Rahel Varnhagen - Dieter Lamping - E-Book

Rahel Varnhagen E-Book

Dieter Lamping

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Beschreibung

Rahel Varnhagen fasziniert bis heute: Eine emanzipierte Jüdin, die sich taufen ließ, einen deutlich jüngeren nicht-jüdischen Mann heiratete und in Berlin in die Geschichte einging als Salonière, Chronistin und Gesprächspartnerin zahlreicher Künstler und Philosophen, darunter die Gebrüder Humboldt, Fichte, Hegel und Schleiermacher. Heine nannte sie die "geistreichste Frau des Universums", für Goethe war sie "eine schöne Seele" – auch im 21. Jahrhundert lassen sich von ihr immer noch trefflich "Sprüche pflücken". "Auf frischen, kleinen, abstrakten Wegen wollen wir gehen: und auch auf diesen noch dem Wolkenspiel folgen, den Lichtzauber genießen, und auch dem Dunkel, wenn es reizt, nachziehen! " Rahel Varnhagen Dieter Lamping zeichnet in seinem kenntnisreichen Porträt Rahel Varnhagens facettenreichen Lebensweg nach, im Mittelpunkt steht dabei ihr Versuch der Selbstfindung, jenseits aller Konventionen – als Frau, Menschenfreundin und Wohltäterin.

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blue notes

93

Rahel Varnhagen, geb. Levin, ist eine unverwechselbare Gestalt der deutschen Geistes- und Kulturgeschichte. Eine emanzipierte Jüdin aus wohlhabendem Haus, die sich taufen ließ, einen erheblich jüngeren nicht-jüdischen Mann heiratete und sich in Berlin als Salonière und Gesprächspartnerin berühmter Künstler und Philosophen einen Namen machte, darunter Fichte, Fouqué, Hegel, die Brüder Humboldt und die Brüder Schlegel. Sie lebte als Diplomatengattin in Wien, Paris und Karlsruhe, bevor sie nach Berlin zurückkehrte. Sie war eine große Leserin, die die Literatur ihrer Zeit genau kannte und kommentierte, und eine Verehrerin Goethes, der sie sogar selbst aufsuchte. Schließlich war sie auch eine bedeutende Chronistin Berlins von der Besetzung durch Napoleons Truppen bis zur Cholera von 1831/32. Zeitlebens scheute sie den Weg in die Öffentlichkeit und veröffentlichte selbst nichts. Einem größeren Publikum bekannt wurde sie erst nach ihrem Tod, durch die Auswahl der Briefe, die ihr Mann Karl August Varnhagen von Ense herausgab, der schon vorher Texte von ihr anonym publiziert hatte. Seither gilt sie als eine der großen Briefstellerinnen der deutschen Literatur.

Dieter Lamping, geboren 1954 in Lohne/Oldenburg, ist ein deutscher Komparatist und Professor emeritus für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er lebt in Mainz.

Dieter Lamping

Rahel Varnhagen

Ich lasse das Leben auf mich regnen

Mit Grafiken

von Simone Frieling

Inhalt

Ein »weiblicher Mensch«

Rahel erklärt sich

Die »geistreichste Frau des Universums«

Ansichten eines weiblichen Menschen

»Nennt mich Rahel«

Die Namen einer Frau

Das ›gemeine Leben‹

Herkunft und Familie

Der allgemeine »Weltverkehr«

Rahels Zeit

Die »Dachstube«

Der erste Salon

Die »ganze Welt«

Rahels Reisen

Der »Weltpatriot« und die »Kerle mit Manschetten«

Meinungen in Krieg und Frieden

Das »Zollhaus«

Der zweite Salon

Die »Gleichgesinnten«

Rahels Freundschaften

Der »Inbegriff von allem«

Rahels Lieben

Die »Ecke des Mantels«

Rahel und das Judentum

Der ›Göttliche‹

Rahels Goethe

»Nennen Sie ja meinen Namen nicht!«

Eine Schriftstellerin ohne Werk und Namen

»Von mir kann man Sprüche pflücken«

Die Aphoristikerin

»Wenn ich an Menschen schreibe«

Die Briefstellerin

Die »infamirende Krankheit«

Rahel und die Cholera in Berlin

Anmerkungen

Literatur

Was machen Sie?

Nichts. Ich lasse das Leben auf mich regnen.

(IX, 45)

Für S. R. und C. F.

Ein »weiblicher Mensch«

Rahel erklärt sich

Als Jean Paul im Sommer 1800, auf dem Gipfel des Erfolgs, Berlin besuchte, lernte er in ihrem Salon auch Rahel Levin kennen. Er muss gleich von ihr beeindruckt gewesen sein. Nach seinem Umzug in die Stadt schrieb er ihr, ganz im Jean-Paul-Stil, am 6. November einen kurzen, liebenswürdigen Brief, in dem er versuchte, sie zu charakterisieren: »Sie behandeln das Leben poetisch, und das Leben daher Sie. Sie bringen die hohe Freiheit der Dichtkunst in die Gebote der Wirklichkeit und wollen die Schönheiten dort, auch als Schönheiten hier wiederfinden; – aber die poetischen Schmerzen sind, in die Prosa des Lebens übersezt, rechte wahre Schmerzen.«1

Rahel Levin wird diese Huldigung ihres berühmten Salon-Besuchers aufmerksam gelesen haben. Dass sie das Leben wie eine Kunst angehe, hatte ihr noch keiner gesagt. Sicher hätte sie Jean Paul darin zugestimmt, dass sie Freiheit und Schönheit zu verwirklichen suche, gerade in ihrem Salon. Dass aber das Leben sie wiederum ›poetisch‹ behandele, hätte sie wohl bestritten.

Fünf Wochen später antwortete Rahel Jean Paul aus Paris, wohin sie inzwischen gereist war. Sie nahm die Gelegenheit wahr, von sich selbst ein anderes Bild zu zeichnen: ihr eigenes. »Wißen Sie«, schrieb sie in ihrer Rahel-Orthographie, »warum ich will daß Sie so viel von mir wißen sollen? […] Weil Sie Jean Paul Richter sind […] weil Sie so sehen und schreiben. Nun sollen Sie auch eine sehen die schon ungeschrieben so fertig ist. Wenig Weiber die so zart, fein, und weiblich sind als ich, sind so stark; und wißen soviel von sich selbst, und haben so viel Ironie, und scheinen dabey so sehr das Gegentheil von dem zu seyn was sie sind. Und damit Sie das geschwinder wißen sollen: zeig ich’s Ihnen. Sie loben die weiber schön! (in ihren Beschreibungen) aber noch haben sie einzureißende, eüßere Schranken; zeigen Sie dem Volke welche, ohne Schranken und die doch auf dem Punkt bleiben, außer welchem – sie aufhöhren zu existiren. außer welchem sie Mädchen, Frauen, Töchter, Mütter, Schwestern, Freündin, Wärtherin, Wirthin etc: sind; aber nicht ein weiblicher Mensch: mit einem Wort. Ich laß’ Sie bis in mein Innerstes sehen Richter! (als Nahme und Richter).«2

Rahel Levin war 29 Jahre alt, als sie diesen Brief schrieb. Nach ihrer ersten unglücklichen Liebe war sie nicht immer frei von Selbstzweifeln; doch als sie Jean Paul antwortete, war sie es. Dem verehrten Dichter, der nicht zuletzt für seine Frauengestalten berühmt war und der in der preußischen Königin Luise seine prominenteste Leserin hatte, wollte sie sich erklären: als eine Frau, die ›ungeschrieben‹ ist, keine literarische Gestalt also, und doch ›fertig‹, also ganz sie selbst – ein Mensch, wie er in der Literatur noch nicht dargestellt worden ist.

Zuallererst als Mensch angesehen zu werden, war Rahel Levin seit Langem wichtig. Am 1. April 1793 schon hatte sie ihrem Freund David Veit in einiger Erregung geschrieben: »kann ein Frauenzimmer dafür, wenn es auch ein Mensch ist? […] (und das Gedanken hat wie ein anderer Mensch).«3Von sich zu sagen, man sei ein Mensch, kann leicht banal oder sentimental klingen. Das ist es aber nicht, wenn einem oder einer verwehrt wird, sich als Mensch zu entfalten, ihm oder ihr Menschenrecht oder Menschenwürde verweigert wird. Rahel Levin empfand ihr Leben lange so. Immer wieder sah sie sich vor allem auf zwei Rollen verwiesen, die sie als Einschränkungen empfand.

Die eine Rolle war die der Frau, die dem Mann Kinder gebärt, den Haushalt führt und ein gesellschaftliches Leben nur an seiner Seite hat. Rahel Levin war mit fast 30 noch unverheiratet, was ihrem Ansehen zumindest in ihrer Familie abträglich war. Man wartete ungeduldig darauf, dass sie endlich einen Mann finde. Sie aber hatte Vorbehalte, weniger gegen Männer als gegen die Ehe. Eine »Heirath«, schrieb sie 1793, gleiche ebenso sehr »einer Einschränkung« wie »ein Amt oder Stand.«4 Erst spät, nach einigen Enttäuschungen und nach längerem Zögern, heiratete sie, nicht ohne sich vergewissert zu haben, dass sie ihre Freiheit nicht würde aufgeben müssen.

Die andere Rolle, auf die man sie verwies, war die der Jüdin – die sie zeitweise noch entschiedener ablehnte. Als junge Frau wollte sie sich aus dem Judentum lösen; sie glaubte nicht an seinen Gott, dem Volk fühlte sie sich nicht tief verbunden. Später ließ sie sich taufen und heiratete einen Nicht-Juden. Dem Antisemitismus ist sie gleichwohl nicht entronnen, nicht einmal in ihrem Freundeskreis.

Rahel Levin, schreibt Günter de Bruyn, »sah sich als Schlemihl, als Pechvogel, der doppelt vom Pech verfolgt wurde, nämlich durch Herkunft und durch Geschlecht. Das Jüdischsein bewirkte Rahels Absonderung, das Frausein verdammte sie zur Untätigkeit.«5 Das vor allem war es, was ihr, abgesehen von äußeren Umständen, das Leben und das Menschsein immer wieder schwer machte.

Dabei wusste Rahel Levin genau zu sagen, was ein Mensch sei. Sie hat darüber, wie über so vieles, nachgedacht und ihre Gedanken auch mitgeteilt. »Was wir eigentlich unter dem Worte Mensch verstehen«, schrieb sie etwa am 13. Dezember 1807 ihrer Freundin Rebecca Friedländer, »ist doch die Kreatur, welche mit ihres Gleichen in vernünftiger Verbindung steht, in einem Verhältnisse mit Bewußtsein, an welchem wir selbst zu bilden vermögen, und auch genöthigt sind immerweg zu bilden.«6 Dieser eine Satz enthält die wichtigsten Stichworte ihres Menschenbildes: ihre kleine Anthropologie. Der Mensch ist für Rahel Levin ein soziales Wesen. Er steht mit seinesgleichen in einer Verbindung, die auf Vernunft und Aufrichtigkeit gegründet ist. Er bildet und formt sich beständig, immer in dem Bestreben, ein besserer, ein vollständigerer Mensch zu werden. So einfach diese Maximen auch klingen mögen – sie haben Rahels nicht immer einfaches Leben bestimmt.

Zwei dieser Stichworte hatte sie von zeitgenössischen Schriftstellern übernommen, die sie verehrte. Vernunft, als Gabe und Aufgabe des Menschen, ist ein zentraler Begriff in Lessings nicht zuletzt von Juden viel gelesenem Traktat Die Erziehung des Menschengeschlechts: Die Vernunft garantiert für Lessing die Verbundenheit der Menschen, jenseits von Klassen und Religionen. Davon war auch Rahel überzeugt. »Sie wissen«, schrieb sie ihrem Freund David Veit 1795, »daß ich Klassen nicht leiden mag, und mich zu keiner gerne einschränken lasse, als zu den Menschen.«7 In diesem Punkt war Rahel Levin, die Zeitgenossin der Romantik, eine Tochter der Aufklärung. Nicht zufällig hing in ihrem Zimmer ein Bild von Lessing.

Das andere Stichwort, das sie aus der Literatur ihrer Zeit nahm, war ›Bildung‹. Mit ihm folgte Rahel dem Konzept der umfassend entwickelten Persönlichkeit, das im Zentrum der klassischen Idee der Humanität steht. Ihre wichtigste Quelle dafür war der große deutsche Bildungsroman: Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre. Seine Lektüre prägte ihr Leben. Wilhelm Meisters Ideal ist der »gebildete Mensch.«8 Im Brief an seinen Schwager Werner bekennt er von sich: »Daß ich Dir’s mit einem Worte sage, mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht.«9 Rahel Levin hätte wahrscheinlich zu jeder Zeit ihres Erwachsenenlebens diesen Satz unterschreiben können.

Nicht nur eine Person, sondern eine »Persönlichkeit«10 zu sein, wie es Wilhelm Meister möchte, war auch ihr Wunsch. Seine Idee der »harmonischen Ausbildung meiner Natur«11 schloss die »Neigung zur Dichtkunst« und das seinerzeit nur dem Adel zugebilligte Bedürfnis ein, »eine öffentliche Person zu sein, und in einem weitern Kreise zu gefallen und zu wirken.«12 Auch Rahel reklamierte beides für sich. Nur auf der Theaterbühne wollte sie, anders als Wilhelm, nicht stehen. Sie erfand sich eine eigene kleine Bühne: den Salon.

Ein Mensch zu werden war für Rahel Arbeit. »An sich arbeiten; klar werden, was uns verwirrt und drückt; und wären es die größten Schmerzen«13, riet sie der Frau des Dichters Friedrich de la Motte-Fouqué. »Denn«, so heißt es in einem ihrer Aphorismen, »wir machen unser Ich kontinuirlich«14: Wir sind auch unser eigenes Werk, das wir aber nicht vollenden und abschließen können. Erkennbar hat Rahel nach dieser Maxime selbst gelebt. Gelegentlich hat sie ihr noch eine weitere Zuspitzung gegeben, etwa wenn sie 1801 notierte: »Der Mensch als Mensch ist selbst ein Werk der Kunst.«15 In diesem Gedanken kann man, mit Hannah Arendt, das »romantische Element«16 in Rahels Denken sehen: »daß man aus seinem eigenen Leben durch ›Bildung‹ eine Art Kunstwerk machen könne.«17

Das wichtigste Mittel, sich zu bilden, war für Rahel das Denken. Nachdenken – oder wie sie gern sagte: ›Raisoniren‹18 – gehörte für sie zum Menschsein. Nachdenklichkeit, von ihren Zeitgenossen oft als ›Geist‹ oder ›Gedankenreichtum‹ bezeichnet, war eine ihrer Haupteigenschaften; jeder ihrer Briefe zeugt davon. Rahel war, wie man es von Frauen zu ihrer Zeit erwartete, sensibel und mitfühlend. Aber sie war auch intellektuell begabt. Sie konnte denken – und machte von dieser Gabe regen Gebrauch. Sie dachte über alles nach, nicht zuletzt über sich: »sich zu verstehen«, schrieb sie 1812, »ist ja das urgenteste und menschlichste Bedürfnis der Menschen.«19

Solches Selbstverstehen war ihr aber nicht Selbstzweck. Rahel wollte es mitteilen, damit andere sie gleichfalls verstehen könnten. Das war ein Teil der ›vernünftigen Verbindung‹ zwischen Menschen, an der sie mitarbeiten wollte. Mit gutem Grund sagte sie von sich: »ich wollte, daß man wissen soll, wie es in mir zugegangen ist.«20Das war ein anderes ihrer Lebensmottos, dem wir ihre zahlreichen Briefe verdanken.

Jean Paul war nicht der einzige Dichter, den Rahel, die mit vielen befreundet war, in ihr ›Innerstes‹ blicken ließ. Von Dichtern erwartete sie viel, ganz selbstverständlich auch, dass sie große Menschenkenner seien. In ihrer Zeit, glaubte sie, zeige sich das daran, wie sie Frauen darstellten: »Die alten hatten das Weib: die Mutter, die Tochter, die Schwester. Wir haben diese Urgestalten im Lichte der Frauen (Frauenlicht; sollte es eigentlich heißen): wir haben Frauen; und die hat Goethe beim Schopf gehalten, und ihnen tief durch die Augen in’s Herz geschaut, jedes kleinste Winkelchen im ›Labyrinth der Brust‹.«21

Zu einem solchen Verständnis der Frau, die mehr ist als die Summe ihrer überkommenen sozialen Rollen, wollte Rahel auch Jean Paul verhelfen. Aus ihrem Brief an ihn spricht weibliches Selbstbewusstsein – nicht als »Eitelkeit«22, die ihr ansonsten nicht fremd war, sondern als Selbstverständnis und Selbsterkenntnis. Rahel Levin kannte sich, und sie wusste nicht nur, wer sie war, sondern auch, was sie sein wollte: eben ein ›weiblicher Mensch‹. Das scheinbare Allerweltswort hat bei ihr das Gewicht eines Bekenntnisses. »Mensch«, schreibt Friedhelm Kemp, war »das höchste Wort in ihrem Munde, das heiligste, bei dem sie den Mitmenschen anruft; es gibt keinen Ehrentitel über diesen hinaus; aber er deckt auch kein ausdefinierbares Wesen, sondern nur eine unendliche Bestimmung.«23 Ein Mensch zu sein, sah Rahel als ihre große Aufgabe an.

Die »geistreichste Frau des Universums«

Ansichten eines weiblichen Menschen

Rahel Levin, die 1814 Karl August Varnhagen heiratete und unter seinem Namen berühmt wurde, ist eine unverwechselbare Gestalt des frühen 19. Jahrhunderts. Im Unterschied zu manchen anderen Männern und Frauen ihrer Zeit, auch zu einigen, die damals bekannter waren als sie, ist ihr Glanz nicht verblasst. Schon zu Lebzeiten hatte sie berühmte Verehrer, unter ihnen nicht zuletzt Schriftsteller. Ludwig Börne und Heinrich Heine gehörten zu ihnen, Franz Grillparzer und Gottfried Keller. Auch Beethoven war von ihr so beeindruckt, dass er ihr einen Abend lang auf dem Fortepiano vorspielte. Goethe hat sie nicht verehrt, wohl aber geschätzt, ähnlich war es mit Fichte und Hegel.

Bis heute genießt Rahel hohes Ansehen: als »große Denkerin«24, als »unvergleichlichste Schriftstellerin der Deutschen«25 oder einfach als »außerordentliche Frau.«26 Karl Jaspers hat sie als »große Erscheinung«27 gelobt und »das Unbedingte in Rahel« jenseits des »Soziologischen und Psychologischen« hervorgehoben: »die Qualität ihrer persönlichen Wirkung, die Totalität ihrer Einsicht, das Wissen um die Dinge im Verborgenen, das Zeitlose im Zeitlichen.«28 Heine zollte ihr ein noch höheres Lob, als er von ihr als »der geistreichsten Frau des Universums«29 sprach.

Dabei hat sie ein großes künstlerisches oder philosophisches Werk nicht vorzuweisen. Ihre vorderhand bekannteste Leistung war, als soziale, vergänglich. Mehr als drei Jahrzehnte lang prägte sie, allerdings mit Unterbrechungen, als große ›Salonière‹ das gesellschaftliche Leben in Berlin mit. Unter den jüdischen Gesellschafterinnen dieser Zeit ist sie die bedeutendste, noch vor der etwas älteren Henriette Herz. Bei ihr gingen, eine Zeit lang, Adelige und Bürger, Professoren und Politiker, Schauspieler und Künstler ein und aus. Fast alles, was damals in der Berliner Kultur Rang und Namen hatte, verkehrte bei ihr. Nicht zuletzt durch den Umgang mit zahlreichen Berühmtheiten wurde sie selbst berühmt.

Viele sehen in Rahel Varnhagen auch eine Repräsentantin des deutschen Judentums ihrer Zeit, obwohl oder gerade: weil sie sich taufen ließ. Sie war die Tochter eines friederizianischen Schutzjuden und gehörte zur ersten Generation, die in den Genuss der preußischen Judenemanzipation kam. Ihr Leben und Erleben ist in vielem typisch für assimilierte Juden ihrer Zeit. Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass sie »eine Ausnahmeerscheinung« in der Geschichte des Judentums, auch in der »der jüdischen Frau«30 darstellt. Deren traditionelle Rolle hat sie für sich nicht angenommen.

Noch unverheiratet, hat sie versucht, als Salondame in der Berliner Gesellschaft eine Rolle zu spielen. Durch diesen Ehrgeiz und durch ihre Missachtung religiöser Gebräuche wurde sie bald »eine Außenseiterin in der jüdischen Gemeinde.«31 Weil sie ein Teil der deutschen Gesellschaft und ihrer Kultur sein wollte, erfuhr sie noch nach ihrem Tod viel Ablehnung – von jüdischer wie von deutscher Seite. Dabei ist offensichtlich, welche Bereicherung auch für die deutsche Kultur Juden bedeuteten und bedeuten. Rahel war die erste Jüdin, an der das zu erkennen war, so wie später etwa auch an Rosa Luxemburg, Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs und Hannah Arendt.

Lange Zeit hatte sie, sei es als Mademoiselle Levin oder Frau Varnhagen, vor allem in Berlin einen Namen. Weithin bekannt, ja berühmt wurde sie aber durch Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde , das ihr Mann posthum herausgab. Ursprünglich tatsächlich nur eine Freundesgabe, fand es begeisterte Leser und Leserinnen und wurde schließlich auf insgesamt drei umfangreiche Bände ergänzt. Weitere Editionen folgten bis in unsere Zeit. Durch ihre Korrespondenz vor allem ist Rahel der Nachwelt in Erinnerung geblieben. An Hunderte von Personen – Varnhagen hat 268 gezählt32 – hat sie Tausende von Briefen geschrieben. Eine ähnlich umfangreiche Sammlung von schriftlichen Zeugnissen einer Frau, zumal einer jüdischen, hatte es zuvor nicht gegeben.

In den Briefen ist Rahel im ganzen Reichtum ihrer Persönlichkeit zu erkennen: als besorgte und fürsorgliche Schwester; als unglücklich Verliebte; als selbstbewusste und verständnisvolle Ehefrau; als kluge Selbstbeobachterin, die allerdings auch sehr von sich eingenommen sein konnte; als ungewöhnliche Menschenkennerin, deren Rat viele einholten; als kultivierte Dame, die musikalisch und literarisch, selbst philosophisch gebildet war und sich immer ihre eigenen Gedanken machte; als zunehmend wache Zeitgenossin von unbestechlichem Urteil; als Freundin, die Menschen zusammenführen wollte; schließlich als eine bei allen Irrtümern unermüdlich Wahrheit und Wahrhaftigkeit suchende Frau. Das alles – und manches mehr – gehörte für sie dazu, ein ›weiblicher Mensch‹ zu sein. Dabei bestand sie darauf, »keinen Titel, keine Pflicht, keinen Namen, kein Amt, keine Delikatesse«33 zu haben, die sie hätten einschränken können, und nur durch die Kraft ihrer Persönlichkeit zu wirken.

Das Buch des Andenkens, das am Ende ungefähr 1.800 Seiten umfasste, zeigte schließlich auch, dass Rahel nicht nur in ihrem Salon Schriftsteller empfing, sondern selbst schrieb, neben Briefen vorzugsweise kurze, pointierte Aufzeichnungen zu den unterschiedlichsten Themen. Durch deren Publikation verschob sich nach ihrem Tod vollends das Bild, das von ihr in der Öffentlichkeit umging: von der vermeintlichen Muse zur heimlichen Autorin. Die Salondame wurde selbst als schreibende Frau kenntlich.

Rahel Varnhagen erscheint heute nah und fern, vertraut und fremd zugleich. Sie gehört nicht nur einer anderen Zeit an, unter deren Bedingungen sie lebte. Sie hatte auch ihre eigene Vorstellung davon, was es heißt, ein ›Mensch‹ und ein ›weiblicher Mensch‹ zu sein. Sie wusste, dass sie ihren eigenen Weg gehen musste, und sie ging ihn so geradlinig sie konnte. Sie wollte vor allem frei sein: »Freiheit«, schrieb sie, »ist nur, nach seinen Prinzipien handeln zu dürfen.«34

Anziehend an ihr ist immer noch das, was sie besonders und unverwechselbar macht: ihre Lebendigkeit, ihre Ursprünglichkeit und die Tiefe ihrer Worte und Gedanken. Schon manche auch ihrer männlichen Zeitgenossen erkannten, dass sie in ihrer Intelligenz und Sensibilität etwas Genialisches hatte. Wie wenige lebte sie die Idee der Individualität.