Raus aus dem Rummel! - Michil Costa - E-Book

Raus aus dem Rummel! E-Book

Michil Costa

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Beschreibung

"Angesichts eines Tourismus, der zu einem gewaltigen, bedrohlichen Moloch herangewachsen ist, müssen wir eine klare, eindeutige Richtungsentscheidung treffen." Gerade in den Alpen zeigen sich die Auswirkungen der touristischen Monokultur überdeutlich: verstopfte Straßen, Lifte und Pisten auf allen Gipfeln, ein Wettrüsten der Hotelanlagen. Doch ist es das, was Gäste suchen? Michil Costa, streitbarer Hotelier, Kulturmensch, Umweltschützer und Visionär plädiert für eine neue Sinnstiftung im Tourismus – gegen die Industrialisierung und für eine Kultur der Gastfreundschaft, die auf Werten beruht: Gemeinwohl, ökologische Nachhaltigkeit und Humanität. » Überlegungen eines Pioniers des nachhaltigen Alpentourismus » Inspiration für die Tourismuswirtschaft » Vorwort von Massimo Cacciari, Philosoph und ehemaliger Bürgermeister von Venedig

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Michil Costa

Rausaus demRummel!

Ein Plädoyer gegen die touristische Monokultur

Vorwort von Massimo Cacciari

Inhalt

Vorwort von Massimo Cacciari

Einleitung

Alpiner Rummelplatz-Tourismus

Die Reise. Gastfreundschaft und Tourismus

Über die Begegnung

Xenia

Der Tourismus. Von der Industrialisierung des Reisens

Dolomieu

Die Dolomitenfront

Künstliche Beschneiung

Der Tourismus in Südtirol – einige Fakten

Einheimischsein

Die Dolomitenladiner

Gästebetten

Sklavendienste

Neue und alte Modelle

Musik, ein moralisches Gesetz

Wein, Kunst und guter Kaffee

Die Zukunft der Gastfreundschaft

Die Touristen. Menschliches Verhalten und Missverhalten

Sonnenanbeter

Wenn Touristen Ohrfeigen verteilen

Hausgemacht. Ideen und Projekte aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Maratona dles Dolomites

Die Costa Family Foundation

Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen

Gemeinwohl-Ökonomie

This is the end, beautiful friend. Am Ende einer langen Reise beginnt alles von vorne

Danksagungen

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Vorwort

Michils Buch ist ein langer, mitreißender Ausflug in die Geschichte seiner Berge und deren Metamorphosen, die er miterlebt hat. Es ist ein Streifzug durch Begegnungen, die ihn geprägt haben, und durch Stimmen, denen er gelauscht hat. Wie alle echten Geschichten ist auch Michils Geschichte dramatisch. Er erzählt sie ohne Sentimentalitäten und überflüssige Nostalgie.

Alles Lebende gehorcht der Ordnung der Zeit. Oder existiert eine Dimension des Lebens, die sich dieser Ordnung entzieht? Michil glaubt ganz offensichtlich daran, sicher aber weiß er es nicht und hält deshalb sensibel Distanz zu der Frage. Was wir wissen, ist, dass sich Berge, Wälder, Bäche ebenso verbrauchen wie die Menschen, die mit ihnen zusammenleben. Dass sich etwas verbraucht, bedeutet nicht, dass es sich in Nichts auflöst. Doch es verwandelt sich. Das Problem liegt nun darin, dieser unaufhaltsamen Transformation einen Sinn zu geben, ein Ziel, einen Horizont. Mit seinem Buch, in dem er seine eigene Erfahrung*, sein eigenes Reisen erzählt, versucht Michil ganz ohne oberlehrerhaftes Gebaren aufzuzeigen, welchen Sinn die unausweichliche Transformation der Berge sowie der wichtigen Wirtschaftsstruktur, die sich dort herausgebildet hat, und der menschlichen Aktivitäten, die sie prägen, heute haben kann.

Michil ist ein leidenschaftlicher Unternehmer. Das gefällt mir: So sehr er sein Mutterland* liebt (das Vaterland ist letztlich immer mütterlich), so wenig vergisst er, dass er darin wirkt und arbeitet. Und dass Arbeit auch Gewinn hervorbringen muss, für den Unternehmer selbst und für die anderen. Es braucht intelligente Unternehmer – Michil ist einer und er fordert, dass auch die anderen lernen, solche zu sein. Denn das Erbe muss wertgeschätzt und darf nicht verramscht werden. Das Erbe ist im Wesentlichen Umwelt, Landschaft, Schönheit. Diesen Reichtum zu ruinieren und zu zerstören, käme der Selbstzerstörung gleich. Aufgrund des extrem beschleunigten Wachstums kann das heute sehr schnell geschehen: Gebiete, die sich über viele Jahrhunderte hinweg und bis vor 50 Jahren kaum verändert haben, sind heute von einer Transformation bedroht, die oft genug die Vergangenheit gewaltsam zu leugnen scheint. Michil zeigt uns, dass all dies kein unausweichliches Schicksal sein muss, dass man sich diesen Tendenzen widersetzen kann. Er zeigt es anhand von konkreten Projekten, nicht von abstrakten Utopien. Was er vorschlägt, ist eine konstruktive, realistische Form des Umweltschutzes. Wie unsere Welt sie wirklich braucht.

Ein intelligenter Unternehmer weiß nicht nur, dass der Schutz des Ökosystems, in dem er tätig ist, zunächst ihm selbst obliegt, sondern auch, dass sein Unternehmen, ob er will oder nicht, heute umfassende soziale Auswirkungen hat: im Negativen, wenn das Unternehmen auf sich selbst und seine eigenen „kurzfristigen“ Vorteile fokussiert ist, wenn es aus der „Umwelt“ alle Ressourcen saugt und sich nicht um die „Energie“ kümmert, die es selbst zurückgibt. Im Positiven, wenn das Unternehmen alle Interessen berücksichtigt, die in seinem Handlungskontext vorkommen, und sie, wenn möglich, auch befriedigen will.

Massimo Cacciari

Philosoph, emeritierter Professor für Ästhetik an der Universität von Venedig und ehemaliger Bürgermeister von Venedig

*Deutsch im Original

Einleitung

Ernesto Costa – der Vater von Michil Costa

In unseren Familienbetrieb, das Hotel La Perla in Corvara, stieg ich Anfang der 1980er-Jahre ein. Damals interessierte sich kein Mensch dafür, was Tourismus war und welche Werte er verkörpern sollte. Auch Marketing war kein Thema. Es ging nur darum, die Arbeit zu tun, und zwar so, wie man sie immer schon getan hatte: indem man die Ärmel hochkrempelte und sich richtig reinhängte. Anni und Ernesto, meine Eltern, waren Tag und Nacht im Hotel präsent; das Gastgewerbe lag ihnen im Blut. Von ihrem leuchtenden Vorbild habe ich in all den Jahren am meisten gelernt für meinen Beruf. Um zu begreifen, was echte Gastfreundschaft bedeutete, brauchte ich nur ihrem Beispiel zu folgen. Doch die Zeiten ändern sich. Die 1980er-Jahre liegen lange zurück, und heute stehen wir an einem konkreten Scheideweg. Angesichts eines Tourismus, der zu einem gewaltigen, bedrohlichen Moloch herangewachsen ist, müssen wir eine klare, eindeutige Richtungsentscheidung treffen. Das vorliegende Buch möchte einerseits ein paar Gedanken zu diesem Thema formulieren, andererseits aber auch zum Nachdenken anregen: Welche Route führt uns am ehesten auf einen Gipfel (die Metapher muss erlaubt sein, wir sind Bergbewohner!), der nicht nur aus ungehemmtem Flächenfraß, skrupelloser Raumplanung und reiner Profitgier besteht?

Der Tourismus im Gadertal, einem Südtiroler Dolomitental, das vom Pustertal zum Sellastock und in Richtung Veneto führt, begann Anfang der 1950er-Jahre. Davor lebten die Menschen hier hauptsächlich von der Landwirtschaft. Der Fremdenverkehr bot die große Gelegenheit zu einer wirtschaftlichen Entwicklung, die den harten Gebirgsalltag leichter machte. Es gab damals keine Vorbilder, denen man hätte folgen, auch keine Hotelschulen, die man hätte besuchen können, und schon gar keine Leitideen zum Thema Tourismus, an denen man seinen Betrieb ausrichten konnte. Man war einfach fleißig darum bemüht, den Gast so gut wie möglich zu beherbergen und zu bewirten. Diese Gastgeber der ersten Stunde probierten aus, was funktionieren könnte und was zu ihrem persönlichen Wertesystem passte – Rücksicht, Freundlichkeit, Demut. Nach dem Wirtschaftsboom sorgte in den 1970er-Jahren der aufkommende Wintertourismus dafür, dass Wirtschaft und Bautätigkeit im ganzen Tal aufblühten. Seither macht der Tourismus den Großteil unseres Lebens aus. Ich habe in diesem Buch daher allgemeine Überlegungen zum Thema mit persönlichen Erfahrungen aus meinem Leben verknüpft, von denen ich glaube, dass sie die Tourismuswelt in ihrer Gesamtheit deutlicher und greifbarer machen können.

Heute stehen wir auf dem Gipfelpunkt dieser Entwicklung. Und zugleich vor einem Paradoxon: Die extreme Optimierung innerhalb der Hotelbranche hat den Tourismus so stark industrialisiert, dass bei vielen Akteuren – darunter auch Hoteliers – das Bedürfnis wächst, die touristische Arbeit wieder mit tieferem Sinn zu füllen. Ich selbst bin der Sohn zweier echter Pioniere des Südtiroler Tourismus und der älteste von drei Brüdern. Auch Mathias und Maximilian, meine wunderbaren Brüder, hatten entscheidenden Anteil an der Entwicklung unseres Hotelbetriebs. Nachdem ich selbst die Entwicklung des Tourismus von den heroischen Anfängen in den 1970er- und 80er-Jahren bis heute miterlebt habe, müsste ich eigentlich stolz darauf sein, was wir in einem so abgelegenen Tal wie dem unseren mit harter Arbeit geschaffen haben. Stattdessen kriege ich Bauchweh, wenn von der Tourismusindustrie die Rede ist. Damit wir uns richtig verstehen: Die Industrialisierung des Tourismus kann, wie andere Branchen auch, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht zu positiven Ergebnissen führen, wenn sie richtig angepackt wird. Doch die große Frage, die zu stellen wir nie die Zeit hatten, als der Tourismus in unserem Tal durchstartete, ist bis heute unbeantwortet geblieben: Welchen Sinn, welche Bedeutung soll der Tourismus bei uns haben? Wollen wir eine Industrie, die einzig und allein die Gewinnmaximierung verfolgt? Oder streben wir eine hochwertige Gastfreundschaft an, die auf tieferen Werten wie Solidarität, Gemeinwohl, Nachhaltigkeit und Humanität beruht? Es steht wohl außer Frage, wofür sich die Leute eher entscheiden würden. Doch wenn wir das Thema vertiefen, werden wir feststellen, dass es für uns nur einen Weg aus der touristischen Identitätskrise geben kann, in der wir feststecken: Wir müssen ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Extremen finden und damit zugleich ein harmonisches Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Nur wenn wir Zukunftsperspektiven entwickeln, die einen echten Sinn haben, wenn wir in Gemeinwohl-Zusammenhängen denken, können wir eine konkrete Alternative zum grassierenden Rummelplatz-Tourismus in den Alpen entwickeln. Denn dieser Tourismus verschleißt nicht nur die grandiose Natur, mit der wir beschenkt wurden, sondern bedroht auch unsere Identität. Wir haben keine Wahl – wir müssen handeln. Es liegt in unser aller Interesse.

Alpiner Rummelplatz-Tourismus

Wenn in unseren Bergen die Natur nur noch als Kapital betrachtet wird und Profit das einzige Unternehmensziel ist, wenn touristische Monokultur herrscht statt einer Kultur der Gastfreundschaft, wenn Massentourismus den Platz eines bekömmlichen Miteinanders einnimmt, dann nenne ich das „alpinen Rummelplatz-Tourismus“. Was ich damit meine, ist eine bestimmte Form der Kommerzialisierung. Die Schaffung einer falschen, auf Klischees und vermeintlichen Erwartungen basierenden Vorstellungswelt, der jedes Gefühl und jede Wahrhaftigkeit fehlt. Dieser Tourismus hat für mich fast schon pornografischen Charakter, denn er ist eine obszöne Zurschaustellung ungleicher Kräfteverhältnisse: auf der einen Seite Beton und Spekulation als Faktoren maskuliner Unterwerfung, auf der anderen Seite die Natur, reizvoll und attraktiv, aber unterdrückt und mit all ihrer Schönheit und ihren Reizen zur Prostitution gezwungen. Es geht mir gar nicht um den moralischen Aspekt eines solchen touristischen Betriebs, es ist nur eine Feststellung: Diese Form des Tourismus bedeutet das Ende des Tourismus. Ich bin aber überzeugt, dass der Tourismus eine Zukunft haben kann. Dass er sich neu erfinden kann. Dazu muss er den großen Rummel, den er selbst geschaffen hat, hinter sich lassen. Das funktioniert nur, wenn der Tourismus in eine neue Dimension übergeht. Eine Dimension, in der das Prinzip der Gastfreundschaft die verdiente Wertschätzung erfährt.

Anni Costa mit den Söhnen Mathias und Michil

Es war irgendwann Anfang der 1980er-Jahre – die touristische Entwicklung der Alpen war in vollem Gange und der ganz große Boom gerade vorüber – als allmählich das alte, tradierte Bewusstsein von Gastfreundschaft verloren ging und sich stattdessen das künstliche Inszenieren alpiner Kultur breitmachte. Man begann, nostalgisch eine heile Märchenwelt zu stilisieren, à la Heidi auf der Alm, die es in dieser Form wahrscheinlich nie wirklich gegeben hatte: urige Holzhütten und Herzchen, Dirndl und Strudel, heitere Volksmusik, warme Kachelöfen und eine Oberflächlichkeit, die hart an primitivste Heuchelei grenzte. Diese pseudoalpine Soße wurde über die ganze touristisch Bergwelt ausgegossen – die Disneyfizierung des Alpentourismus nahm ihren Lauf. Ohne Halt und ohne jeden Respekt für das, was echte einheimische Kultur ist, echte Geschichte, echte Traditionen. Diese waren allenfalls noch für Marketingkonzept gut. Richtig erfolgreiche übrigens. Die Botschaft für die Massen lautet bis heute: „Auf der Alm, da gibt’s koa Sünd.“

Der pornografische Charakter dieser Form des Tourismus liegt für mich auch darin, dass er dem gesunden Menschenverstand zuwiderläuft. Nach außen hat er eine glänzende Oberfläche, doch in Wahrheit ist er entstellt und sinnentleert. Er soll die Menschen erregen und Fetisch-Bedürfnisse befriedigen. Es ist ihm gelungen, die über Jahrtausende hinweg in der Bevölkerung fest verwurzelte Heiligkeit der Berge zu entweihen; er hat mentale und territoriale Grenzen überschritten, Gipfel erobert, sie den Massen zugänglich gemacht und zu banalsten Konsumartikeln herabgewürdigt.

Im Supermarkt der Menschheit wird ein vorübergehender Zustand von Landschaft als zeitlose Originallandschaft gesehen. Auf diese Weise schafft jede Generation ihre eigene, scheinbar zeitlose Vergangenheit und zerstört dabei die Vergangenheit ihrer Väter – so der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt. Was ich anprangere, ist ein Tourismuskonzept, das auf einer verfälschten, verzerrten Darstellung der Wirklichkeit beruht und zu diesem Zwecke jeden Tag aufs Neue die Natur zerstört, weil völlig das Verständnis fehlt, dass in dieser Natur in Wirklichkeit unsere Erlösung liegt. Diesem Konzept des rücksichtslosen Rummelplatz-Tourismus stelle ich eine Kultur der Gastfreundschaft gegenüber.

Der große Unterschied zwischen den beiden Ansätzen liegt darin, wie wir Gastfreundschaft interpretieren, wie wir sie leben. Es geht um den Gegensatz zwischen Echtem und Falschem, zwischen Aufrichtigkeit und Inszenierung, zwischen dem einzelnen Menschen und einer unpersönlichen Tourismusmaschinerie, zwischen Tiefe und schnelllebiger Euphorie, zwischen Authentizität und Fiktion. Im Rummelplatz-Tourismus bemisst sich der Wert eines Touristen hauptsächlich nach seinem Beitrag zum Business. In der Kultur der Gastfreundschaft wird Natur weder zerstört noch ausgebeutet. Sie schärft vielmehr das Bewusstsein dafür, dass die ökologische Auslaugung unserer Welt Hand in Hand geht mit der Verödung der Menschen selbst.

Die folgenden Seiten sind die Frucht meiner persönlichen Erfahrungen als Hotelier und Hotelierssohn. Mein Privatleben hat ebenso Eingang gefunden wie allgemeine Fakten. Manche Empfindungen haben sich zu Feststellungen verdichtet. Dabei vergeht die Zeit und Tag für Tag nimmt sie immer deutlicher die Form eines Berges an, dessen Gipfel wir unbedingt ersteigen möchten. Auf Zehenspitzen und ohne Lärm zu machen.

Anmerkung:In diesem Buch verwende ich viele Zitate aus der griechisch-römischen Antike. Dies geschieht einerseits aus großer Begeisterung für die hellenische Kultur und andererseits, weil diese sich meiner Meinung nach hervorragend eignet, um eine Verbindung zwischen den verschiedenen historischen Epochen und Gesellschaftsformen herzustellen. Die Klassiker helfen uns, die Welt besser zu verstehen, und sie helfen auch uns selbst. Weisheit ist der rote Faden, der die Menschheit – und zwar die ganze Menschheit – zusammenhält.

Wer die Gegenwart zu verstehen sucht, indem er über die Vergangenheit nachdenkt, wird leichter erkennen, wie die Zukunft aussehen könnte.

Die Reise

Gastfreundschaft und Tourismus

Da sah ich ein, dass der Mensch (…)

das Tun Gottes in seiner Ganzheit nicht wieder

finden kann,

das Tun, das unter der Sonne getan wurde.

Deshalb strengt der Mensch, danach suchend, sich an

und findet es doch nicht wieder.

Selbst wenn der Gebildete behauptet, er erkenne –

er kann es doch nicht wieder finden.

Kohelet

Über die Begegnung

Gemeinschaft, Kultur und Umwelt

Es war einmal ein Gebirge mit allem, was dazugehört: eisigem Wind, Schneehühnern und blau schimmernden Gletschern im Winter; nickenden Glockenblumen und samtigen Edelweiß im Sommer. Eine Welt im Gleichgewicht. Gämsen kletterten auf der Suche nach dem ersten Frühlingsgrün die Kare hoch, und im Herbst sammelten die Murmeltiere fleißig Futter für die Wintermonate. Dieses Gebirge war weder schön noch hässlich; es war einfach da, seit Jahrmillionen schon. Dann kamen die ersten Menschen des Weges. Sie gingen noch gebeugt, aber schon auf zwei Beinen. Sie hatten sich Tierfelle übergeworfen und trugen Pfeile und rudimentäres Steinwerkzeug mit sich. Die Natur war feindlich, überall drohte Gefahr. Als die Menschen das Gebirge sahen, warfen sie sich vor ihm zu Boden. Die nächsten Jahrtausende bewunderten sie diese Berge immer nur von unten. Ihre Gipfel zu entweihen, wagten sie nicht. Das Gebirge kam ihnen schön vor, großartig, strahlend und majestätisch, weckte aber auch Angst und Beklemmung, wie alles Heilige. So sah die erste Begegnung zwischen den Menschen und den Dolomiten aus. Danach dauerte es nicht mehr allzu lange, bis die ersten Forscher anreisten, Wissenschaftler, Geologen. Auf den Schotterkaren, einst exklusives Revier der Gämsen und Steinböcke, waren nun Menschen unterwegs, die von weit her gekommen waren. Auf deren anfängliche Entdeckerfreude folgte die Lust am Besitz. Die Menschen griffen zu Sprengminen und Dynamit; aus Begegnung wurde Zusammenstoß. Erst brachten die Menschen in diesem Gebirge nur die Tiere um, später auch sich gegenseitig. Am Schluss schlossen sie wieder Frieden, setzen sich an einen Tisch, sprachen miteinander. Und machten sich dann gemeinsam daran, weitere Orte zu erobern, die einst als unzugänglich gegolten hatten. Sie fuhren übers Meer, zu den Polen, gruben sich tief in die Erde hinein. Ihr Eroberungshunger war unersättlich. Selbst auf dem Mond landeten sie.

Jedes Mal, wenn ein Mensch in der Vorzeit einem anderen begegnete, hatte er die Wahl zwischen drei Möglichkeiten: Er konnte dem anderen die Keule über den Kopf ziehen, sich wie ein scheues Reh vor ihm verstecken oder aber mit ihm sprechen. Wenn Menschen miteinander sprachen, konnten sie einander verstehen, und wenn sie einander verstanden, konnten sie gemeinsam die Welt erobern. Jede Eroberung beginnt mit einer Reise. Die ganze Menschheitsgeschichte dreht sich ums Reisen, als wäre das Reisen ihr eigentlicher Wesenskern. Die legendärste Reise überhaupt ist die Odyssee. Odysseus, der Listenreiche, unterscheidet sich von anderen Heldengestalten. Er duelliert sich nicht gern; lieber lockt er den Gegner in einen Hinterhalt. Er verkörpert den Typ Mann, der die Hürden des Lebens mit Fantasie, Neugier und Intelligenz nimmt. Weil er aber permanent betrügt und täuscht, zieht er sich den Zorn der Götter und der Menschen zu. Zur Strafe muss er jahrelang über die Meere irren. Er muss viele furchtbare Prüfungen überstehen, bevor er auf seine Heimatinsel Ithaka zurückkehren darf. Odysseus wird als Held sehr unterschiedlich interpretiert: Homer hebt ihn in den Himmel, in der Vorstellungswelt und Literatur späterer Epochen dagegen gilt er als Negativbeispiel, als die Verkörperung von Hinterlist, Gewalt, Zynismus und Perfidie. Im Theater des antiken Athen etwa fungiert Odysseus oft als negativer Protagonist, als dreister Erdenbürger ohne Respekt für die guten alten Werte. Bei Dante wird Odysseus in die Hölle verdammt; hier steht er für das Aufbegehren des Menschen gegen die von Gott gesetzten Grenzen, zugleich aber auch für die unwiderstehliche Faszination des Wissensdurstes. Erst die Romantik verhilft Odysseus wieder zu Wertschätzung, weil sie in ihm einen dieser Helden erkennt, die tapfer gegen ihre Bestimmung ankämpfen. Im 20. Jahrhundert beschreibt James Joyce in seinem Ulysses den Archetypus des Vagabunden, des modernen Mannes mit all seinen Alltagsqualen. Was das endlose Herumirren – oder Herumreisen – des Odysseus grundsätzlich auszeichnet, ist das mutige, heroische Überschreiten der Grenzen des Bekannten. Eine Reise verwandelt den Reisenden von dem Moment an, in dem er sie antritt. Sie macht ihn zu einem anderen Menschen, projiziert ihn an andere Orte. Als läge das eigentliche Ziel nicht im Besuch unbekannter Orte, sondern im Annehmen einer neuen Sichtweise, im Blick in die Ferne und in sich selbst. Odysseus verkörpert die Gestalt des mutigen Reisenden der Antike. Im Reisen sucht er nicht nur Freiheit und Wissen, sondern irgendwann auch wieder sein Zuhause, was sich in gewisser Weise paradox anhört. Claudio Magris schreibt: „Reisen heißt, sich immer gleichzeitig im Unbekannten und zu Hause zu fühlen, und das im Wissen, kein Zuhause zu haben, kein Haus zu besitzen. Wer reist, ist immer ein Streuner, ein Fremder, ein Gast.“ Wenn einer nach einer Reise nach Hause zurückkehrt, findet er stets einen anderen Ort vor als den, den er verlassen hat – auch wenn er genauso aussieht wie vorher.

Reisen helfen uns dabei, alte Zwänge und Gewohnheiten loszuwerden. Neues kennenzulernen, um sich auf diese Weise selbst zu ergründen, ist ein menschliches Urbedürfnis. Doch eine Reise, die derart in die Tiefe geht, darf nicht oberflächlich verlaufen; sie muss klug, bewusst und ohne Hektik angegangen werden. Sie bedeutet die Rückkehr in uns selbst, in das griechische „Nostos“. Aus diesem „Nostos“ hat sich übrigens der Begriff der Nostalgie entwickelt – Entbehrung und Schmerz sind damit gemeint, zugleich aber auch Wissen und Trauer um Dinge, die wir geliebt haben und die uns verloren gegangen sind. Dieser tief verwurzelte, menschliche Urinstinkt ist immer schon die Quintessenz all unseres Reisens gewesen. Heute versuchen die Menschen meistens, die Mühsal des Reisens durch immer raffinierteren Komfort abzumildern, doch das stumpft leider auch ab. Was bleibt dann noch von unserer Reiseerfahrung? Höchstens, etwas Neues gesehen zu haben. Aber nicht, wirklich gereist zu sein. Zu langsamer Fortbewegung ist der Mensch offenbar nicht fähig. Immer will er noch einen Zahn zulegen. „Citius, altius, fortius“ – „Schneller, höher, stärker“ – lautet das Motto der Olympischen Spiele der Neuzeit. „Lentius, profundius, suavius“ setzte dem Alexander Langer entgegen, der 1995 verstorbene Umwelt- und Friedensaktivist aus Südtirol. Sein viel zitiertes „Langsamer, tiefer, sanfter“ war ein fantastischer Gegenvorschlag. Langer wollte es slow, wie wir heute sagen, wollte bewusst praktizierte Langsamkeit statt des zwanghaften Hyperwachstums unserer jüngeren Vergangenheit. Anfang des 20. Jahrhunderts, als alle glaubten, dass man mit Tempo, Technik und Wissenschaft die Probleme der ganzen Welt in den Griff kriegen könne, bekamen wir den Beweis dafür geliefert, dass das große Wettrennen um den Fortschritt auch gewaltig schiefgehen konnte: Im April 1912 sank die Titanic, der größte und luxuriöseste Dampfer aller Zeiten. Mit ihr ging der große Traum der Belle Époque unter, in die Tiefe gezogen von übertriebenem Hedonismus, heiß gelaufener industrieller Revolution, zu vielen Missverständnissen. Die Titanic sank, weil sie die Schnellste sein wollte. Die Belle Époque selbst läutete mit ihrer Maßlosigkeit die Katastrophe aller Katastrophen ein: Der Krieg, der das Ende aller Kriege hätte bedeuten sollen, entwickelte sich zu einem insgesamt 30 Jahre währenden Konflikt aus zwei Weltkriegen, die nur von einer kurzen Waffenruhe unterbrochen wurden. Die Titanic, die schon mal in eine glänzende technologische Zukunft vorfahren sollte, brachte die Menschheit in Wirklichkeit ganz woandershin.

Wahren Fortschritt bedeutet eine Reise erst dann, wenn sie uns näher an unsere Mitmenschen heranbringt. Wenn sie eine bessere, leichtere, freiere Welt möglich macht. Wohin soll uns unsere Reise führen? Darum soll es in diesem Buch gehen. Zwei Wege sind bereits vorgezeichnet. Es gibt den breiten Highway für den unbewusst Reisenden, den Touristen (einen Typ Mensch, der vermutlich irgendwo in großem Stil vom Fließband läuft), der sich hauptsächlich für oberflächliche Spaß- und Konsumerlebnisse interessiert. Seine Reisen dienen dem Zeitvertreib. Auf der anderen Seite haben wir den Wanderweg für den bewusst Reisenden, der unterwegs alle Sinne einsetzt, der hören, sehen, schmecken und riechen will. Der reist, um den Kopf frei zu bekommen, und der alles Neue und Unbekannte begeistert aufsaugt.

Dieser Reisende traut sich, Bekanntes hinter sich zu lassen; er reist um des Reisens willen. Tourismus ist heute sowohl für die Nachfrage- als auch für die Angebotsseite eine Art kulturelles Nebenprodukt, das den Bewegungsdrang der Menschen instrumentalisiert, um ihn auf einen Konsumartikel reduzieren zu können. Alles basiert auf der Formel des Gebens und Nehmens. Doch die ist angesichts von Tauschgeschäften, die immer gleichförmiger, immer banaler und vorhersehbarer werden, zu einer recht inhaltslosen Gleichung geschrumpft.

Der persische Mathematiker, Philosoph und Dichter Omar Khayyam behauptete, dass Menschen, die reisen, zweimal leben. Reisen macht uns zu aufgeschlossenen, vielleicht sogar zu besseren Menschen. Wir lernen andere Kulturen und Traditionen kennen und schätzen. Jede Reise ist eine Entdeckungsreise, und jede neue Erfahrung lässt uns innerlich wachsen. Denn auch das gehört zum Reisen: der Abschied von vermeintlichen Sicherheiten und Überzeugungen, der Abstand vom Alltagstrott, das Auskommen ohne die vertrauten Gewohnheiten, das mutige Herumstammeln in einer fremden Sprache, die weit aufgesperrten Ohren und Augen, die Lust auf neue Erkenntnisse.

Heute wird als Synonym zum Reisen oft der Begriff Tourismus verwendet (der übrigens vom französischen Verb „tourner“ abstammt, „sich wenden, sich drehen“). Ich fände es schön, wenn wir, die wir im Tourismus arbeiten, uns eine gemeinsame Grundhaltung zu eigen machen würden. Fragen wir uns doch mal, was wir für die anderen tun können. Was kann zum Beispiel ich, Hotelier, für dich tun, ladinischer Bauer, der du in meinem Dorf lebst? Und was kann ich für dich tun, Fischhändler, der du morgens um vier Uhr in Chioggia an der Adria losfährst und all die Serpentinen zu uns in die Dolomiten hochkurvst, um uns mit frischem Fisch zu versorgen? Oder für dich, bosnisches Zimmermädchen, das du deine Familie zurückgelassen hast, um eine ganze Saison lang zu putzen und die Betten zu machen? Was kann ich für dich tun, junger Nigerianer, der du seit sechs Jahren in Italien lebst, die niedrigsten Arbeiten verrichtest und immer noch keine Aufenthaltsgenehmigung besitzt, die wir dir verweigern, weil du ja unseren wirtschaftlichen Interessen schaden könntest? Und was kann ich für euch tun, ihr amerikanischen, russischen und chinesischen Touristen und Touristinnen? Die Antwort darauf lautet immer gleich: Begegnung. In all diesen unterschiedlichen Situationen kann ich (in diesem Fall: der Hotelier) die Bedingungen für echte, authentische Begegnungen schaffen. Echte Begegnungen sind das Salz des Lebens, ein Geschenk des Himmels. Sie lassen uns Verständnis füreinander finden, unabhängig von Kultur, Religion oder Herkunft. Erst wenn wir das Prinzip echter Begegnung verinnerlicht haben, können wir den Tourismus mit neuen Werten füllen und den Touristen mit dem Reisenden wieder in Einklang bringen. Unsere Branche kann diese aussöhnende Dimension besitzen, kann die Wunden heilen, die das Leben geschlagen hat. Dazu muss sie sich allerdings wieder ein solides, wertiges Fundament bauen, das nicht nur aus Klischees und bequemen Marketinglösungen besteht. „Wir“ und „die anderen“, das sind keine zwei voneinander getrennten Einheiten. „Wir“ und „die anderen“ können und sollen zusammenleben und uns gegenseitig beeinflussen, weil davon letztlich beide Seiten profitieren. Gerade in meiner Dolomitenheimat sollte uns diese Erkenntnis leichtfallen, denn als ladinische Minderheit wissen wir genau, wie viel Energie, wie viel Fruchtbares wir aus dem Anderssein schöpfen können. Warum also Angst haben vor dem, der anders ist? Konzentrieren wir uns lieber auf die positiven Kräfte, die aus Diversität entstehen. Der Weg dahin ist mühsam und steinig. Begeisterung allein reicht nicht, um ans Ziel zu kommen; es braucht auch Mut, Demut und Wissen. Und gegenseitigen Respekt.

Gastlichkeit heißt liebevolle Sorge um jedes Detail: die Stuben im Hotel La Perla.

Durch echte Begegnung können wir die Distanzen reduzieren und anderen Menschen wahre Gastfreundschaft entgegenbringen. Idealerweise nähern wir uns dem anderen auf seiner eigenen Ebene. Eine echte Übung in Demokratie. Demokratie bedeutet nämlich keineswegs, dass alle Menschen absolut gleich sind. Sie fordert allerdings, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft aufeinander zugehen, einander begegnen, zusammenleben. Man kann den Beruf des Gastgebers ergriffen haben und es zugleich an wahrer Gastfreundschaft fehlen lassen, und man kann gastfreundlich sein, ohne über luxuriöse Hotelzimmer, eine tolle Küche, ein sensationelles Panorama zu verfügen. Ich habe da mal den Schriftsteller Erri De Luca um seine Meinung gebeten: „Wir sind ungebetene Gäste auf einem uralten Stück Erde“, hat er mir geantwortet. „In den Bergen, in den Dolomiten, die ich zu besteigen gelernt habe, ist das Gefühl besonders stark, ein Fremder zu sein, der nur auf der Durchreise ist, der keine Spuren hinterlassen darf.“

Ein Gastgebertum, das nach außen hin makellos wirkt, kann richtig schlecht ankommen, wenn keine aufrichtige Gastfreundschaft dahintersteckt. Ähnliches gilt für den Umgang mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Wenn die sich in einem Betrieb wirklich willkommen und herzlich angenommen fühlen, arbeiten sie viel besser, hängen sich rein, wenn Probleme zu lösen sind, nützen sich bietende Gelegenheiten positiv. Wer dagegen nur aufgrund kühlen Kalküls eingestellt wird, fühlt sich im besten Fall irgendwie toleriert, wird sich deshalb auch nicht mit dem Betrieb identifizieren und im Zweifelsfall nur an sich denken und nicht an das große Ganze. Gastgebertum muss stets echte Gastfreundschaft mit einschließen. Und die drückt sich ebenso wenig in unterwürfigem Servilismus den Gästen gegenüber aus wie in selbstherrlichem Auftreten gegenüber den Mitarbeitern. Ein guter Gastgeber beschäftigt sich gerne mit seinem Gegenüber. Wenn er das tut, hilft er nicht nur dem Touristen dabei, ein wahrer Reisender zu sein. Er begibt sich dadurch auch selbst auf Reisen, ohne einen Schritt vor die Tür tun zu müssen. Wichtig ist, dass er echte Liebe in sein Tun steckt. Liebe ist Leben und Leben ist Wahrheit. Hotelier zu sein, ist kein Beruf. Es ist eine Berufung. Hotelier zu sein, heißt nicht nur, Zimmer zu vermieten. Es bedeutet, das Wesen der Menschheit zu ergründen. Die Begriffe Gemeinwohl und Gesamtvermögen passen an dieser Stelle gut. Gesamtvermögen ist die Summe aller individuellen Güter, das Gemeinwohl dagegen ist das Produkt dieser Güter, also das Ergebnis einer Multiplikation. Das Gemeinwohl ist etwas, das sich nicht in seine Bestandteile auflösen lässt, weil es nur in einem gemeinschaftlichen Akt erreicht werden kann. Es ist das Ergebnis der Beziehung des Einzelnen mit der restlichen Gemeinschaft. Ein guter Hotelier hat das Gemeinwohl im Sinn.

In Ovids Metamorphosen