Künstlerbetrachtungen: Diderot, Wackenroder, Hoffmann - Denis Diderot - E-Book

Künstlerbetrachtungen: Diderot, Wackenroder, Hoffmann E-Book

Denis Diderot

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Beschreibung

Alle Texte dieser Anthologie kreisen zentral, neben einer Fülle von philosophischen und kulturellen Fragen und Betrachtungen, einem Allerlei von Scherzen, Anekdoten und satirischen Ansichten, um die Sinn- und Identitätssuche des genialen Künstlermusikers im Spannungsfeld von Wahnsinn und Vernunft, sein Leben und Leiden an der realen Gesellschaft, der er nicht zu entkommen vermag. (siehe das Nachwort von Joerg K. Sommermeyer, S. 375 ff.).

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RAT ACBO

Reihe

Alte Tradition

Azurcelesteblueoscuro

herausgegeben

von

Joerg K. Sommermeyer & Orlando Syrg

Exemplarische Werke der Weltliteratur

herausgegeben von

Joerg K. Sommermeyer

Über dieses Buch

Alle Texte dieser Anthologie kreisen zentral, neben einer Fülle von philosophischen und kulturellen Fragen und Betrachtungen, einem Allerlei von Scherzen, Anekdoten und satirischen Ansichten, um die Sinn- und Identitätssuche des genialen Künstlermusikers im Spannungsfeld von Wahnsinn und Vernunft, sein Leben und Leiden an der realen Gesellschaft, der er nicht zu entkommen vermag. (Siehe auch das Nachwort von JS, unten S. 375 ff.)

Die Autoren

Denis Diderot

* 5. Oktober 1713, Langres/Champagne - † 31. Juli 1784, Paris; Abbé, Übersetzer, Dichter, Philosoph, Aufklärer, Literatur- und Kunsttheoretiker, Bibliothekar der Zarin Katharina II., Mitherausgeber und Autor der „Encyclopédie"; detaillierter Lebenslauf siehe Nachwort des Herausgebers Joerg K. Sommermeyer, unten S. 375 ff.

Johann Heinrich Wackenroder

* 13. Juli 1773, Berlin - † 13. Februar 1798, ebenda; Jurist, Schriftsteller, Mitbegründer der deutschen Romantik; detaillierter Lebenslauf siehe Nachwort des Herausgebers Joerg K. Sommermeyer, unten S. 378 ff.

E. T. A. Hoffmann

* 24. Januar 1776, Königsberg/Ostpreußen - † 25. Juni 1822, Berlin; Jurist, Komponist, Kapellmeister, Musikkritiker, Zeichner, Karikaturist, Schriftsteller der Romantik; detaillierter Lebenslauf siehe Nachwort des Herausgebers Joerg K. Sommermeyer, unten S. 380 ff.

Der Herausgeber

Joerg K. Sommermeyer (JS), * 14.10.1947 in Brackenheim, Sohn des Physikers Kurt Hans Sommermeyer (* 23. März 1906, Schleusingen/Thüringen - † 13. Februar 1969, Freiburg i. Brsg./Bd.-Wrtt.). Kindheit in Freiburg. Studierte Jura, Philosophie, Germanistik, Geschichte und Musikwissenschaft. Klassische Gitarre bei Viktor v. Hasselmann und Anton Stingl. Unterrichtete in den späten Sechzigern Gitarre am Kindergärtnerinnen-/Jugendleiterinnenseminar und in den Achtzigern Rechtsanwaltsgehilfinnen in spe an der Max-Weber-Schule in Freiburg. 1976 bis 2004 Rechtsanwalt in Freiburg. Setzte sich für eine Stärkung des Rechtsschutzes bei Grundrechtseingriffen ein (Unterbringungsrecht, Untersuchungshaft, Durchsuchungsrecht). Veröffentlichungen in juristischen Fachzeitschriften, Artikel in Musikblättern. Gründer und Vorsitzender der Internationalen Gitarristischen Vereinigung, Organisator und Künstlerischer Leiter der Freiburger Gitarren- und Lautentage, Herausgeber und Redakteur der Zeitschrift Nova Giulianiad: Saitenblätter für die Gitarre und Laute. Juror beim Schlesischen Gitarrenherbst in Tychy und Internationalen Gitarrenkongress Freiburg/Basel/Straßburg. Songs, Liedtexte, Arrangements, Instrumentalmusik. 7 CDs, u. a.: Total Overdrive, Those Rocks & Lieders, Nel Cuore Romanzo Rock, Ergo, 7 Celebrities. Herausgabe des Lyrikbandes Leben Will Ich von Josefa Gerhäuser, 2002. Anton Unbekannt, Pathoaphysischer Antiroman, Tragigroteskenfragment, 2008/2009. Edition Nikunthas, König der Miami von Franz Treller in der Bearbeitung durch Georg J. Feurig-Sorgenfrei, 2009/2010. Edition Balleinrubin: Ball, Einstein, Rubiner, 2017. Vernimm mein Schreien, 2017. Edition Lieblingsmärchen, 2017/2018. Edition Franz Kafkas Romane, 2017. Edition Franz Kafkas Erzählungen, 2018. Edition Heinrich von Kleists Erzählungen, Anekdoten und Essays, 2018. Edition Christian Morgensterns Galgenlieder und Palmström, 2018. Edition Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs, 2018. Edition Taugenichts et cetera: Eichendorff, Chamisso, Büchner, 2018.

Orlando Syrg, Berlin, 28. Mai 2018

Inhalt

Über dieses Buch

Die Autoren

Der Herausgeber

Denis Diderot: Rameaus Neffe

Wilhelm Heinrich Wackenroder: Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger

(In zwei Hauptstücken)

Erstes Hauptstück

Zweites Hauptstück

E. T. A. Hoffmann: Kreisleriana

(Nr. 1-6)

Johannes Kreislers, des Kapellmeisters, musikalische Leiden

Ombra adorata

Gedanken über den hohen Wert der Musik

Beethovens Instrumental-Musik

Höchst zerstreute Gedanken

Der vollkommene Maschinist

E. T. A. Hoffmann: Lebensansichten des Katers Murr

nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern

Erster Band

Vorwort des Herausgebers (E. T. A. Hoffmann)

Vorrede des Autors (Murr)

Vorwort. Unterdrücktes des Autors (Murr)

Erster Abschnitt (Gefühle des Daseins. Die Monate der Jugend)

Zweiter Abschnitt (Lebenserfahrungen des Jünglings. Auch ich war in Arkadien)

Zweiter Band

Dritter Abschnitt (Die Lehrmonate. Launisches Spiel des Zufalls)

Vierter Abschnitt (Erspriessliche Folgen höherer Kultur. Die reiferen Monate des Mannes)

Nachschrift des Herausgebers (E. T. A. Hoffmann)

Nachwort des Herausgebers Joerg K. Sommermeyer

Denis Diderot

Rameaus Neffe

(Le Neveu de Rameau. Satire seconde)

Entstanden 1761, mehrmals überarbeitet bis 1774 / 1775. Erstdruck (Ein Dialog von Diderot; deutsche Übersetzung, aus dem Manuskript nach einer von Diderot durchgesehenen Abschrift aus dem Besitz der russischen Zarin Katharina II., von Johann Wolfgang von Goethe) bei Göschen, Leipzig 1805.

[Erstdruck in französischer Sprache (Rückübersetzung aus dem Deutschen) in: »Oeuvres«, Bd. 21, Paris 1821. Erstdruck nach einer (anderen) von Diderot revidierten Abschrift: Paris 1823]

»... Vertumnis, quotquot sunt, natus iniquis« Horat. Liber II. Satyr. VII.

Es mag schön oder hässlich Wetter sein, meine Gewohnheit bleibt auf jeden Fall um fünf Uhr abends im Palais Royal spazierenzugehen. Mich sieht man immer allein, nachdenklich auf der Bank d'Argenson. Ich unterhalte mich mit mir selbst von Politik, von Liebe, von Geschmack oder Philosophie und überlasse meinen Geist seiner ganzen Leichtfertigkeit. Mag er doch die erste Idee verfolgen, die sich zeigt, sie sei weise oder töricht. So sieht man in der Allée de Foi unsre jungen Liederlichen einer Kurtisane auf den Fersen folgen, die mit unverschämtem Wesen, lachendem Gesicht, lebhaften Augen, stumpfer Nase dahingeht; aber gleich verlassen sie diese um eine andre, necken sie sämtlich und binden sich an keine. Meine Gedanken sind meine Dirnen.

Wenn es gar zu kalt oder regnicht ist, flüchte ich mich ins »Café de la Régence« und sehe zu meiner Unterhaltung den Schachspielern zu. Paris ist der Ort in der Welt, und das »Café de la Régence« der Ort in Paris, wo man das Spiel am besten spielt. Da, bei Rey, versuchen sich gegeneinander der profunde Légal, der subtile Philidor, der gründliche Mayot. Da sieht man die bedeutendsten Züge, da hört man die gemeinsten Reden. Denn, kann man schon ein geistreicher Mann und ein großer Schachspieler zugleich sein, wie Légal, so kann man auch ein großer Schachspieler und albern zugleich sein, wie Foubert und Mayot.

Eines Nachmittags war ich dort, beobachtete viel, sprach wenig und hörte so wenig als möglich, als eine der wunderlichsten Personnagen zu mir trat, die nur jemals dieses Land hervorbrachte, wo es doch Gott an dergleichen nicht fehlen ließ. Es ist eine Zusammensetzung von Hochsinn und Niederträchtigkeit, von Menschenverstand und Unsinn, die Begriffe vom Ehrbaren und Unehrbaren müssen ganz wunderbar in seinem Kopf durcheinandergehn: denn er zeigt, was ihm die Natur an guten Eigenschaften gegeben hat, ohne Prahlerei, und was sie ihm an schlechten gab, ohne Scham. Übrigens ist er von einem festen Körperbau, einer außerordentlichen Einbildungskraft und einer ungewöhnlichen Lungenstärke. Wenn ihr ihm jemals begegnet, und seine Originalität hält euch nicht fest, so verstopft ihr eure Ohren gewiss mit den Fingern, oder ihr entflieht. Gott, was für schreckliche Lungen!

Und nichts gleicht ihm weniger, als er selbst. Manchmal ist er mager und zusammengefallen, wie ein Kranker auf der letzten Stufe der Schwindsucht; man würde seine Zähne durch seine Backen zählen; man sollte glauben, er habe mehrere Tage nichts gegessen, oder er käme aus La Trappe.

Den nächsten Monat ist er feist und völlig, als hätte er die Tafel eines Financiers nicht verlassen, oder als hätte man ihn bei den Bernhardinern in Kost gegeben. Heute, mit schmutziger Wäsche, mit zerrissenen Hosen, in Lumpen gekleidet und fast ohne Schuhe, geht er mit gebeugtem Haupt, entzieht sich den Begegnenden, man möchte ihn anrufen, ihm Almosen zu geben. Morgen, gepudert, chaussiert, frisiert, wohl angezogen, trägt er den Kopf hoch, er zeigt sich, und ihr würdet ihn beinah für einen ordentlichen Menschen halten.

So lebt er von Tag zu Tag, traurig oder heiter, nach den Umständen. Seine erste Sorge des Morgens, wenn er aufsteht, ist, sich zu bekümmern, wo er zu Mittag speisen wird. Nach Tische denkt er auf eine Gelegenheit zum Nachtessen, und auch die Nacht bringt ihm neue Sorgen. Bald erreicht er zu Fuß ein kleines Dachstübchen, seine Wohnung, wenn nicht die Wirtin, ungeduldig, den Mietzins länger zu entbehren, ihm den Schlüssel schon abgefordert hat. Bald wirft er sich in eine Schenke der Vorstadt, wo er den Tag zwischen einem Stück Brot und Kruge Bier erwartet. Hat er denn auch die sechs Sous fürs Schlafgeld nicht in der Tasche, das ihm wohl manchmal begegnet, so wendet er sich an einen Mietkutscher, seinen Freund, oder an den Kutscher eines großen Herrn, der ihm ein Lager auf Stroh neben seinen Pferden vergönnt. Morgens hat er denn noch einen Teil seiner Matratze in den Haaren. Ist die Jahreszeit lind, so spaziert er die ganze Nacht auf dem Cours oder den Elyseischen Feldern hin und her. Mit dem Tage erscheint er sogleich in der Stadt, gekleidet von gestern für heute, und von heute manchmal für den Überrest der Woche.

Dergleichen Originale kann ich nicht schätzen; andere machen sie zu ihren nächsten Bekannten, sogar zu Freunden. Des Jahres können sie mich einmal festhalten, wenn ich ihnen begegne, weil ihr Charakter von den gewöhnlichen absticht und sie die lästige Einförmigkeit unterbrechen, die wir durch unsre Erziehung, unsre gesellschaftlichen Konventionen, unsre hergebrachten Anständigkeiten eingeführt haben. Kommt ein solcher in eine Gesellschaft, so ist er ein Krümchen Sauerteig, das das Ganze hebt und jedem einen Teil seiner natürlichen Individualität zurückgibt. Er schüttelt, er bewegt, bringt Lob oder Tadel zur Sprache, treibt die Wahrheit hervor, macht rechtliche Leute kenntlich, entlarvt die Schelme, und da horcht ein Vernünftiger zu und sondert seine Leute.

Diesen kannt ich seit langer Zeit; er kam öfters in ein Haus, wo ihm sein Talent den Eingang verschafft hatte. Die Leute hatten eine einzige Tochter. Er schwur dem Vater und der Mutter, dass er ihre Tochter heiraten würde. Diese zuckten die Achseln, lachten ihm ins Gesicht und versicherten ihm, er sei närrisch. Doch sah ich den Augenblick kommen, wo die Sache gemacht war. Er verlangte von mir einige Taler, die ich ihm gab. Er hatte sich, ich weiß nicht wie, in einigen Häusern eingeschlichen, wo sein Couvert bereitstand, aber man hatte ihm die Bedingung gemacht, er solle niemals ohne Erlaubnis reden. Da schwieg er nun und aß vor Bosheit: es war lustig, ihn in diesem Zwang zu sehen. Sobald er es wagte, den Traktat zu brechen und den Mund aufzutun, sogleich beim ersten Wort riefen alle Gäste: »O Rameau!« Dann funkelte die Wut in seinen Augen, und er fiel mit neuer Gewalt über das Essen her.

Ihr wart neugierig, den Namen des Mannes zu wissen, da habt ihr ihn. Es ist der Vetter des berühmten Tonkünstlers, der uns vor Lullys Kirchengesang gerettet hat, den wir seit hundert Jahren psalmodieren. Ein Vetter des Mannes, der so viel unverständliche Visionen und apokalyptische Wahrheiten über die Theorie der Musik schrieb, wovon weder er noch sonst irgendein Mensch jemals etwas verstanden hat; in dessen Opern man Harmonie findet, einzelne Brocken guten Gesangs, unzusammenhängende Ideen, Lärm, Aufflüge, Triumphe, Lanzen, Glorien, Murmeln und Viktorien, dass den Sängern der Atem ausgehn möchte; des Mannes, der, nachdem er den Florentiner begraben hat, durch italienische Virtuosen wird begraben werden, wie er vorausfühlte, und deshalb missmutig, traurig und ärgerlich ward. Denn niemand hat bösere Laune, nicht einmal eine hübsche Frau, die morgens eine Blatter auf der Nase gewahr wird, als ein Autor, der sich bedroht sieht, seinen Ruf zu überleben, wie Marivaux und Crébillon, der Sohn, beweisen.

Er tritt zu mir: »Ach, mein Herr Philosoph, treff ich Euch auch einmal! Was macht Ihr denn hier unter den Taugenichtsen? Verliert Ihr auch Eure Zeit mit Holzschieben?« (So nennt man aus Verachtung das Schach- oder Damenspiel.)

ICH: Nein, aber wenn ich nichts Besseres zu tun habe, so ist's eine augenblickliche Unterhaltung, denen zuzusehn, die gut schieben.

ER: Also eine seltne Unterhaltung. Nehmt Légal und Philidor aus; die übrigen verstehn nichts.

ICH: Und Herr von Bissy, was sagt Ihr zu dem?

ER: Der ist als Schachspieler, was Demoiselle Clairon als Schauspielerin ist; beide wissen von diesen Spielen alles, was man davon lernen kann.

ICH: Ihr seid schwer zu befriedigen. Ich merke, nur den vorzüglichsten Menschen lasst Ihr Gnade widerfahren.

ER: Ja im Schach- und Damenspiel, in der Poesie, Redekunst, Musik und andern solchen Possen. Wozu soll die Mittelmäßigkeit in diesen Fällen?

ICH: Beinahe geb ich Euch recht. Aber doch müssen sich viele auch auf diese Künste legen, damit der Mann von Genie hervortrete. Er ist dann der eine in der Menge. Aber lassen wir das gut sein. Seit einer Ewigkeit habe ich Euch nicht gesehen. Ich denke niemals an Euch, wenn ich Euch nicht sehe. Aber es freut mich jedes Mal, wenn ich Euch wiederfinde. Was habt Ihr gemacht?

ER: Das was Ihr, ich und alle die andern machen, Gutes, Böses und nichts. Dann hab ich Hunger gehabt und gegessen, wenn sich dazu Gelegenheit fand. Ferner hatt ich Durst, und manchmal hab ich getrunken; indessen ist mir der Bart gewachsen, und da hab ich mich rasieren lassen.

ICH: Daran habt Ihr übel getan: denn der Bart nur fehlt Euch zum Weisen.

ER: Freilich! Meine Stirn ist groß und runzlich, mein Auge blitzt, die Nase springt vor, meine Wangen sind breit, meine Augenbrauen breit und dicht, der Mund wohl gespalten, die Lippen umgeschlagen und das Gesicht viereckig. Wisst Ihr wohl, dieses ungeheure Kinn, wäre es von einem langen Barte bedeckt, es würde sich in Erz oder Marmor recht gut ausnehmen.

ICH: Neben Cäsar, Mark Aurel, Sokrates.

ER: Nein, ich stünde lieber zwischen Diogenes und Phryne. Unverschämt bin ich wie der eine, und die andern besuch ich gern.

ICH: Ihr befindet Euch immer wohl?

ER: Ja, gewöhnlich; aber heute nicht besonders.

ICH: Und wie, mit Eurem Silenenbauch, mit einem Gesicht –

ER: Einem Gesicht, das man für die Rückseite nehmen könnte. Wisst Ihr, dass böse Laune, die meinen Onkel ausdorrt, wahrscheinlich seinen Neffen fett macht?

ICH: Apropos! Den Onkel; seht Ihr ihn manchmal?

ER: Ja, manchmal auf der Straße vorbeigehn.

ICH: Tut er Euch denn nichts Gutes?

ER: Tut er jemanden Gutes, so weiß er gewiss nichts davon. Es ist ein Philosoph in seiner Art; er denkt nur an sich, und die übrige Welt ist ihm wie ein Blasebalgsnagel. Seine Tochter und Frau können sterben, wann sie wollen, nur dass ja die Glocken im Kirchsprengel, mit denen man ihnen zu Grabe läutet, hübsch die Duodezime und Septdezime nachklingen, so ist alles recht. Er ist ein glücklicher Mann! Und besonders weiß ich an Leuten von Genie zu schätzen, dass sie nur zu einer Sache gut sind, drüber hinaus zu nichts. Sie wissen nicht, was es heißt, Bürger, Väter, Mütter, Vettern und Freunde zu sein. Unter uns, man sollte ihnen durchaus gleichen, aber nur nicht wünschen, dass der Same zu gemein würde. Menschen muss es geben, Menschen von Genie nicht. Nein, wahrhaftig nicht! Sie sind's, die unsre Welt umgestalten, und nun ist im Einzelnen die Torheit so allgemein und mächtig, dass man sie nicht ohne Händel verdrängt. Da macht sich's nun zum Teil, wie sich's die Herren eingebildet haben, zum Teil bleibt's, wie es war. Daher kommen die zwei Evangelien, des Harlekins Rock! Nein! die Weisheit des Mönchs im Rabelais, das ist die wahre Weisheit für unsre Ruhe und für die Ruhe der andern. Seine Schuldigkeit tun, so gut es gehn will, vom Herrn Prior immer Gutes reden und die Welt gehn lassen, wie sie Lust hat. Sie geht ja gut, denn die Menge ist damit zufrieden. Wüsst ich Geschichte, so wollt ich Euch zeigen, das Übel hier unten ist immer von genialischen Menschen hergekommen; aber ich weiß keine Geschichte, weil ich nichts weiß. Der Teufel hole mich, wenn ich jemals was gelernt habe, und ich befinde mich nicht schlechter deshalb. Ich war eines Tags an der Tafel eines königlichen Ministers, der Verstand für ein Dutzend hat. Er zeigte uns klar, so klar wie zweimal zwei vier ist, dass nichts den Völkern nützlicher sei als die Lüge, nichts aber schädlicher als die Wahrheit. Ich besinne mich nicht mehr auf seine Beweise, aber es folgte sonnenklar daraus, dass die Leute von Genie ganz abscheulich sind und dass man ein Kind, wenn es bei seiner Geburt ein Charakterzeichen dieses gefährlichen Naturgeschenks an der Stirne trüge, sogleich ersticken oder ins Wasser werfen sollte.

ICH: Und doch! diese Personen, die vom Genie so übel sprechen, behaupten alle, Genie zu haben.

ER: Im stillen schreibt sich's wohl ein jeder zu; aber ich glaube doch nicht, dass sie sich unterstünden, es zu bekennen.

ICH: Das geschieht aus Bescheidenheit. Und also habt Ihr einen schrecklichen Hass gegen das Genie gefasst?

ER: Für mein ganzes Leben.

ICH: Aber ich erinnre mich wohl der Zeit, da Ihr in Verzweiflung wart, nur ein gemeiner Mensch zu sein. Ihr könnt nie glücklich werden, wenn Euch das eine wie das andre quält. Man sollte seine Partie ergreifen und daran festhalten. Wenn ich Euch auch zugebe, dass die genialischen Menschen gewöhnlich ein wenig sonderbar sind, oder, wie das Sprichwort sagt, kein großer Geist sich findet ohne einen Gran von Narrheit, so lässt man die Genies doch nicht fahren. Man wird die Jahrhunderte verachten, die keine hervorgebracht haben. Sie werden die Ehre des Volks sein, bei dem sie lebten. Früh oder spät errichtet man ihnen Statuen und betrachtet sie als Wohltäter des Menschengeschlechts. Verzeihe mir der vortreffliche Minister, den Ihr anführt, aber ich glaube, wenn die Lüge einen Augenblick nützen kann, so schadet sie notwendig auf die Länge. Im Gegenteil nutzt die Wahrheit notwendig auf die Länge, wenn sie auch im Augenblick schadet. Daher käm ich in Versuchung, den Schluss zu machen, dass der Mann von Genie, der einen allgemeinen Irrtum verschreit oder einer großen Wahrheit Eingang verschafft, immer ein Wesen ist, das unsre Verehrung verdient. Es kann geschehen, dass dieses Wesen ein Opfer des Vorurteils und der Gesetze wird; aber es gibt zwei Arten Gesetze: die einen sind unbedingt billig und allgemein, die andern wunderlich, nur durch Verblendung oder durch Notwendigkeit der Umstände bestätigt. Diese bedecken den, der sie übertritt, nur mit einer vorübergehenden Schande, einer Schande, die von der Zeit auf die Richter und Nationen zurückgeworfen wird, um ewig an ihnen zu haften. Sokrates oder das Gericht, das ihm den Schierling reichte, wer von beiden ist nun der Entehrte?

ER: Das hilft ihm auch was Rechts! Ist er deswegen weniger verdammt worden? Ist sein Todesurteil weniger vollzogen? War er nicht immer ein unruhiger Bürger, und indem er ein schlechtes Gesetz verachtete, hat er nicht die Narren zur Verachtung der guten angeregt? War er nicht ein kühner und wunderlicher Mann, und seid Ihr nicht ganz nah an einem Geständnis, das den Männern von Genie wenig günstig ist? ICH: Hört mich, lieber Mann, eine Gesellschaft sollte keine schlechten Gesetze haben. Hätte sie nur gute, sie käme niemals in Gefahr, einen Mann von Genie zu verfolgen. Ich habe nicht zugegeben, dass das Genie unauflöslich mit der Bosheit verbunden sei, noch die Bosheit mit dem Genie. Ein Tor ist öfter ein Bösewicht als ein Mann von Geist. Wäre nun auch ein Mann von Genie gewöhnlich in der Unterhaltung hart, rau, schwer zu behandeln, unerträglich, wäre er auch ein Bösewicht, was wolltet Ihr daraus folgern?

ER: Dass man ihn ersäufen sollte.

ICH: Sachte, lieber Freund! So sagt mir doch! Nun ich will nicht Euern Onkel zum Beispiel nehmen, das ist ein harter und roher Mann, ohne Menschlichkeit, geizig, ein schlechter Vater, schlechter Gatte, schlechter Onkel; und dabei ist es noch nicht einmal ganz entschieden, dass er ein Mann von Genie sei, dass er es in seiner Kunst sehr weit gebracht habe, dass man sich in zehn Jahren noch um seine Werke kümmern werde. Aber Racine, der hatte doch Genie und galt nicht für den besten Mann. Aber Voltaire?

ER: Drängt mich nicht: denn ich weiß zu folgern.

ICH: Was würdet Ihr nun vorziehen, dass Racine ein guter Mann gewesen wäre, völlig eins mit seinem Comptoir wie Briasson, oder mit seiner Elle wie Barbier, ein Mann, der regelmäßig alle Jahre seiner Frau ein rechtmäßiges Kind macht, guter Gatte, guter Vater, guter Onkel, guter Nachbar, ehrlicher Handelsmann und nichts weiter; oder dass er schelmisch, verräterisch, ehrgeizig, neidisch gewesen wäre, aber Verfasser von »Andromache«, »Britannicus«, »Iphigenia«, »Phädra« und »Athalia«?

ER: Hätte er zu der ersten Art gehört, das möchte für ihn das beste gewesen sein.

ICH: Das ist sogar unendlich wahrer, als Ihr selbst nicht empfindet.

ER: Ja so seid ihr andern! Wenn wir etwas Gutes sagen, so soll es, wie bei Narren und Schwärmern, der Zufall getan haben. Ihr andern nur versteht euch selbst. Ja, Herr Philosoph, ich verstehe mich und verstehe mich ebenso gut, als Ihr Euch versteht.

ICH: Nun, so lasst sehen, warum denn für ihn?

ER: Darum, weil alle die schönen Sachen, die er da gemacht hat, ihm nicht zwanzigtausend Franken eingetragen haben. Wäre er ein guter Seidenhändler in der Straße St. Denis oder St. Honoré gewesen, ein guter Materialienhändler im großen, ein besuchter Apotheker, da hätte er ein großes Vermögen zusammengebracht und dabei alle Arten Vergnügen genossen. Er hätte von Zeit zu Zeit einem armen Teufel von Lustigmacher, wie mir, ein Goldstück gegeben, und man hätte ihn zu lachen gemacht, man hätte ihm gelegentlich ein hübsches Mädchen verschafft, um eine ewige langweilige Beiwohnung bei seiner Ehefrau zu unterbrechen. Wir hätten bei ihm vortrefflich gegessen, großes Spiel gespielt, vortrefflichen Wein getrunken, vortreffliche Liköre, vortrefflichen Kaffee, man hätte Landfahrten gemacht. Ihr seht doch, dass ich mich darauf verstehe. Ihr lacht? Schon gut! Nur werdet Ihr doch zugeben, so wäre es auch besser für seine Umgebungen gewesen.

ICH: Ganz gewiss. Nur musste er den durch ein rechtmäßiges Gewerbe errungenen Reichtum nicht auf eine schlechte Weise verwenden. Alle die Spieler musste er von seinem Hause entfernen, alle diese Schmarotzer, alle diese süßlichen Jaherrn, alle diese Windbeutel, diese unnützen, verkehrten Menschen. Mit Stockprügeln musste er durch seine Lehrburschen den dienstbaren Gefälligen totschlagen lassen, der, durch eine saubere Mannigfaltigkeit, den Ehemann von dem Abgeschmack einer einförmigen Beiwohnung zu retten sucht.

ER: Totschlagen? Herr, totschlagen? Niemanden schlägt man tot in einer wohl polizierten Stadt. Es ist eine ehrbare Beschäftigung; viele Personen, sogar mit Titeln, schämen sich ihrer nicht. Und wozu in Teufels Namen soll man denn sein Geld verwenden, als auf einen guten Tisch, gute Gesellschaft, gute Weine, schöne Weiber, Vergnügen von allen Farben, Unterhaltungen aller Art? Ebenso gern möchte ich ein Bettler sein, als ein großes Vermögen ohne diese Genüsse besitzen. Nun aber wieder von Racine. Dieser Mann taugte nur für die Unbekannten, für die Zeit, wo er nicht mehr war.

ICH: Ganz recht! Aber wägt einmal das Gute und das Böse. In tausend Jahren wird er Tränen entlocken, er wird in allen Ländern der Erde bewundert werden, Menschlichkeit wird er einflößen, Mitleiden, Zärtlichkeit. Man wird fragen, wer er war, wo gebürtig, man wird Frankreich beneiden. Einige Wesen haben durch ihn gelitten, die nicht mehr sind, an denen wir beinahe keinen Teil nehmen. Wir haben nichts mehr zu fürchten, weder von seinen Lastern noch von seinen Fehlern. Besser wär es freilich gewesen, wenn die Natur zu den Talenten eines großen Mannes auch die Gesinnungen des Rechtschaffenen gegeben hätte. Er war ein Baum, der einige in seiner Nachbarschaft gepflanzte Bäume verdorren machte, der die Pflanzen erstickte, die zu seinen Füßen wuchsen: aber seinen Gipfel hat er bis in die Wolken erhoben, seine Äste sind weit verbreitet, seinen Schatten hat er denen gegönnt, die kommen und kommen werden, um an seinem majestätischen Thron zu ruhen. Früchte des feinsten Geschmacks hat er hervorgebracht und die sich immer erneuern. Freilich könnte man wünschen, auch Voltaire wäre so sanft wie Duclos, so offen wie der Abbé Trublet, so gerade wie der Abbé d'Olivet; aber, da das nun einmal nicht sein kann, so lasst uns die Sache von der wahrhaft interessanten Seite betrachten. Lasst uns einen Augenblick den Punkt vergessen, wo wir im Raum und in der Zeit stehen. Verbreiten wir unsern Blick über künftige Jahrhunderte, entfernte Regionen, künftige Völker; denken wir an das Wohl unserer Gattung, und wenn wir hierzu nicht groß genug sind, verzeihen wir wenigstens der Natur, dass sie weiser war als wir. Gießt auf Greuzens Kopf kaltes Wasser, vielleicht löscht Ihr sein Talent mit seiner Eitelkeit zugleich aus. Macht Voltairen unempfindlicher gegen den Tadel, und er vermag nicht mehr in die Seele Meropens hinabzusteigen, Euch nicht mehr zu rühren.

ER: Aber wenn die Natur so mächtig als weise war, warum machte sie diese Männer nicht ebenso gut als groß?

ICH: Seht Ihr denn aber nicht, dass mit solchen Federungen Ihr die Ordnung des Ganzen umwerft: denn wäre hierunten alles vortrefflich, so gäb es nichts Vortreffliches.

ER: Ihr habt recht: denn darauf kommt es doch hauptsächlich an, dass wir beide da seien, Ihr und ich, und dass wir eben Ihr und ich seien: das andre mag gehen, wie es kann. Die beste Ordnung der Dinge, scheint mir, ist immer die, worein ich auch gehöre, und hol der Henker die beste Welt, wenn ich nicht dabei sein sollte. Lieber will ich sein, und selbst ein impertinenter Schwätzer sein, als nicht sein.

ICH: Jeder denkt wie Ihr, und doch will jeder an der Ordnung der Dinge, wie sie sind, etwas aussetzen, ohne zu merken, dass er auf sein eigen Dasein Verzicht tut.

ER: Das ist wahr.

ICH: Nehmen wir darum die Sachen, wie sie sind, bedenken wir, was sie uns kosten und was sie uns eintragen, und lassen wir das Ganze, das wir nicht genug kennen, um es zu loben oder zu tadeln, und das vielleicht weder böse noch gut ist, wenn es notwendig ist, wie viele Leute sich einbilden.

ER: Von allem, was Ihr da vorbringt, verstehe ich nicht viel. Wahrscheinlich ist es Philosophie, und ich muss Euch sagen, damit gebe ich mich nicht ab. So ganz, wie ich bin, möchte ich wohl gern ein anderer sein, selbst auf die Gefahr, ein Mann von Genie zu werden, ein großer Mann. Ja! Gesteh ich's nur, hier ist etwas, das mir es sagt! Ich habe niemals einen dergleichen loben hören, dass mich dieses Lob nicht heimlich rasend gemacht hätte. Neidisch bin ich. Wenn ich etwas von ihrem Privatleben vernehme, das sie heruntersetzt, das hör ich mit Vergnügen, das nähert uns einander, und ich ertrage leichter meine Mittelmäßigkeit. Ich sage mir: Freilich, du hättest niemals »Mahomet« oder die Lobrede auf Maupeou schreiben können. Und so war, so bin ich voller Verdruss, mittelmäßig zu sein. Ja ja, mittelmäßig bin ich und verdrießlich. Niemals habe ich die Ouvertüre der »Galanten Indien« spielen hören, niemals singen hören: »Profonds abymes du Ténare, nuit, éternelle nuit«, ohne mir mit Schmerzen zu sagen, dergleichen wirst du nun niemals machen. Und so war ich denn eifersüchtig auf meinen Onkel, und fänden sich bei seinem Tod einige gute Klavierstücke in seinem Portefeuille, so würde ich mich nicht bedenken, ich zu bleiben und er zu sein.

ICH: Ist's weiter nichts als das, was Euch verdrießt, das ist doch nicht sehr der Mühe wert.

ER: Nichts, nichts! Das sind Augenblicke, die vorübergehen. (Dann sang er die Ouvertüre der »Galanten Indien«, die Arie »Profonds abymes« und fuhr fort:) Da seht! das Etwas, das hier mich anspricht, sagt mir: Rameau, du möchtest gern die beiden Stücke gemacht haben; hättest du die beiden Stücke gemacht, du machtest mehr dergleichen. Hättest du eine gewisse Anzahl gemacht, so spielte man dich, so sänge man dich überall. Du könntest mit erhobenem Kopfe gehen, dein Gewissen würde von deinem eigenen Verdienste zeugen. Die andern wiesen mit Fingern auf dich. Das ist der, sagte man, der die artigen Gavotten gemacht hat. (Nun sang er die Gavotten. Dann mit der Miene eines gerührten Mannes, der in Freude schwimmt, dem die Augen feucht werden, rieb er sich die Hände und sprach:) Du hättest ein gutes Haus (er streckte die Arme aus, um die Größe zu bezeichnen), ein gutes Bett (er sank nachlässig darauf hin), gute Weine (er schien sie zu kosten, indem er mit der Zunge am Gaumen klatschte), Kutsch und Pferde (er hob den Fuß auf hineinzusteigen), hübsche Weiber (er umfasste sie schon und blickte sie wollüstig an). Hundert Lumpenhunde kämen täglich, mich zu beräuchern. (Er glaubte sie um sich zu sehen. Er sah Palissot, Poinsinet, die Frérons, Vater und Sohn, La Porte, er hörte sie an, brüstete sich, billigte, lächelte, verschmähte, verachtete sie, jagte sie fort und rief sie zurück. Dann sprach er weiter:) So sagte man dir morgens, dass du ein großer Mann bist, so läsest du in der »Geschichte der drei Jahrhunderte«, dass du ein großer Mann bist: du wärst abends überzeugt, dass du ein großer Mann bist, und der große Mann Rameau, der Vetter, schliefe bei dem sanften Geräusch des Lobes ein, das um sein Ohr säuselte. Selbst schlafend würde er eine zufriedene Miene zeigen, seine Brust erweiterte sich, er holte mit Bequemlichkeit Atem, er schnarchte wie ein großer Mann. (Und als er das sagte, ließ er sich sanft auf einen Sitz nieder, schloss die Augen und ahmte den glücklichen Schlaf nach, den er sich vorgestellt hatte. Nach einigen Augenblicken eines solchen süßen Ruhegenusses wachte er auf, streckte die Arme, gähnte, rieb sich die Augen und suchte seine abgeschmackten Schmeichler noch um sich her.)

ICH: So glaubt Ihr, dass der Glückliche ruhig schläft?

ER: Ob ich's glaube? Ich armer Teufel, wenn ich abends mein Dachstübchen erreicht habe, wenn ich auf mein Lager gekrochen, unter meiner Decke kümmerlich zusammengeschroben bin, dann ist meine Brust eng, das Atemholen schwach, es ist eine Art von leiser Klage, die man kaum vernimmt, anstatt dass ein Financier sein Schlafgemach erschüttert und die ganze Straße in Erstaunen setzt. Aber was mich heute betrübt, ist nicht, dass ich nur kümmerlich schlafe und schnarche.

ICH: Traurig ist's immer.

ER: Was mir begegnet, ist noch viel trauriger.

ICH: Und was?

ER: Ihr habt an mir immer einigen Anteil genommen, weil ich ein armer Teufel bin, den Ihr im Grunde verachtet, aber der Euch unterhält.

ICH: Das ist wahr.

ER: So lasst Euch sagen. (Ehe er anfängt, seufzt er tief, bringt seine beiden Hände vor die Stirn, dann beruhigt er seine Gesichtszüge und sagt:) Ihr wisst, ich bin unwissend, töricht, närrisch, unverschämt, gaunerisch, gefräßig.

ICH: Welche Lobrede!

ER: Sie ist durchaus wahr. Kein Wort ist abzudingen, keinen Widerspruch deshalb, ich bitt Euch. Niemand kennt mich besser als ich selbst, und ich sage nicht alles.

ICH: Euch nicht zu erzürnen, stimme ich mit ein.

ER: Nun denkt, ich lebte mit Personen, die mich eben sehr wohl leiden konnten, weil ich auf einen hohen Grad diese Eigenschaften sämtlich besaß.

ICH: Das ist doch wunderbar. Bisher glaubte ich, man verbärge sie vor sich selbst, oder man verziehe sie sich, aber man verachte sie an andern.

ER: Sie sich verbergen, könnte man das? Seid gewiss, wenn Palissot allein ist und sich selbst betrachtet, sagt er sich ganz andre Sachen. Seid gewiss, sein Kollege und er, einander gegenüber, bekennen sich offenherzig, dass sie zwei gewaltige Schurken sind. An andern diese Eigenschaften verachten? Meine Leute waren viel billiger, und mir ging es vortrefflich bei ihnen. Ich war der Hahn im Korbe. Abwesend ward ich gleich vermisst; man hätschelte mich. Ich war ihr kleiner Rameau, ihr artiger Rameau, ihr Rameau der Narr, der Unverschämte, der Unwissende, der Faule, der Fresser, der Schalksnarr, das große Tier. Jedes dieser Beiwörter galt mir ein Lächeln, eine Liebkosung, einen kleinen Schlag auf die Achsel, eine Ohrfeige, einen Fußtritt, bei Tafel einen guten Bissen, den man mir auf den Teller warf, nach Tische eine Freiheit, die ich mir nahm, als wenn es nichts bedeutete: denn ich bin ohne Bedeutung. Man macht aus mir, vor mir, mit mir alles, was man will, ohne dass es mir auffällt. Die kleinen Geschenke, die mir zuregneten – dummer Hund, der ich bin! Das habe ich alles verloren. Alles habe ich verloren, weil ich einmal Menschenverstand hatte, ein einziges Mal in meinem Leben. Ach, wenn mir das jemals wieder begegnet!

ICH: Wovon war denn die Rede?

ER: Rameau, Rameau! hatte man dich deshalb aufgenommen? Welche Narrheit, ein bisschen Geist, ein bisschen Vernunft zu haben! Rameau, mein Freund, das wird dich lehren, das zu bleiben, wozu Gott dich gemacht hat und wie deine Beschützer dich haben wollen. Nun hat man dich bei den Schultern genommen, dich zur Türe geführt und gesagt: »Fort, Schuft, lass dich nicht wieder sehen!« Das will Sinn haben, glaub ich, will Vernunft haben? »Fort mit dir! Dergleichen haben wir übrig.« Nun gingst du und bissest in die Finger. In die verfluchte Zunge hättest du vorher beißen sollen. Warum warst du nicht klüger? Nun bist du auf der Gasse, ohne einen Pfennig, und weißt nicht wohin. Du warst genährt, Mund, was begehrst du? Und nun halte dich wieder an die Höker. Gut logiert, und überglücklich wirst du nun sein, wenn man dich wieder ins Dachstübchen lässt; wohl gebettet warst du, und Stroh erwartet dich wieder zwischen dem Kutscher des Herrn von Soubise und Freund Robbé. Statt eines sanften und ruhigen Schlafs hörst du mit einem Ohr das Wiehern und Stampfen der Pferde, und mit dem andern das tausendmal unerträglichere Geräusch trockner, harter, barbarischer Verse. Unglücklich, übel beraten; von tausend Teufeln besessen.

ICH: Aber gäb es denn kein Mittel, Euch wieder zurückzuführen? Ist denn Euer Fehler so groß, so unverzeihlich? An Euerm Platz suchte ich meine Leute wieder auf. Ihr seid ihnen viel nötiger, als Ihr glaubt.

ER: O gewiss! Jetzt, da ich sie nicht lachen mache, haben sie Langeweile wie die Hunde.

ICH: So ging' ich wieder hin. Ich ließ' ihnen keine Zeit, mich entbehren zu lernen, sich an ehrbare Unterhaltung zu gewöhnen: denn wer weiß, was geschehn kann.

ER: Das fürchte ich nicht, das kann nicht geschehen.

ICH: So vortrefflich Ihr auch sein mögt, ein andrer kann Euch ersetzen.

ER: Schwerlich!

ICH: Das sei! Aber ich ginge doch mit diesem entstellten Gesicht, diesem verirrten Blick, diesem losen Hals, diesen zerzausten Haaren, in diesem wahrhaft tragischen Zustand, wie Ihr da steht. Ich würfe mich zu den Füßen der Gottheit, und ganz gebückt sagte ich mit leiser, schluchzender Stimme: »Vergebung, Madame, Vergebung! Ich bin ein Unwürdiger, ein Nichtswürdiger. Es war ein unglücklicher Augenblick: denn Ihr wisst, es begegnet mir niemals, Menschenverstand zu haben, und ich verspreche Euch, es soll in meinem ganzen Leben nicht wieder geschehen.« (Lustig war es anzusehen, wie er, unterdessen ich so sprach, die Pantomime dazu spielte. Er hatte sich niedergeworfen, sein Gesicht an die Erde gedrückt, er schien mit beiden Händen die Spitze eines Pantoffels zu halten, er weinte, er schluchzte, er sagte: »Ja, meine kleine Königin, ja das versprech ich, in meinem ganzen Leben soll mir's nicht wieder begegnen.« Dann sprang er auf und sagte mit ernstem und bedächtigem Ton:)

ER: Ja, Ihr habt recht, das ist wohl das beste. Herr Viellard sagt, sie sei so gut; ich weiß wohl, dass sie es ist; aber sich vor einer solchen Meerkatze zu erniedrigen, eine kleine, elende Komödiantin um Barmherzigkeit anzuflehen, eine Kreatur, die dem Pfeifen des Parterres nicht ausweichen kann – ich, Rameau, Sohn des Herrn Rameau, Apotheker von Dijon, ich, ein rechtlicher Mann, der niemals das Knie vor irgendjemand gebeugt hat, ich, Rameau, der Vetter dessen, den man den großen Rameau nennt, dessen, der nun grade und strack und mit freier Bewegung der Arme im Palais Royal spazieren geht, seitdem ihn Herr Carmontelle gezeichnet hat, wie er gebückt und die Hände unter den Rockschößen sonst einherschlich; ich, der ich Stücke fürs Klavier gesetzt habe, die niemand spielt, aber die vielleicht allein auf die Nachwelt kommen, die sie spielen wird, ich, genug, ich! Gehen sollt ich? Nein, Herr, das geschieht nicht! (Nun legte er seine rechte Hand auf die Brust und fuhr fort:) Hier fühle ich etwas, das sich regt, das mir sagt: Rameau, das tust du nicht. Es muss doch eine gewisse Würde mit der menschlichen Natur innig verknüpft sein, die niemand ersticken kann. Das wacht nun einmal auf, um nichts und wieder nichts, ja um nichts und wieder nichts: denn es gibt andre Tage, da mich's gar nichts kostete, so niederträchtig zu sein, als man wollte. Tage, wo ich für einen Pfennig der kleinen Hus den H-n geküsst hätte.

ICH: Ei, mein Freund! sie ist weiß, niedlich, jung, festlich. Zu so einer Demutshandlung könnte sich wohl einer entschließen, der delikater wäre als Ihr.

ER: Verstehn wir uns. Es ist ein Unterschied zwischen H-n küssen. Es gibt ein eigentliches und ein figürliches. Fragt nur den dicken Bergier, er küsst Madame de la M- den H-n im eigentlichen und figürlichen Sinne, und wahrhaftig, das Eigentliche und Figürliche würde mir da gleich schlecht gefallen.

ICH: Behagt Euch das Mittel nicht, das ich Euch angebe, so habt doch den Mut, ein Bettler zu sein.

ER: Es ist hart, ein Bettler sein, indessen es so viel reiche Toren gibt, auf deren Unkosten man leben kann, und dann sich selbst verachten zu müssen ist doch auch unerträglich.

ICH: Und kennt Ihr denn dieses Gefühl?

ER: Ob ich es kenne? Wie oft habe ich mir gesagt: Wie, Rameau, es gibt zehntausend gute Tafeln zu Paris, zu fünfzehn bis zwanzig Gedecken eine jede, und von allen diesen Gedecken ist keins für dich? Tausend kleine Schöngeister ohne Talent, ohne Verdienst, tausend kleine Kreaturen ohne Reize, tausend platte Intriganten sind gut gekleidet, und du liefest nackend herum, so unfähig wärst du? Wie, du solltest nicht schmeicheln können wie ein andrer, nicht lügen, schwören, falsch schwören, versprechen, halten oder nicht halten wie ein andrer? Solltest du nicht können auf vier Füßen kriechen wie ein andrer? Solltest du nicht den Liebeshandel der Frau begünstigen und das Briefchen des Mannes bestellen können wie ein andrer? Solltest du nicht einem hübschen Bürgermädchen begreiflich machen, dass sie übel angezogen ist, dass zierliche Ohrgehänge, ein wenig Schminke, Spitzen und ein Kleid nach polnischem Schnitt sie zum Entzücken kleiden würden? Dass diese kleinen Füßchen nicht gemacht sind, über die Straße zu gehen, dass ein hübscher Mann, jung und reich, sich finde, mit galoniertem Kleid, prächtiger Equipage, sechs großen Lakaien, der sie im Vorbeigehen gesehn habe, der sie liebenswürdig finde, der seit dem Tag weder essen noch trinken könne, der nicht mehr schlafe, der daran sterben werde? – »Aber mein Vater?« – »Nun nun, Euer Vater, der wird anfangs ein wenig böse sein.« – »Und meine Mutter? Die mir so sehr empfiehlt, ein ehrbares Mädchen zu bleiben, die mir immer sagt, über die Ehre gehe nichts in der Welt.« – »Alte Redensarten, die nichts heißen wollen.« – »Und mein Beichtvater?« – »Den seht Ihr nicht mehr, oder wenn Ihr auf der Grille besteht, ihm die Geschichte Eures Zeitvertreibs zu erzählen, so kostet es Euch einige Pfunde Zucker und Kaffee.« – »Es ist ein strenger Mann, der mir schon wegen des Liedchens ›Komm in meine Zelle‹ die Absolution verweigert hat.« – »Nur weil Ihr ihm nichts zu geben hattet. Aber wenn Ihr vor ihm in Spitzen erscheint.« – »Spitzen also soll ich haben?« – »Gewiss! Und von aller Art! mit brillantenen Ohrgehängen.« – »Brillantene Ohrgehänge?« – »Ja!« – »Wie die Marquise, die manchmal bei uns Handschuhe kauft?« – »Völlig so. In einer schönen Equipage mit Apfelschimmeln, zwei Bediente, ein kleiner Mohr hintendrauf und ein Läufer voraus; Schminke, Schönpflästerchen und die Schleppe vom Diener getragen.« – »Zum Ball?« – »Zum Ball, zur Oper, zur Komödie.« – Schon schlägt ihr das Herz vor Freude. Nun spiel ich mit einem Papier zwischen den Fingern. – »Was ist das?« – »Nichts, gar nichts.« – »Ich dächte doch.« – »Ein Billett.« – »Und für wen?« – »Für Euch, wenn Ihr ein bisschen neugierig seid.« – »Neugierig? ich bin es gar sehr, lasst sehn.« – Sie liest. – »Eine Zusammenkunft? Das geht nicht.« – »Wenn Ihr in die Messe geht.« – »Mama begleitet mich immer. Aber wenn er ein bisschen früh käme. Ich stehe immer zuerst auf und bin von allen zuerst im Comptoir.« – Er kommt, er gefällt, und ehe man sich's versieht, zwischen Licht und Dunkel, verschwindet die Kleine, man bezahlt mir meine zweitausend Taler. »Und ein solch Talent besitzest du ebenso gut, und dir fehlt's an Brot? Schämst du dich nicht, Unglücklicher?« Da erinnerte ich mich eines Haufens Schelme, die mir nicht an den Knorren reichten, strotzend von Vermögen. Ich ging im Surtout von Baracan; sie waren mit Samt bedeckt, sie lehnten sich auf ein Rohr mit goldenem Schnabelknopfe, sie haben Aristoteles und Plato am Finger. Und was waren sie früher? Die elendesten Lumpenhunde; jetzt sind sie eine Art Herren. Auf einmal fühlte ich Mut, die Seele erhoben, den Geist subtil und fähig zu allem. Aber diese glücklichen Dispositionen dauern, scheint es, nicht lange: denn bis jetzt habe ich keinen besondern Weg machen können. Dem sei, wie ihm wolle, dies ist der Text zu meinen öftern Selbstgesprächen. Paraphrasiert sie nach Belieben, nur ziehet mir den Schluss daraus, dass ich die Verachtung meiner selbst kenne, diese Qual des Gewissens, wenn wir die Gaben, die uns der Himmel schenkte, unbenutzt ruhen lassen. Es wäre fast ebenso gut, nicht geboren zu sein.

Ich hörte ihm zu, und als er diese Szene des Verführers und des jungen Mädchens vortrug, fühlte ich mich von zwei entgegengesetzten Bewegungen getrieben: ich wusste nicht, ob ich mich der Lust zu lachen oder dem Trieb zur Verachtung hingeben sollte. Ich litt. Ich war betroffen von so viel Geschick und so viel Niedrigkeit, von so richtigen und wieder falschen Ideen, von einer so völligen Verkehrtheit der Empfindung, einer so vollkommenen Schändlichkeit und einer so seltnen Offenheit. Er bemerkte den Widerstreit, der in mir vorging, und fragte: »Was habt Ihr?«

ICH: Nichts.

ER: Ihr scheint verwirrt.

ICH: Ich bin es auch.

ER: Aber was ratet Ihr mir denn?

ICH: Von etwas anderm zu reden. Unglücklicher! Zu welchem verworfenen Zustand seid Ihr geboren oder verleitet.

ER: Ich gesteh's. Aber lasst Euch meinen Zustand nicht allzu sehr zu Herzen gehn; indem ich mich Euch öffnete, war es meine Absicht nicht, Euch weh zu tun. Ich habe mir bei diesen Leuten etwas gespart. Bedenkt, dass ich gar nichts brauchte, ganz und gar nichts, und dass man mir für kleine Vergnügen noch so viel zulegte ...

Hier findet sich im Manuskript eine Lücke. Die Szene ist verändert, und die Sprechenden sind in eins der Häuser beim Palais Royal gegangen.

Da fing er an, die Stirne sich mit der Faust zu schlagen, die Lippe zu beißen und mit verwirrtem Blick an der Decke herzusehen. Dabei rief er aus: »Nein, die Sache ist richtig; etwas habe ich beiseite gebracht, die Zeit ist vergangen, und das ist so viel gewonnen.«

ICH: Verloren wollt Ihr sagen.

ER: Nein, nein! gewonnen. Jeden Augenblick wird man reicher. Ein Tag weniger zu leben oder ein Taler mehr ist ganz eins. Der Hauptpunkt im Leben ist doch nur, frei, leicht, angenehm, häufig alle Abende auf den Nachtstuhl zu gehn. O stercus pretiosum! Das ist das große Resultat des Lebens in allen Ständen. Im letzten Augenblick hat einer so viel als der andre, Samuel Bernard, der mit Rauben, Plündern, Bankrott machen siebenundzwanzig Millionen in Gold zusammenbringt und zurücklässt, so gut als Rameau, der nichts zurücklässt, Rameau, dem die Wohltätigkeit das Leichentuch schaffen wird, womit man ihn einwickelt. Der Tote hört kein Glockengeläut; umsonst singen sich hundert Pfaffen heiser um seinetwillen; umsonst ziehen lange Reihen von brennenden Kerzen vor ihm und hinterher; seine Seele schreitet nicht neben dem Zeremonienmeister. Unter dem Marmor faulen oder unter der Erde, ist immer faulen. Um seinen Sarg rote und blaue Kinder oder niemand haben, was ist daran gelegen? Und dann sehet diese Faust an, sie war strack wie ein Teufel, diese zehn Finger, zehn Stäbe in eine hölzerne Handwurzel befestigt, diese Sehnen, alte Darmsaiten, trockener, straffer, unbiegsamer als die an einem Drechslersrad gedient haben. Aber ich habe sie so gequält, so geknickt, so gebrochen. Du willst nicht gehen, und ich, bei Gott! ich sage dir, gehen sollst du, und so soll's werden.

Und wie er das sagte, hatte er mit der rechten Hand die Finger und die Handwurzel der Linken gefasst, er riss sie herauf und herunter, die Fingerspitzen berührten den Arm, die Gelenke krachten, und ich fürchtete, er würde sich die Knochen verrenken.

ICH: Nehmt Euch in acht. Ihr tut Euch Schaden.

ER: Fürchtet nichts, das sind sie gewohnt. Seit zehn Jahren habe ich ihnen schon anders aufzuraten gegeben. So wenig sie dran wollten, haben die Schufte sich doch gewöhnen müssen, sie haben lernen müssen, die Tasten zu treffen und auf den Saiten herumzuspringen. Aber jetzt geht's auch, jetzt geht's.

Sogleich nimmt er die Stellung eines Violinspielers an. Er summt mit der Stimme ein Allegro von Locatelli; sein rechter Arm ahmt die Bewegung des Bogens nach, die Finger seiner linken Hand scheinen sich auf dem Hals der Violine hin und her zu bewegen. Bei einem falschen Ton hält er inne, stimmt die Saite und kneipt sie mit dem Nagel, um gewiss zu sein, dass der Ton rein ist. Dann nimmt er das Stück wieder auf, wo er es gelassen hat. Er tritt den Takt, zerarbeitet sich mit dem Kopfe, den Füßen, den Händen, den Armen, dem Körper, wie ihr manchmal im Concert spirituel Ferrari oder Chiabran oder einen andern Virtuosen in solchen Zuckungen gesehen habt, das Bild einer ähnlichen Marter vorstellend und uns ungefähr denselben Schmerz mitteilend. Denn ist es nicht eine schmerzliche Sache, an demjenigen nur die Marter zu schauen, der bemüht ist, uns das Vergnügen auszudrücken? Zieht einen Vorhang zwischen mich und diesen Menschen, damit ich ihn wenigstens nicht sehe, wenn er sich nun einmal wie ein Verbrecher auf der Folterbank gebärden muss.

Aber in der Mitte solcher heftigen Bewegungen und solches Geschreis veränderte mein Mann sein ganzes Wesen bei einer harmonischen Stelle, wo der Bogen sanft auf mehreren Saiten stirbt. Auf seinem Gesicht verbreitete sich ein Zug von Entzücken. Seine Stimme ward sanfter, er behorchte sich mit Wollust. Ich glaubte so gut die Akkorde zu hören als er. Dann schien er sein Instrument mit der Hand, in der er's gehalten hatte, unter den linken Arm zu nehmen, die Rechte mit dem Bogen ließ er sinken und sagte: »Nun, was denkt Ihr davon?«

ICH: Vortrefflich!

ER: Das geht so, dünkt mich. Das klingt ungefähr wie bei den andern.

Alsbald kauerte er, wie ein Tonkünstler, der sich vors Klavier setzt. »Ich bitte um Gnade für Euch und für mich«, sagte ich.

ER: Nein, nein! Weil ich Euch einmal festhalte, sollt Ihr mich auch hören. Ich verlange keinen Beifall, den man gibt, ohne zu wissen, warum. Ihr werdet mich mit mehr Sicherheit loben, und das verschafft mir einen Schüler mehr.

ICH: Ich habe so wenig Bekanntschaft, und Ihr ermüdet Euch ganz umsonst.

ER: Ich ermüde niemals.

Da ich sah, dass mich der Mann vergebens dauerte: denn die Sonate auf der Violine hatte ihn ganz in Wasser gesetzt, so ließ ich ihn eben gewähren. Da sitzt er nun vor dem Klavier mit gebogenen Knien, das Gesicht gegen die Decke gewandt, man hätte geglaubt, da oben sähe er eine Partitur. Nun sang er, präludierte, exekutierte ein Stück von Alberti oder Galuppi, ich weiß nicht von welchem. Seine Stimme ging wie der Wind, und seine Finger flatterten über den Tasten. Bald verließ er die Höhe, um sich im Bass aufzuhalten, bald ging er von der Begleitung wieder zur Höhe zurück. Die Leidenschaften folgten einander auf seinem Gesichte, man unterschied den Zorn, die Zärtlichkeit, das Vergnügen, den Schmerz, man fühlte das Piano und Forte, und gewiss würde ein Geschickterer als ich das Stück an der Bewegung, dem Charakter, an seinen Mienen, aus einigen Zügen des Gesangs erkannt haben, die ihm von Zeit zu Zeit entfuhren. Aber höchst seltsam war es, dass er manchmal tastete, sich schalt, als wenn er gefehlt hätte, sich ärgerte, das Stück nicht geläufig in den Fingern zu haben. Endlich sagte er: »Nun seht Ihr«, und wandte sich um und trocknete den Schweiß, der ihm die Wangen hinunterlief, »Ihr seht, dass wir auch mit Dissonanzen umzuspringen wissen, mit überflüssigen Quinten, dass die Verkettung der Dominanten uns geläufig ist. Diese enharmonischen Passagen, von denen der liebe Onkel so viel Lärm macht, sind eben keine Hexerei. Wir wissen uns auch herauszuziehn.«

ICH: Ihr habt Euch viel Mühe gegeben, mir zu zeigen, dass Ihr sehr geschickt seid. Ich war der Mann, Euch aufs Wort zu glauben.

ER: Sehr geschickt! Das nicht. Was mein Handwerk betrifft, das verstehe ich ungefähr, und das ist mehr als nötig: denn ist man denn in diesem Lande verbunden, das zu wissen, was man lehrt?

ICH: Nicht mehr, als das zu wissen, was man lernt.

ER: Richtig getroffen, vollkommen richtig! Nun, Herr Philosoph, die Hand aufs Gewissen, redlich gesprochen: es war eine Zeit, wo Ihr nicht so gefüttert wart wie jetzt.

ICH: Noch bin ich's nicht sonderlich.

ER: Aber doch würdet Ihr im Sommer nicht mehr ins Luxemburg gehn – Erinnert Ihr Euch? im –

ICH: Lasst das gut sein. Ja! ich erinnre mich.

ER: Im Überrock von grauem Plüsch.

ICH: Ja doch!

ER: Verschabt an der einen Seite, mit zerrissenen Manschetten und schwarzwollenen Strümpfen, hinten mit weißen Faden geflickt.

ICH: Ja doch, ja! Alles, wie's Euch gefällt.

ER: Was machtet Ihr damals in der Allee der Seufzer?

ICH: Eine sehr traurige Gestalt.

ER: Und von da ging's übers Pflaster.

ICH: Ganz recht!

ER: Ihr gabt Stunden in der Mathematik.

ICH: Ohne ein Wort davon zu verstehen. Nicht wahr, dahin wolltet Ihr?

ER: Getroffen!

ICH: Ich lernte, indem ich andre unterrichtete, und ich habe einige gute Schüler gezogen.

ER: Das ist möglich. Aber es geht nicht mit der Musik wie mit der Algebra oder Geometrie. Jetzt, da Ihr ein stattlicher Herr seid –

ICH: Nicht so gar stattlich.

ER: Da Ihr Heu in den Stiefeln habt –

ICH: Sehr wenig.

ER: Nun haltet Ihr Eurer Tochter Lehrmeister.

ICH: Noch nicht: denn ihre Mutter besorgt die Erziehung. Man mag gern Frieden im Hause haben.

ER: Frieden im Hause, beim Henker! Den hat man nur, wenn man Knecht oder Herr ist, und Herr muss man sein. Ich hatte eine Frau, Gott sei ihrer Seele gnädig! aber wenn sie manchmal stöckisch wurde, setzte ich mich auch auf meine Klauen, entfaltete meinen Donner und sagte wie Gott: es werde Licht, und es ward Licht. Auch haben wir in vier Jahren nicht zehnmal im Eifer gegeneinander unsre Stimmen erhoben. Wie alt ist Euer Kind?

ICH: Das tut nichts zur Sache.

ER: Wie alt ist Euer Kind?

ICH: In Teufels Namen, lasst mein Kind und sein Alter! Reden wir von den Lehrmeistern, die sie haben wird.

ER: Bei Gott! So ist doch nichts störriger als ein Philosoph. Wenn man Euch nun ganz gehorsamst bäte, könnte man von dem Herrn Philosophen nicht erfahren, wie alt ungefähr Mademoiselle seine Tochter ist?

ICH: Acht Jahre könnt Ihr annehmen.

ER: Acht Jahre! Schon vier Jahre sollte sie die Finger auf den Tasten haben.

ICH: Aber vielleicht ist mir nicht viel daran gelegen, in den Plan ihrer Erziehung ein solches Studium einzuflechten, das so lange beschäftigt und so wenig nützt.

ER: Und was soll sie denn lernen, wenn's beliebt?

ICH: Vernünftig denken, wenn's möglich ist, eine seltene Sache bei Männern und noch seltner bei Weibern.

ER: Mit Eurer Vernunft! Lasst sie hübsch, unterhaltend, kokett sein.

ICH: Keineswegs! Die Natur war stiefmütterlich genug gegen sie und gab ihr einen zarten Körperbau mit einer fühlenden Seele, und ich sollte sie den Mühseligkeiten des Lebens aussetzen, eben als wenn sie derb gebildet und mit einem ehernen Herzen geboren wäre? Nein, wenn es möglich ist, so lehre ich sie das Leben mit Mut ertragen.

ER: Lasst sie doch weinen, leiden, sich zieren und gereizte Nerven haben wie die andern, wenn sie nur hübsch, unterhaltend und kokett ist. Wie, keinen Tanz?

ICH: Nicht mehr, als nötig ist, um sich schicklich zu neigen, sich anständig zu betragen, sich vorteilhaft darzustellen und ungezwungen zu gehen.

ER: Keinen Gesang?

ICH: Nicht mehr, als nötig ist, um gut auszusprechen.

ER: Keine Musik?

ICH: Gäbe es einen guten Meister der Harmonie, gern würde ich sie ihm zwei Stunden täglich anvertrauen, auf ein oder zwei Jahre, aber nicht länger.

ER: Und nun an die Stelle so wesentlicher Dinge, die Ihr ablehnt –

ICH: Setze ich Grammatik, Fabel, Geschichte, Geographie, ein wenig Zeichnen und viel Moral.

ER: Wie leicht wäre es mir, Euch zu zeigen, wie unnütz alle diese Kenntnisse in einer Welt, wie die unsrige, sind. Was sage ich unnütz, vielleicht gefährlich. – Aber dass ich bei einer einzigen Frage bleibe: muss sie nicht wenigstens ein oder zwei Lehrer haben?

ICH: Ganz gewiss.

ER: Ah, da sind wir wieder. Und diese Lehrer, glaubt Ihr denn, dass sie die Grammatik, die Fabel, die Geschichte, die Geographie, die Moral verstehen werden, worin sie Unterricht geben? Possen, lieber Herr, Possen. Besäßen sie diese Kenntnisse hinlänglich, um sie zu lehren, so lehrten sie sie nicht.

ICH: Und warum?

ER: Sie hätten ihr Leben verwendet, sie zu studieren. Man muss tief in eine Kunst oder eine Wissenschaft gedrungen sein, um die Anfangsgründe wohl zu besitzen. Klassische Werke können nur durch Männer hervorgebracht werden, die unter dem Harnisch grau geworden sind. Erst Mittel und Ende klären die Finsternisse des Anfangs auf. Fragt Euern Freund Herrn d'Alembert, den Chorführer mathematischer Wissenschaften, ob er zu gut sei, die Elemente zu lehren. Nach dreißig oder vierzig Jahren Übung ist mein Onkel die erste Dämmerung musikalischer Theorie gewahr worden.

ICH: O Narr! Erznarr! (rief ich aus,) wie ist es möglich, dass in deinem garstigen Kopf so richtige Gedanken vermischt mit so viel Tollheit sich finden?

ER: Wer Teufel kann das wissen? Wirft sie ein Zufall hinein, so bleiben sie drinne. So viel ist gewiss: wenn man nicht alles weiß, so weiß man nichts recht. Man versteht nicht, wo eine Sache hinwill, wo eine andre herkommt, wohin diese oder jene geordnet sein will, welche vorausgehn oder folgen soll. Unterrichtet man gut ohne Methode? Und die Methode, woher kommt sie? Seht, lieber Philosoph, mir ist, als wenn die Physik immer eine arme Wissenschaft sein würde, ein Tropfen Wasser, mit einer Stecknadelspitze aus dem unendlichen Ozean geschöpft, ein Sandkörnchen, von der Alpenkette losgelöst. Und nun gar die Ursachen der Erscheinungen! Wahrhaftig, es wäre besser, gar nichts zu wissen, als so wenig so schlecht zu wissen. Und da war ich gerade, als ich mich zum Lehrer der musikalischen Begleitung aufwarf. Woran denkt Ihr?

ICH: Ich denke, dass alles, was Ihr da sagt, auffallender als gründlich ist. Es mag gut sein. Ihr unterwiest, sagtet Ihr, in der Begleitung und Tonsetzung?

ER: Ja!

ICH: Und wusstet gar nichts davon?

ER: Nein, bei Gott! Und deswegen waren jene viel schlimmer als ich, die sich einbildeten, sie verstünden was. Wenigstens verdarb ich weder das Urteil noch die Hände der Kinder. Kamen sie nachher von mir zu einem guten Meister, so hatten sie nichts zu verlernen, da sie nichts gelernt hatten, und das war immer so viel Geld und Zeit gewonnen.

ICH: Wie machtet Ihr das aber?

ER: Wie sie's alle machen. Ich kam, ich warf mich auf einen Stuhl. – »Was das Wetter schlecht ist! Wie das Pflaster ermüdet!« – Dann kam es zu einigen Neuigkeiten. – »Mademoiselle Le Mierre sollte eine Vestalin in der neuen Oper machen, sie ist aber zum zweiten Mal guter Hoffnung; man weiß nicht, wer sie dublieren wird. Mademoiselle Arnould hat ihren kleinen Grafen fahren lassen. Man sagt, sie unterhandelt mit Bertin. Unterdessen hat sich der kleine Graf mit dem Porzellan des Herrn von Montamy entschädigt. Im letzten Liebhaberkonzert war eine Italienerin, die wie ein Engel gesungen hat. Das ist ein seltner Körper, der Préville. Man muss ihn in dem ›Galanten Merkur‹ sehen. Die Stelle des Rätsels ist unbezahlbar. Die arme Dumesnil weiß nicht mehr, was sie sagt, noch was sie tut ... Frisch, Mademoiselle, Ihr Notenbuch!« – Und indem Mademoiselle sich gar nicht übereilt, das Buch sucht, das sie verlegt hat, man das Kammermädchen ruft, fahre ich fort: »Die Clairon ist wirklich unbegreiflich. Man spricht von einer sehr abgeschmackten Heirat der Mademoiselle ... wie heißt sie doch? Einer kleinen Kreatur, die er unterhielt, der er zwei, drei Kinder gemacht hat, die schon so mancher unterhalten hatte.« – »Geht, Rameau, das ist nicht möglich.« – »Genug, man sagt, die Sache ist gemacht. Es geht das Gerücht, dass Voltaire tot ist. Desto besser.« – »Warum desto besser?« – »Da gibt er uns gewiss wieder was Neckisches zum besten. Das ist so seine Art, vierzehn Tage, ehe er stirbt ...« Was soll ich weiter sagen? Da sagte ich nun einiges Unanständige aus den Häusern, wo ich gewesen war: denn wir sind alle große Klatscher. Ich spielte den Narren, man hörte mich an, man lachte, man rief: »Er ist doch immer allerliebst.« Unterdessen hatte man das Notenbuch unter einem Sessel gefunden, wo es ein kleiner Hund, eine kleine Katze herumgeschleppt, zerkaut, zerrissen hatte. Nun setzte sich das schöne Kind ans Klavier, nun machte sie erst allein gewaltigen Lärm darauf. Ich nahte mich dann und machte der Mutter heimlich ein Zeichen des Beifalls. – »Nun, das geht so übel nicht«, (sagt die Mutter,) »man brauchte nur zu wollen; aber man will nicht, man verdirbt lieber seine Zeit mit Schwatzen, Tändeln, Auslaufen und mit Gott weiß was. Ihr wendet kaum den Rücken, so ist auch schon das Buch zu, und nur, wenn Ihr wieder da seid, wird es aufgeschlagen. Auch hör ich niemals, dass Ihr einen Verweis gebt.« – Unterdessen, da doch was geschehen musste, so nahm ich ihr die Hände und setzte sie anders. Ich tat böse, ich schrie: »Sol, sol, sol, Mademoiselle, es ist ein Sol.« – Die Mutter: »Mademoiselle, habt Ihr denn gar keine Ohren? Ich steh nicht am Klavier, ich sehe nicht in Euer Buch und fühle selbst, ein Sol muss es sein. Ihr macht dem Herrn eine unendliche Mühe, behaltet nichts, was er Euch sagt, kommt nicht vorwärts.« – Nun fing ich diese Streiche ein wenig auf, zuckte mit dem Kopfe und sagte: »Verzeiht, Madame, verzeiht! Es konnte besser gehen, wenn Mademoiselle wollte, wenn sie ein wenig studierte; aber so ganz übel geht es doch nicht.« – »An Eurer Stelle hielt' ich sie ein ganzes Jahr an einem Stücke fest.« – »Was das betrifft, soll sie mir nicht los, bis sie über alle Schwierigkeiten hinaus ist, und das dauert nicht so lange, als Mademoiselle vielleicht glaubt.« – »Herr Rameau, Ihr schmeichelt ihr; Ihr seid zu gut. Das ist von der Lektion das einzige, was sie behalten und mir gelegentlich wiederholen wird.« – So ging die Stunde vorbei. Meine Schülerin reichte mir die Marke mit anmutiger Armbewegung, mit einer Reverenz, wie sie der Tanzmeister gelehrt hatte. Ich steckte es in meine Tasche, und die Mutter sagte: »Recht schön, Mademoiselle! Wenn Javillier da wäre, würde er applaudieren.« – Ich schwatzte noch einen Augenblick der Schicklichkeit wegen, dann verschwand ich, und das hieß man damals eine Lektion in der Begleitung.

ICH: Und heutzutage ist es denn anders?

ER: Bei Gott! das sollt ich denken. Ich komme, bin ernsthaft, werfe meinen Muff weg, öffne das Klavier, versuche die Tasten, bin immer eilig, und wenn man mich einen Augenblick warten lässt, so schrei ich, als wenn man mir einen Taler stähle. In einer Stunde muss ich da und dort sein, in zwei Stunden bei der Herzogin Soundso, mittags bei einer schönen Marquise, und von da gibt's ein Konzert bei Herrn Baron von Bagge, Rue-Neuve- des-Petits-Champs.

ICH: Und indessen erwartet man Euch nirgends.

ER: Das ist wahr!

ICH: Und wozu alle diese kleinen niederträchtigen Künste?

ER: Niederträchtig? Und warum, wenn's beliebt? In meinem Stand sind sie gewöhnlich, und ich erniedrige mich nicht, wenn ich handle wie jedermann. Ich habe sie nicht erfunden, und ich wäre sehr wunderlich und ungeschickt, mich nicht zu bequemen. Wohl weiß ich, dass Ihr mir da gewisse allgemeine Grundsätze anführen werdet von einer gewissen Moral, die sie alle im Munde haben und niemand ausübt. Da mag sich denn finden, dass schwarz weiß und weiß schwarz ist. Aber, Herr Philosoph, wenn es ein allgemeines Gewissen gibt, wie eine allgemeine Grammatik, so gibt es auch Ausnahmen in jeder Sprache. Ihr nennt sie, denk ich, ihr Gelehrten – und nun, so helft mir doch! –

ICH: Idiotismen.

ER: Ganz recht! Und jeder Stand hat Ausnahmen von dem allgemeinen Gewissen, die ich gar zu gern Handwerksidiotismen nennen möchte.

ICH: Richtig! Fontenelle spricht gut, schreibt gut, und sein Stil wimmelt von französischen Idiotismen.

ER: Und der Fürst, der Minister, der Financier, die Magistratsperson, der Soldat, der Gelehrte, der Advokat, der Prokurator, der Kaufmann, der Bankier, der Handwerker, der Singmeister, der Tanzmeister sind sehr rechtschaffene Leute, wenn sich gleich ihr Betragen auf mehreren Punkten von dem allgemeinen Gewis-sen entfernt und voll moralischer Idiotismen befunden wird. Je älter die Einrichtun-gen der Dinge, je mehr gibt's Idiotismen. Je unglücklicher die Zeiten sind, um so viel vermehren sich die Idiotismen. Was der Mensch wert ist, ist sein Handwerk wert, und wechselseitig am Ende was das Handwerk taugt, taugt der Mensch. Und so sucht man denn das Handwerk so viel als möglich geltend zu machen.

ICH: Soviel ich merken kann, soll all das Redegeflecht nur sagen, selten wird ein Handwerk rechtlich betrieben, oder wenig rechtliche Leute sind bei ihrem Handwerk.