Raubritter und Wikinger - Alfred Bekker - E-Book
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Raubritter und Wikinger E-Book

Alfred Bekker

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Fünfmal historisches Abenteuer von Alfred Bekker. Fünfmal Krimi-Spannung im Mittelalter.   Der Umfang dieses Buchs entspricht 558 Taschenbuchseiten.   Dieses Buch enthält folgende fünf Romane: Überfall auf das Drachenschiff Verschwörung gegen Baron Wildenstein Der Hund des Unheils Wolfram und die Raubritter Gefangen in der belagerten Stadt   Die Wolken hatten sich zu dunkelgrauen Gebirgen aufgetürmt. Ein eisiger Wind peitschte das Meer auf. Die DRACHENWIND segelte hart am Wind und pflügte durch die immer höher werdenden Wellen. Die Ruder waren längst eingezogen worden, damit sie nicht brachen. Immer wieder spritzte Gischt über die Reling in das Drachenschiff. Vorne im Bug, der Spitze des Schiffes - direkt unter dem hölzernen Drachenkopf, kauerte ein zwölfjähriger Junge. Ebenso wie alle anderen an Bord war er vollkommen durchnässt. Das lange, blonde Haar klebte ihm im Gesicht. So gut es ging, hielt er sich fest. Die Planken des Schiffes waren durch das viele Wasser rutschig geworden und es war kaum noch möglich, sich auf den Beinen zu halten. Umso mehr bewunderte er Arne Arnesson, den Steuermann. Mit eisernem Willen hielt der den Ruderbalken des Steuers, das hinten rechts am Schiff angebracht war. Die meisten anderen Männer kauerten ebenso wie Gunnar am Boden, denn jeder von ihnen wusste: Wer über Bord ging, für den gab es keine Rettung mehr.

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Alfred Bekker

Raubritter und Wikinger

Fünfmal historisches Abenteuer: Cassiopeiapress Junior

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Raubritter und Wikinger: Fünfmal historisches Abenteuer

von Alfred Bekker

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 558 Taschenbuchseiten.

 

Dieses Buch enthält folgende fünf Romane:

Überfall auf das Drachenschiff

Verschwörung gegen Baron Wildenstein

Der Hund des Unheils

Wolfram und die Raubritter

Gefangen in der belagerten Stadt

 

Copyright

www.cassiopeia.press

 

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author, Cover Firuz Askin

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

[email protected]

 

 

Überfall auf das Drachenschiff

Helge Helgeson, der alte Jarl von Haithabu ist tot! Die ganze Siedlung an der Schlei ist damit beschäftigt, ihrem verstorbenen Anführer ein würdiges Geleit ins Reich der Toten zu verschaffen. Allen voran Wulfhir Erikson, der Helge Helgesons Nachfolger im Amt des Jarl werden soll. Erikson ist als Schiffsbauer verantwortlich für den Bau des Totenschiffs, in dem Helge nach Sitte vornehmer Wikinger bestattet werden soll. Doch in der Nacht vor der geplanten Beerdigung verschwindet das Schiff! Und mit ihm der Schatz, der den Toten auf seiner Reise begleiten sollte. Wer wagt solchen Frevel?

 

 

Kapitel 1: In Seenot

Die Wolken hatten sich zu dunkelgrauen Gebirgen aufgetürmt. Ein eisiger Wind peitschte das Meer auf.

Die DRACHENWIND segelte hart am Wind und pflügte durch die immer höher werdenden Wellen. Die Ruder waren längst eingezogen worden, damit sie nicht brachen. Immer wieder spritzte Gischt über die Reling in das Drachenschiff.

Vorne im Bug, der Spitze des Schiffes - direkt unter dem hölzernen Drachenkopf, kauerte ein zwölfjähriger Junge.

Ebenso wie alle anderen an Bord war er vollkommen durchnässt. Das lange, blonde Haar klebte ihm im Gesicht. So gut es ging, hielt er sich fest. Die Planken des Schiffes waren durch das viele Wasser rutschig geworden und es war kaum noch möglich, sich auf den Beinen zu halten.

Umso mehr bewunderte er Arne Arnesson, den Steuermann. Mit eisernem Willen hielt der den Ruderbalken des Steuers, das hinten rechts am Schiff angebracht war.

Die meisten anderen Männer kauerten ebenso wie Gunnar am Boden, denn jeder von ihnen wusste: Wer über Bord ging, für den gab es keine Rettung mehr.

Thufir, der Kapitän, befahl einem zweiten Mann, sich zum Heck zu begeben, um dem Steuermann zu helfen, denn es war abzusehen, wann der es allein nicht mehr schaffen würde, das Drachenschiff auf Kurs zu halten.

Thufir selbst stand breitbeinig in der Nähe des Mastes und blickte hinauf. Die kleine Fahne an der Mastspitze, die eigentlich die Windrichtung anzeigte, war vom immer heftiger werdenden Wind längst zerschlissen. Nur noch ein Fetzen war übrig.

Glücklicherweise hatte Thufir gleich, als der Sturm heraufzog, den Befehl gegeben, das Segel zu reffen. Die Fläche, gegen die der Wind dann drücken konnte, wurde dadurch kleiner und so konnte das Schiff nicht so leicht kentern, wenn eine heftige Böe kam.

Zu allem Überfluss setzte jetzt auch noch Regen ein. Es blitzte und donnerte. Ein Geräusch, das die sonst so furchtlosen Wikinger zusammenzucken ließ.

„Die Götter mögen wissen, ob wir je nach Haithabu gelangen!“, brummte ein älterer Mann mit grauen, verfilzten Haaren und einem struppigen Bart neben Gunnar.

„Der Donnergott Thor schwingt seinen Hammer und wir sind genau unter ihm, Junge!“ Gerade noch in Sichtweite war ein zweites Drachenschiff, die GÖTTERWIND, durch die Regenwand auszumachen.

Beide Schiffe waren vor ein paar Tagen aus einem Ort aufgebrochen, der Holmgard hieß, aber auch unter dem Namen Nowgorod bekannt war. Gunnars Vater Lars war dort ein angesehener Mann, der durch den Pelzhandel reich geworden war. „Rus“ nannte man die Wikinger, die in dem fernen Land im Osten siedelten. Dieser Name bedeutete „Ruderer“. Das Land, in dem sie herrschten und Handel trieben, wurde deswegen auch häufig Russland genannt. Von Holmgard aus waren die Wikinger über die großen Flüsse im Landesinneren bis zum schwarzen Meer und darüber hinaus gelangt. Die Pelze aus Holmgard gelangten bis nach Konstantinopel und Bagdad.

Aber auch nach Westen wurden sie verschifft. In Haithabu, dem größten Wikingerhafen überhaupt, gelangten sie auf den Markt. Händler aus aller Herren Länder kamen hier her, um sie zu kaufen.

Die DRACHENWIND und die GÖTTERWIND waren beide bis unters Deck mit wertvollen Pelzen beladen, die in den dichten Wäldern nördlich von Holmgard erjagt wurden. Aber ob diese Pelze jemals den Markt von Haithabu erreichen würden, war sehr fraglich. Die beiden Segler wären nicht die ersten Drachenschiffe gewesen, die mitsamt ihrer Fracht auf dem Grund der Ostsee ihre letzte Ruhe fanden.

Für Gunnar war es seine erste längere Schiffsreise. Dass die Fahrt von Holmgard nach Haithabu nicht ungefährlich war, hatte Gunnar natürlich gewusst. Dabei gab es abgesehen von Wind und Wetter auch noch andere Gefahren. So kreuzten immer wieder Piraten die bekannten Seewege. Wikingerkapitäne, die es lohnender fanden, anderen die Waren wegzunehmen, anstatt selbst Handel zu treiben.

Eine riesige Welle schwappte von vorn in das Schiff. Bis auf die Haut drang das eiskalte Salzwasser. Im ersten Moment konnte Gunnar nicht einmal atmen. Er spürte, wie sich das Schiff unter ihm hob und musste mit ansehen, wie einer der Männer den Halt verlor und auf dem Rücken über die Planken rutschte. Als sich die GÖTTERWIND vorn wieder senkte, landete er neben Gunnar im Bug des Schiffes. Erst jetzt erkannte Gunnar, dass es Hrolf Haakanson, der Lademeister, war. Er arbeitete wie die gesamte Mannschaft für Wulfhir Erikson aus Haithabu – den Mann, dem die DRACHENWIND gehörte und in dessen Auftrag sie nach Holmgard gefahren war.

Der kräftige, bärtige Mann schüttelte sich wie ein nasser Hund und sah Gunnar dann mit stechendem Blick an. „Bei Thors abgewetztem Hammer! Du hättest du dir auch nicht träumen lassen, dass deine erste Fahrt über das Meer so wild wird, was?“

Er musste brüllen, damit Gunnar ihn verstand.

Gunnars Vater hatte Hrolf Haakanson gebeten, während der Überfahrt auf seinen Sohn aufzupassen und dafür zu sorgen, dass er sicher bei Wulfhir Erikson ankam. Wulfhir war einer der reichsten Männer in Haithabu und gehörte zu den besten Schiffsbauern weit und breit. Bei ihm sollte Gunnar in die Lehre gehen, um die Kunst des Schiffsbaus zu lernen.

„Was haben wir Thor nur getan, dass er uns so straft!“, stöhnte der Alte neben Gunnar. Er sah den Jungen an. „Ich bin schon bis Grönland gesegelt – aber so einen Sturm habe ich noch nicht erlebt!“

Gunnar zitterte vor Kälte.

Das Geräusch von berstendem Holz ließ ihn zusammenzucken. Es übertönte jetzt alles andere. Der Mast brach und eine Welle spülte soviel Wasser ins Innere des Schiffes, das mit starker Schlagseite in den Wellen dahindümpelte.

Der Bug mit dem Drachenkopf tauchte anschließend in die nächste Welle hinein, die Gunnar vollkommen überspülte. Er konnte sich nicht mehr halten, wurde fortgerissen und spürte nur noch, wie er jeglichen Halt verlor. Für mehrere Augenblicke konnte er weder etwas sehen noch hören. Das Wasser trug ihn erst empor und drückte ihn dann nieder. Er tauchte in die eiskalte Tiefe. Als er wieder an die Oberfläche kam, rang er nach Atem. Er versuchte zu schwimmen und sah sich nach der DRACHENWIND um. Rufe drangen an sein Ohr. Als eine Welle ihn hoch empor trug, konnte er das Drachenschiff sehen. Er erkannte gerade noch die Steuerbordseite, die noch ein Stück aus dem Wasser ragte. Das Steuer stach in die Luft. Vom Segel trieb ein Fetzen an der Oberfläche. Kisten und Fässer, die zur Ladung gehörten, trieben ebenfalls noch in der Umgebung. Wenige Augenblicke später war von der DRACHENWIND nichts mehr zu sehen.

Gunnar wurde in ein Wellental gerissen. Er tauchte unter, ruderte mit den Armen, um wieder an die Oberfläche zu gelangen.

Immer wieder sorgten große Wellen dafür, dass er untergetaucht wurde. Wenn er dann wieder auftauchte, schnappte er nach Luft.

Er sah sich um, suchte nach Resten des Schiffes, seiner Ladung und seiner Besatzung.

Die Götterwind – das Schiff, das zur selben Zeit wie die die Drachenwind aus Holmgard abgefahren war – war für einen kurzen Moment zu sehen, ehe es erneut hinter den Wellenbergen versank. Gunnar schrie, so laut er konnte. Aber es war mehr als unwahrscheinlich, dass man ihn auf der GÖTTERWIND überhaupt hörte.

Hatte das zweite Drachenschiff nicht zu wenden versucht? Oder war das eine Täuschung und der Steuermann hatte lediglich die Kontrolle über das Schiff verloren und die Spitze in höchster Not in den Wind gelenkt?

Gunnar hatte in Holmgard an den Ufern eines nahen Flusses das Schwimmen gelernt, was sich jetzt bezahlt machte. Wie oft hatte er darüber geflucht. Schließlich träumte er davon, über und nicht durch das Wasser zu reisen. Aber sein Vater hatte nicht locker gelassen. „Nur wenige Seeleute können schwimmen – aber du solltest einer von ihnen sein, mein Sohn!“, hatte er die Worte seines Vaters noch in den Ohren. „Schließlich kann auch das beste Schiff kentern, denn eins darfst du nie vergessen: Der Wind und das Meer gehorchen den Göttern und sind stärker als alles, was wir mit unserer Hände Arbeit jemals zustande bringen werden!“

Daran musste Gunnar denken während er im kalten Wasser der Ostsee um sein Leben strampelte.

Wie lange werde ich mich über Wasser halten können?, fragte er sich. Irgendwann werden meine Arme erlahmen und ich kann wohl kaum hoffen, vorher die ferne Küste erreicht zu haben!

Die Zeit schien sich zu dehnen. Jeder Augenblick fühlte sich wie eine kleine Ewigkeit an. Seine Arme schmerzten bereits.

Nur ruhig bleiben!, versuchte er sich selbst einzureden. So wenig Bewegungen wie möglich machen und doch über Wasser bleiben – so hatte sein Vater ihm gesagt, sollte man sich verhalten, wenn man über Bord gegangen oder das eigene Schiff gekentert war.

Mit einer kleineren Barkasse war Gunnar auf dem großen See bei Holmgard zusammen mit ein paar anderen Jungen seines Alters gesegelt und so war ihm alles, was damit zusammenhing, in Fleisch und Blut übergegangen. Aber gekentert waren sie nie, auch wenn sie manchmal dicht davor gewesen waren.

Wie automatisch bewegte er die Arme und Beine und versuchte dabei so viel Kraft wie möglich zu sparen. Das war alles, was ihm im Moment übrig blieb. Immer wieder trugen ihn die Wellen hoch empor, nur um ihn Augenblicke später in ein tiefes Wellental stürzen zu lassen.

Über den Kamm eines dieser Wellenberge schwappte ein Fass. Gunnar sah sofort, dass es sich um eines der Süßwasserfässer handeln, die sich an Deck der DRACHENWIND befunden hatten. Da sich Salzwasser nicht trinken ließ, musste auf jeder Seereise Süßwasser in Fässern mitgenommen werden. Wenn eine Fahrt länger als nur ein paar Tage dauerte, nahm man dazu allerdings ausschließlich Met, wie die Wikinger ihr Bier nannten. Der Alkohol verhinderte, dass der Getränkevorrat verdarb und sich Algen bildeten. Allerdings hatte Wulfhir Erikson immer darauf bestanden, dass auf Schiffen, die ihm gehörten, bei Überfahrten von nur wenigen Tagen ausschließlich Wasser an Bord mitgenommen wurde, da er ansonsten befürchtete, dass die Mannschaft sich betrank.

Das auf dem Wasser schwimmende Fass musste bereits geleert worden sein, sonst wäre es untergegangen. Gunnar nahm seine letzten Kräfte zusammen. Wenn er dieses Fass erreichen konnte, war das vielleicht seine Rettung. Zumindest vorerst. Er konnte sich daran festhalten und anschließend darauf hoffte, dass er vielleicht irgendwann an Land getrieben wurde, wo er sich dann weiter durchschlagen musste.

Er nahm also alle seine Kräfte zusammen und schwamm auf das Fass zu. Zwischenzeitlich verschwand es hinter einem der Wellenberge und er glaubte schon, es nicht mehr erreichen zu können. Doch dann trug ihn eine Welle hoch empor und brachte ihn seinem Ziel ein ganzes Stück näher.

Er bemerkte einen, der sich dicht bei dem Fass in die Höhe streckte.

Offenbar hatte sich schon jemand an dieses Fass geklammert.

Eine Stimme drang durch das Tosen des Meeres zu ihm herüber.

Sie rief seinen Namen.

„Gunnar! Hier her!“

Hrolf Haakanson! Gunnar glaubte seine Stimme zu erkennen. Der Ruf des Lademeisters spornte ihn dazu an, auch noch die allerletzten Kraftreserven zu mobilisieren. Seine Arme spürte er schon gar nicht mehr. Er zitterte vor Kälte. Die Zähne klapperten.

Endlich erreichte er das Fass.

„Festhalten!“, brüllte Hrolf Haakanson. Er löste seinen Gürtel, schlang das Ende um Gunnars rechtes Handgelenk und zog eine Schlaufe.

„Sonst gehst du mir noch verloren!“ Hrolf versuchte zu lächeln, obwohl auch seine Lippen blau gefroren waren. „Ich habe deinem Vater schließlich das Versprechen gegeben, dich wohlbehalten bei Wulfhir Erikson abzuliefern, damit du deine Lehre beginnen kannst!“

Weiter kam er nicht, denn eine Welle überspülte sie beide. Als Gunnar wieder emportauchte, sah er plötzlich den Mast und das Segel der GÖTTERWIND mit den zwei gekreuzten Hämmern auftauchen.

Hämmer!

Thor sei Dank! Sie waren gerettet!

Das Drachenschiff kaum auf sie zu. Der Steuermann wendete in den Wind und verlangsamte so die Fahrt. Ein Seil wurde geworfen.

Hrolf Haakanson fing es auf. Er schlang es Gunnar um den Brustkorb.

Gunnar hörte die Rufe der Männer an Bord, die damit beschäftigt waren, die beiden Schiffbrüchigen näher zu sich heranzuziehen. Eine kleine Ewigkeit verging, ehe er und Hrolf an Bord gehievt wurden.

 

 

Eine ganze Weile lagen sie neben einem festgezurrten Stapel mit Fellen und anderer Ware. Gunnar schloss die Augen und rang nach Atem. Hrolf erging es nicht anders.

„Sieht so aus, als könnte ich das Versprechen gegenüber deinem Vater doch noch einlösen!“, meinte er.

Gunnar war nicht in der Lage, eine Antwort zu geben. Er nickte nur. Das Unwetter tobte noch immer und Gunnar fühlte, wie sich das Schiff unter ihm durch die Wellen hob und anschließend wieder die Tiefe sank. Eine Welle brach über ihm zusammen und er krallte sich an der Reling fest. Hrolf Hakanson erging es nicht besser. Er schüttelte sich. Ein Mann, dessen rechtes Auge von einer Filzklappe bedeckt wurde, warf Gunnar und Hrolf kleine Wasserkübel aus Holz zu. „Schöpft um euer Leben!“, rief er und fing selbst ebenfalls an, Wasser aus dem Schiff herauszuschöpfen. „Ihr könnt von Glück sagen, dass wir euch gefunden haben!“, wandte er sich schließlich noch einmal an Hrolf und Gunnar, als die GÖTTERWIND erneut gewendet hatte. Jetzt bekam sie die Wellen von vorn und nicht mehr seitlich, wodurch weniger Wasser ins Innere spritzte. „Von der DRACHENWIND hat sonst wohl niemand überlebt! Ihr seid die Einzigen!“

Hrolf deutete zum Segel. „Das liegt vielleicht an dem Zeichen in dem ihr segelt“

Der Einäugige strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht und grinste.

„Ganz bestimmt sogar!“, lachte er. Er sah Gunnar an und zwinkerte ihm aufmunternd zu. „He, sei froh, dass du lebst! Und eins verspreche ich dir: Dieses Schiff wird nicht kentern!“

Gunnar hatte inzwischen seine Sprache wiedergefunden.

„Wie kannst du da so sicher sein?“, fragte er.

Der Einäugige lachte rau. „Weil Thor niemanden rettet, um ihn dann doch noch ins Verderben zu stürzen!“

„Dann sind wir eure Glücksbringer!“, rief Gunnar.

„Genau!“, nickte der Einäugige.

Nachdem er zum Heck des Schiffes zurückgekehrt war, wo er offenbar seinen Platz hatte, wandte sich Gunnar an Hrolf. „Was hat es mit dem Zeichen auf dem Segel zu tun, dass die GÖTTERWIND nicht untergegangen ist?“

Hrolf schüttelte sich das Salzwasser aus den Haaren und lächelte. „Weil es unter dem Zeichen Thors segelt – und offenbar hat das den Donnergott besänftigt. Hör nur, es hat keinen weiteren Donner und auch keinerlei Blitze mehr gegeben!“

„Das stimmt! Aber warum die gekreuzten Hämmer? Thor besitzt dich nur einen Hammer!“

„Das stimmt.“

„In Holmgard habe ich immer wieder Schiffe mit diesem Zeichen anlegen sehen!“

„Dieses Schiff gehört Bjarni Bjarnison und das ist sein Symbol.“

„Wer ist Bjarni?“

„Ein reicher Wikinger aus Haithabu.“

„Ist er so reich und berühmt wie Wulfhir Erikson?“, fragte Gunnar.

„Fast. Jedenfalls besitzt er eine Reihe von Schiffen. Und er hat sich Thor als seinen Schutzgott auserwählt. Sowohl für sich persönlich als auch für seine gesamte Familie und alle Männer, die für ihn zur See fahren.“ Hrolf beugte sich zu Gunnar herüber und flüsterte ihm ins Ohr: „Aber er hat Angsthasen an Bord. Sieh dir den Kerl mit der Narbe im Gesicht an – uns schräg gegenüber!“

Gunnar zuckte mit den Schultern. „Woran siehst du, dass er ein Angsthase ist?“

„Weil er sich doppelt abgesichert hat. Ihm reichten die beiden Hämmer auf dem Segel noch nicht…“

Jetzt fiel auch Gunnar das Amulett auf, dass der Mann an einer Kette um den Hals trug.

Es war aus Elfenbein und vermutlich aus einem Stück Walrosszahn gefertigt worden. Die Gravur zeigte den Donnergott Thor, der seinen Hammer schwang. Im nächsten Moment spritzte allen, die sich im vorderen Teil des Schiffes befanden, die Gischt ins Gesicht. Der Mann mit dem Amulett hatte genauso viel Wasser abbekommen wie Gunnar und Hrolf.

„Sieh dir den begossenen Hund an!“

„Mach dich nur lustig, du Narr!“, rief der Mann mit dem Amulett, der offenbar Hrolf Haakansons Worte gut verstanden hatte. „Thor wird dich eines Tages deine Undankbarkeit büßen lassen!“

 

 

Die Stunden vergingen. Der Sturm ließ nur langsam nach und die Wellen schaukelten die GÖTTERWIND weiterhin ordentlich durch. Das wurde erst besser, als das Schiff die Einfahrt der Schlei erreichte. Auf dem weit ins Landesinnere reichenden Meeresarm gab es sehr viel mehr Schutz vor dem Wind.

Das Schiff bekam seitlichen Wind und so musste weder gekreuzt noch gerudert werden, bis man die Einfahrt zur Bucht von Haithabu erreichte. Das letzte Stück hatte man sogar den Wind im Rücken.

Gunnar sah die ersten Häuser und Hafenanlagen auftauchen. Stege ragten weit ins Wasser. An ihnen waren zahlreiche Schiffe fest vertäut. Eine große Menschenmenge bildete sich am Ufer. Die Rückkehr des Schiffes war schließlich lange erwartet worden. Das Segel wurde eingeholt.

Gunnar bekam von einem der Männer an Bord der GÖTTERWIND Tau in die Hand gedrückt. Er sprang auf den Steg und schlang es um einen Holzpflock.

Hrolf Haakanson stieg nun auch auf den Steg und nach wenigen Augenblicken herrschte dort ein richtiges Gedränge. Schließlich wollte die Besatzung so schnell wie möglich an Land.

Jemand stieß Gunnar grob zur Seite.

Es war der Mann mit dem Amulett. Er schien es sehr eilig zu haben, drängelte sich über den Steg und verschwand schließlich in der Menge am Ufer.

„Blöder Kerl!“, murmelte er vor sich hin.

Gunnars Blick suchte ihn noch einen Moment zwischen den Leuten, aber er Mann mit dem Amulett war nicht mehr zu sehen.

 

 

Kapitel 2: In Haithabu

Die Freude über die Rückkehr der GÖTTERWIND war sehr verhalten, denn eigentlich hatte man mit zwei Schiffen gerechnet. Gunnar hörte überall, wie die Seefahrer begrüßt wurden. Die Familien dieser Männer waren erleichtert. Aber als sich herumsprach, dass die DRACHENWIND gesunken war und nur ein Mann und ein Junge wie durch ein Wunder überlebt hatten, machte sich Entsetzen breit. Die meisten Männer der DRACHENWIND ließen Frauen und Kinder zurück, die jetzt auf sich allein gestellt waren.

Gunnar hatte durchaus Mitleid mit ihnen. Aber im Moment war einfach nur froh, selbst davongekommen zu sein.

Hrolf Haakanson legte eine Hand auf seine Schulter.

„Wir haben ganz schön Glück gehabt, was?“

„Ja“, murmelte Gunnar.

„Ehrlich, ich kann es kaum fassen, wieder festen Grund unter den Füßen zu haben.“ Er machte eine ausholende Handbewegung. „Sieh es dir an, Gunnar! Das ist Haithabu – der größte Wikingerhafen an der Ostsee. Als wir uns da draußen auf See an das Fass klammerten, habe ich ehrlich gesagt nicht mehr daran geglaubt, dass alles hier noch einmal wieder zu sehen.“

Gunnar ließ den Blick über die zahlreichen Schiffe schweifen und war beeindruckt. Der Ort selbst bestand aus Holzhäusern, die von einer halbkreisförmigen Wand aus angespitzten Holzstämmen geschützt wurde.

„Hier leben doch mindestens tausend Menschen!“, staunte Gunnar.

„Mehr!“, sagte Hrolf. „Kein Vergleich mit den paar Häusern von Holmgard, was?“

„Jedenfalls habe ich noch nie so viele Menschen auf einem Haufen gesehen!“

In diesem Moment näherte sich ihnen ein Mann, den ihm sein Vater oft beschrieben hatte. Er war groß und breitschultrig. Das blonde Haar reichte ihm bis zu den Schultern und der Bart ließ nur wenig vom Gesicht frei. Er trug ein Gewand aus einem dicht gewebten, dunkelbraunen Stoff, das von einem breiten Gürtel mit kunstvoll verzierter Messingschnalle zusammengehalten wurde. Dazu eng anliegende Hosen und Stiefel. Sein Umhang wurde von einer silbernen Spange zusammengehalten. Die linke Hand umfasste den Griff des breiten Schwertes, das ihm an der Seite hing.

Das musste Wulfhir Erikson sein.

Er trat auf Hrolf zu ohne Gunnar zu beachten.

„Hrolf! Wo ist mein Schiff?“, platzte es aus ihm heraus. „Stimmt es, was die alle sagen?“

Er fasste Hrolf bei den Schultern.

Hrolf nickte. „Die DRACHENWIND liegt auf dem Grund des Meeres“, antwortete der Lademeister schluckend. „Thor hat uns gezürnt und nur die GÖTTERWIND den schrecklichen Sturm überstehen lassen!“

Wulfhir ballte die Hände zu Fäusten.

„Die ganze wertvolle Ladung versenkt…?“, murmelte er ungläubig, als könne er nicht fassen, was der Sturm ihm angetan hatte.

„So ist es.“

Wulfhir fuhr sich mit der Hand über die Augen, bevor er fortfuhr: „Und die Männer? Sag! Was ist mit der Besatzung?“

Hrolfs Schweigen als Antwort sagte alles. Da erst fiel Wulfhirs Blick auf Gunnar. „Wer bist du?“

„Gunnar Larsson – Gunnar, der Sohn von Lars dem Listigen aus Holmgard“, antwortete Hrolf für ihn. „Wir sind die einzigen Überlebenden der DRACHENWIND.“

Wulfhir wiederholte langsam Gunnars Namen. „Gunnar, ja. Ich erinnere mich.“

„Du hattest Lars dem Listigen versprochen, seinen Sohn in die Ausbildung als Schiffsbauer zu nehmen“, mahnte Hrolf Haakanson.

Wulfhir musterte Gunnar von oben bis unten. „Thor muss es gut mit dir meinen, wenn er dich dieses Schiffsunglück überleben ließ!“, sagte er schließlich leise.

„Das hoffe ich.“

„Vielleicht bringst du meinem Haus auch Glück. Das werden wir nämlich dringend brauchen, nachdem eines meiner Schiffe mit so wichtiger Ladung untergegangen ist! Die Pelze aus Holmgard werden anderswo in Gold aufgewogen, so kostbar sind sie!“ Er drehte sich halb herum und deutete auf seine Familie. Gunnar sah eine Frau mit goldblondem Haar, das zu einem dicken Zopf geflochten war. Ihr Kleid war einfach geschnitten, aber aus edlem Stoff. Es reichte bis zu den Knöcheln. Die Arme blieben frei und die Spange, die den Umhang hielt, war offenbar von demselben Schmied angefertigt worden, der auch Wulfhirs Spange gemacht hatte. „Da ist Astrid Olafstochter, meine Frau“, stellte er sie vor. „Sie ist zwar nicht deine Mutter, aber sie wird wie eine Mutter für dich sorgen, solange du in unserem Haushalt lebst.“

Gunnar verneigte sich leicht. „Ich werde sehen, dass ich dir wenig Umstände mache“, sagte er.

Astrid lächelte freundlich. „Das höre ich gerne!“

Wulfhir deutete auf den Jungen und das Mädchen, die bei Astrid standen.

„Das sind meine Kinder Sven und Solveig. Ich hoffe, ihr versteht euch gut. Schließlich werdet ihr unter einem Dach wohnen.“

Gunnar sah die beiden erwartungsvoll an und merkte mit Erleichterung, dass Solveig lächelte. Ihre blauen Augen strahlten und Gunnar hatte den Eindruck, dass sie ihn tatsächlich willkommen hieß.

Sven murmelte nur etwas vor sich hin, was Gunnar nicht verstand. Aber es war ganz bestimmt nicht freundlich gemeint.

Solveig lenkte Gunnar ab.

„Du wirst sicher froh sein, dich heute Nacht am Feuer wärmen zu können.“

„Es war sehr kalt da draußen.“

„Eine warme Fleischsuppe wird dich von innen wieder aufwärmen.“

„Danke.“

„Nichts zu danken, du gehörst schließlich ab jetzt zu uns. Mein Vater hast deinem Vater ein Versprechen gegeben, dich aufzunehmen und auszubilden.“

Gunnar lächelte verhalten. „Unsere Väter sollen früher zusammen auf große Fahrt gegangen sein und in England und Irland Klöster geplündert haben. Kennst du diese Geschichten auch?“

„In- und auswendig“, schmunzelte sie.

Sven war inzwischen schon an Land gegangen, während Solveig und Gunnar noch immer auf dem Bootssteg standen.

„Hat dein Bruder schlechte Laune?“, fragte Gunnar vorsichtig. „Könnte ich verstehen. Schließlich habt ihr die Männer wahrscheinlich alle gut gekannt, die ertrunken sind.“

„Ja, aber damit hat Svens Laune wohl nichts zu tun.

„Ach, nein?“

„Die hat er öfter.“

„Einfach so?“

Solveig zuckte mit den Schultern. „So ist er eben.“

„Irgendwie scheint es ihm nicht zu gefallen, dass ich hier bin!“

„Er wird sich schon daran gewöhnen“, meinte Solveig. „Außerdem bist du ja auch nicht der Einzige, der bei meinem Vater in die Lehre geht.“

„So?“

„Zurzeit ist noch ein anderer Junge bei uns. Er heißt Ake Ingvarson und ist, glaube ich, etwas älter als du.“

„Ich bin zwölf.“

„Mein Bruder Sven auch, ich bin ein Jahr jünger. Aber Ake ist schon vierzehn und bereits zwei Jahre lang bei uns. Du wirst ihn kennen lernen. Ein netter Kerl.“

Sie verließen den Steg und gingen an Land.

Das Haus von Wulfhir Erikson stach schon von weitem deutlich unter den Häuser Haithabus hervor, denn es war mit Abstand das größte Haus am Ort. Innerhalb des Schutzwalls von Haithabu war der Platz begrenzt. Daher waren die meisten Häuser deutlich kleiner, als es bei den Wikingerhöfen im freien Land der Fall war.

Sofern es überhaupt Fenster gab, waren sie nur klein oder dienten zum Abzug des Rauchs der Feuerstelle. Im Winter wurde es schließlich empfindlich kalt und die schweren Stürme im Herbst und im Frühling ließen jeden Gedanken daran, dass irgendwelche Öffnungen in den Wänden ihren Reiz haben könnten, sofort vergessen. Glas war zwar bekannt, wurde aber noch ausschließlich zur Herstellung von in der Sonne funkelnden Perlen benutzt, die man mit den Stämmen an der Ostseeküste gegen Bernstein oder Felle tauschen konnte.

Das Haus von Wulfhir Erikson und seiner Familie lag direkt am Wasser und besaß eigene Bootsstege und Anlegestellen. Ein außerordentlich bevorzugter Platz, wie Gunnar sofort erkannte. Schiffe und Boote aller nur erdenklichen Größen lagen dort vertäut. Manche hatte man auch an Land gezogen. Gunnar blieb stehen. Er sah breite, bauchige Knorren zum Transport von Lasten und die schlankeren Kriegsschiffe, die wendiger und schneller waren. Bei gleicher Windstärke kamen sie gut und gerne auf die doppelte Geschwindigkeit.

„Was ist?“, fragte Solveig.

„In Holmgard gab es vor allem die kleinen Schniggen“, sagte er. „Aber das ist kein Wunder, auf Flüssen und Seen haben kleine Schiffe ihren Vorteil. Schon eine Skaid war bei uns ungewöhnlich!“

„Dann hast du einen langen ‚Drachen’ wie den da vorne wohl noch nie gesehen!“, meinte Solveig und streckte die Hand aus. Die Kriegsschiffe unterschieden sich vor allem nach Länge und Größe. Auf einer Schnigge hatten bis zu vierzig Mann Platz, auf einer Skaid schon bis zu sechzig und alles was mehr als sechzig Krieger an Bord hatte, wurde ‚Drachen’ genannt. Gunnar hatte gehört, dass manche der großen Langdrachen, die über den rauen Ozean im Westen fuhren, bis zu hundert Mann an Bord hatten.

„Bei euch in Russland werden doch die Schiffe auf Rundhölzern über Land gezogen, wenn man in einen anderen Fluss überwechseln will“, sagte Solveig.

„Stimmt.“

„Das stelle ich mir mit einer Schnigge schon sehr viel leichter vor, als mit einem Langdrachen.“

Gunnar lächelte. „Sogar die großen, breiten Knorr werden auf diese Weise transportiert, Solveig. Ich glaube, du unterschätzt die Muskelkraft der Männer von Holmgard.“

„Vielleicht.“

Gunnar deutete auf ein breites Schiff, das noch an Land lag und kurz vor der Fertigstellung zu stehen schien. Es hatte die Länge einer Skaid, war aber deutlich breiter – für eine Knorr jedoch immer noch zu schmal. Außerdem gab es ein paar Besonderheiten.

Zum Beispiel fehlten an den Seiten die Löcher, durch die bei Windstille die Ruder gesteckt wurden.

Ansonsten war allerdings erkennbar, dass sehr viel wert auf Ausstattung und Verzierung gelegt wurde. Am Bug befand sich ein prächtiger Wolfskopf, der in grellen, besonders leuchtenden Farben angemalt war und an der gesamten Reling hatte man kunstvolle Schnitzereien angebracht.

Ein Dutzend Männer waren damit beschäftigt, daran zu arbeiten. Darunter auch ein Junge mit rötlichen Haaren und einem hellgrauen Wollwams, das in Brusthöhe mit einem rotbraunen Flicken ausgebessert worden war. Er winkte Solveig zu.

„Das ist Ake. Er hat schon viel gelernt – ganz im Gegensatz zu meinem Bruder Sven, der einfach zwei linke Hände hat. Ob aus dem mal ein richtiger Schiffsbauer wird, mag Njörd wissen.“

Gunnar deutete auf das Schiff.

„Ein Schiff ohne Ruderriemen?“, fragte er. „Ich sehe jedenfalls keine Löcher dafür!“

„Das ist ein ganz besonderer Auftrag für meinen Vater. Helge Helgesons Totenschiff!“

Gunnar sah sie fragend an.

„Helge Helgeson war der alte Jarl von Haithabu. Er ist vor kurzem an Fieber gestorben. Jetzt hat mein Vater seinen Platz eingenommen.“ In ihrer Stimme schwang Stolz.

„Wenn in Holmgard ein Jarl stirbt, wird sein Totenschiff auf den Ilmensee hinausgetrieben und verbrannt“, sagte Gunnar.

„Wir machen das hier anders“, erwiderte das Mädchen. „Jarl Helges Totenschiff wird bis zur Mündung der Schlei gefahren und dort an Land gehievt. An einer Stelle, von der aus man einen freien Blick auf das offene Meer hat, wird er dann mitsamt seinem Schiff begraben. Mein Vater und seine Männer arbeiten Tag und Nacht an dem Schiff, denn der alte Jarl liegt noch immer in seinem Haus aufgebahrt.“

Astrid war inzwischen längst ins Haus gegangen. Jetzt rief sie ungeduldig nach Solveig.

„Ich muss mithelfen, das Essen zuzubereiten“, sagte sie.

Gunnar folgte ihr durch die halb offen stehende Tür. Beißender Qualm kam ihm entgegen.

Im Inneren der Halle herrschte Halbdunkel. Das Prasseln des Herdfeuers war zu hören. Die Luft war schlecht, weil der Rauch nicht richtig abgeleitet wurde.

In der Mitte des Raumes befand sich die Herdgrube. Eine Magd schürte das Feuer und Astrid schimpfte mit ihr, weil sie das offenbar nicht richtig gemacht hatte.

Die Herdgrube war von Steinen umgeben und das Feuer sorgte immerhin für etwas Licht.

In einem Eisenkessel wurde Fleisch gekocht. Es roch gut. Astrid schickte die Magd aus, um alle zum Essen zu rufen.

Einen Bodenbelag gab es in dem Haus nicht. In der Mitte war die Erde festgetreten, während sich am den Seiten künstlich aufgeworfene Haufen befanden, die als Sitzbänke dienten. Gunnar bemerkte einige zur Seite geräumte Strohsäcke, die wohl als Nachtlager benutzt wurden. Die Halle war der Schlafplatz für Wulfhirs Kinder, seine Angestellten und freien Gefolgsleute, seine Knechte und Mägde sowie die leibeigenen Sklaven, die er besaß.

In einer Ecke des großen Raumes befand sich je eine durch schwere Vorhänge abgetrennte und mit Holz ausgekleidete Nische. In diesem Alkoven schliefen bei wohlhabenden Wikingern der Hausherr und seine Frau.

„Vielleicht willst du dich noch etwas am Feuer wärmen!“, schlug Solveig vor, während sie die Becher für das Met hervorholte.

„Nein, danke. Meine Sachen sind längst wieder trocken.“

„Sieh zu, dass du dir nicht den hustenden Tod holst. An dem sind schon viele hier in Haithabu gestorben.“

Gunnar wedelte mit der Hand den Rauch etwas zur Seite. „Das liegt dann aber wohl eher an dem beißenden Qualm in euren Häusern als daran, wenn jemand mal etwas nass geworden ist!“

Solveig wollte noch etwas erwidern, aber ihre Mutter kam ihr zuvor.

„Jetzt red’ nicht so viel!“, mischte sich Astrid Olafstochter ein. „Hilf mir lieber und rufe alle zusammen, damit wir endlich essen können! Vielen knurrt schon der Magen.“ Astrids Blick wanderte kurz zu Gunnar. „Und ganz gewiss trifft das auf unseren neuen Lehrjungen zu – nachdem, was er da draußen auf See mitmachen musste!“

Solveig seufzte. Ohne, dass Astrid Olafstochter das sehen konnte, verdrehte sie die Augen.

„Ja, ja, ich gehe ja schon“, sagte sie.

Es dauerte nicht lange, bis Solveig alle zusammengerufen hatte. Schließlich hatten alle großen Hunger.

Wulfhir traf als Letzter ein. Er berichtete, dass er aufgehalten worden war, um noch einen Streit zu schlichten, was zu seinen Aufgaben als Jarl gehörte.

„Worum ging es denn?“, fragte ihn Astrid Olafstochter.

„Wieder mal um das Gewichtsgeld! Es ist immer dasselbe! Da hat man gerade ein Schiff mit Mann und Maus verloren und soll dann auch noch unparteiisch und freundlich zu jedermann sein!“

Gewichtsgeld kannte Gunnar auch aus Holmgard. Da die Wikinger selbst keine Münzen prägten, wogen sie Silbergeld einfach ab, um den Wert zu bestimmen. Ob es sich dabei um Münzen des deutschen Kaisers oder des Kalifen von Bagdad handelte, war ihnen gleichgültig. Falls das Gewicht nicht passte, zerbrachen sie die Münzen einfach.

Beim Abwiegen gab es jedoch immer wieder Streit auf dem Markt. „Da gebe ich mir nun alle Mühe, die auswärtigen Händler in Haithabu zu schützen und sie danken es einem, indem sie zu betrügen versuchen!“, polterte er. Aber Gunnar war klar, dass der eigentliche Grund seines Ärgers der Verlust der DRACHENWIND war.

Von Solveig erfuhr Gunnar, dass solche Streitigkeiten fast täglich vorkamen. Wulfhir hatte inzwischen schon eine gewisse Routine darin. „Langsam gewöhnt er sich an die Pflichten eines Jarl“, sagte sie. „Er vertritt damit ja gewissermaßen den König der Dänen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Wer weiß, vielleicht wird er sogar selbst mal König, schließlich werden Könige ja oft aus den Reihen der Jarle erhoben.“

Gunnar grinste.

„Ich glaube, jetzt träumst du aber!“

„Muss das nicht auch erlaubt sein, Gunnar? Du träumst doch auch sicher von irgendetwas!“

Gunnar nickte. „In Holmgard kommen hin und wieder Reisende vorbei, die die Länder des Kalifen besucht haben. Du hast gesagt, hier in Haithabu sollen mindestens tausend Menschen leben.“

„Zu den Markttagen sind es gewiss viel mehr – ich zähle nur die ständigen Einwohner!“

„Aber in Bagdad, der Hauptstadt des Kalifen sollen angeblich tausend mal tausend Menschen ständig leben! Kannst du dir das vorstellen? Die Reihen der Häuser müssen bis zum Horizont reichen, so groß ist diese Stadt. Unvorstellbar, was?“

„Vielleicht bist du einfach nur zu leichtgläubig, Gunnar und die Männer, die das am Lagerfeuer erzählten, wollten sich einfach nur wichtig machen!“

Gunnar zuckte mit den Schultern. „Kann sein – aber davon würde ich mich gerne selbst irgendwann mal überzeugen!“

Bevor die Mahlzeit begann, gedachte Wulfhir mit ein paar Worten der Toten von der Drachenwind und wünschte ihnen, dass sie in Thors Walhall eingezogen waren. Dann deutete er auf Gunnar und stellte ihn kurz vor. „Das ist Gunnar Larsson, der Sohn von Lars dem Listigen aus Holmgard, mit dem zusammen ich vor vielen Jahren auf Raubzügen nach England und Irland unterwegs war. Der Meeresgott Njörd war uns damals gnädig – und er war nun auch Gunnar Larsson wohlgesonnen.“ Wulfhir schien den Verlust des Schiffes noch nicht verwunden zu haben, denn er kam noch einmal darauf zurück. „Etwa dreißig Mann sind mit der DRACHWENWIND untergegangen und Gunnar ist am Leben. Das ist ein Zeichen. Eine breite Knorr zum Lastentransport war sie, keines dieser schmalen Kriegsschiffe. Ich hatte sie so stabil gebaut, dass ich dachte, es gäbe keinen Sturm, der sie versenken könnte. Aber das war wohl ein Irrtum. Die Götter sind stärker. Gegen Thors Macht kann man nichts ausrichten.“

Wulfhir hob sein Trinkhorn mit frischem Met.

Die Mahlzeit begann. Das Fleisch wurde auf Holzplatten verteilt, von denen man mit den Fingern aß. Es gab an diesem Tag Schweinefleisch und dazu ein Brot. Es bestand allerdings nicht aus Getreide, sondern aus getrockneten Erbsen und Kiefernborke.

Wulfhir beschwerte sich darüber.

„Tut mir leid, das Gerstenmehl ist uns leider ausgegangen“, erwiderte seine Frau Astrid.

„Ich bin der reichste Mann von ganz Haithabu und es ist nicht genug Gerstenmehl da, um Brot zu backen?“, polterte der neue Jarl unwirsch.

„So ist es“, bestätigte Astrid.

Wulfhir spuckte einen der zahllosen Kieselsteine aus, die in das Brot hineingeraten waren. „Kein Wunder, dass unsere Leute so schlechte Zähne haben, wenn sie das hier essen müssen!“

„Das kommt bei Brot aus Gerstenmehl genauso vor“, verteidigte sich Astrid. „Es ist nun mal nicht möglich, immer zu verhindern, dass ein paar Brocken von den Handmühlsteinen ins Mehl geraten – gleichgültig, woraus es besteht. Und unsere neue Magd ist noch nicht so geübt darin.“

„Die Knappheit an Getreide wird erst aufhören, wenn die nächste Ernte kommt“, mischte sich einer der anderen Männer ein. „Du weißt, die letzte Ernte war schlecht. Wir haben Freya und Freyr nicht genug geopfert!“

Zustimmendes Gemurmel erklang.

Freya und ihr Bruder Freyr waren die Götter der Fruchtbarkeit, der Ernte und des Wachstums. Sie waren die Kinder des Meeresgottes Njörd, der durch den Untergang der DRACHWENWIND ja schon gezeigt hatte, dass er im Moment zu schwach war, um sich gegen Thor zu wehren.

„Hätten wir mehr geopfert, wären wir jetzt nicht gezwungen, steiniges Erbsenbrot zu essen und unser Herr Wulfhir hätte sein Schiff mit all den kostbaren Pelzen nicht verloren“, meldete sich ein Mann mit schneeweißen Haaren und einem langen Bart zu Wort. Er hatte leuchtend blaue Augen, über denen sich buschige Brauen befanden, die in der Mitte schon zusammenwuchsen. Der Weißhaarige fuhr fort: „Es sollte also niemand unsere Hausherrin Astrid für unser Ungemach verantwortlich machen! Sie hat lediglich versucht, das Beste daraus zu machen!“

Die meisten Anwesenden stimmten der Ansicht des Weißhaarigen zu, sodass Wulfhir schließlich sagte: „Dann werden wir eben demnächst mehr opfern, um die Gunst der Götter zurück zu gewinnen!“

Trinkhörner voll Met wurden gehoben und gegeneinander gestoßen.

Gunnar beugte sich zu Solveig herüber und flüsterte: „Wer ist der weißhaarige Mann, der es gewagt hat, Wulfhir zu widersprechen?“

„Das ist Trygvar Snörrisson“, gab Solveig Auskunft. „Er ist ein Skalde und arbeitet außerdem als Wanderlehrer.“

„Dann verstehe ich seinen Widerspruchsgeist!“, lächelte Gunnar. Trygvar blickte jetzt direkt in Gunnars Richtung und musterte ihn. Skalden, wie die Wikinger ihre Dichter und Sänger nannten, war es gestattet, jederzeit ihre Meinung frei zu äußern. Dabei spielte es keine Rolle, ob das in Anwesenheit eines Jarl oder eines Königs geschah. Allerdings bequemten sich die meisten Skalden, auf ihre hohen Herren Loblieder zu verfassen, weil sie dann eher hoffen konnten, gut entlohnt zu werden.

Davon abgesehen zogen viele von ihnen auch gleichzeitig als Wanderlehrer durch das Land. Sie gingen von Ort zu Ort, von Gehöft zu Gehöft, um für eine Weile die Kinder zu unterrichten.

„Gut, dass ich mit diesem Unterricht nichts zu tun habe!“, meinte Gunnar. „Runen in Holzstücke zu ritzen ist nämlich nicht so mein Fall.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Viel zu langweilig.“

„Warte es ab“, erwiderte Solveig lächelnd.

Gunnar sah sie verwirrt an. „Wieso?“

„Weil du die Runenschrift auch lesen lernen wirst!“

„Ich soll Schiffsbauer werden – nicht Schamane oder Skalde!“

Da die Runen auch als magische Zeichen galten, mit denen man die Götter beeinflussen konnte, verwendeten Schamanen sie für ihre Beschwörungen und Zauberrituale. Skalden brauchten sie, um zum Beispiel ein paar lobende Worte über einen gefallenen Krieger in einen Runenstein zu ritzen, damit man sich auf ewig an ihn und seine Taten erinnerte.

Aber ein Schiffsbauer?

Der brauchte nur geschickt mit dem Hammer und der Axt umgehen können!, so hatte Gunnar gedacht.

Aber Solveig machte ihm schnell klar, dass ihr Vater Wulfhir da offenbar eine ganz andere Ansicht vertrat.

„Mein Vater meint, dass jeder Schiffsbauer in der Lage sein sollte, mit den Runen zu schreiben!“

„Wenn man zu dumm ist, sich die Konstruktionsgeheimnisse einer Skaid zu merken – dann ja!“, witzelte Gunnar. „Ansonsten kann ich mir das kaum vorstellen.“

„Aber auch ein Schiffsbauer will sein Schiff irgendwann verkaufen und dann ist es gut, wenn der Preis und die Art der Bezahlung in ein Stück Holz geritzt werden!“

„Wenn ich ein Schiff verkaufen würde, könnte ich mir das alles ganz genau merken!“

„Ja, aber dein Kunde vielleicht nicht! Kann doch sein, dass er die Summe Gewichtsgeld nicht auf einmal aufbringen kann und dir verspricht, den Rest erst später zu bezahlen. Später will er dann davon nichts mehr wissen!“

„Und wenn man alles mit Runen aufgeschrieben hat, kann man beweisen, was abgemacht war!“, erkannte Gunnar. Er schüttelte den Kopf. „Ist mir trotzdem zuviel Aufwand.“

„Du hast gar keine Wahl“, stellte das Mädchen klar.

Während bald niemand mehr Hunger hatte, brachte Astrid Olafstochter die Unterhaltung der Männer auf den toten Jarl Helge Helgeson und die letzte Reise, die er mit seinem Totenschiff antreten sollte. Dass Astrid dieses Thema unbedingt heute Abend noch ansprechen wollte, hatte seinen Grund: Der Untergang der Drachenwind und ihrer Ladung war für Wulfhirs Familie eine Katastrophe. Jetzt musste wenigstens mit dem Totenschiff alles glatt gehen, sonst weigerte sich Helges Familie am Ende, Wulfhir zu bezahlen.

„Das Schiff ist fertig“, verkündete Wulfhir. „Naja, so gut wie“, schränkte er dann ein. „Aber alles, was noch zu tun ist, kann man auch machen, wenn es schon im Wasser liegt.“

Für den nächsten Tag hatte Wulfhir so viele Männer angeheuert, wie er bekommen konnte. Dann sollte das Schiff nämlich auf Baumstämmen zum Wasser gerollt werden.

„Ich nehme an, dass es danach erstmal an deinem Bootssteg bleibt, Wulfhir!“, vermutete Ake.

Aber Wulfhir schüttelte den Kopf. „Ich habe heute Morgen mit Thorben Helgeson gesprochen. Die Familie des toten Jarl möchte, dass wir das Schiff aus der Bucht herausschleppen und zur Anlegestelle an der Halbinsel bringen.“

„Warum dieser Umstand?“, fragte Hrolf Haakanson.

„Dort ist das Schiff leichter zu beladen“, gab Wulfhir zu bedenken.

„Aber auch leichter zu bestehlen!“, erwiderte Hrolf. „Schließlich wird man dem toten Jarl einiges an Reichtümern mit auf den Weg nach Walhall geben. Das wird Diebe nur so anlocken.“

„Helges Familie hat genug Männer unter Waffen, um den Steg und das Schiff gut bewachen zu lassen!“, war Wulfhir überzeugt. „Ich denke, in dieser Hinsicht brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, zumal jeder, der sich am Totenschatz vergreift, doch den Zorn der Götter heraufbeschwört. Und wer will das schon?“

Die Erwachsenen redeten noch lange, nachdem die Mahlzeit längst beendet war. Immer wieder wurde Met nachgefüllt. Gunnar bemerkte, dass Sven das Haus verließ und folgte ihm. Was immer der Sohn des Schiffbauers auch gegen Gunnar haben mochte - er wollte es so schnell wie möglich ausräumen.

Gunnar fand Sven am flach zulaufenden Ufer. Er saß dort und blickte hinaus auf die Bucht, an der Haithabu lag. Ganz in der Nähe floss ein Bach, der sich mitten durch den Ort zog und sich in die Bucht ergoss. Durch die leichte Strömung, die er verursachte, hatten es vor allem die großen Wikinger-Schiffe leichter, aus der Bucht herauszukommen und erst die Schlei und schließlich das Meer zu erreichen.

„Sven?“, fragte Gunnar und setzte sich neben ihn. Er gab keine Antwort. „Wir haben uns noch gar nicht richtig begrüßt. Da ich voraussichtlich ein paar Jahre in eurem Haus leben werde, möchte ich gerne mit allen gut befreundet sein.“

Sven sah ihn an.

„So?“

„Auch mit dir.“

Sven atmete tief durch. „In Ordnung. Du kannst ja eigentlich auch nichts dafür.“

„Wofür?“, hakte Gunnar nach.

„Dass mich Schiffe nicht so interessieren wie meinen Vater – oder wie dich, wie ich annehme.“ Er hob seine Hände. „Ich bin einfach nicht so geschickt mit den Händen! Und das wird mein Vater mir wahrscheinlich jetzt dauernd vorhalten. Bei Ake ist das was anderes, der ist älter. Aber wir sind ungefähr gleichaltrig, da gibt es keine Ausrede.“

„Ich dachte immer, man kann alles lernen.“

„Nein, das kann man nicht!“, widersprach Sven. „Unser Lehrer Trygvar sagt, dass das Schicksal bestimmt, wozu man Talent hat und was man lernen kann. Ein Skalde wird mit der Fähigkeit geboren, Geschichten und Lieder zu erfinden und Schiffsbauer mit dem Talent, Schiffe zu entwerfen, die nicht untergehen. Sicher muss jedem der beiden vieles erst gezeigt werden, aber die Fähigkeit ist in ihm! Gegeben durch die Götter!“

„Und dieser Trygvar hat gesagt, dass es dein Schicksal wäre, Skalde zu werden?“

„Ja. Mein Vater hätte ihn deswegen beinahe davongejagt – aber Astrid hat ihn besänftigt und ihm gesagt, dass er das Schicksal nicht ändern könnte, wenn er das tut!“

Gunnar fiel auf, das Sven Wulfhirs Frau ‚Astrid’ nannte – und nicht ‚Mutter’. Wahrscheinlich hatte Wulfhir Sven von einer Zweitfrau oder einer Magd bekommen und ihn später als Sohn anerkannt. Schließlich wollte er sicher einen Erben für sein Schiffsbaugeschäft haben und Solveig kam dafür nicht in Frage, weil sie ein Mädchen war. Wie groß musste daher die Enttäuschung für Wulfhir gewesen sein, dass Sven wahrscheinlich niemals sein Nachfolger sein würde.

Aber nach diesen Dingen wollte Gunnar Sven jetzt nicht fragen.

„Wie gesagt, ich möchte gut mit dir auskommen, Sven.“

Kapitel 3: Das Totenschiff

Es waren Stimmen, die Gunnar am nächsten Morgen weckten. Er hatte auf einem Strohsack geschlafen und jetzt stieß ihn jemand an.

„Komm schon, sieh zu, dass du noch etwas zu Essen bekommst – und dann müssen wir auch schon los!“

Gunnar blickte auf und gähnte. Blinzelnd sah er in das Gesicht von Ake Ingvarson, dem Jungen mit den rötlichen Haaren, der bereits zwei Jahre bei Wulfhir den Schiffsbau erlernte.

Als Frühstück dienten die Reste der Abendmahlzeit.

„Wo ist Solveig?“, fragte Gunnar.

„Astrid Olafstochter hat sie irgendetwas besorgen geschickt.“

„Und Sven?“

„Der ist schon dort, wo wir auch gleich hingehen – beim Totenschiff nämlich. Das muss heute zu Wasser gelassen werden und da müssen alle mit anfassen.“

Wenig später liefen Ake und Gunnar ins Freie. Sie gingen zum Ufer, wo das Totenschiff zu Wasser gelassen werde sollte. Ein Großteil der Männer von Haithabu war dabei, denn der Stapellauf dieses Schiffes war ein Ereignis. Sven war auch schon dort. Selbst der Markt, auf dem vor allem Felle, Tuche, Sklaven, Walrosszähne und Waffen angeboten wurden, geriet zur Nebensache. Mitten im Gedränge entdeckte Gunnar auch den Mann mit dem Thor-Amulett aus Walrosszahn, der mit ihm gemeinsam die GÖTTERWIND verlassen hatte. Er stand mit ein paar anderen Männern zusammen. „Der alte Jarl wird wie ein König in Walhall einziehen!“, meinte einer der Männer.

Walhall war der Name der Kriegerhalle, in die die tapfersten Kämpfer nach ihrem Tod durch Frauen mit vollen Trinkhörnern empfangen wurden, die man Walküren nannte.

Diese Kriegerhalle gehörte dem einäugigen Odin, dem höchsten Gott der Wikinger.

Ein anderer lachte dröhnend: „Glaubst du, Odin wäre eifersüchtig auf ihn?“

„Nein“, meinte ein dritter. „Er kann froh sein, wenn an Ragnarök ein Kämpfer wie Helge auf seiner Seite steht!“

Ragnarök – so nannten die Wikinger die letzte Schlacht der Welt, in der die Götter zusammen mit den toten Helden von Walhall gegen Riesen kämpften.

„Ich habe gehört, dass Helge sich kurz vor seinem Tod für das Jenseits doppelt abgesichert hat“, hörte Gunnar nun den Mann mit dem Thor-Amulett sagen. Er hatte eine unangenehme, schneidend klingende Stimme.

„Doppelt abgesichert? Was soll das heißen?“, fragte einer aus der Gruppe.

Der Mann mit dem Amulett sprach in gedämpftem Tonfall. „Na, ich habe gehört, dass er sich heimlich bei diesem Pater Rimbert taufen ließ, um auch den Christengott auf seiner Seite zu haben.“

„Das sieht ihm ähnlich!“, dröhnte ein breitschultriger Mann mit einer Narbe auf der Stirn. „Jarl Helge konnte nie genug bekommen! Seine gut gefüllte Schatzkammer hat ihm nicht gereicht – und Odins Verheißung für das Jenseits offenbar auch nicht!“

Die anderen lachten so laut, dass sich schon einige andere Männer nach ihnen umdrehten.

„Ein Jammer, dass ein ganzes Schiff und noch viele andere schöne Dinge für einen Toten verschwendet werden!“, meinte der Mann mit dem Amulett.

Die anderen sahen ihn erstaunt an. Das war selbst für die rauen Krieger arg respektlos gegenüber Helge.

„Ich meine ja nur!“, sagte der Mann mit dem Amulett schließlich. „Wenn er dem Christengott vertraut, könnte er sich doch auch nach ihrer Art beerdigen lassen und die Schätze in seinem Schiff uns überlassen!“

Der Rest, den er sagte, ging im Gelächter unter.

Gunnar beobachtete ihn. Ein seltsamer Kerl!, dachte der Junge.

Jemand stieß ihm in die Seite.

„Los hilf mit!“, sprach Ake ihn an, der so kräftig er konnte mit anschob, damit sich das Schiff endlich ein Stück bewegte. Gunnar ließ sich nicht zweimal bitten und fasste ebenfalls mit zu.

Das Totenschiff sollte den Namen FAHRT NACH WALHALL bekommen.

Nur für ruhmreiche Krieger bestand die Aussicht, von Odin in das paradiesische Walhall aufgenommen zu werden. Für alle anderen Toten blieb nach dem Glauben der Wikinger nur das finstere Reich der Totengöttin Hel übrig, weswegen sich alle Wikinger sehr um Tapferkeit im Kampf bemühten. Die besten Aussichten nach Walhall zu kommen, hatten diejenigen, die mit dem Schwert oder der Axt in der Hand auf dem Schlachtfeld starben.

Bei dem alten Jarl Helge Helgeson war das nicht der Fall. Schließlich war er im Bett an einer Krankheit gestorben. Aber im Verlauf seines langen Lebens hatte er so viele Kämpfe bestanden und tollkühne Plünderfahrten unternommen, dass niemand daran zweifelte, dass der einäugige Odin den alten Jarl bei sich aufnehmen würde und er das Met der Walküren genießen konnte.

Auf Rundhölzern wurde die FAHRT NACH WALHALL zum Wasser gebracht. Aber dort war die Plackerei noch keineswegs zu Ende, denn das große, schwere Schiff hatte für das seichte Ufer zuviel Tiefgang. Es dauerte mehrere Stunden, ehe es von den Männern in tieferes Wasser gezogen worden war, das den Wikingern gerade bis zum Bauchnabel stand. Mit einem Ruderboot wurde es dann zum Anlegeplatz von Helge Helgesons Familie auf der anderen Seite der Bucht gezogen und dort festgemacht.

Wulfhir stand bis zu den Hüften im Uferwasser und sah dem Totenschiff nach, das er zusammen mit seinen Handwerkern geschaffen hatte.

Er ging an Land, wo auch Gunnar und die anderen warteten. Der Schiffsbauer strich sich nachdenklich über den Bart und wandte sich an Gunnar.

„Du hast kräftig mitgeholfen, Gunnar! Das gefällt mir!“, sagte er und schlug ihm auf die Schulter.

Sven stand in der Nähe. Gunnar begriff sofort, dass es Wulfhirs Sohn nicht gefiel, dass der neue Lehrling gleich am ersten Tag gelobt wurde. Svens Gesicht brachte das deutlich zum Ausdruck.

Gunnar beschloss, sich aus den Schwierigkeiten, die Sven und Wulfhir miteinander hatten, möglichst herauszuhalten.

„Wir werden keine Zeit verlieren!“, rief Wulfhir den anderen zu. „Mit dem Bau des nächsten Schiffes werden wir gleich heute beginnen. Schließlich brauchen wir Ersatz für die DRACHENWIND.“

Das Holz dafür lag schon bereit und für den Rest des Tages hörte man das Schlagen der Äxte. Während die Schiffsbauer anderswo Sägen verwendeten, wurde dieses Werkzeug von den Wikingern nicht benutzt, obwohl fahrende Händler aus Deutschland oder Frankreich schon versucht hatten, sie auf dem Markt von Haithabu anzubieten.

„Lass dir niemals einreden, eine Säge für den Schiffsbau zu benutzen!“, sagte Wulfhir an Gunnar gerichtet, während er mit wuchtigen Schlägen einen Stamm mit der Axt bearbeitete. „Du weißt ja, was für Nussschalen die Leute aus dem Süden zu Stande bringen! Gerade mal für die Küstenschifffahrt geeignet – aber nichts, womit man große Meere und schwere Wetter überwinden kann.“

„Was hat das mit dem Werkzeug zu tun?“, fragte Gunnar etwas erstaunt.

„Holz, das nur mit der Axt beschlagen wurde, behält seine Biegsamkeit. Mit der Säge bearbeitetes Holz verliert sie. Glaub mir, ich habe so ein Ding mal ausprobiert, weil ich dachte, dass die Arbeit mit einer Säge vielleicht schneller von der Hand geht. Aber das Holz ist dann nicht mehr dasselbe.“

Während der Arbeit an dem neuen Schiff konnte Gunnar beobachten, was an der Anlegestellte des Totenschiffs geschah. Ganze Wagenladungen wurden dorthin gefahren und der Inhalt im Schiff verstaut. Waffen, Felle, Pelze, Kisten, über deren Inhalt man nur spekulieren konnte. Gunnar vermutete, dass es sich um Schätze aus Gold und Silber handelte, die Jarl Helge im Zuge früherer Raubfahrten erbeutet hatte.

Zumindest ein Teil davon würde ihn nun auf seiner letzten Reise ins himmlische Walhall begleiten. Schließlich sollte er dort nicht als armer Mann ankommen. Jeder der Helden, die die Ehre hatten, dort mit Odin selbst am Tisch zu sitzen, sollten gleich wissen, dass sie es mit einem Mann zu tun hatten, der in seinem Leben viel Erfolg gehabt hatte.

Am Abend musste das Schiff noch einmal abgeschleppt und durch die enge Ausfahrt der Bucht gebracht werden, an der Haithabu lag. Es herrschte ein kräftiger Westwind und der drückte das Wasser aus der Schlei in die Ostsee. Das erzeugte nicht nur eine Strömung Richtung Meer, sondern sorgte auch dafür, dass der Wasserstand sank. Und der war gerade am Ausgang der Bucht von Haithabu ohnehin schon sehr niedrig und daher wollte niemand riskieren, dass am nächsten Tag die Toten-Zeremonie für Jarl Helge unterbrochen werden musste, weil das voll beladene Totenschiff auf Grund lag.

Ein paar Stunden später lag das Totenschiff etwa tausend Schritte nördlich von Haithabu entfernt in tiefem Wasser vor Anker. Es gab dort eine Anlegestelle, die immer dann genutzt wurde, wenn ein großes Schiff wegen niedrigem Wasserstand nicht bis zum eigentlichen Hafen kam.

Erst am nächsten Morgen sollten der Tote selbst und seine Lieblingspferde auf das Schiff gebracht werden, um anschließend von einer festlich geschmückten Skaid Richtung Mündung geschleppt zu werden.

Bis dahin galt es zu verhindern, dass sich jemand an dem Schiff zu schaffen machte. Auch Wulfhir stellte ein paar Männer ab, um die Familie des Toten zu unterstützen.

Es war schon dunkel, als Solveig den Auftrag bekam, den Wachen noch etwas zu essen zu bringen, das von dem abendlichen Mahl in Wulfhirs Haus übrig geblieben war.

Solveig machte sich mit einem Bündel, in das Astrid Fleischstücke und Brote eingewickelt hatte, auf den Weg.

Draußen traf sie Gunnar, der anbot, sie zu begleiten.

Es gab drei Tore in dem hohen Wall, der Haithabu umgab. Eines im Norden, eines im Westen und das dritte im Süden.

Gunnar und Solveig verließen den Ort durch das Nordtor. Der Mond stand groß und rund am Himmel, sodass man den Weg auch trotz Einbruch der Dunkelheit gut finden konnte.

Schon bald sahen sie das Lagerfeuer der Wächter, an dem sie sich orientieren konnten.

Das Totenschiff lag friedlich vor Anker. Jeweils drei Wächter waren zur gleichen Zeit eingeteilt.

Sie saßen am Ufer um ein Feuer und beschwerten sich darüber, dass sie angewiesen worden waren, kein Met zu trinken, damit sie auch tatsächlich wach blieben.

Aber das Bündel, das Solveig ihnen mitgebracht hatte, verbesserte ihre Laune sogleich.

„Bestellt Wulfhir Erikson unseren Dank!“, rief einer von ihnen. Den Speer hatte er neben sich in den Boden gerammt. Das Schwert trug er am Gürtel und die Streitaxt lag griffbereit neben ihm. Die Männer schienen für alles gerüstet zu sein.

Schließlich machten sich Gunnar und Solveig auf den Weg zurück. Plötzlich stoppte Gunnar und lauschte.

Zunächst hörte man nur Hufschlag, dann sah man eine schattenhafte Gestalt auf einem Pferd heranpreschen.

Gunnar schob Solveig kurzerhand zur Seite in den Schatten eines knorrigen Baumes, in den vor Jahren einmal der Blitz gefahren war. Solveig stolperte überrascht und gemeinsam fielen beide in das hohe, weiche und ziemlich feuchte Gras. Der Reiter ließ sein Pferd in vollem Galopp voranpreschen. Dann zügelte er das Tier. Er hatte offenbar bemerkt, dass irgendetwas – oder irgendjemand - vor ihm ausgewichen war.

Der Mann drehte sich im Sattel herum. Sein Gesicht war im fahlen Mondlicht deutlich zu erkennen. Gunnar stockte der Atem. Was hatte der Kerl hier mitten in der Nacht zu suchen?

„Das was knapp!“, sagte Solveig, nachdem der Reiter verschwunden war. „Er hätte uns beinahe über den Haufen geritten!“

„Kein Wunder, so dunkel wie es hier ist. Kennst du den Kerl?“

„Ich habe ihn nicht einmal richtig sehen können, Gunnar. Und außerdem kommen so viele Fremde in die Gegend. Wie sollte ich die alle kennen?“

Sie rappelten sich auf und strichen sich das Gras von der Kleidung.

„Lass uns weiter gehen“, schlug Gunnar vor.

„Sag mal, warum durfte ich denn nichts sagen? Dieser unvorsichtige Kerl hätte ruhig etwas besser aufpassen können und mein Vater hätte ihm als Jarl schon ein paar passende Worte gesagt!“

„Dieser Mann hat den alten Jarl nicht sehr gemocht – und ist außerdem der Meinung, dass dein Vater nicht gerade der ideale Nachfolger ist.“

„Wie bitte? Woher willst du das denn wissen?“

„Erzähl ich dir später. Aber findest du es nicht seltsam, dass so jemand sich um diese Zeit auf den Weg zum Totenschiff von Jarl Helge macht?“

Solveig schüttelte den Kopf. „Nein, wahrscheinlich wurde er geschickt, um einen Wächter abzulösen.“

„Wenn du meinst…“, sagte Gunnar.

„Und jetzt erzähl mir, woher du das alles über den Kerl weißt!“, forderte Solveig.

Gunnar zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen. Ich frage mich allerdings, ob wir nicht noch einmal umkehren sollten, um zu sehen, was er an der Anlegestelle so treibt.“

„Es ist schon sehr spät und wir werden beide Ärger mit meinem Vater bekommen, wenn wir uns jetzt nicht sputen.“ Sie grinste. „Ich werde das überleben, aber ob du dich als neuer Lehrjunge gleich durch Ungehorsam in den Vordergrund spielen willst?“

Als Gunnar und Solveig das Haus von Wulfhir Erikson erreichten, trat ihnen der weißhaarige Wanderlehrer Trygvar Snörrisson entgegen. Er musterte die beiden Heimkehrer erstaunt. „Wo treibt ihr euch noch so spät in der Nacht herum?“

„Och…“, begann Solveig, die nach einer passenden Antwort suchte.

„Wenn man so spät noch auf den Beinen ist, muss man sich ja nicht wundern, wenn du tagsüber vor Müdigkeit kaum noch dazu kommst, die Runen zu üben!“, sagte er und wandte sich anschließend an Gunnar. „Du bist natürlich auch herzlich zum Unterricht eingeladen.“

Gunnar seufzte.

„Lass nur die Totenfeier für den verstorbenen Jarl erst einmal vorbei sein - dann wird wieder Ruhe bei uns zu Hause einkehren!“, beruhigte Solveig den Lehrer. „Dann werden wir auch wieder mehr Zeit zum Lernen haben!“, versprach sie.

Der Wanderlehrer lächelte.

„Ich werde bald weiterziehen und den Sommer in Birka verbringen. Ich komme dann frühestens im nächsten Jahr wieder nach Haithabu.“

Birka war ein Wikinger-Handelsplatz in Südschweden.

„Dann werden wir die Zeit nutzen“, versprach Solveig.

„Ich komme übrigens gerade vom Haus des alten Jarl“, sagte Trygvar. „Seine Gefolgsleute und Freunde halten dort die Totenwache. Für morgen ist alles bereit. Das wird die größte Totenfeier, die Haithabu je erlebt hat. Wir alle werden uns daran lange erinnern – wie auch an Jarl Helge selbst.“

Trygvar drehte sich um und ging in Richtung des Ufers. Schließlich verschwand er in der Dunkelheit.

„Eigentlich wollte Trygvar bis zum Herbst in Haithabu bleiben“, sagte Solveig langsam.

„Warum hat er seine Pläne geändert?“

Kapitel 4: Diebe in der Nacht

Gunnar schlief so tief wie ein Stein.

Im Morgengrauen weckte ihn jedoch ein durchdringender Schrei. Es war Hrolf Haakanson, dessen Ruf rücksichtslos dafür sorgte, dass binnen weniger Augenblicke alle im Haus wach wurden.

„Das Totenschiff des alten Jarl! Es ist weg! Auf und davon!“

Wulfhir war als Erster auf den Beinen. Er polterte barfuß und im Hemd aus dem Alkoven, in dem er zusammen mit einer Frau Astrid schlief.

Sein Gesicht war dunkelrot angelaufen.

„Wie konnte das geschehen?“, rief er und fasste Hrolf bei den Schultern.

„Die Wachen sind niedergeschlagen worden. Jemand muss dann das Schiff entführt haben, um die Reichtümer an Bord zu rauben!“

„Wie das? Jeder hier weiß, dass das Totenschiff nicht seetauglich ist!“, polterte Wulfhir. „Es besitzt kein Segel und keine Ruderbänke. Also muss es ins Schlepp genommen worden sein.“

„Nicht unbedingt!“, widersprach Gunnar. „Die Räuber könnten das Totenschiff einfach davon treiben und in eine Bucht lenken können – denn ein Steuerruder hat das Totenschiff ja!“

Wulfhir musterte den Jungen scharf, dann nickte er. „Du bist nicht dumm, Junge. Du hast dir das Schiff genau angesehen. Es hat tatsächlich ein Ruder, denn schließlich soll der alte Jarl den Weg nach Walhall nicht verfehlen!“

Wulfhir zupfte sich an seinem Bart.

„Der Junge hat recht!“, meinte er. „Die Räuber haben sich vermutlich an irgendeine Bucht treiben lassen, um das Totenschiff dort zu entladen! Ich will, dass alle Männer zusammengetrommelt werden! Wir werden mit unseren Schiffen die Umgebung absuchen.“

Die Nachricht des verschwundenen Totenschiffs verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Haithabu. Wer wagte solchen Frevel?

So schnell es ging, wurden die Schiffe fertig gemacht. Auch Gunnar und Sven mussten mit anfassen, um die SLEIPNIR, eine wendige Schnigge, klar zum auslaufen zu machen.

Sleipnir war das achtbeinige Pferd, auf dem Odin, der höchste Gott der Wikinger, zu reiten pflegte. Ein größeres Schiff wäre in den engen Buchten der Schlei nicht zu manövrieren gewesen. Außerdem hätte man viel mehr Männer gebraucht, um es rudern zu können.

„Lass mich auch mitfahren!“, bat Solveig, als das Schiff klar zum Auslaufen war.

Wulfhir sah sie zweifelnd an. „Mädchen haben normalerweise auf Schiffen nichts zu suchen.“

„Auf den Schiffen, mit denen Erik der Rote nach Grönland segelte schon!“, widersprach Solveig.

„Hat dir das Trygvar erzählt?“

„Ja.“

„Aber das kann man nicht vergleichen. Erik der Rote wurde verbannt und musste mit all seinen Leuten auswandern.“ Er warf einen Blick zu Sven und seufzte. „Soll mir alles gleichgültig sein! Komm mit an Bord! Wer weiß schon, von wem meine Schiffsbauwerkstatt einst weitergeführt wird, wenn mein Sohn sich tatsächlich etwas anderem berufen fühlt?“

Gunnar und Sven halfen derweil, das Segel hochzuziehen. Der Westwind machte es möglich, bei seitlichem Wind die Ausfahrt der Bucht von Haithabu zu passieren, ohne dass ein Ruder zur Hand genommen werden musste.

Kurz bevor das Schiff ablegte, kam Trygvar zum Steg.

„Ich habe die Hafenwachen befragt!“, rief er Wulfhir zu. „Es ist in der Nacht kein Schiff ausgelaufen, da sind sie sich absolut sicher!“

„Das bedeutet, dass das Totenschiff also wirklich nicht geschleppt wurde!“, stellte Wulfhir fest. „Die Diebe haben sich einfach mit der Strömung treiben lassen!“

Er blickte Gunnar an. Und der setzte den Gedanken fort: ...und da der Wind im Moment aus Westen kommt und das Wasser Richtung Ostsee drückt, brauchen wir uns auch gar uns gar nicht damit aufzuhalten, die Buchten und Landeplätze im Westen abzusuchen.“

„So ist es!“

Sven beugte sein Gesicht während des Gesprächs tief über ein Tau. Es war ihm deutlich anzumerken, dass ihm die Anerkennung des Vaters für den neuen Lehrling missfiel.

Das Schiff legte ab.

Das Segel wurde gesetzt und die Schnigge fuhr mit seitlichem Wind auf die enge Ausfahrt der Bucht zu.

Wulfhir selbst übernahm das Steuer.

„Die Halunken werden sich irgendwo ein Versteck zum Ausladen gesucht haben!“, ließ sich Hrolf Haakanson tiefe Stimme hören. Er wandte sich an Wulfhir. „Kennst du ein paar Stellen, die geeignet wären? Das Ufer darf nicht zu flach sein, sonst bleibt das Totenschiff auf Grund liegen und ist kaum noch weiterzubewegen!“

„Mir fallen da schon ein paar Orte ein!“, murmelte Wulfhir grimmig.

„Mir auch!“, sagten Solveig und Sven wie aus einem Mund.

Wulfhir sah seine Kinder erstaunt an.

„Euch?“, wunderte er sich.

„Ja, wir waren doch im letzten Sommer des Öfteren mit einem der kleinen Boote unterwegs.“

Wulfhir nickte. „Das stimmt. Aber eigentlich deswegen, um meine Botschaften zu den Wikingerhöfen entlang der Schlei zu überbringen und nicht irgendwelche Buchten zu erforschen!“

„Wir sind manchmal nicht auf direktem Weg gesegelt“, gab Solveig zu. „Aber das lag an den Windverhältnissen!“

Wulfhir lachte herzhaft.

„Um eine gute Ausrede bist du jedenfalls nicht verlegen!“

Die SLEIPNIR erreichte die Ausfahrt der Bucht. Gunnar bemerkte bei einem Blick zurück, dass sich zwei weitere Schiffe aus dem Hafen von Haithabu auf den Weg gemacht hatten und Wulfhirs Schiff folgten.

„Einen Mann zu berauben ist eine Sache“, begann da Wulfhir, während er scharf das Ufer im Auge behielt. „Aber ihn zu berauben, wenn er schon tot ist und sich nicht mehr wehren kann, das ist wirklich schändlich. Jeder sollte vor denjenigen ausspucken, die das getan haben! Als er noch lebte, haben sie es nicht gewagt, Jarl Helge gegenüberzutreten! Da waren sie zu feige.“

Gunnar hörte aufmerksam zu. Offenbar war Helge zu Lebzeiten nicht unumstritten gewesen. Gunnar musste an den Mann mit dem Amulett denken, der so abfällig über Jarl Helge gesprochen hatte, als das Totenschiff zu Wasser gelassen worden war.

„Wer immer das getan hast, er muss den alten Jarl sehr gehasst haben“, sagte Solveig leise. „Man nimmt doch einem ruhmreichen Krieger nicht die Möglichkeit, würdig nach Walhall zu fahren!“

„Komm mal mit“, sagte Gunnar und Solveig folgte ihm zum Bug. Dort stand Sven. Auch er beobachtete das Ufer aufmerksam.

„Was ist los?“, fragte Solveig.

„Erinnerst du dich an den Reiter gestern?“

„Ja, entweder er oder sein Pferd oder beide müssen blind gewesen sein, so wie er uns beinahe über den Haufen geritten hat!“

„Ich hab den Kerl schon früher erlebt. Er war mit mir auf der GÖTTERWIND und er hat sich sehr abfällig über den alten Jarl geäußert. Er schien Helge Helgeson einfach nicht zu mögen – davon abgesehen war er wohl auch nicht besonders glücklich darüber, dass dein Vater sein Nachfolger wurde.“

„Meinst du, der Kerl hatte etwas mit dem verschwundenen Totenschiff zu tun?“

Gunnar zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich nicht. Jedenfalls war er gestern Nacht in der Nähe der Anlegestelle.“

„Wahrscheinlich war er als Wächter eingeteilt, wie viele andere Männer aus Haithabu!“, mischte sich Sven ein. „Und wenn Jarl Helge jetzt nach seinem Tod auch von vielen gelobt wird – er hat sich an all den Jahren, in denen er Jarl war, nicht nur Freunde gemacht, das könnt ihr mir glauben.“

Gunnar kratzte sich am Hinterkopf. „Es war ja nur so ein Gedanke.“

Die SLEIPNIR pflügte mit guter Fahrt durch das Wasser der Schlei. Wulfhir hielt das Schiff so weit in Ufernähe, dass man einen guten Blick auf die vielen kleinen Buchten hatte.

Da das Totenschiff weder Mast noch Segel besaß, war es ziemlich flach und es war ein Leichtes, sie zu verstecken.

„Die Diebe hatten die ganze Nacht Zeit“, sagte Gunnar. „Es kann durchaus sein, dass sie es bis zur Mündung geschafft haben.“

„Und dort hat dann ein anderes Schiff gewartet, um die Beute in Empfang zu nehmen?“, spann Solveig den Gedanken fort.

„Wäre doch möglich.“

„Mal den Teufel nicht an die Wand, Gunnar!“

Gunnar runzelte die Stirn. „Den Teufel?“

„Das sagen die Christen so. Man soll das Unglück nicht heraufbeschwören, in dem man es benennt!“ Sie seufzte. „Was glaubst du wohl, was das alles nach sich zieht…“ Sven ließ sie allein und wandte sich an seinen Vater. Offenbar wollte er beweisen, dass nicht nur Gunnar ein guter Beobachter war.

Er streckte den Arm aus. „Dort drüben ist eine Bucht, die man von hier aus nicht einsehen kann!“, behauptete er.

Wulfhir musterte seinen Sohn überrascht, kniff die Augen zusammen und blickte angestrengt zum Ufer. „Ich sehe dort nichts.“

„Man denkt, da sei nichts“, beharrte Sven. „Aber in Wirklichkeit ist dort eine Einfahrt, die die Diebe des Totenschiffs mit der Strömung nehmen konnten!“