Rameaus Neffe - Denis Diderot - E-Book + Hörbuch

Rameaus Neffe E-Book

Denis Diderot

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Beschreibung

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. ›Rameaus Neffe‹ ist einer der wildesten und subversivsten Texte der europäischen Aufklärung. Wer immer heute nach ›westlichen Werten‹ Ausschau hält, kann sich an Diderots philosophischem Dialog klarmachen, dass gerade der Zweifel an festen Werten und die schonungslose Kritik an der eigenen Gesellschaft zum Kostbarsten der europäischen Kultur gehören. Da Diderots skandalöses Werk zuerst nur als Abschrift aus der Petersburger Eremitage kursierte und dabei in die Hände Johann Wolfgang Goethes gelangte, wurde es auch in Frankreich zuerst durch Goethes Übersetzung bekannt.

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Denis Diderot

Rameaus Neffe

Ein Dialog

Roman

Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Johann Wolfgang Goethe

Fischer e-books

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

… Vertumnis, quotquot sunt, natus iniquis.

HORAT. Serm. Lib. II. Sat. VII. v. 14.

 

Es mag schön oder häßlich Wetter sein, meine Gewohnheit bleibt auf jeden Fall, um fünf Uhr abends im Palais Royal spazierenzugehen. Mich sieht man immer allein, nachdenklich auf der Bank d’Argenson. Ich unterhalte mich mit mir selbst von Politik, von Liebe, von Geschmack oder Philosophie und überlasse meinen Geist seiner ganzen Leichtfertigkeit. Mag er doch die erste Idee verfolgen, die sich zeigt, sie sei weise oder töricht. So sieht man in der Allée de Foi unsere jungen Liederlichen einer Kurtisane auf den Fersen folgen, die mit unverschämtem Wesen, lachendem Gesicht, lebhaften Augen, stumpfer Nase dahingeht; aber gleich verlassen sie diese um eine andere, necken sie sämtlich und binden sich an keine. Meine Gedanken sind meine Dirnen.

Wenn es gar zu kalt oder regnicht ist, flüchte ich mich in den Café de la Régence und sehe zu meiner Unterhaltung den Schachspielern zu. Paris ist der Ort in der Welt, und der Café de la Régence der Ort in Paris, wo man das Spiel am besten spielt. Da, bei Rey, versuchen sich gegeneinander der profunde Légal, der subtile Philidor, der gründliche Mayot. Da sieht man die bedeutendsten Züge, da hört man die gemeinsten Reden. Denn kann man schon ein geistreicher Mann und ein großer Schachspieler zugleich sein, wie Légal, so kann man auch ein großer Schachspieler und albern zugleich sein, wie Foubert und Mayot.

Eines Nachmittags war ich dort, beobachtete viel, sprach wenig und hörte so wenig als möglich, als eine der wunderlichsten Personnagen zu mir trat, die nur jemals dieses Land hervorbrachte, wo es doch Gott an dergleichen nicht fehlen ließ. Es ist eine Zusammensetzung von Hochsinn und Niederträchtigkeit, von Menschenverstand und Unsinn; die Begriffe vom Ehrbaren und Unehrbaren müssen ganz wunderbar in seinem Kopf durcheinander gehn; denn er zeigt, was ihm die Natur an guten Eigenschaften gegeben hat, ohne Prahlerei, und was sie ihm an schlechten gab, ohne Scham. Übrigens ist er von einem festen Körperbau, einer außerordentlichen Einbildungskraft und einer ungewöhnlichen Lungenstärke. Wenn ihr ihm jemals begegnet, und seine Originalität hält euch nicht fest, so verstopft ihr eure Ohren gewiß mit den Fingern oder ihr entflieht. Gott, was für schreckliche Lungen!

Und nichts gleicht ihm weniger als er selbst. Manchmal ist er mager und zusammengefallen, wie ein Kranker auf der letzten Stufe der Schwindsucht; man würde seine Zähne durch seine Backen zählen; man sollte glauben, er habe mehrere Tage nichts gegessen oder er käme aus la Trappe.

Den nächsten Monat ist er feist und völlig, als hätte er die Tafel eines Financiers nicht verlassen oder als hätte man ihn bei den Bernhardinern in die Kost gegeben. Heute, mit schmutziger Wäsche, mit zerrissenen Hosen, in Lumpen gekleidet und fast ohne Schuhe, geht er mit gebeugtem Haupte, entzieht sich den Begegnenden, man möchte ihn anrufen, ihm Almosen zu geben. Morgen, gepudert, chaussiert, frisiert, wohl angezogen, trägt er den Kopf hoch, er zeigt sich, und ihr würdet ihn beinah für einen ordentlichen Menschen halten.

So lebt er von Tag zu Tag, traurig oder heiter, nach den Umständen. Seine erste Sorge des Morgens, wenn er aufsteht, ist, sich zu bekümmern, wo er zu Mittag speisen wird. Nach Tische denkt er auf eine Gelegenheit zum Nachtessen, und auch die Nacht bringt ihm neue Sorgen. Bald erreicht er zu Fuß ein kleines Dachstübchen, seine Wohnung, wenn nicht die Wirtin, ungeduldig, den Mietzins länger zu entbehren, ihm den Schlüssel schon abgefordert hat. Bald wirft er sich in eine Schenke der Vorstadt, wo er den Tag zwischen einem Stück Brot und Kruge Bier erwartet. Hat er denn auch die sechs Sous zum Schlafgeld nicht in der Tasche, das ihm wohl manchmal begegnet, so wendet er sich an einen Mietkutscher, seinen Freund, oder an den Kutscher eines großen Herrn, der ihm ein Lager auf Stroh neben seinen Pferden vergönnt. Morgens hat er denn noch einen Teil seiner Matratze in den Haaren. Ist die Jahrszeit gelind, so spaziert er die ganze Nacht auf dem Cours oder den elyseischen Feldern hin und wider. Mit dem Tage erscheint er sogleich in der Stadt, gekleidet von gestern für heute und von heute manchmal für den Überrest der Woche.

Dergleichen Originale kann ich nicht schätzen; andre machen sie zu ihren nächsten Bekannten, sogar zu Freunden. Des Jahrs können sie mich einmal festhalten, wenn ich ihnen begegne, weil ihr Charakter von den gewöhnlichen absticht und sie die lästige Einförmigkeit unterbrechen, die wir durch unsre Erziehung, unsre gesellschaftlichen Konventionen, unsre hergebrachten Anständigkeiten eingeführt haben. Kommt ein solcher in eine Gesellschaft, so ist er ein Krümchen Sauerteig, das das Ganze hebt und jedem einen Teil seiner natürlichen Individualität zurückgibt. Er schüttelt, er bewegt, bringt Lob oder Tadel zur Sprache, treibt die Wahrheit hervor, macht rechtliche Leute kenntlich, entlarvt die Schelme, und da horcht ein Vernünftiger zu und sondert seine Leute.

Diesen kannt ich seit langer Zeit; er kam öfters in ein Haus, wo ihm sein Talent den Eingang verschafft hatte. Die Leute hatten eine einzige Tochter. Er schwur dem Vater und der Mutter, daß er ihre Tochter heiraten würde. Diese zuckten die Achseln, lachten ihm ins Gesicht und versicherten ihm, er sei närrisch. Doch sah ich den Augenblick kommen, wo die Sache gemacht war. Er verlangte von mir einige Taler, die ich ihm gab. Er hatte sich, ich weiß nicht wie, in einigen Häusern eingeschlichen, wo sein Kuvert bereitstand, aber man hatte ihm die Bedingung gemacht, er solle niemals ohne Erlaubnis reden. Da schwieg er nun und aß vor Bosheit; es war lustig, ihn in diesem Zwang zu sehen. Sobald er es wagte, den Traktat zu brechen und den Mund aufzutun, sogleich beim ersten Wort riefen alle Gäste: O Rameau! Dann funkelte die Wut in seinen Augen, und er fiel mit neuer Gewalt über das Essen her.

Ihr wart neugierig, den Namen des Mannes zu wissen, da habt ihr ihn. Es ist der Vetter des berühmten Tonkünstlers, der uns von Lullis Kirchengesang gerettet hat, den wir seit hundert Jahren psalmodieren. Ein Vetter des Mannes, der so viel unverständliche Visionen und apokalyptische Wahrheiten über die Theorie der Musik schrieb, wovon weder er noch sonst irgendein Mensch jemals etwas verstanden hat; in dessen Opern man Harmonie findet, einzelne Brocken guten Gesangs, unzusammenhängende Ideen, Lärm, Aufflüge, Triumphe, Lanzen, Glorien, Murmeln und Viktorien, daß den Sängern der Atem ausgehen möchte; des Mannes, der, nachdem er den Florentiner begraben hat, durch italienische Virtuosen wird begraben werden, wie er vorausfühlte und deshalb mißmutig, traurig und ärgerlich ward. Denn niemand hat bösere Laune, nicht einmal eine hübsche Frau, die morgens eine Blatter auf der Nase gewahr wird, als ein Autor, der sich bedroht sieht, seinen Ruf zu überleben, wie Marivaux und Crébillon, der Sohn, beweisen.

Er tritt zu mir: Ach, mein Herr Philosoph, treff ich Euch auch einmal! Was macht Ihr denn hier unter den Taugenichtsen? Verliert Ihr auch Eure Zeit mit Holzschieben? (So nennt man aus Verachtung das Schach- oder Damenspiel.)

ICH. Nein, aber wenn ich nichts Besseres zu tun habe, so ist’s eine augenblickliche Unterhaltung, denen zuzusehen, die gut schieben.

ER. Also eine seltene Unterhaltung. Nehmt Légal und Philidor aus; die übrigen verstehn nichts.

ICH. Und Herr von Bissy, was sagt Ihr zu dem?

ER. Der ist als Schachspieler, was Demoiselle Clairon als Schauspielerin ist; beide wissen von diesen Spielen alles, was man davon lernen kann.

ICH. Ihr seid schwer zu befriedigen. Ich merke, nur den vorzüglichsten Menschen laßt Ihr Gnade widerfahren.

ER. Ja im Schach- und Damenspiel, in der Poesie, Redekunst, Musik und andern solchen Possen. Wozu soll die Mittelmäßigkeit in diesen Fällen?

ICH. Beinahe geb ich Euch recht. Aber doch müssen sich viele auch auf diese Künste legen, damit der Mann von Genie hervortrete. Er ist dann der Eine in der Menge. Aber lassen wir das gut sein. Seit einer Ewigkeit habe ich Euch nicht gesehen. Ich denke niemals an Euch, wenn ich Euch nicht sehe. Aber es freut mich jedesmal, wenn ich Euch wiederfinde. Was habt Ihr gemacht?

ER. Das, was Ihr, ich und alle die andern machen, Gutes, Böses und nichts. Dann hab ich Hunger gehabt und gegessen, wenn sich dazu Gelegenheit fand. Ferner hatt ich Durst und manchmal hab ich getrunken; indessen ist mir der Bart gewachsen, und da hab ich mich rasieren lassen.

ICH. Daran habt Ihr übel getan; denn der Bart nur fehlt Euch zum Weisen.

ER. Freilich! Meine Stirn ist groß und runzlig, mein Auge blitzt, die Nase springt vor, meine Wangen sind breit, meine Augenbrauen breit und dicht, der Mund wohl gespalten, die Lippen umgeschlagen, und das Gesicht viereckt. Wißt Ihr wohl, dieses ungeheure Kinn, wäre es von einem langen Barte bedeckt, es würde sich in Erz oder Marmor recht gut ausnehmen.

ICH. Neben Cäsar, Marc Aurel, Sokrates.

ER. Nein, ich stünde lieber zwischen Diogenes und Phryne. Unverschämt bin ich wie der eine, und die andern besuch ich gern.

ICH. Ihr befindet Euch immer wohl?

ER. Ja, gewöhnlich; aber heute nicht besonders.

ICH. Und wie, mit Eurem Silenenbauch, mit einem Gesicht –

ER. Einem Gesicht, das man für die Rückseite nehmen könnte. Wißt Ihr, daß böse Laune, die meinen Onkel ausdorrt, wahrscheinlich seinen Neffen fett macht?

ICH. A propos den Onkel; seht Ihr ihn manchmal?

ER. Ja, manchmal auf der Straße vorbeigehn.

ICH. Tut er Euch denn nichts Gutes?

ER. Tut er jemanden Gutes, so weiß er gewiß nichts davon. Es ist ein Philosoph in seiner Art; er denkt nur an sich, und die übrige Welt ist ihm wie ein Blasebalgsnagel. Seine Tochter und Frau können sterben, wann sie wollen, nur daß ja die Glocken im Kirchsprengel, mit denen man ihnen zu Grabe läutet, hübsch die Duodezime und Septdezime nachklingen, so ist alles recht. Er ist ein glücklicher Mann! Und besonders weiß ich an Leuten von Genie zu schätzen, daß sie nur zu einer Sache gut sind, drüber hinaus zu nichts. Sie wissen nicht, was es heißt, Bürger, Väter, Mütter, Vettern und Freunde zu sein. Unter uns, man sollte ihnen durchaus gleichen, aber nur nicht wünschen, daß der Same zu gemein würde. Menschen muß es geben, Menschen von Genie nicht. Nein, wahrhaftig nicht! Sie sind’s, die unsre Welt umgestalten, und nun ist im einzelnen die Torheit so allgemein und mächtig, daß man sie nicht ohne Händel verdrängt. Da macht sich’s nun zum Teil, wie sich’s die Herren eingebildet haben, zum Teil bleibt’s, wie es war. Daher kommen die zwei Evangelien, des Harlekins Rock! … Nein! Die Weisheit des Mönchs im Rabelais, das ist die wahre Weisheit für unsere Ruhe und für die Ruhe der andern. Seine Schuldigkeit tun, so gut es gehn will, vom Herrn Prior immer Gutes reden und die Welt gehn lassen, wie sie Lust hat. Sie geht ja gut, denn die Menge ist damit zufrieden. Wüßt ich Geschichte, so wollt ich Euch zeigen, das Übel hier unten ist immer von genialischen Menschen hergekommen; aber ich weiß keine Geschichte, weil ich nichts weiß. Der Teufel hole mich, wenn ich jemals was gelernt habe, und ich befinde mich nicht schlechter deshalb. Ich war eines Tages an der Tafel eines königlichen Ministers, der Verstand für ein Dutzend hat. Er zeigte uns klar, so klar wie zweimal zwei vier ist, daß nichts den Völkern nützlicher sei als die Lüge, nichts aber schädlicher als die Wahrheit. Ich besinne mich nicht mehr auf seine Beweise, aber es folgte sonnenklar daraus, daß die Leute von Genie ganz abscheulich sind und daß man ein Kind, wenn es bei seiner Geburt ein Charakterzeichen dieses gefährlichen Naturgeschenks an der Stirn trüge, sogleich ersticken oder ins Wasser werfen sollte.

ICH. Und doch! Diese Personen, die vom Genie so übel sprechen, behaupten alle, Genie zu haben.

ER. Im stillen schreibt sich’s wohl ein jeder zu; aber ich glaube doch nicht, daß sie sich unterstünden, es zu bekennen.

ICH. Das geschieht aus Bescheidenheit. Und also habt Ihr einen schrecklichen Haß gegen das Genie gefaßt?

ER. Für mein ganzes Leben.

ICH. Aber ich erinnere mich wohl der Zeit, da Ihr in Verzweiflung wart, nur ein gemeiner Mensch zu sein. Ihr könnt nie glücklich werden, wenn Euch das eine wie das andere quält. Man sollte seine Partie ergreifen und daran festhalten. Wenn ich Euch auch zugebe, daß die genialischen Menschen gewöhnlich ein wenig sonderbar sind oder, wie das Sprichwort sagt, kein großer Geist sich findet ohne einen Gran von Narrheit, so läßt man die Genies doch nicht fahren. Man wird die Jahrhunderte verachten, die keine hervorgebracht haben. Sie werden die Ehre des Volks sein, bei dem sie lebten. Früh oder spät errichtet man ihnen Statuen und betrachtet sie als Wohltäter des Menschengeschlechts. Verzeihe mir der vortreffliche Minister, den Ihr anführt, aber ich glaube, wenn die Lüge einen Augenblick nützen kann, so schadet sie notwendig auf die Länge. Im Gegenteil nutzt die Wahrheit notwendig auf die Länge, wenn sie auch im Augenblick schadet. Daher käm ich in Versuchung, den Schluß zu machen, daß der Mann von Genie, der einen allgemeinen Irrtum verschreit oder einer großen Wahrheit Eingang verschafft, immer ein Wesen ist, das unsre Verehrung verdient. Es kann geschehen, daß dieses Wesen ein Opfer des Vorurteils und der Gesetze wird; aber es gibt zwei Arten Gesetze: die einen sind unbedingt billig und allgemein, die andern wunderlich, nur durch Verblendung oder durch Notwendigkeit der Umstände bestätigt. Diese bedecken den, der sie übertritt, nur mit einer vorübergehenden Schande, einer Schande, die von der Zeit auf die Richter und Nationen zurückgeworfen wird, um ewig an ihnen zu haften. Sokrates oder das Gericht, das ihm den Schierling reichte, wer von beiden ist nun der Entehrte?

ER. Das hilft ihm auch was Rechts! Ist er deswegen weniger verdammt worden? Ist sein Todesurteil weniger vollzogen? War er nicht immer ein unruhiger Bürger, und indem er ein schlechtes Gesetz verachtete, hat er nicht die Narren zur Verachtung der guten angeregt? War er nicht ein kühner und wunderlicher Mann, und seid Ihr nicht ganz nah an einem Geständnis, das den Männern von Genie wenig günstig ist?

ICH. Hört mich, lieber Mann, eine Gesellschaft sollte keine schlechten Gesetze haben. Hätte sie nur gute, sie käme niemals in Gefahr, einen Mann von Genie zu verfolgen. Ich habe nicht zugegeben, daß das Genie unauflöslich mit der Bosheit verbunden sei, noch die Bosheit mit dem Genie. Ein Tor ist öfter ein Bösewicht als ein Mann von Geist. Wäre nun auch ein Mann von Genie gewöhnlich in der Unterhaltung hart, rauh, schwer zu behandeln, unerträglich, wäre er auch ein Bösewicht, was wolltet Ihr daraus folgern?

ER. Daß man ihn ersäufen sollte.

ICH. Sachte, lieber Freund! So sagt mir doch! Nun, ich will nicht Euern Onkel zum Beispiel nehmen, das ist ein harter und roher Mann, ohne Menschlichkeit, geizig, ein schlechter Vater, schlechter Gatte, schlechter Onkel; und dabei ist es noch nicht einmal ganz entschieden, daß er ein Mann von Genie sei, daß er es in seiner Kunst sehr weit gebracht habe, daß man sich in zehn Jahren noch um seine Werke bekümmern werde. Aber Racine, der hatte doch Genie und galt nicht für den besten Mann. Aber Voltaire?

ER. Drängt mich nicht; denn ich weiß zu folgern.

ICH. Was würdet Ihr nun vorziehen, daß Racine ein guter Mann gewesen wäre, völlig eins mit seinem Komptoir wie Briasson oder mit seiner Elle wie Barbier, ein Mann, der regelmäßig alle Jahre seiner Frau ein rechtmäßiges Kind macht, guter Gatte, guter Vater, guter Onkel, guter Nachbar, ehrlicher Handelsmann und nichts weiter; oder daß er schelmisch, verräterisch, ehrgeizig, neidisch gewesen wäre, aber Verfasser von Andromache, Britannicus, Ephigenia, Phädra und Athalia?

ER. Hätte er zu der ersten Art gehört, das möchte für ihn das beste gewesen sein.

ICH. Das ist sogar unendlich wahrer, als Ihr selbst nicht empfindet.

ER. Ja, so seid ihr andern! Wenn wir etwas Gutes sagen, so soll es, wie bei Narren und Schwärmern, der Zufall getan haben. Ihr andern nur versteht euch selbst. Ja, Herr Philosoph, ich verstehe mich, und verstehe mich ebensogut als Ihr Euch versteht.

ICH. Nun, so laßt sehen, warum denn für ihn?

ER. Darum, weil alle die schönen Sachen, die er da gemacht hat, ihm nicht zwanzigtausend Franken eingetragen haben. Wäre er ein guter Seidenhändler in der Straße St. Denis oder St. Honoré gewesen, ein guter Materialienhändler im großen, ein besuchter Apotheker, da hätte er ein großes Vermögen zusammengebracht und dabei alle Arten Vergnügen genossen. Er hätte von Zeit zu Zeit einem armen Teufel von Lustigmacher wie mir ein Goldstück gegeben, und man hätte ihn zu lachen gemacht, man hätte ihm gelegentlich ein hübsches Mädchen verschafft, um eine ewige langweilige Beiwohnung bei seiner Ehefrau zu unterbrechen. Wir hätten bei ihm vortrefflich gegessen, großes Spiel gespielt, vortrefflichen Wein getrunken, vortreffliche Liköre, vortrefflichen Kaffee, man hätte Landfahrten gemacht. Ihr seht doch, daß ich mich darauf verstehe. Ihr lacht? Schon gut! Nur werdet Ihr doch zugeben, so wäre es auch besser für seine Umgebungen gewesen.

ICH. Ganz gewiß. Nur mußte er den durch ein rechtmäßiges Gewerbe errungenen Reichtum nicht auf eine schlechte Weise verwenden. Alle die Spieler mußte er von seinem Hause entfernen, alle diese Schmarotzer, alle diese süßlichen Jaherren, alle diese Windbeutel, diese unnützen, verkehrten Menschen. Mit Stockprügeln mußte er durch seine Lehrburschen den dienstbaren Gefälligen totschlagen lassen, der, durch eine saubere Mannigfaltigkeit, den Ehemann von dem Abgeschmack einer einförmigen Beiwohnung zu retten sucht.

ER. Totschlagen? Herr, totschlagen? Niemanden schlägt man tot in einer wohl polizierten Stadt. Es ist eine ehrbare Beschäftigung; viele Personen, sogar mit Titeln, schämen sich ihrer nicht. Und wozu ins Teufels Namen soll man denn sein Geld verwenden als auf einen guten Tisch, gute Gesellschaft, gute Weine, schöne Weiber, Vergnügen von allen Farben, Unterhaltungen aller Art? Ebensogern möchte ich ein Bettler sein, als ein großes Vermögen ohne diese Genüsse besitzen. Nun aber wieder von Racine. Dieser Mann taugte nur für die Unbekannten, für die Zeit, wo er nicht mehr war.

ICH. Ganz recht! Aber wägt einmal das Gute und das Böse. In tausend Jahren wird er Tränen entlocken, er wird in allen Ländern der Erde bewundert werden, Menschlichkeit wird er einflößen, Mitleiden, Zärtlichkeit. Man wird fragen, wer er war, woher gebürtig, man wird Frankreich beneiden. Einige Wesen haben durch ihn gelitten, die nicht mehr sind, an denen wir beinahe keinen Teil nehmen. Wir haben nichts mehr zu fürchten, weder von seinen Lastern noch von seinen Fehlern. Besser wär es freilich gewesen, wenn die Natur zu den Talenten eines großen Mannes auch die Gesinnungen des Rechtschaffenen gegeben hätte. Er war ein Baum, der einige in seiner Nachbarschaft gepflanzte Bäume verdorren machte, der die Pflanzen erstickte, die zu seinen Füßen wuchsen; aber seinen Gipfel hat er bis in die Wolken erhoben, seine Äste sind weit verbreitet, seinen Schatten hat er denen gegönnt, die kommen und kommen werden, um an seinem majestätischen Thron zu ruhen. Früchte des feinsten Geschmacks hat er hervorgebracht und die sich immer erneuern. Freilich könnte man wünschen, auch Voltaire wäre so sanft wie Duclos, so offen wie der Abbé Trublet, so gerade wie der Abbé d’Olivet; aber da das nun einmal nicht sein kann, so laßt uns die Sache von der wahrhaft interessanten Seite betrachten. Laßt uns einen Augenblick den Punkt vergessen, wo wir im Raum und in der Zeit stehen. Verbreiten wir unsern Blick über künftige Jahrhunderte, entfernte Regionen, künftige Völker; denken wir an das Wohl unserer Gattung, und wenn wir hierzu nicht groß genug sind, verzeihen wir wenigstens der Natur, daß sie weiser war als wir. Gießt auf Greuzens Kopf kaltes Wasser, vielleicht löscht Ihr sein Talent mit seiner Eitelkeit zugleich aus. Macht Voltairen unempfindlicher gegen den Tadel, und er vermag nicht mehr in die Seele Meropens hinabzusteigen, Euch nicht mehr zu rühren.

ER. Aber wenn die Natur so mächtig als weise war, warum machte sie diese Männer nicht ebenso gut als groß?

ICH. Seht Ihr denn aber nicht, daß mit solchen Forderungen Ihr die Ordnung des Ganzen umwerft; denn wäre hierunten alles vortrefflich, so gäb es nichts Vortreffliches.

ER. Ihr habt recht; denn darauf kommt es doch hauptsächlich an, daß wir beide da seien, Ihr und ich, und daß wir eben Ihr und ich seien; das andere mag gehen, wie es kann. Die beste Ordnung der Dinge, scheint mir, ist immer die, worein ich auch gehöre, und hole der Henker die beste Welt, wenn ich nicht dabei sein sollte. Lieber will ich sein, und selbst ein impertinenter Schwätzer sein, als nicht sein.

ICH. Jeder denkt wie Ihr, und doch will jeder an der Ordnung der Dinge, wie sie sind, etwas aussetzen, ohne zu merken, daß er auf sein eigen Dasein Verzicht tut.

ER. Das ist wahr.

ICH. Nehmen wir darum die Sachen, wie sie sind, bedenken wir, was sie uns kosten und was sie uns eintragen, und lassen wir das Ganze, da wir nicht genug kennen, um es zu loben oder zu tadeln, und das vielleicht weder böse noch gut ist, wenn es notwendig ist, wie viele Leute sich einbilden.

ER. Von allem, was Ihr da vorbringt, verstehe ich nicht viel. Wahrscheinlich ist es Philosophie, und ich muß Euch sagen, damit gebe ich mich nicht ab. So ganz, wie ich bin, möchte ich wohl gern ein anderer sein, selbst auf die Gefahr, ein Mann von Genie zu werden, ein großer Mann. Ja! Gesteh ich’s nur, hier ist etwas, das mir es sagt! Ich habe niemals einen dergleichen loben hören, daß mich dieses Lob nicht heimlich rasend gemacht hätte. Neidisch bin ich. Wenn ich etwas von ihrem Privatleben vernehme, das sie heruntersetzt, das hör ich mit Vergnügen, das nähert uns einander, und ich ertrage leichter meine Mittelmäßigkeit. Ich sage mir: Freilich du hättest niemals Mahomet oder die Lobrede auf Maupeou schreiben können. Und so war, so bin ich voller Verdruß, mittelmäßig zu sein. Ja, ja, mittelmäßig bin ich und verdrießlich. Niemals habe ich die Ouvertüre der Galanten Indien spielen hören, niemals singen hören: Profonds abîmes du Ténare, Nuit, éternelle nuit, ohne mir mit Schmerzen zu sagen, dergleichen wirst du nun niemals machen. Und so war ich denn eifersüchtig auf meinen Onkel, und fänden sich bei seinem Tod einige gute Klavierstücke in seinem Portefeuille, so würde ich mich nicht bedenken, ich zu bleiben und er zu sein.

ICH. Ist’s weiter nichts als das, was Euch verdrießt, das ist doch nicht sehr der Mühe wert.

ER. Nichts, nichts! Das sind Augenblicke, die vorübergehen. (Dann sang er die Ouvertüre der Galanten Indien, die Arie Profonds abîmes und fuhr fort:)

Da seht! Das Etwas, das hier an mich spricht, sagt mir: Rameau, du möchtest gern die beiden Stücke gemacht haben; hättest du die beiden Stücke gemacht, du machtest mehr dergleichen. Hättest du eine gewisse Anzahl gemacht, so spielte man dich, so sänge man dich überall. Du könntest mit aufgehobenem Kopfe gehen, dein Gewissen würde von deinem eigenen Verdienste zeugen. Die andern wiesen mit Fingern auf dich. Das ist der, sagte man, der die artigen Gavotten gemacht hat. (Nun sang er die Gavotten. Dann, mit der Miene eines gerührten Mannes, der in Freude schwimmt, dem die Augen feucht werden, rieb er sich die Hände und sprach:) Du hättest ein gutes Haus (er streckte die Arme aus, um die Größe zu bezeichnen), ein gutes Bett (er sank nachlässig darauf hin), gute Weine (er schien sie zu kosten, indem er mit der Zunge am Gaumen klatschte), Kutsch und Pferde (er hob den Fuß auf, hineinzusteigen), hübsche Weiber (er umfaßte sie schon und blickte sie wollüstig an). Hundert Lumpenhunde kämen täglich, mich zu beräuchern. (Er glaubte sie um sich zu sehen. Er sah Palissot, Poinsinet, die Frérons, Vater und Sohn, La Porte, er hörte sie an, brüstete sich, billigte, lächelte, verschmähte, verachtete sie, jagte sie fort und rief sie zurück. Dann sprach er weiter:) So sagte man dir morgens, daß du ein großer Mann bist, so läsest du in der Geschichte der Drei Jahrhunderte, daß du ein großer Mann bist; du wärst abends überzeugt, daß du ein großer Mann bist, und der große Mann Rameau, der Vetter, schliefe bei dem sanften Geräusch des Lobes ein, das um sein Ohr säuselte. Selbst schlafend würde er eine zufriedene Miene zeigen, seine Brust erweiterte sich, er holte mit Bequemlichkeit Atem, er schnarchte wie ein großer Mann. (Und als er das sagte, ließ er sich weichlich auf einen Sitz nieder, schloß die Augen und ahmte den glücklichen Schlaf nach, den er sich vorgebildet hatte. Nach einigen Augenblicken eines solchen süßen Ruhegenusses wachte er auf, streckte die Arme, gähnte, rieb sich die Augen und suchte seine abgeschmackten Schmeichler noch um sich her.)

ICH. So glaubt Ihr, daß der Glückliche ruhig schläft?

ER. Ob ich’s glaube? Ich armer Teufel, wenn ich abends mein Dachstübchen erreicht habe, wenn ich auf mein Lager gekrochen, unter meiner Decke kümmerlich zusammengeschroben bin, dann ist meine Brust enge, das Atemholen schwach, es ist eine Art von leiser Klage, die man kaum vernimmt, anstatt daß ein Financier sein Schlafgemach erschüttert und die ganze Straße in Erstaunen setzt. Aber was mich heute betrübt, ist nicht, daß ich nur kümmerlich schlafe und schnarche.

ICH. Traurig ist’s immer.

ER. Was mir begegnet, ist noch viel trauriger.

ICH. Und was?

ER. Ihr habt an mir immer einigen Anteil genommen, weil ich ein armer Teufel bin, den Ihr im Grund verachtet, aber der Euch unterhält.

ICH. Das ist wahr.

ER. So laßt Euch sagen. (Ehe er anfängt, seufzt er tief, bringt seine beiden Hände vor die Stirne, dann beruhigt er seine Gesichtszüge und sagt:) Ihr wißt, ich bin unwissend, töricht, närrisch, unverschämt, gaunerisch, gefräßig.

ICH. Welche Lobrede!

ER. Sie ist durchaus wahr. Kein Wort ist abzudingen, keinen Widerspruch deshalb, ich bitt Euch. Niemand kennt mich besser als ich selbst, und ich sage nicht alles.

ICH. Euch nicht zu erzürnen, stimme ich mit ein.

ER. Nun denkt, ich lebte mit Personen, die mich eben sehr wohl leiden konnten, weil ich auf einen hohen Grad diese Eigenschaften sämtlich besaß.

ICH. Das ist doch wunderbar. Bisher glaubte ich, man verbärge sie vor sich selbst oder man verziehe sie sich, aber man verachte sie an andern.

ER. Sie sich verbergen, könnte man das? Seid gewiß, wenn Palissot allein ist und sich selbst betrachtet, sagt er sich ganz andre Sachen. Seid gewiß, sein Kollege und er, einander gegenüber, bekennen sich offenherzig, daß sie zwei gewaltige Schurken sind. An andern diese Eigenschaften verachten? Meine Leute waren viel billiger, und mir ging es vortrefflich bei ihnen. Ich war der Hahn im Korbe. Abwesend ward ich gleich vermißt; man hätschelte mich. Ich war ihr kleiner Rameau, ihr artiger Rameau, ihr Rameau der Narr, der Unverschämte, der Unwissende, der Faule, der Fresser, der Schalksnarr, das große Tier. Jedes dieser Beiwörter galt mir ein Lächeln, eine Liebkosung, einen kleinen Schlag auf die Achsel, eine Ohrfeige, einen Fußtritt, bei Tafel einen guten Bissen, den man mir auf den Teller warf, nach Tische eine Freiheit, die ich mir nahm, als wenn es nichts bedeutete; denn ich bin ohne Bedeutung. Man macht aus mir, vor mir, mit mir alles, was man will, ohne daß es mir auffällt. Die kleinen Geschenke, die mir zuregneten – dummer Hund, der ich bin! das habe ich alles verloren. Alles habe ich verloren, weil ich einmal Menschenverstand hatte, ein einziges Mal in meinem Leben. Ach, wenn mir das jemals wieder begegnet!

ICH. Wovon war denn die Rede?

ER. Rameau, Rameau! Hatte man dich deshalb aufgenommen? Welche Narrheit, ein bißchen Geist, ein bißchen Vernunft zu haben! Rameau, mein Freund, das wird dich lehren, das zu bleiben, wozu Gott dich gemacht hat und wie deine Beschützer dich haben wollen. Nun hat man dich bei den Schultern genommen, dich zur Türe geführt und gesagt: Fort, Schuft, laß dich nicht wieder sehen! Das will Sinn haben, glaub ich, will Vernunft haben? Fort mit dir! Dergleichen haben wir übrig. Nun gingst du und bissest in die Finger. In die verfluchte Zunge hättest du vorher beißen sollen. Warum warst du nicht klüger? Nun bist du auf der Gasse, ohne einen Pfennig, und weißt nicht wohin. Du warst genährt, Mund, was begehrst du? – und nun halte dich wieder an die Höken. Gut logiert – und überglücklich wirst du nun sein, wenn man dich wieder ins Dachstübchen läßt; wohl gebettet warst du – und Stroh erwartet dich wieder zwischen dem Kutscher des Herrn von Soubise und Freund Robbé. Statt eines sanften und ruhigen Schlafs hörst du mit einem Ohr das Wiehern und Stampfen der Pferde und mit dem andern das tausendmal unerträglichere Geräusch trockner, harter, barbarischer Verse. Unglücklich, übelberaten; von tausend Teufeln besessen.

ICH. Aber gäb es denn kein Mittel, Euch wieder zurückzuführen? Ist denn Euer Fehler so groß, so unverzeihlich? An Eurem Platz suchte ich meine Leute wieder auf. Ihr seid ihnen viel nötiger, als Ihr glaubt.

ER