.Zwischenfazit

4.5.Einfluss autoritärer Tendenzen

4.6.Einfluss der sozialen Zugehörigkeit

4.6.1.Konfliktlinie: säkular und religiös

4.6.2.Konsequenzen der sozialen Zugehörigkeit für die Thesenrezeption

4.7.Einfluss des Religionsverständnisses

4.7.1.Zur Videorezeption durch orthodoxe Muslim*innen

4.7.2.Zur Videorezeption durch nicht-orthodoxe Muslim*innen

4.7.3.Zur Videorezeption durch religiöse Nicht-Muslim*innen

4.7.4.Zur Videorezeption durch nicht-religiöse Nicht-Muslim*innen

4.7.5.Zusammenfassung

5.Fazit

6.Anhang

6.1.Auflistung der Thesen der einzelnen Videos

6.2.Fragebogen für Teilnehmer*innen an den Fokusinterviews

7.Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis YouTube-Videos

Editorial

Die Forschungs- und Dokumentationsstelle FoDEx an der Georg-August-Universität Göttingen verfolgt drei zentrale Aufgaben: Forschen, Dokumentieren und Vermitteln.

Unser Gegenstand ist die politische Kultur in Niedersachsen. Besonders im Fokus stehen dabei für uns diejenigen Akteur*innen, die sich im (radikalen) Widerspruch zu einer von ihnen selbst identifizierten Mehrheitsgesellschaft befinden oder ausdrücklich im Gegensatz zu ihr wähnen. Uns geht es nicht darum, ein wie auch immer geartetes, eindeutiges »Außen« der demokratischen politischen Kultur zu benennen. Dafür weisen politische Ideen wie auch Handlungen häufig ein zu hohes Maß an Ambivalenz auf. Vielmehr verstehen wir auch die Phänomene, die von den Sicherheitsbehörden als extremistisch und dem Verfassungsstaat feindlich gesonnen eingestuft werden, als Teil der politischen Kultur der Gesamtgesellschaft.

Der Fachbereich Radikaler Islam ist einer der gegenwärtig sechs Fachbereiche bei FoDEx.1 Die Wendung »radikaler Islam« soll jedoch nicht als Synonym für islamischen »Fundamentalismus«, »Extremismus« oder »Dschihadismus« verstanden werden. Vielmehr wird mit diesem Sammelbegriff jede muslimische Strömung bezeichnet, die eines oder mehrere der folgenden Kriterien erfüllt: Es wird eine grundlegende Kritik an etablierten religiösen Institutionen des islamischen Mainstream vertreten; die Legitimität der religiösen Praxis der Mehrheit der Muslim*innen wird infrage gestellt; es wird ein grundlegender Bruch mit der bestehenden politischen Ordnung in mehrheitlich muslimischen Staaten oder weltweit angestrebt beziehungsweise ist dieser bereits verwirklicht worden (wie etwa im Falle der Islamischen Revolution im Iran 1979).

Der Begriff des »radikalen Islam« sagt per se nichts über die Haltung zur Demokratie oder zu der Gewalt derjenigen aus, denen das Attribut zugeschrieben wird. Er umfasst vielmehr etliche Bewegungen, die kaum etwas miteinander gemein haben und sich teilweise sogar in erbitterter Feindschaft gegenüberstehen. Sie eint einzig ihre Ablehnung des religiösen oder politischen Status quo und eine Mission, die über die reine gottesdienstliche Praxis und die Bewahrung religiöser Tradition hinausgeht.

Es ist durchaus fraglich, inwiefern der radikale Islam als Ganzes überhaupt als politisches Phänomen verstanden werden kann. Zwar betrachteten in vergangenen Jahrzehnten Anhänger*innen der Muslimbruderschaft oder von Millî Görüş Deutschland meist als Ruheraum, in dem die Umwälzung der politischen Verhältnisse in der Türkei und der arabischen Welt geplant, befördert und organisiert werden konnte. Viele Akteur*innen im Bereich des heute sehr dynamischen Salafismus2 nehmen jedoch keinen konkreten Bezug auf mehrheitlich muslimische Gesellschaften im Ausland und haben auch kein greifbares politisches Projekt, für das sie eintreten würden. Vielmehr steht die individuelle und gemeinschaftliche Lebensführung im Vordergrund – Aktionsformen wie Demonstrationen spielen eine untergeordnete Rolle.

Der Ansatz der politischen Kulturforschung, den wir bei FoDEx verfolgen, nimmt allerdings nicht nur explizit politische, außerparlamentarische und parlamentarische Handlungen in den Blick. Vielmehr soll der Fokus gerade auch auf die über diesen Bereich hinausgehende Kultur gerichtet und die Übergänge zwischen Alltagskultur, Moralvorstellungen von Gruppen und Gemeinschaften und normativen politischen Überzeugungen untersucht werden.

Gegenüber dem Arbeitsgegenstand der anderen Fachbereiche weist das Phänomen des radikalen Islam eine Besonderheit auf: Seine Akteur*innen sind größtenteils nicht-deutschstämmig3 (auch wenn die Bedeutung deutschstämmiger Konvertit*innen keinesfalls unterschätzt werden sollte) und werden von der Mehrheitsgesellschaft häufig als fremd wahrgenommen. Der radikale Islam wird daher oft nicht als eine Facette der deutschen Realität, sondern als ausschließlich importiertes Phänomen verstanden.

Eine solche Sichtweise zeugt allerdings von einem Unvermögen, die Wirklichkeit der post-migrantischen Gesellschaft der Bundesrepublik anzuerkennen und zu verstehen, dass auch Moscheegemeinden, islamische Organisationen und die politischen Vorstellungen von Muslim*innen zu einem maßgeblichen Teil von der Auseinandersetzung mit den Verhältnissen in Deutschland geprägt sind. Deshalb wird der radikale Islam von uns mit all seinen Facetten als faktischer Teil der deutschen Gesellschaft verstanden.4

Das Internet und die Kommunikation über soziale Medien spielen für die Akteur*innen des radikalen Islam eine große Rolle, da sie weit verstreut leben und ihnen – abgesehen von Moscheen – zumeist physische Kristallisationspunkte fehlen. Häufig wird der Zulauf zu salafistischen Moscheen und Netzwerken vor allem als Folge der Omnipräsenz ideologisch geprägter Inhalte im Netz gesehen, die gerade Jugendliche und junge Erwachsene anlocken.5 Dieser Erklärungsansatz greift mit Sicherheit zu kurz, bietet jedoch einen guten ersten Ansatzpunkt, um sich dem Phänomen zu nähern. Mit dem vorliegenden Werk knüpfen wir an die 2019 erschienene Studie »Scharia als Weg zur Gerechtigkeit?« und die Analyse des 2018 erhobenen Interviewmaterials an.6 In der vorangegangenen Veröffentlichung wurde bereits die Rezeption eines Videos durch junge Muslim*innen in den Blick genommen. Betrachtet wurde ein Ausschnitt aus einem Video des bekannten salafistischen Predigers Marcel Krass. Mit der vorliegenden Studie wird der Blick erweitert und zusätzlich die Rezeption von drei weiteren radikalislamischen Videos in den Blick genommen. Zudem werden diesmal nicht nur die Reaktionen der muslimischen Befragten, sondern auch von nicht-muslimischen Befragten untersucht. Damit wollen wir einen Beitrag dazu leisten, die tatsächliche Wirkung radikalislamischer Online-Inhalte besser zu verstehen.

Bedanken wollen wir uns bei Mahmud El-Wereny und Dominik Dewitz, die an der ursprünglichen Konzeption der Studie und den ersten Arbeitsschritten beteiligt waren und bei Zhaklina Hoxhaj für wertvolle Ergänzungen unserer Inhalte. Auch Kathinka Schlieker, die maßgeblich an der Analyse des Interviewmaterials mitgewirkt hat und Mitautorin unserer Studie zur Rezeption des Videos von Marcel Krass war, gebührt unser Dank. Ebenfalls bedanken möchten wir uns bei Philipp Heimann im Lektorat für die gewissenhafte Begleitung unserer Veröffentlichung auf den letzten Metern sowie bei Arne Gellrich für die Illustration des Covers. Gleiches gilt für unsere Kolleg*innen am Institut für Demokratieforschung, bei denen wir uns für ihren Input und viele anregende Diskussionen bedanken möchten.

1Neben dem Arbeitsbereich Radikaler Islam gibt es die Bereiche Rechtsradikalismus, Linker Radikalismus, Niedersächsischer Demokratie-Monitor (NDM), Invektivität und Memefizierung in (a)sozialen Netzwerken sowie die Historische Aufarbeitung der Geschichte des Niedersächsischen Verfassungsschutzes.

2Der Begriff des Salafismus bezeichnet eine Strömung des Islam, die sich auf das Vorbild der »frommen Altvorderen« (arabisch: as-Salaf aṣ-Ṣāliḥ) bezieht, womit die ersten drei Generationen der islamischen Frühzeit gemeint sind. Das mit dem Begriff bezeichnete Spektrum an Akteur*innen ist weit: Manche Salafist*innen enthalten sich weitgehend politischer Tätigkeit. Andere engagieren sich politisch, um für das, was sie als islamisch geboten erachten, einzutreten, salafistisch-dschihadistische Gruppen greifen für diese Ziele zur Gewalt. Andererseits gibt es viele radikalislamische Akteur*innen, die sich explizit vom Salafismus abgrenzen wie der in dieser Studie behandelte Yasin al-Hanafi (siehe 3.2.1). »Salafismus« wird daher in der vorliegenden Studie nicht als analytischer Begriff verwendet; vielmehr wird dem breiteren Terminus des »radikalen Islam« der Vorzug gegeben.

3Als »nicht-deutschstämmig« werden all jene verstanden, die innerhalb oder außerhalb Deutschlands geboren wurden und mindestens einen Elternteil oder einen Großelternteil haben, der nicht in Deutschland geboren ist. »Deutschstämmig« sind im Umkehrschluss all jene, deren Eltern und Großeltern sowie sie selbst in Deutschland geboren wurden.

4Zugleich ist festzuhalten, dass sowohl die Protagonist*innen der »klassischen« Organisationen des politischen Islam, wie die Muslimbruderschaft oder Millî Görüş, transnational vernetzt sind.

5So wird etwa vor dem Internet als »Motor der Radikalisierung« gewarnt. O. V.: Verfassungsschützerin: Islamismus bleibt größte Bedrohung, in: t-online, 19.03.2019, URL:https://www.t-online.de/nachrichten/id_85430554/verfassungsschuetzerin-islamismus-bleibt-groesste-bedrohung.html[eingesehen am 02.12.2020]. In den Medien finden sich noch deutlich alarmistischere Berichte, etwa: Meining, Stefan/Senyurt, Ahmet: Teufelsangst und Psychotricks. Wie radikale Salafisten junge Muslime ködern, in: BR.de, 24.02.2015, URL:https://www.br.de/fernsehen/das-erste/sendungen/report-muenchen/videos-und-manuskripte/salafisten-junge-muslime100.html[eingesehen am 02.12.2020] oder o. V.: Angeworben im Netz der Dschihadisten, in: NDR.de, 02.02.2016. URL:https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/Angeworben-im-Netz-der-Dschihadisten,syrien698.html[eingesehen am 02.05.2019].

6Klevesath, Lino/Munderloh, Annemieke/Sprengeler, Joris/Schlieker, Kathinka/Grahmann, Florian: Scharia als Weg zur Gerechtigkeit? Eine Analyse der Rezeption eines salafistischen Online-Videos durch junge Muslim*innen, FoDEx-Studie Radikaler Islam, Göttingen 2019, online einsehbar unter:https://www.fodex-online.de/publikationen/studie-scharia-als-weg-zur-gerechtigkeit/.

1.Einleitung

1.1.Radikaler Islam im Netz

WhatsApp, Signal und Telegram – Facebook, VKontakte und YouTube: Digitale Medien haben eine zentrale Bedeutung für radikalislamische Netzwerke gewonnen. Dies gilt gleichermaßen für die innere Kommunikation wie für die Außendarstellung.

Radikalislamische Akteur*innen bedienen sich in Deutschland zahlreicher Mittel, um Menschen in ihre Kreise zu integrieren. Das Phänomen des radikalen Islam ist in Deutschland noch recht jung, entwickelt sich aber schnell. Legt man die Zahlen der Verfassungsschutzbehörden zugrunde, liegt das Personenpotenzial im Bereich »Islamismus/Islamistischer Terrorismus« bei rund 28.000 Personen – und ist von 2018 zu 2019 um 5,5 Prozent angestiegen.1 Das erhebliche Wachstum der radikalislamischen Bewegung im vergangenen Jahrzehnt ist einer der Gründe, sich mit ihr auseinanderzusetzen – dahinter steht die Frage, was Faktoren für Erfolg und Wachstum einer relativ jungen Bewegung in der Deutschland sein können.

Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der Salafist*innen in der Bundesrepublik konstant gewachsen. Damit ist der Salafismus die Strömung innerhalb des Spektrums des radikalen Islam, die in den letzten Jahren besonders an Dynamik gewann. Die Aktivitäten der zahlreichen radikalislamischen Gruppen nehmen trotz einiger Vereinsverbote und Festnahmen im Bereich des dschihadistischen Salafismus nicht ab. Vor allem in den Großstädten Berlin, Hamburg, Frankfurt a.M. und Bonn konnten sich radikalislamische Gruppen etablieren. In der Bundesrepublik Deutschland bestehen zahlreiche radikalislamische Netzwerke, Moscheen und sogenannte Kultur- oder Informationszentren. Dabei wird der Daʿwa, also der Missionstätigkeit, eine überragend hohe Bedeutung beigemessen: Die Daʿwa ist zentraler Bestandteil des Selbstverständnisses radikalislamischer Akteur*innen.

Zwar existieren keine zugänglichen Statistiken über die Sozialstruktur radikaler Muslim*innen in Deutschland, aber die auf öffentlichen Veranstaltungen anwesenden Personen sowie der Sprachgebrauch der Prediger lassen auf eine überwiegend jugendliche Zielgruppe schließen. Partiell wird die gegenwärtige radikalislamische Bewegung sogar explizit als »Jugendbewegung« bezeichnet.2 Im Gegensatz zu den Imamen der großen, etablierten muslimischen Verbände wie der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e. V. (DITIB) und die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG), deren Imame zumeist aus der Türkei nach Deutschland entsandt werden, sind im salafistischen Spektrum auch vermehrt in Deutschland geborene und aufgewachsene Prediger aktiv. Dies vereinfacht den Zugang zu ihrer jungen Zielgruppe, die oftmals kaum türkisch oder arabisch spricht – darüber hinaus kennen in Deutschland sozialisierte Imame auch besser die Lebenswelten und Probleme der in Deutschland lebenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Während die radikalislamischen Strukturen in den ersten Jahren in erster Linie auf schlicht erstellte YouTube-Videos und Websites setzten, ist seitdem eine bemerkenswerte Professionalisierung erfolgt: Die im Rahmen der »Lies!«-Kampagne in den 2010er Jahren verteilten Koranexemplare3 weisen ebenso wie die zwischenzeitlich erschienenen dschihadistischen Magazine »Inspire« und »Dabiq« eine äußerst hochwertige Gestaltung auf. Letztere werden zudem in zahlreichen Sprachen, darunter Englisch und Deutsch, publiziert.4 Hier ist also vor allem eine zunehmende Anpassung der Publikationen an einzelne Zielgruppen in Europa erkennbar. Magazine wie die oben genannten werden allerdings in aller Regel nicht gedruckt, sondern lediglich im Internet verbreitet. Trotz der staatlichen Sanktionierung insbesondere gegenüber dschihadistischen Publikationen ist ein Zugriff auf die Magazine unproblematisch auf zahlreichen Websites möglich.

Die Akteur*innen im Spektrum des nicht spezifisch gewaltorientierten radikalen Islam sprechen hingegen eine breitere Öffentlichkeit an und sind in allen weit verbreiteten sozialen Netzwerken vertreten. Dort besprechen einzelne radikalislamische Prediger in Videos in erster Linie Alltagsprobleme sowie mehr oder weniger spezifische religiöse Fragen. Während die Zielgruppe erst allgemein angesprochen wird, erfolgt in der Regel schnell der Übergang zur persönlicheren Direktkommunikation innerhalb der sozialen Netzwerke sowie über Messengerdienste wie WhatsApp oder Telegram. Neben den männlich dominierten Predigt-Videos werben Salafist*innen auch mit Videos, die Auseinandersetzungen mit Medienvertreter*innen oder Polizeikräften, aber auch beispielsweise Sprechgesänge (Naschids, arab. Anāšīd, Sg. našīd) oder etwa dschihadistische Aktivitäten in Syrien zeigen.

Alle Aktivitäten der radikalislamischen Akteur*innen entfalten ihre Wirkkraft erst durch die Verbreitung im Internet. Insbesondere im Wirken über soziale Netzwerke ist in den vergangenen Jahren ein neues Phänomen entstanden – die radikalislamische Bewegung integriert verstärkt Frauen in den Prozess der Mission. Während die radikalislamische Ideologie eigentlich für eine Geschlechterordnung steht, »die auf der Vorstellung gottgewollter Unterschiede zwischen Männern und Frauen basiert«5 und eine grundsätzlich untergeordnete Stellung der Frau propagiert, stellen Frauen hierdurch eine zunehmend wichtigere Rolle in der radikalislamischen Bewegung dar, insbesondere für die Anwerbung von weiteren Frauen. Auch der sog. Islamische Staat (IS) versuchte gezielt, Mädchen und Frauen zu einer Ausreise nach Syrien zu bewegen: »Frauen berichten in ihrer Rolle als Propagandistinnen mehrheitlich über den Alltag im ›Islamischen Staat‹. Dabei verbreiten sie vor allem das Bild eines funktionierenden ›Sozialstaates‹, in dem ein gut organisiertes und scheinbar unbeschwertes Leben für sich und ihre Geschlechtsgenossinnen möglich erscheint«.6

Auch bezüglich der Daʿwa-Strategien radikalislamischer Akteur*innen hat ein Prozess der Diversifizierung und Professionalisierung der Mittel eingesetzt: Diversifizierung insofern, als dass – neben der Ansprache der Allgemeinheit über Videos und öffentliche Auftritte – neue Methoden zum Einsatz kommen. Potenzielle Sympathisant*innen werden gezielt mit persönlichen Nachrichten (zum Beispiel per WhatsApp) angesprochen. Durch flächendeckende Aktionen wie Koranverteilungen werden auch Menschen, die sich in konventionellen islamischen Kontexten (wie etwa DITIB-Gemeinden) bewegen oder Moscheegemeinden fernstehen, von Salafist*innen angesprochen.

Die hierbei selbstverordnete Mäßigung bei mündlichen Äußerungen – wie etwa im Rahmen der »Lies!«-Kampagne – soll in Teilen zu einem Eindruck der engagierten Frömmigkeit beitragen, um die gesellschaftlichen und staatlichen Vorbehalte abzuschwächen. Hierin zeigt sich auch die Tendenz zur Professionalisierung – einheitliches Auftreten, äußere Mäßigung, Sanktionierung bei Fehlverhalten im Rahmen der Koranverteilungen sind ebenso Ausdruck wie das moderne Layout der Publikationen und Websites radikalislamischer Gruppen. Legales, aber stark provozierendes Verhalten in der Öffentlichkeit lässt sich allerdings unter Salafist*innen in Deutschland (im Gegensatz etwa zu Großbritannien) seltener beobachten. Während es 2012 auf Demonstrationen in Solingen und Bonn zu Ausschreitungen salafistischer Akteur*innen kam7 und 2014 eine vermeintliche »Shariah Police« in Wiesbaden Passant*innen warnte, sündiges Verhalten wie unter anderem Glücksspiel oder Alkoholkonsum zu meiden,8 verhalten sich Salafist*innen in den letzten Jahren deutlich unauffälliger in der Öffentlichkeit.

Vor allem unentschlossene, nicht bereits radikalisierte junge Menschen werden von Anhänger*innen des radikalen Islam als Zielgruppe angesehen. Um diese zu erreichen, wird eine Strategie der Adaption verfolgt, die Themen und Sehgewohnheiten der Zielgruppe aufnimmt und sich hieran mit hoher Effektivität anpasst.

1.2.Forschungsstand

Der Forschungsstand rund um den radikalen Islam ist außerordentlich vielfältig. Die vorliegende Studie fokussiert die Untersuchung eines Elements der radikalislamischen Daʿwa: Online-Videos, die – vielfach über soziale Netzwerke und Messengerdienste geteilt – zahllose junge Menschen erreichen. Dabei stehen bei dieser Studie nicht die Inhalte der Videos im Vordergrund, wenngleich diese auch in Kürze analysiert werden. Vielmehr liegt das Augenmerk auf den Rezipient*innen, denen Videos präsentiert wurden und die sich in Fokusinterviews dazu äußerten. Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über die unterschiedlichen Perspektiven der Wissenschaft auf den Forschungsgegenstand gegeben.

Schon kurz nach Gründung der Plattform YouTube im Jahr 2005 begannen Salafist*innen, das Portal zur Missionsarbeit zu nutzen.9 Die Frage nach der Verwendung von Online-Medien für die radikalislamische Missionsarbeit stieß in der deutschsprachigen Forschung jedoch zunächst kaum auf Interesse.10 Erst in den letzten Jahren sind immer mehr Publikationen erschienen – zum Teil im Rahmen großer Forschungsprojekte.11 Nur ein kleiner Teil der Studien widmet sich den Rezipient*innen.12 Freilich ist der Inhalt radikalislamischer Videos von hoher Relevanz – aber um wirklich zu verstehen, auf welche Weise radikalislamische Videos dazu beitragen, dass sich Menschen radikalen Strömungen des Islam anschließen, ist es ebenso wichtig, den Blick auf die Rezipient*innen zu richten – hierin liegt auch die Intention der vorliegenden Studie.

Neben den Publikationen aus unterschiedlichen Wissenschaften wie Politikwissenschaft und Kriminologie bestehen zahlreiche Veröffentlichungen der Verfassungsschutzbehörden. Bereits 2012 erstellte der niedersächsische Verfassungsschutz die Broschüre »Islamismus: Entwicklungen – Gefahren – Gegenmaßnahmen«, die versuchte zu klären, inwieweit das Kommunikationsverhalten von Jugendlichen im Netz Rückschlüsse auf den Grad ihrer Radikalisierung zulässt. Allerdings blieb dabei unklar, auf welcher empirischen Grundlage die Untersuchung erfolgte13 – ein bei Publikationen des Verfassungsschutzes häufig auftretendes Problem, das sich jedoch kaum vermeiden lässt, da der Verfassungsschutz seine Quellen in der Regel nicht offenlegen darf. Aus wissenschaftlicher Sicht können die Verfassungsschutzberichte also in erster Linie dazu dienen, einen Überblick über die behördliche Perspektive auf das Phänomen zu erhalten. Ein Blick auf diese Perspektive wird auch etwa durch das Kriminalistik-Handbuch »Islamistischer Terrorismus: Analyse – Definitionen – Taktik« offenbar.14

Zahlreiche Publikationen widmen sich den Radikalisierungsverläufen von Einzelpersonen, darunter eine Veröffentlichung von Katrin Strunk15, die einen fiktiven, aber nach ihren Angaben eng an einen realen Fall angelehnten Verlauf einer Radikalisierung einer jungen Muslima anhand der Entwicklung ihres Facebook-Profils nachzeichnete.16 Freilich trifft auch auf derartige Publikationen das oben bereits angesprochene Problem der mangelnden Überprüfbarkeit zu.17 Der notwendige Quellenschutz bringt also erhebliche Probleme bei der Verifizierbarkeit der Erkenntnisse mit sich. Als jüngere Beispiele für die Radikalisierungsforschung können die Studie »Islamistische Radikalisierung. Biografische Verläufe im Kontext der religiösen Sozialisation und des radikalen Milieu« von Ednan Aslan und die Studie »Der Weg in den Jihad. Radikalisierungsursachen von Jihadisten in Deutschland« von Dirk Baehr genannt werden.18

Auch Messengerdienste spielen eine wesentliche Rolle für die Radikalisierung: Die Studie von Kiefer et al. untersucht Verläufe einer dschihadistischen WhatsApp-Gruppe. Diese Binnenkommunikation ist für die Forschung aufschlussreich und ermöglicht die Rekonstruktion von Inhalten und Radikalisierungsverläufen.19 Über WhatsApp- und Telegram-Chats können zudem Videos zur Missionierung einfach weiterverbreitet werden. In einem Beitrag des Sammelbands »Aspekte von Radikalisierungsprozessen. Fallgestützte Studien« wird die Studie von Kiefer et al. vergleichend mit der oben benannten Studie Aslans betrachtet und der Versuch einer Typologie des radikalislamischen Milieus unternommen.20

Allgemein wird in der Forschung die Frage, inwieweit der bloße Konsum radikaler Inhalte überhaupt einen radikalisierenden Effekt auf die Rezipient*innen haben kann, kontrovers diskutiert. Eine Studie von Pauwels et al.21 kam beispielsweise zu dem Schluss, dass ein nennenswerter radikalisierender Effekt erst durch eine schon bestehende Übereinstimmung der Anschauungen der Rezipient*innen mit den in der Propaganda vertretenen Inhalten auftritt.22 Die 2019 erschienene Studie von Katharina Neumann, die anhand von leitfadengestützten Interviews mit dschihadistischen Strafgefangenen sowie Aussteigern aus der dschihadistischen Szene die Rolle des Konsums von Medienberichterstattung und von radikalislamischen Propagandainhalten untersuchte, kam zu dem Ergebnis, dass Medien- und Propagandakonsum in einer Wechselwirkung zueinander stehen. Sowohl der Konsum von medialen Darstellungen, die Muslim*innen und den Islam tatsächlich oder vermeintlich negativ darstellen als auch radikalislamische »Wolf-im-Schafpelz«-Inhalte in Online-Videos, die Jugendlichen Lebensberatung anböten, aber auch den westlichen Lebensstil verurteilten, könnten zu einer Radikalisierung und einem Rückzug in die (radikal-)islamische Ingroup führen.23

Propagandaforschung befasst sich, angelehnt an eine verbreitete Definition des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Harold Lasswell, mit der Untersuchung von Techniken zur medialen Beeinflussung von Menschen – dabei kann Propaganda gesellschaftliche, religiöse und politische Ziele verfolgen.24 Der Ursprung des Begriffs der Propaganda liegt im religiösen Bereich: Die katholische Kirche gründete im Jahr 1622 die »Sacra Congregatio de Propaganda Fide« mit dem Ziel der Missionierung, um den wachsenden Einfluss des Protestantismus zurückzudrängen.25 Sie verwendete den Begriff der »Propaganda« also als Selbstbezeichnung. Der Begriff der Propaganda ist vom lateinischen Wort »propagatio« abgeleitet, das unter anderem als »Ausdehnung« übersetzt werden kann. Geschichtlich wurde der Begriff zuweilen als Selbstbezeichnung, als abwertende Außenzuschreibung oder als analytische Kategorie verwendet.

Das Erkenntnisinteresse dieser Studie liegt in erster Linie darin, die Wirkmechanismen und Rezeption der Medienarbeit von Anhänger*innen des radikalen Islam zu verstehen. Dem hier verwendeten Begriff der Propaganda liegt insofern keine normative Wertung zugrunde.

Im Vergleich zu dem engeren Begriff der »Daʿwa«, der sich rein auf religiöse Missionierung bezieht, ist der Begriff der »Propaganda« aus unserer Sicht im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse besser geeignet, weil er sowohl die religiöse als auch die allgemeine politische und gesellschaftliche Beeinflussung mit einbezieht. Denn der Schwerpunkt der von uns untersuchten Videos liegt nicht lediglich auf spezifisch religiösen Themen im engeren Sinne, sondern bezieht sich auch auf andere grundlegende Fragen, wie etwa die Tendenz zu autoritären Staatsstrukturen, sowie allgemeine gesellschaftliche Fragen, wie die Rolle der Frau in der Gesellschaft.

Relevant für unsere auf radikalislamische Videos bezogene Studie ist die quantitative Untersuchung »Propaganda 2.0 – Psychological Effects of Right-Wing and Islamic Extremist Internet Videos« im Auftrag des Bundeskriminalamts (BKA), bei der 450 »nicht-radikalen« männlichen Probanden Videos mit rechtsextremen und radikal-islamischen Inhalten vorgespielt wurden. Dabei zeigte sich, dass die Probanden überwiegend ablehnend auf die Inhalte reagierten: »Talking-Head«-Videos stießen dabei auf größere Ablehnung als Clips, die sich kinofilmartiger Stilmittel bedienten. Es zeigte sich zudem, dass deutschstämmige Studenten rechtsextreme Clips negativer bewerteten als muslimische Studenten, während die dschihadistischen Inhalte bei muslimischen Studenten negativer bewertet wurden als bei den deutschstämmigen Kommilitonen. In der Gruppe der Schüler unter den Probanden zeigte sich der gegenteilige Effekt – deutschstämmige Schüler waren empfänglicher für rechtsextreme Propaganda, muslimische Schüler für dschihadistische Inhalte. So lässt sich vermuten, dass ein höherer Bildungsgrad stärker gegen Propaganda immunisiert, die auf die eigene soziokulturelle Gruppe ausgerichtet ist.26 Allerdings nahm die Studie nur dschihadistische und keine gewaltfreien Inhalte aus dem radikalislamischen Spektrum in den Blick,27 die – möglicherweise – für Jugendliche, die sich dem Salafismus zuwenden, zunächst eine größere Rolle spielen. Zudem kann die Studie aufgrund ihres quantitativen Ansatzes die Rezeption der Medieninhalte nur sehr grob erfassen und lässt aufgrund der Fokussierung auf männliche Probanden keine Schlüsse auf die Wirkung dieser Inhalte auf Frauen zu.

Mit unserer qualitativen Studie beabsichtigen wir, dazu beizutragen, eine Forschungslücke zu schließen: Die Untersuchung der Rezeption radikalislamischer Videos wurde bislang kaum mit Methoden der qualitativen empirischen Sozialforschung untersucht.28 Die nun durchgeführte Studie schließt dabei an die bereits 2019 publizierte Vorabstudie »Scharia als Weg zur Gerechtigkeit? Eine Analyse der Rezeption eines radikalislamischen Online-Videos durch junge Muslim*innen«29 an, nimmt auch die Rezeption durch Nicht-Muslim*innen in den Blick und erweitert sowohl die Anzahl der ausgewerteten Videos als auch Interviews.

1.3.Forschungsfrage

Im Mittelpunkt unseres Forschungsinteresses steht die Frage, welche Wirkung radikalislamische Videoinhalte bei jungen Rezipient*innen hervorrufen. Inwiefern sind die Inhalte der vier Videoclips, aber auch die Präsentation dieser überzeugend? Welche individuellen Dispositionen können im Interviewverlauf identifiziert werden, die die in diesen Clips präsentierten Meinungen anschlussfähig(er) machen? Gelingt es den vier Produzenten der Videoclips, insbesondere im Sample der jungen Muslim*innen Zustimmung für ihre politischen Inhalte zu erlangen und wenn ja, welche Aspekte überzeugen konkret? Bis zu welchem Grad teilen die befragten Muslim*innen also die Ansicht, dass eine säkulare Ordnung notwendigerweise ungerecht ist und eine legitime öffentliche Gewalt daher notwendigerweise auf der Scharia fußen sollte? Übernehmen sie das Bild, wonach Muslim*innen vorwiegend Ungerechtigkeit erfahren, nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehören und von dieser diskriminiert und bedroht werden? Inwieweit fußt eine potenzielle Zustimmung dazu auf zuvor gebildeten Überzeugungen und persönlichen (Ausgrenzungs)Erfahrungen aufgrund ihrer sozialen Zugehörigkeit? Welche Rolle spielt ihr eigenes Islamverständnis für die Rezeption der Videos? Lässt sich feststellen, dass ihr eigenes Islambild durch den Konsum der Videos verändert wird oder scheint es davon unbeeinflusst zu bleiben?

Gleichzeitig nehmen wir auch die Rezeption durch junge Nicht-Muslim*innen in den Blick. Sind die Videos für sie ausschließlich befremdlich oder fühlen sie sich zumindest partiell auch von diesen angesprochen? Beziehen sie die islamischen Inhalte auf eigene religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen? Lässt sich feststellen, dass ihr Bild des Islam und von Muslim*innen durch den Konsum der Videos beeinflusst wird?

Um diese Fragen zu beantworten, wurden vier unterschiedliche radikalislamische Videos mit politisch relevanten Inhalten vorgeführt und ausführliche, durchschnittlich um die zwei Stunden dauernde fokussierte Interviews mit ihnen geführt, um die Rezeption der Internet-Clips durch junge Menschen zu ergründen. Im Folgekapitel wird detailliert auf die Auswahl und Analyse der verwendeten Videos eingegangen, das Sample der Interviewten, die Durchführung der Interviews und die ihnen zugrundeliegenden Methode erläutert sowie die Analyse des Interviewmaterials erklärt.

1Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat: Verfassungsschutzbericht 2019, Berlin 2020, S. 180.

2Ceylan, Rauf/Kiefer, Michael: Salafismus. Fundamentalistische Strömungen und Radikalisierungsprävention, Wiesbaden 2013, S. 81.

3Der Trägerverein der Koranverteilkampagne »Lies!« wurde im Jahre 2016 verboten. Diehl, Jörg/Lehberger, Roman: Innenminister verbietet Salafisten-Verein, in: Spiegel Online, 15.11.2016, URL:https://www.spiegel.de/politik/deutschland/salafisten-bundesweite-razzia-gegen-islamistischen-verein-a-1121208.html[eingesehen am 29.10.2020].

4Heinke, Daniel H./Fouad, Hazim: Das Dabiq-Magazin als Rekrutierungswerkzeug des IS, in: sicherheitspolitik-blog, 03.03.2015, URL:www.sicherheitspolitik-blog.de/2015/03/03/das-dabiq-magazin-als-rekrutierungswerkzeug-des-is/[eingesehen am 10.03.2016].

5Schröter, Susanne: Die salafistische Genderordnung und die (falsche) Romantisierung des Dschihad, in: Biene, Janusz/Junk, Julian (Hg.): Salafismus und Dschihadismus in Deutschland – Herausforderungen für Politik und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2016, S. 51-56, hier S. 51.

6Bundesamt für Verfassungsschutz (Hg.): Jihadistinnen und ihre Rolle bei der Anwerbung von Frauen für den »Islamischen Staat« (IS), Berlin 2015, online einsehbar unter:www.frauenundflucht-nrw.de/images/pdf/extremistischer_salafismus/Radikalisierung-von-Frauen_Verfassungsschutz.pdf[eingesehen am 03.12.2020].

7Dahmann, Klaus: Angriff gewaltbereiter Salafisten, in: dw.com [Deutsche Welle], 25.05.2012, URL:https://www.dw.com/de/angriff-gewaltbereiter-salafisten/a-15934862[eingesehen am 29.10.2020].

8O. V.: Selbst ernannte »Scharia-Polizei« patrouilliert in Wuppertal, in: Spiegel Online, 05.09.2014, URL:https://www.spiegel.de/politik/deutschland/scharia-polizei-in-wuppertal-salafisten-als-sharia-police-in-nrw-a-990152.html[eingesehen am 29.10.2020].

9Vgl. etwa Selamullah: ISLAM erklärt in 30 sekunden von Pierre Vogel Juba OBERADEN, in: Selamullah, 13.09.2007, URL:https://youtu.be/Q63onZVgpds[eingesehen am 05.11.2020].

10Allerdings gibt es Ausnahmen – vgl. z.B. Dantschke, Claudia: Die muslimische Jugendszene, Bundeszentrale für politische Bildung, 05.07.2007, URL:www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus/36402/jugendorganisationen[eingesehen am 22.06.2018]. Dantschke setzte sich schon damals mit salafistischen Gruppen im Internet auseinander (allerdings noch unter der Bezeichnung »salafitische Gruppen«).

11Einen umfangreichen Überblick über die Forschungsliteratur bietet die 2016 vom »Deutschen Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet« erstellte Literaturstudie, der wir hier weitgehend folgen, vgl. Koch, Gertraud/Stumpf, Teresa/Knipping-Sorokin, Roman: Radikalisierung Jugendlicher über das Internet? – Ein Literaturüberblick, Hamburg 2016.

12Vgl. ebd., S. 22 f.

13Vgl. ebd., S. 23 f.

14Goertz, Stefan: Islamistischer Terrorismus. Analyse – Definitionen – Taktik, Heidelberg 2019.

15Vgl. Strunk, Katrin: Frauen in dschihadistischen Strukturen in Deutschland, in: Herding, Maruta (Hg.): Radikaler Islam im Jugendalter. Erscheinungsformen, Ursachen und Kontexte, Halle (Saale) 2013, S. 79-91.

16Vgl. Koch/Stumpf/Knipping-Sorokin: Radikalisierung Jugendlicher, S. 23 f.

17Mit den forschungsethischen Problemen des Forschungsfeldes setzen sich etwa Eppert et al. auseinander: Eppert, Kerstin et al.: Navigating a rugged coastline. Ethics in Empirical (De-)Radicalization Research (CoRE-NRW-Forschungspapier), online einsehbar unter:https://www.bicc.de/fileadmin/Dateien/Publications/other_publications/Core-Forschungsbericht_1/CoRE_FP_1_2020.pdf[eingesehen am 15.03.2020].

18Aslan, Ednan: Islamistische Radikalisierung. Biografische Verläufe im Kontext der religiösen Sozialisation und des radikalen Milieu, Wiesbaden 2018; Baehr, Dirk: Der Weg in den Jihad. Radikalisierungsursachen von Jihadisten in Deutschland, Wiesbaden 2019.

19Kiefer, Michael et al.: »Lasset uns in shaʼa Allah ein Plan machen«. Fallgestützte Analyse der Radikalisierung einer WhatsApp-Gruppe, Wiesbaden 2017. Die Publikation ist im Zusammenhang mit dem Verbundsprojekt »X-SONAR: Extremistische Bestrebungen in Social Media Netzwerken: Identifikation, Analyse und Management von Radikalisierungsprozessen« entstanden, welches praxisbezogene Grundlagenforschung leistet und in dem u.a. das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld mit der Deutschen Hochschule der Polizei und dem LKA Niedersachsen zusammenarbeiten.

20Kiefer, Michael: Religion in der Radikalisierung, in: ders. et al.: Aspekte von Radikalisierungsprozessen. Fallgestützte Studien, Osnabrück 2020, S. 15-34 (insb. 26 ff.).

21Pauwels, Lieven et al.: Explaining and understanding the role of exposure to new social media on violent extremism. An integrative quantitative and qualitative approach, Gent 2014.

22Vgl. Koch/Stumpf/Knipping-Sorokin: Radikalisierung Jugendlicher, S. 29 f.

23Vgl. Neumann, Katharina: Medien und Islamismus. Der Einfluss von Medienberichterstattung und Propaganda auf islamistische Radikalisierungsprozesse, Wiesbaden 2019, S. 274-289.

24Vgl. Lasswell, Harold: Propaganda Technique in World War I, Massachusetts 1971.

25Vgl. Arnold, Klaus: Propagandaforschung, in: Sander, Uwe et al. (Hg.): Handbuch Medienpädagogik, Wiesbaden 2008, S. 192-197.

26Vgl. Rieger, Diana/Frischlich, Lena/Bente, Gary: Propaganda 2.0. Psychological Effects of Right-Wing and Islamic Extremist Internet Videos, Köln 2013, S. 111-114.

27Vgl. ebd., S. 51-56.

28Einzig das Verbund-Forschungsprojekt RadigZ setzt zur Analyse internetbasierter Propaganda neben quantitativen auch auf qualitative Methoden – dabei stehen allerdings Videos nicht im Vordergrund. Vgl. RadigZ: Projektbeschreibung TV III. Analyse internetbasierter Propaganda, ohne Datum, URL:http://radigz.de/projekt/tv-iii-analyse-internetbasierter-propaganda/[eingesehen am 22.06.2018].

29Klevesath et al.: Scharia als Weg zur Gerechtigkeit?.

2.Methodik, Forschungsdesign und Materialauswahl

2.1.Zur Auswahl der Videos

Um die Medienwirkung und Rezeption deutschsprachiger radikalislamischer YouTube-Videos zu untersuchen, wurde den Teilnehmer*innen der Studie ein breites Spektrum von Inhalten und Darstellungsformen gezeigt, um deren unterschiedliche Wirkungen vergleichen zu können. Bei einer zu hohen Anzahl und Vielfalt von Videos wurde aber befürchtet, dass die Interviews an Tiefe verlören. Somit war eine Eingrenzung der Videos anhand von Kriterien unerlässlich. Im Einzelnen wurden im Auswahlprozess inhaltliche und formale Kriterien ausformuliert und an die Videos angelegt.

In inhaltlicher Hinsicht sollten die Videos erstens einen Bezug zur radikalislamischen Auslegung des Islam haben und zweitens politisch relevante Inhalte aufweisen. Entscheidend war die jeweilige Verhältnisbestimmung zu Demokratie, Rechtsstaat und Pluralismus. Einzelne radikalislamische Akteur*innen lehnen die Idee der Volkssouveränität und demokratischer Wahlen mit Verweis auf die Souveränität Gottes (arab. ḥākimiyyat Allāh) vollständig ab. Andere akzeptieren zwar partiell die Idee der Volkssouveränität und von Wahlen, fordern dabei aber, dass die Gesetzgebung auf den Rahmen, den die Scharia (arab. šarīʿa) vorgibt, beschränkt bleibt.1 Der Scharia wird ein göttlicher Ursprung zugeschrieben. Ein solches Weltbild schränkt ebenso sowohl den politischen und gesellschaftlichen als auch den individuellen Entscheidungsspielraum ein, einen den islamischen Normen widersprechenden Lebensstil zu pflegen.

In unserer Studie haben wir vier Themenschwerpunkte ausgewählt, die sich in den ausgesuchten Videos widerspiegeln: (I) Politik und Demokratie, (II) Pluralismus und der religiös Andere, (III) Stellung der Frau und (IV) Haltung zur Gewaltanwendung. In jedem der ausgewählten Videos wurde mindestens einer dieser Themenbereiche angesprochen.

Des Weiteren wurden drei formale Auswahlkriterien verwendet: Erstens sollte ein erweiterter Niedersachsen-Bezug der Videos vorliegen, da sich das Forschungsprojekt FoDEx der Erforschung niedersächsischer Akteur*innen widmet. Das Kriterium des Niedersachsen-Bezugs wurde erfüllt, sofern die in den Videos auftretenden Personen einer Missionstätigkeit in Niedersachsen nachgehen oder die Videos nachweislich von niedersächsischen Muslim*innen rezipiert werden. Hierbei kamen auch die Erkenntnisse der eigenen vorangegangenen Feldforschung in teils radikalislamisch geprägten Moscheen zur Anwendung, bei denen im Rahmen persönlicher Gespräche oder narrativer Interviews auf konkrete YouTube-Kanäle und -Videos verwiesen wurde.

Zweitens sollten Videos mit einer angemessen hohen Zahl an Aufrufen untersucht werden und drittens unterschiedliche Darstellungsformen, vor allem sachlich gefasste sowie auf Emotionen abzielende Videoclips, vertreten sein. So variiert insbesondere der Vortragsstil erheblich – die Bandbreite reicht von einem polemisierend-echauffierten Yasin Bala (bekannt unter dem Pseudonym »Yasin Al-Hanafi«), einem schwerpunktmäßig drohend-religiös argumentierenden Ahmad Armih (unter dem Pseudonym »Ahmad Abul Baraa«) bis hin zu einem eloquent-gelassenen Marcel Krass.

Es konnte nicht allen Kriterien in Gänze entsprochen werden: So wurden beispielsweise im Rahmen eines längeren Auswahlprozesses überwiegend Videos im Talking-Head-Format (das auf radikalislamisch geprägten YouTube-Kanälen gegenüber anderen Formaten dominiert) ausgewählt, was aber insofern gerechtfertigt erscheint, als dass diese sich besonders eignen, um die Rezeption und Einstellungen der Interviewpartner*innen zu konkreten ideologischen Inhalten zu untersuchen. Der vielfach angepasste Auswahlprozess führte im Ergebnis dazu, dass Videos von Yasin al-Hanafi, Abul Baraa und Marcel Krass sowie ein Naschid, ein Video mit islamischem A-cappella-Gesang, ausgewählt wurden. Bei Krass und Hanafi wurden jeweils die reichweitenstärksten Videos ausgewählt, die in ihrem Titel einen expliziten politischen Bezug aufwiesen. Das Video von Abul Baraa wurde unter anderem ausgewählt, da es – anders als die übrigen Videos – Ausschnitte einer Freitagspredigt zeigt. Auch die Wirkung von Videos, die Predigten zeigen, sollte überprüft werden. Abul Baraas Predigt ist phasenweise sehr laut und emotional und erfreut sich in abgewandelter Fassung ebenfalls einer hohen Verbreitung auf YouTube.2

Es wurde das Naschid »ġurabāʾ« (arab. für »die Fremden«) ausgewählt, da dem Naschid-Genre eine erhebliche Bedeutung für den radikalen Islam zukommt3 und das Lied in Deutschland wie auch weltweit in verschiedensten Fassungen eine große Popularität genießt. Das gilt auch für dschihadistische Kreise, selbst wenn der Liedtext vieldeutig ist und nicht zwangsläufig als gewaltbejahend interpretiert werden muss.4 Das kurze Naschid-Video (2:45 Minuten) wurde in voller Länge gezeigt. Bei den anderen drei Videos wurden zunächst bei einer groben Sequenzierung die für die Studie relevantesten Inhalte identifiziert und die Videos so gekürzt, dass sie im Rahmen eines etwa zweistündigen Interviews vorgeführt werden konnten.5

Im Laufe der Interviews sahen die Proband*innen jeweils die vier ausgewählten, gekürzten Videos und, im Verlauf der darauf folgenden Diskussion, kurze Ausschnitte, die den Videos entnommen wurden, um gezielt die Rezeption einzelner zentraler Punkte abzufragen, sofern dies in der Rezeption auf das Gesamtvideo noch nicht hinreichend geschehen war. Auf die Ausschnitte wird in der jeweiligen Videobeschreibung im Folgenden hingewiesen.

2.2.Zur Analyse der Videos

Jedes der gekürzten Videos wurde schließlich einer Inhaltsanalyse unterzogen. Nach einer Sequenzierung des Videomaterials wurden in der Forschungsgruppe unter Rückbezug auf einschlägige Forschungsliteratur zu jeder Sequenz vorläufige Hypothesen aufgestellt, welche Aspekte in welcher Weise von den Befragten interpretiert werden könnten und was für einen Einfluss sie so auf sie – und insbesondere ihre Meinungsbildungsprozesse – haben. Diese flossen dann in die Interviewvorbereitung und -durchführung ein. Welche in den Videos vertretenen Thesen sind unserer Einschätzung nach bedenklich? Welche könnten dennoch oder gerade deswegen anschlussfähig sein? Welche könnten zu partieller oder totaler Ablehnung der Inhalte führen? Welche regen Interviewpartner*innen an, neue Überlegungen anzustellen oder lassen sie auf tradierte Vorstellungen zurückgreifen? Anhand der Hypothesen wurden dann zentrale, etwa halbminütige Abschnitte des Videos identifiziert, die den Interviewpartner*innen im Anschluss an das Gesamtvideo gezielt nochmals vorgespielt werden konnten, um Reaktionen zu diesen ausgewählten Inhalten zu erhalten.

2.3.Die Methode des fokussierten Interviews

Bei der Durchführung der Interviews wurde auf die Methode des fokussierten Interviews zurückgegriffen. Sie wurde in den 1940er Jahren in einer Forschungsgruppe um den amerikanischen Soziologen Robert K. Merton zur Propagandaanalyse, Kommunikations- und Rezeptionsforschung am Bureau of Applied Social Research (BASR) der Columbia University entwickelt. Das Bureau gilt als Geburtsstätte der modernen Massenkommunikationsmittelforschung.6 Aktuelle Einsatzbereiche sind unter anderem die Markt- und Meinungsforschung. Das artverwandte Fokusgruppeninterview findet gerade in der (qualitativen) Sozialforschung, insbesondere der politischen Kulturforschung, häufig Verwendung.7

Das fokussierte Interview zielt auf die »subjektiven Erfahrungen der Personen [ab], die sich in der vorweg analysierten Situation befinden«8, auf das Ausloten ihrer Prädispositionen, die beeinflussen, wie und ob das Stimulusmaterial auf ihre Erfahrungswelt eingeht. Anhand der Beschreibungen und Interpretationen der Situation durch die Versuchspersonen lassen sich eigene Hypothesen zur Wirkung bestimmter Stimuli validieren und die Formulierung neuer Hypothesen zu nicht-antizipierten Reaktionen anregen. Die wirksamen Stimuli können mithilfe dieser Methode also nicht nur identifiziert werden; auch »Diskrepanzen zwischen antizipierten und tatsächlichen Wirkungen […], zwischen dominierenden Wirkungen und Wirkungen bei Teilgruppen«9 können interpretiert werden.

Die Interviewfragen »fokussieren« sich dabei auf einen zuvor festgelegten Gesprächsgegenstand beziehungsweise eine konkret beobachtete Situation, der die Befragten vor dem Interviewteil ausgesetzt wurden. Die vorangegangene Analyse des Materials ermöglicht es, bereits im Interview ein auffälliges Ausweichen oder das Verweigern einer Antwort zu bemerken und gezielter nachzufragen, um die Hintergründe der jeweiligen Reaktion zu erfahren. Fragen werden im Idealfall so offen wie möglich formuliert und den von Merton und Kendall entwickelten vier zusammenhängenden Kriterien unterworfen:

»1. Nicht-Beeinflussung: Die Führung und Lenkung des Gesprächs durch die Interviewer sollte auf ein Minimum beschränkt sein.2. Spezifität: Die von den Versuchspersonen gegebene Definition der Situation soll vollständig und spezifisch genug zum Ausdruck kommen.3. Erfassung eines breiten Spektrums: Im Interview sollte das ganze Spektrum der auslösenden Stimuli sowie der darauffolgenden Reaktionen der Befragten ausgelotet werden.4. Tiefgründigkeit und personaler Bezugsrahmen: Das Interview sollte die affektiven und wertbezogenen Implikationen der Reaktionen der Befragten ans Licht bringen, um herauszufinden, ob die gemachte Erfahrung für sie eine zentrale oder nur marginale Bedeutung hat.«10

Nicht-Beeinflussung soll sicherstellen, dass sich die Versuchsperson in der Lage sieht, jene Aspekte anzusprechen, die für sie von Relevanz sind, und nicht jene, von denen sie glaubt, dass ihnen die Interviewer*innen die größte Bedeutung beimessen. Daher wurde sich größtenteils auf unstrukturierte Fragen verlassen, sprich Fragen, in denen weder Stimulus noch Reaktion festgelegt wird, beispielsweise: »Was ist Dir in dem Video besonders aufgefallen?«

Um die Fragen im Sinne des Kriteriums der Spezifität im weiteren Interviewverlauf gezielt auf Themenbereiche zu lenken, die für die Forschungsfrage relevant sind – ohne freilich die Versuchspersonen durch eigene Formulierungen beziehungsweise Zusammenfassungen der Inhalte zu beeinflussen –, kamen die oben genannten circa halbminütigen Videoausschnitte zum Einsatz. Merton und Kendall beschreiben als »retrospektive Introspektion«11 den Versuch, die Proband*innen die Situation des Filmschauens erneut durchleben zu lassen, um Gedanken und Interpretationen zu reaktivieren. Erst danach wird gefragt: »Wenn du zurückdenkst, was hast du bei diesem Abschnitt empfunden?« Das Kriterium der Tiefgründigkeit verlangt, sich nicht mit einer bloßen Beschreibung der Situation oder wortkargen Antwort zufriedenzugeben, sondern nachzuhaken, was hinter affektiven Reaktionen steckt. Im Idealfall sollen die »Symbole, Ängste, Befürchtungen, Gefühle sowie kognitiven Vorstellungen zum Ausdruck«12 kommen. Auch sollten Meinungen der Befragten nicht einfach hingenommen werden. Es geht um den Auslöser: »Gab es in dem Video etwas, das diesen Eindruck hervorrief?« Allgemeine Einstellungen der Proband*innen können zwar aufschlussreich sein, jedoch sollte der Bezug zur Versuchssituation nicht aus den Augen verloren werden. Konfrontative Fragen werden im Interviewverlauf größtenteils vermieden.

2.4.Zum Sample und zur Durchführung der Interviews

Nachdem wir zwei Pretests durchgeführt hatten, entschieden wir uns dafür, die Fokusinterviews möglichst mit je zwei Versuchspersonen zu führen. Einerseits sollten es nicht mehr als zwei Personen sein, damit beiden Proband*innen genügend Zeit zur Verfügung steht, ihre Wahrnehmungen darzulegen. Andererseits sollte die Möglichkeit bestehen, dass angeregt durch den Austausch und den Gesprächsfluss zwischen den Proband*innen Erinnerungen in das Interview eingebracht oder zusätzliche Argumente angeführt werden, die bei einem Einzelinterview womöglich unerwähnt geblieben wären.

Da Gesprächsteilnehmende jedoch zuweilen kurzfristig absagten oder sich kein gemeinsamer Termin für ein Doppelinterview finden ließ, wurden auch einige Einzelinterviews geführt. Diese hatten einerseits den Nachteil, dass es schwieriger war, einen Gesprächsfluss zu erzeugen und die Interviewpartner*innen zu motivieren, auch weniger durchdachte und wohlformulierte Überlegungen zu äußern. Andererseits ergaben sich im Einzelinterview mehr Möglichkeiten, auch biografische Elemente, welche die Rezeption beeinflussen, zur Sprache kommen zu lassen. Doppelinterviews wurden in der Regel von zwei Interviewer*innen durchgeführt, Einzelinterviews von einer oder zwei Interviewer*innen.

Die Reihenfolge, in der die vier Videos den Gesprächspartner*innen vorgespielt wurden, war über die Interviews hinweg identisch. Zuerst wurde das jeweilige Gesamtvideo gezeigt und im Anschluss besprochen, dann bei Bedarf die etwa halbminütigen Ausschnitte vorgespielt. Ursprünglich wurde den Proband*innen zusätzlich zu den vier bereits erwähnten Videos noch ein fünftes Video gezeigt, ebenfalls ein Talking-Head-Video des bekannten Akteurs Pierre Vogel.13 Er argumentiert darin, dass sich Islam und Demokratie nie uneingeschränkt vereinen ließen. Dafür geht er neben Verweisen auf entsprechende Ge- und Verbote sowohl auf die vermeintliche Fehlbarkeit dieser als auch die Fehlbarkeit des Menschen und insbesondere der deutschen Gesellschaft ein. Deren Unsittlichkeit stelle einen scharfen Kontrast zum Leben der Muslim*innen dar. Auch unterstellt er Deutschland eine Doppelmoral – man sei schnell dabei, andere Nationen zu kritisieren, während das demokratische Wertesystem und der hiesige Lebensstil selbst zu wünschen übrig ließe. Kritik, vor allem von Muslim*innen kommend, sei unerwünscht, doch (so sein Aufruf am Ende) davon dürfe man sich nicht einschüchtern lassen. Nach den ersten vier Interviews wurde sich jedoch gegen dieses Video entschieden und die Länge der übrigen Videos noch einmal auf die oben genannten Abschnittslängen reduziert, da sich herausstellte, dass die geplante Interviewdauer von maximal zwei Stunden sonst kaum eingehalten werden konnte. Zusätzlich wurden ab diesem Zeitpunkt auch Fragebögen zur Erhebung weiterer persönlicher Daten eingeführt (siehe Anhang unter 6.2).

Die meisten Gesprächspartner*innen sind innerhalb Niedersachsens über Flyer angeworben worden, welche die Forscher*innen in innerstädtischen Bereichen vor verschiedenen lokalen Moscheen und unter Studierenden verteilten. Auf diesen Flyern wurde lediglich mitgeteilt, dass das Gespräch etwa zwei Stunden dauern werde und YouTube-Videos zum Thema habe – der Islam-Bezug der Fragestellung blieb unerwähnt. Für die Teilnahme erhielten die Proband*innen eine Aufwandsentschädigung, die ihnen nach Abschluss des Interviews ausgezahlt wurde. Wer Interesse an einer Teilnahme hatte, konnte sich an eine auf dem Flyer genannte EMail-Adresse wenden, die ebenfalls keine Rückschlüsse auf das Forschungsthema zuließ.

Um überprüfen zu können, welchen Einfluss die muslimische Religionszugehörigkeit auf die Wirkung der Stimuli hat, wurden insgesamt zehn muslimische und zehn nicht-muslimische Personen rekrutiert und interviewt. Bei der Zuordnung der Befragten zur Gruppe der muslimischen, christlichen oder nicht-konfessionellen Interviewten haben wir uns an ihrer Selbstbeschreibung orientiert und keine externen theologischen Maßstäbe angelegt. Sieben der Befragten sind deutschstämmig, 13 nicht-deutschstämmig. Neben den zehn muslimischen Befragten sind sechs konfessionslos, vier sind Christ*innen (wobei nur für zwei Interviewte das Christentum persönlich von Bedeutung zu sein scheint). Als »nicht-deutschstämmig« werden all jene verstanden, die außerhalb Deutschlands geboren wurden oder mindestens einen Elternteil oder einen Großelternteil haben, der nicht in Deutschland geboren ist. Als »deutschstämmig« gelten im Umkehrschluss all jene, deren Eltern und Großeltern sowie sie selbst in Deutschland geboren wurden.

Rekrutiert wurden zudem nur junge Menschen zwischen 18 und 35 Jahren (der Altersdurchschnitt liegt bei 23,6 Jahren), da sie zum einen die primäre Zielgruppe radikalislamischer Online-Videos darstellen und zum anderen davon ausgegangen wurde, dass junge Menschen über weniger gefestigte Weltbilder verfügen und somit empfänglicher für radikalislamische Inhalte sind.

Trotz des Bemühens, einen allzu großen Anteil an Akademiker*innen zu vermeiden, war diese Gruppe im Sample überrepräsentiert. Auch wurde ein ausgeglichenes Verhältnis von Frauen und Männern angestrebt, jedoch erwies sich insbesondere die Rekrutierung von Musliminnen als schwierig. Deshalb sind Frauen in der Gruppe der muslimischen Interviewpartner*innen unterrepräsentiert (drei von zehn Befragten) – in der Gesamtgruppe der zwanzig Personen befinden sich aber immerhin neun Frauen.

2.5.Zur Analyse des Interviewmaterials

Insgesamt sind 13 Interviews geführt worden, die allesamt akustisch aufgezeichnet wurden. Anschließend wurden alle Interviews transkribiert, ohne hierbei einen Fokus auf später erfolgende Feinanalysen zu setzen.

Die ausschließlich von Projektmitarbeiter*innen durchgeführte Transkription orientierte sich im Wesentlichen am Wortlaut der Interviewten. Es wurden also bestimmte Glättungen vorgenommen und nicht alle Wortverkürzungen und Wortverschleifungen kenntlich gemacht. Dies erfolgte nur dann, wenn die Transkribierenden den Eindruck gewannen, dass diese Abweichungen für die spätere Interpretation von Relevanz sein könnten. Abgebrochene Wörter und Sätze wurden hingegen wiedergegeben, ebenso Fülllaute. Auch wurden dialektale Wendungen zumeist nicht an die Hochsprache angepasst und Grammatikfehler nicht korrigiert. Auch längere Pausen wurden gekennzeichnet, ebenso auffällige Betonungen – hierzu wurden nach dem betreffenden Wort oder der Wortfolge interpretatorische Hinweise in Klammern hinzugefügt. Auch Störgeräusche wurden im Transkript vermerkt, sofern sie offensichtliche Auswirkungen auf die Gesprächsführung hatten. Punkte und Kommata wurden nach den Regeln der Rechtschreibung verwendet, nicht, um ein kurzes Absetzen zu versinnbildlichen.

Anschließend wurden die Transkripte mittels der Software »MAXQDA« codiert und ausgewertet. Dazu wurde im Anschluss an die Videoauswertung sowie die Eindrücke aus den Interviews in mehreren Phasen ein Codebaum erstellt und das Kategoriensystem mehrfach modifiziert. Nachdem das Codesystem zunächst an einem Interview gemeinsam in der Forscher*innengruppe getestet wurde, wurden die übrigen zwölf Interviews in Zweierteams codiert. Codiert wurde unter anderem jeder Bezug auf die im Video identifizierten Thesen (siehe Anhang unter 6.1.) sowie die Positionierung zu diesen Thesen und anderen Inhalten (Codes: stark negativ, schwach negativ, neutral, schwach positiv und stark positiv). Auch der Reflexionsgrad der Äußerungen wurde analysiert – so ließen sich besonders reflektiert erscheinende Wortbeiträge als »überlegt« und andere Äußerungen als »spontan« kennzeichnen. Zudem wurden verschiedene Arten der Videorezeption unterschieden – abhängig davon, ob die Interviewpartner*innen sich auf die Inhalte oder die Ästhetik des Videos bezogen, das Auftreten des Sprechers zum Thema machten, Gefühle zum Ausdruck brachten, die der Clip ausgelöst hatte, oder aber das Gesehene und Gehörte einer moralischen Bewertung unterzogen. Die Auswertung der Interviews erfolgte zunächst deskriptiv hinsichtlich der aus den Videos gewonnenen inhaltlichen Thesen: Welche Thesen wurden wie häufig rezipiert, welche wurden positiv, negativ oder ambivalent aufgenommen? Es konnten zudem thematische Schwerpunkte identifiziert werden, denen die Thesen der Akteure zugeordnet wurden (siehe Kapitel 4.2, 4.3 sowie 4.4).

Die thesenübergreifende Analyse des Materials verlief in zwei Schritten. Zunächst wurde für eine 2019 erschienene Kurzstudie das Interviewmaterial des muslimischen Samples in Bezug auf das erste gezeigte Video (»Was ist Scharia?« von Marcel Krass, siehe Kapitel 3.1.3) ausgewertet.14 Es zeigte sich, dass die Reaktionen auf das Video sehr unterschiedlich ausfielen und dass das jeweilige Religionsverständnis der muslimischen Proband*innen, welches in den Interviews häufig (und oft ausführlich) thematisiert wurde, ihre Antworten und Reaktionen maßgeblich beeinflusste. Im Laufe der Analyse stellte sich heraus, dass sich die muslimischen Rezipient*innen grob in zwei Gruppen unterteilen ließen, und zwar Muslim*innen mit einem orthodoxen Religionsverständnis sowie solche mit einem nicht-orthodoxen Religionsverständnis: Die Gesprächspartner*innen der ersten Kategorie sind überzeugt vom göttlichen Ursprung des Koran (arab. qurʾān) und der in Hadithen überlieferten Sunna (siehe Kapitel 2.5.1) und sehen die darin enthaltenen Gebote als verbindlich für alle Muslim*innen an. Sie stimmen generell vielen von Krass aufgestellten Thesen zu – auch dann, wenn sie radikalislamische Akteur*innen explizit ablehnen. Diese Gruppe kann zudem unterteilt werden in orthodoxe Muslim*innen, die politischen Forderungen, wie die nach einem eigenen Staat für Muslim*innen, meist negativ gegenüberstehen und orthodoxe Muslim*innen, die aus ihrer Religion politische Dimensionen ableiten. Die Gruppen wurden in der Kurzstudie anhand von Fallbeispielen näher erläutert.

Daneben wurde bereits in der Kurzstudie festgestellt, dass sich bei bestimmten Interviewpartner*innen in der Art der Rezeption des Interviews autoritäre Tendenzen andeuten, die unabhängig vom Religionsverständnis bestehen können. Dies gilt sowohl für das nicht-muslimische als auch für das muslimische Interviewsample. Diese Gesprächspartner*innen zeigten deutliche Präferenzen für drakonische Strafen und autokratische Herrschaftsformen, was eine Zustimmung zu den Videoinhalten wahrscheinlicher machte. Unser Verständnis von autoritären Tendenzen ist in der vorangegangenen Kurzstudie anhand eines vierten Fallbeispiels verdeutlicht worden (siehe Kapitel 2.5.2 in dieser Studie zur »Herleitung der autoritären Tendenzen«).

Für die vorliegende Studie, die das Gesamtsample umfasst, wurde dann in einem zweiten Schritt diese dreiteilige Kategorisierung (orthodox, nicht-orthodox, autoritäre Tendenzen) erweitert, um die Beeinflussung muslimischer und nicht-muslimischer Proband*innen durch ihr eigenes Religionsverständnis bei der Videorezeption vergleichbar zu analysieren. Dementsprechend wurde analysiert, wie sich das eigene Religionsverständnis sowie gewisse identifizierbare autoritäre Tendenzen auf die Rezeption insbesondere religiöser oder sich auf religiöse Inhalte beziehender Thesen auswirkt. Auch wurden bestimmte isolationistische Frames identifiziert, die von den Video-Machern genutzt werden. Bezüglich dieser Frames wurde untersucht, inwieweit sie von den Proband*innen erkannt oder übernommen wurden beziehungsweise allgemein auf Resonanz stießen. Im Folgenden werden die Kategoriensysteme für das Religionsverständnis und ihre Herleitung dargestellt (siehe Kapitel 2.5.1) sowie die isolationistischen Frames erklärt (siehe Kapitel 2.5.3).

2.5.1.Herleitung der Religionsverständniskategorie

Bereits bei der Konzeption der Studie ist von der Annahme ausgegangen worden, dass das Religionsverständnis der Interviewpartner*innen sich auf die Rezeption der Videos auswirkt und dass Muslim*innen und Nicht-Muslim*innen die radikalislamischen Videos unterschiedlich wahrnehmen würden. Deshalb wurden aus beiden Gruppen jeweils zehn Gesprächspartner*innen für die Studie ausgewählt (siehe Kapitel 2.4). Das jeweilige Religionsverständnis wird deutlich, wenn die Gesprächspartner*innen sich von konkreten Aussagen in Bezug auf das Video lösen und stattdessen eigene religiöse Grundüberzeugungen thematisieren. Diese empirisch beobachteten Unterschiede sind nicht nur auffällig, sondern wirken sich eindeutig auf die Videorezeption aus.

Bei der Untersuchung des Interviewmaterials wurde festgestellt, dass sich induktiv zwei Typen des Religionsverständnisses unter den Gesprächspartner*innen ausmachen lassen. Diese Unterscheidung liegt quer zur Einteilung der Teilnehmer*innen in Muslim*innen und Nicht-Muslim*innen. Eine Gruppe betrachtet Religion ausschließlich als anthropogenes Phänomen und als soziale Konstruktion. Für diese Gruppe ist Religion allenfalls deshalb bedeutsam, weil sie für die Lebensführung und Überzeugungen anderer Individuen relevant ist und infolgedessen gesellschaftliche Wirkungen entfaltet. Die Gruppe kann somit als »nicht-religiös« bezeichnet werden. Die Bewertungen der Religion gehen in dieser Gruppe auseinander – ihr werden positive als auch negative Folgen für das gesellschaftliche Leben zugeschrieben oder sie wird als gesellschaftlich weitgehend irrelevant eingestuft. Dieser Gruppe wurden sämtliche Gesprächspartner*innen zugeteilt, die sich selbst als nicht-religiös und/oder konfessionsfrei einstuften. Auch einige Interviewpartner*innen, die zwar eine Zugehörigkeit zu einer christlichen Konfession angeben, für die ihre formale Mitgliedschaft aber keine Bedeutung zu spielen scheint, wurden dieser Gruppe zugeordnet.

Eine zweite Gruppe hingegen sieht Religion (auch) als Reaktion des Menschen auf eine transzendentale Wirklichkeit. Unter diesen Befragten herrscht die Annahme vor, dass bestimmte Riten und Lehren keine menschliche Erfindung sind, sondern letztlich auf göttliche Stiftung zurückgehen.15 Diese Gruppe kann somit als »religiös« bezeichnet werden. Fast alle muslimischen Gesprächspartner*innen sowie die übrigen christlichen Gesprächspartner*innen sind dieser Gruppe zugeordnet. Maßgeblich für die Auswahl der muslimischen Interviewten war, dass sie sich selbst als Muslim*innen identifizierten. Theologische Maßstäbe blieben hingegen unberücksichtigt. Auch wurde bei der Rekrutierung nicht zwischen sunnitischen Muslim*innen, die in Deutschland die Mehrheit innerhalb des Spektrums des Islam stellen, und schiitischen Muslim*innen oder Anhänger*innen anderer islamischer Strömungen unterschieden.

Bei der Analyse der Gespräche mit den muslimischen Interviewpartner*innen kann induktiv eine weitere Differenzierung vorgenommen werden. Es ließ sich feststellen, dass ein großer Teil der muslimischen Befragten einem orthodoxen Islamverständnis anhing, eine kleinere Zahl von Befragten hingegen einem nicht-orthodoxen Religionsverständnis – also einer Auffassung des Islam, die vom Standpunkt einer orthodoxen Islam-Interpretation als »fehlerhaft« oder »mangelhaft« verstanden werden kann. Einige radikale Anhänger*innen des orthodoxen Islam würden den nicht-orthodoxen muslimischen Gesprächspartner*innen möglicherweise gar das Muslimisch-Sein absprechen und den Takfīr16 aussprechen. Doch trotz der teils großen Unterschiede zwischen orthodoxen und nicht-orthodoxen Muslim*innen wurden sie alle der religiösen Gruppe mit einem Glauben an eine transzendentale Wirklichkeit zugeordnet – mit der Ausnahme eines nicht-orthodoxen muslimischen Gesprächspartners, der sich weder der religiösen noch der nicht-religiösen Gruppe eindeutig zuordnen ließ.

Das Religionsverständnis der Nicht-Muslim*innen ließ sich – abgesehen von der Zuteilung zur religiösen oder nicht-religiösen Gruppe – nicht weiter ausdifferenzieren, da nicht-muslimische Glaubensvorstellungen durch den Fokus auf radikalislamische Inhalte kaum zur Sprache kamen.

Zur Unterscheidung zwischen einem orthodoxen und nicht-orthodoxen Islamverständnis

Die im Material vorgenommene Unterscheidung zwischen orthodoxen und nicht-orthodoxen Muslim*innen ähnelt der Unterscheidung zwischen orthodoxen und nicht-orthodoxen Jüd*innen: Während erstere die schriftliche und mündliche Tora wortwörtlich verstehen und die darin enthaltenen Gebote des jüdischen Rechts (hebr. halacha) als für ihr Handeln verbindlich anerkennen, tun die Anhänger*innen der unterschiedlichen Strömungen des nicht-orthodoxen Judentums dies nicht oder nur mit Einschränkungen.17

Als orthodoxe Muslim*innen werden in dieser Studie diejenigen Gesprächspartner*innen verstanden, die in den Interviews explizit oder implizit zum Ausdruck bringen, dass die Gebote des islamischen Rechts – die Scharia – für sie von zentraler Bedeutung sind. Muslimische Interviewpartner*innen, die verdeutlichen, dass sie bestimmte Gebote der Scharia oder gar das Normensystems des islamischen Rechts als Ganzes ablehnen, werden als nicht-orthodox eingeordnet. Die Verwendung des Begriffs mit Bezug auf den Islam stößt zwar auf Kritik, da es die Eigenbezeichnung des »orthodoxen Islam« nicht gibt und auch in der Wissenschaft kein Konsens besteht, was islamische Orthodoxie im Einzelnen ausmacht.18 Dennoch eignet sich der Begriff der Orthodoxie für unsere Zwecke dazu, die Zentralität der Scharia für das vorherrschende muslimische Denken zu markieren; von Hodgson wird dies mit dem Ausdruck »shari’ah-mindedness«19 bezeichnet.

Da im Rahmen dieser Studie, die den Fokus auf die Videorezeption legt, zwar die Scharia und ihre Gebote in den Interviews thematisiert wurden, jedoch nicht ausführlich über theologische Vorstellungen der Gesprächspartner*innen gesprochen wurde, lässt sich nicht abschließend klären, ob die Interviewten mit allen Dimensionen, die in der Islamwissenschaft mit einem orthodoxen Islamverständnis assoziiert werden, übereinstimmen. Dennoch werden im Folgenden Hintergrundinformationen zum orthodoxen und nicht-orthodoxen Islamverständnis gegeben, um eine bessere Einordnung der Aussagen der Interviewten zu gewährleisten.

Das orthodoxe Islamverständnis