Raus aus der Ohnmacht - Haim Omer - E-Book

Raus aus der Ohnmacht E-Book

Haim Omer

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Beschreibung

Heutzutage sind Schulen mit ganz anderen Aufgaben und Anforderungen konfrontiert. Wissensvermittlung ist zu einem Teilbereich geworden, die Förderung sozialer und personaler Kompetenzen rückt dagegen mehr und mehr ins Zentrum. Auch Eltern sind heute kritischer und stellen die Autorität von Lehrpersonen schnell einmal infrage. Traditionelle erzieherische Vorstellungen und Methoden sind nicht mehr legitim oder bleiben bei den Schülern und Schülerinnen oft wirkungslos. Es ist kein Geheimnis, dass die alltäglichen Auseinandersetzungen im Klassenzimmer einer der gewichtigsten Gründe für Lehrpersonen sind, ein Burnout zu erleiden oder den Beruf zu wechseln. Umso wichtiger werden Fragen wie etwa: Wie schaffen Schulen eine gute Lernatmosphäre, wie kann auffälligen Kindern und Jugendlichen Respekt beigebracht werden, wie werden Ruhe und Sicherheit erreicht? Raus aus der Ohnmacht heißt die Devise für Lehrerinnen und Lehrer. In diesem Buch findet sich eine geballte Ladung an Erfahrung und systematischem Vorgehen mit und nach den Prinzipien der Neuen Autorität. Die vielen Beispiele belegen auf eindrückliche Weise, wie wirksam und entlastend ihre Anwendung ist.

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Haim Omer/Regina Haller

Raus aus der Ohnmacht

Das Konzept Neue Autorität für dieschulische Praxis

Mit vier Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Israelische Textvorlagen übersetzt von Rachel Grünberger

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

2., durchgesehene Auflage

© 2020, 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,Theaterstraße 13, D-37073 GöttingenAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Maglara/Shutterstock.com

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99917-3

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Kapitel 1: Ein neues Autoritätsverständnis

1.1 Veränderung der gesellschaftlichen Erwartungen an Erziehende

1.2 Kinder wachsen an Herausforderungen

1.3 Lehrkräfte und Eltern – Partner statt Feinde

1.4 Traditionelle und Neue Autorität

Zusammenfassung

Kapitel 2: Präsenz

2.1 Präsenz in der Klasse

2.2 Präsenz in der Schule

Zusammenfassung

Tipps für Lehrkräfte

Kapitel 3: Lehrkräfte und Eltern: das unerlässliche Bündnis

3.1 Ungelöste Konflikte sind schädlich!

3.2 Die Lehrer-Eltern-Diplomatie

3.3 Das persönliche Gespräch mit Eltern

Zusammenfassung

Tipps für Lehrkräfte

Kapitel 4: Kooperation unter Lehrkräften

4.1 Vier Glaubenssätze von Lehrkräften

4.2 Fachlehrkräfte

4.3 Erzieherinnen und Erzieher

4.4 Kontinuität herstellen

Zusammenfassung

Tipps für Lehrkräfte

Kapitel 5: Gemeinsam für eine sichere Schule und ein lernförderliches Schulklima

5.1 Teampräsenz vermittelt Sicherheit

5.2 Die Mobilisierung der Schülerschaft

Zusammenfassung

Tipps für Lehrkräfte

Kapitel 6: Die Schulleitung

6.1 Zwei Welten − ein Ziel: Die Einführung der Neuen Autorität an zwei Schulen

6.2 Der Schulentwicklungsprozess: ein Wegweiser für Schulleitungen

6.3 Die Neue Autorität als Führungsmodell

6.4 Umgang mit elterlicher Kritik

Zusammenfassung

Tipps für Schulleitungen

Kapitel 7: Mehr als nur Sanktionen

7.1 Selbstkontrolle, Aufschub und Deeskalation

7.2 Neue Autorität in der Praxis – Methoden zur Umsetzung

7.3 Die Wiedergutmachung

Zusammenfassung

Tipps für Lehrkräfte

Schlusswort

Dank

Literatur

VORWORT

Liebe Leserin, lieber Leser,

als ich vor ein paar Jahren eher zufällig an einem Kongress mit dem Titel »Stärke statt Macht« teilnahm, hatte ich keine Ahnung, wie prägend dessen Inhalte für meine Entwicklung als Schulleiterin und die Entwicklung meiner Schule werden sollten.

Damals hatten wir im Schulteam bereits die alte Hausordnung durch unseren Schulkodex ersetzt mit dem Grundgedanken, unerwünschtes Verhalten nicht zu verbieten, sondern erwünschtes Verhalten zu benennen und zu fördern. Der Haltungswechsel gelang, und im Rückblick war dies der Beginn eines neuen pädagogischen Verständnisses, einer anderen Schulkultur.

Bald aber standen wir vor der Frage: Was ist zu tun, wenn der Schulkodex missachtet wird? Ein gemeinsames Vorgehen war gefragt, denn die Pädagoginnen und Pädagogen fühlten sehr wohl, dass eine gemeinsame Haltung des gesamten Schulteams die Position jedes einzelnen Mitglieds stärken würde. Wir investierten einen ganzen Tag in den Versuch, verbindliche Sanktionen auszuarbeiten. Die Mühe war ganz und gar vergeblich. Für das Übertreten von Regeln und Grenzen sind die Gründe so vielfältig wie die Kinder und Jugendlichen selbst. Zudem sind wir eine Schule, nicht die Justiz. Trotz dieser Erkenntnisse wurde immer wieder ein einheitliches Vorgehen gefordert. Natürlich! Es fehlte an Alternativen, und ich als Schulleiterin hatte keine Antworten … bis ich jenen Kongress im November 2011 besuchte und entdeckte, dass es noch etwas anderes gibt als unsere herkömmliche Vorstellung von Autorität.

Mit dem Konzept der Neuen Autorität von Haim Omer und Arist von Schlippe konnte ich dem Team einen Erziehungsansatz präsentieren, der unseren Vorstellungen entsprach. Er spiegelt unsere Haltungen, Werte und Normen und schuf einen gemeinsamen Nenner. Auf diesen konnten sich alle an der Schule tätigen Lehr- und Betreuungspersonen einigen und sich an ihm orientieren.

Traditionelles Autoritätsverständnis baut auf Verbote und Sanktionen und verfolgt das Ziel des blinden Gehorsams. Im Gegensatz dazu fördert die Neue Autorität Eigenverantwortung, Empathie, Urteils- und Kritikfähigkeit der Kinder und Jugendlichen. Sie unterstützt ihren Entwicklungsprozess hin zu mündigen Menschen. Dieser lernfördernde Ansatz entspricht dem Verständnis einer modernen Pädagogik.

Der Begriff Neue Autorität unterstreicht gleichzeitig die Legitimation respektive die Notwendigkeit einer pädagogischen Führung, um die Aufsichts- und Fürsorgepflicht für das einzelne Kind und für Kindergruppen wahrzunehmen. Kinder und Jugendliche sollen sich frei entfalten können, sie haben aber auch das Recht auf Schutz, Orientierung, Führung und Begleitung.

Die ersten Erfolge mit der Neuen Autorität ermutigten uns, auf dem eingeschlagenen Weg zu bleiben. Wir haben heute nicht nur ein gemeinsames und gesellschaftstaugliches pädagogisches Konzept im Umgang mit destruktivem Verhalten von Schülerinnen und Schülern, die Interventionen sind auch wirkungsvoller, flexibler und vielseitiger als unsere herkömmlichen Vorgehensweisen. Die Zusammenarbeit im Team und mit den Eltern stärkt zudem die Autorität der einzelnen Erziehungspersonen, und das beugt Resignation und Erschöpfung vor.

Bereits 2002 veröffentlichte der Familientherapeut Haim Omer seinen Bestseller »Autorität ohne Gewalt« (Omer u. von Schlippe 2002/2017) über das Wiedererlangen der Autorität von Eltern. Damals wurde er gebeten, auch ein Buch für Pädagoginnen und Pädagogen zu schreiben. Als er mir anbot, als Co-Autorin mitzuwirken, habe ich sehr gern zugesagt. Die Herausforderungen, einen ordentlichen Schulbetrieb aufrechtzuerhalten, nehmen gleichermaßen zu wie die Ansprüche der Gesellschaft an die Schulen in Bezug auf ihren Erziehungsauftrag und ihre Erziehungsmethoden. In diesem Buch stecken viele Jahre Erfahrung aus Schulen in Israel, der Schweiz, Deutschland und anderen Ländern. Ich freue mich, wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, von diesen Erfahrungen profitieren und Ideen mitnehmen können, die zu Ihrer Rolle als Pädagogin, als Pädagoge und zu Ihrer Organisation passen.

Die Anwendung des Konzepts der Neuen Autorität im schulischen Kontext hat Haim Omer bereits in seinem Buch »Stärke statt Macht« (Omer, 2010/2016) aufgegriffen. Ebenfalls im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienen ist »Neue Autorität – Das Handbuch« (Körner et al., 2019) mit einem Kapitel zum Praxisfeld Schule. Martin Lemme und Bruno Körner publizierten ihre Erfahrungen mit der Neuen Autorität 2016 in der Reihe »Spickzettel für Lehrer« (»›Neue Autorität‹ in der Schule. Präsenz und Beziehung im Schulalltag«).

Das Konzept stärkt die Autorität der Erziehungspersonen, ist kompatibel mit der Reformpädagogik und kombinierbar mit aktuellen Trends der heutigen Schul- und Organisationsentwicklung. Vieles in diesem Buch wird Ihnen darum bekannt vorkommen. Das ist gut so! Sie fangen nicht bei null an, und es ist weit effektiver, auf Bestehendem aufzubauen und Schulentwicklungsprojekte zu verbinden, statt alles neu zu erfinden.

Ich wünsche Ihnen eine spannende, anregende Lektüre und natürlich viel Erfolg bei der Umsetzung.

Regina Haller

EINLEITUNG

Die Neue Autorität von Lehrkräften (und Eltern) stellt einen positiven Wert dar in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Sie gibt ihnen Orientierung, Begleitung und Schutz. Dazu braucht es erwachsene Führungspersonen, die in ihrer Rolle diese Verantwortung übernehmen wollen und vor allem übernehmen können. Die nötige Stärke (Hier bin ich, hier bleibe ich), Sicherheit (Ich habe den Überblick, die Lage unter Kontrolle) und Zuversicht (Das kommt gut, du schaffst das) können Erziehende nur authentisch vermitteln, wenn es auch ihnen selbst gut geht.

Auch andere namhafte Familientherapeuten wie zum Beispiel der Däne Jesper Juul setzen auf diese Haltung: Erziehende, die ihre eigenen Bedürfnisse genauso ernst nehmen wie die der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen, erweisen diesen einen größeren Dienst als Erziehende, die sich ständig aufopfern und die eigene Befindlichkeit hintanstellen.

Um dies zu verstehen, brauchen wir nicht einmal einen Erziehungsratgeber. Wer je mit dem Flugzeug gereist ist, kennt die Anweisung: Im Notfall sorgt die erwachsene Person zuerst für sich, dann erst soll sie sich um das ihr anvertraute Kind kümmern.

Abbildung 1: Anweisungen zum Nutzen einer Sauerstoffmaske im Flugzeug

Die Logik ist bestechend einfach. Wenn uns die Luft ausgeht, können wir unserer Fürsorgepflicht – im schulischen Kontext unserer Aufsichts-, Bildungs- und Erziehungsaufgabe – nicht mehr nachkommen. Wie soll eine Lehrkraft, die selbst am Ende ihrer Kräfte ist, Zuversicht oder gar Stärke ausstrahlen? Wie soll ein System mit ständig wechselndem und von immer neuen Anforderungen ausgelaugtem Personal Kindern und Jugendlichen Orientierung und Sicherheit bieten? Eltern, aber auch Journalisten oder Politikerinnen, sollten bedenken, dass sie mit Angriffen gegen die Schule und deren Mitarbeitende letztlich den Schülerinnen und Schülern schaden.

Nun ist dieses Buch zwar auch, aber nicht in erster Linie für Eltern gedacht, auch nicht für Politiker und Politikerinnen oder Medienschaffende. Es ist für uns geschrieben, die wir in der Schule arbeiten! Zu unserem eigenen Wohl – und damit zum Wohl unserer Schülerinnen und Schüler – müssen wir uns auf unsere Stärken und unsere eigenen Möglichkeiten besinnen. Genau hier setzt dieses Buch an; bei jeder einzelnen Lehrkraft bis hin zum gesamten Lehrkörper. Es geht nicht um schwieriges Verhalten von Schülerinnen und Schülern, es geht darum, wie in der Schule Tätige unerwünschtem Verhalten von Schülerinnen und Schülern vorbeugen und bei dessen Auftreten eingreifen. Es geht in diesem Buch nicht um ADHS oder Verhaltensanalysen von Kindern und Jugendlichen aus einem problematischen familiären Umfeld, sondern es geht um Interventionen, um gemeinsame Haltungen und Zusammenarbeit, um klare Botschaften und deren Wirkung. Es geht um die Stärke von Pädagoginnen und Pädagogen durch die Erweiterung des persönlichen und gemeinsamen Handlungsspielraums, wenn herkömmliche Vorgehensweisen nicht mehr greifen.

Raus aus der Ohnmacht! bedeutet, unabhängig vom Verhalten oder der Reaktion der Schülerin oder des Schülers, unabhängig von weiteren Ursachen agieren und reagieren zu können.

Die beschriebenen Methoden basieren auf dem Konzept der Neuen Autorität von Haim Omer und Arist von Schlippe. Es umfasst die Prinzipien Präsenz, Selbstkontrolle, Widerstand, Vernetzung und Öffentlichkeit, Aufschub und Deeskalation, Beharrlichkeit und Wiedergutmachung. Sie werden in Kapitel 1.4 näher ausgeführt.

Die Neue Autorität ist kein starres Konzept, das nur in seiner Gesamtheit funktioniert. Im Gegenteil, es ist sehr flexibel einsetzbar.

1.Es ist möglich, einzelne Elemente (zum Beispiel die Wiedergutmachung oder die Vernetzung) zu priorisieren, damit anzufangen und dann das Konzept Element für Element weiter auszubauen.

2.Jede Pädagogin, jeder Sozialpädagoge kann unabhängig vom Rest des Teams damit beginnen, das Konzept im Arbeitsalltag anzuwenden. Natürlich verstärkt sich die Wirkung, je größer der Kreis derer wird, die ihre Arbeit an den Prinzipien der Neuen Autorität ausrichten.

3.Die Neue Autorität ist gut kombinierbar mit anderen Ansätzen, zum Beispiel der gewaltfreien Kommunikation von Marshall B. Rosenberg (2013), dem lösungsorientierten Ansatz von Steve de Shazer (1982) und dem Zürcher Ressourcen-Modell von Maja Storch und Frank Krause (2016).

4.Die Prinzipien eignen sich für alle Bereiche und Institutionen mit einem Erziehungsauftrag, unabhängig vom Alter der Kinder, der Schulstufe oder dem Schulsystem.

Im Kapitel 1 erörtern wir die zunehmende Kritik an der Schule und die veränderte Haltung in der Gesellschaft gegenüber Autorität in der Erziehung. Wir stellen den wesentlichen Merkmalen autoritären Handelns die Prinzipien der Neuen Autorität gegenüber.

Im Kapitel 2 gehen wir auf den Begriff der Präsenz und ihre zentrale Rolle im Konzept der Neuen Autorität ein. Wir zeigen auf, wie Lehrkräfte Präsenz erhöhen und gezielt einsetzen können.

Kapitel 3 ist der Kooperation zwischen in der Schule Tätigen und Eltern gewidmet. Wir weisen auf die negativen Auswirkungen einer konfliktbelasteten Schule-Eltern-Beziehung hin und richten unseren Fokus auf Elemente und Wirkung einer gelungenen Zusammenarbeit.

Einzelkämpfertum von Lehrkräften gehört der Vergangenheit an. Die gemeinsame Verantwortung im Kollegium und Möglichkeiten der gegenseitigen Unterstützung sind Thema in Kapitel 4.

Im Kapitel 5 erfahren Sie, wie lohnend und wirkungsvoll es ist, gemeinsam mit der Schülerschaft ein positives Schulklima zu schaffen.

Im Kapitel 6 beleuchten wir die Rolle der Schulleitung und erläutern, wie das Konzept der Neuen Autorität als Schulentwicklungsprojekt implementiert werden kann.

Zum Schluss beschreiben wir in Kapitel 7, wie die Prinzipien der Neuen Autorität die Notwendigkeit von Sanktionsmaßnahmen relativieren, wie mit dem Element der Wiedergutmachung Frieden gestiftet werden kann und wie damit Lernprozesse in Gang gesetzt werden.

Ein guter Lesefluss ist uns wichtig. Ab Kapitel 1 werden wir auf Doppelnennungen wie geschätzte Leserin, geschätzter Leser verzichten. Wenn möglich verwenden wir neutrale Begriffe wie Lehrkraft oder nutzen einen willkürlichen Wechsel zwischen weiblicher und männlicher Form, um beide Geschlechter gleichermaßen anzusprechen (zum Beispiel: Die Schülerinnen hörten dem Referenten nur bedingt interessiert zu).

Das Schulsystem ist im Wandel. In vielen Gemeinden ist das Betreuungsangebot für Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter ins Schulsystem integriert. In der Stadt Zürich zum Beispiel spricht man vom Lebensraum Schule und Betreuungspersonal gehören zum Schulteam. Ob separate Einrichtung oder Bestandteil der Schule, im Umgang mit herausfordernden Kindern ist eine Zusammenarbeit zwischen Lehr- und Betreuungspersonen immer hilfreich, und selbstverständlich lassen sich auch alle in diesem Buch vorgestellten Inhalte, Beispiele und Abläufe auf den Betrieb einer Tagesbetreuung übertragen.

Die im Buch verwendeten Beispiele stammen aus verschiedenen Schulen, vor allem aus Israel, Deutschland und der Schweiz. Natürlich lassen sich die Beispiele nicht eins zu eins auf jedes Land und auf jede Schulstufe übertragen. Die Haltung und die Prinzipien sind aber allgemein gültig, und das pädagogische Handeln funktioniert in adaptierter Form in jedem Schulsystem und auf jeder Altersstufe. Alle Beispiele sind vollständig anonymisiert.

»Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.« Wer kennt es nicht, dieses afrikanische Sprichwort. Übersetzt ins Konzept der Neuen Autorität steht es für die Elemente Vernetzung und Öffentlichkeit. Der »Fels in der Brandung« ist ein Synonym für Widerstand oder Selbstkontrolle (Hier bin ich, hier bleibe ich, das ist meine Funktion, egal, wie stark der Sturm tobt), »Steter Tropfen höhlt den Stein« erinnert an die Beharrlichkeit und spätestens beim Lesen von Kapitel 3.2 zum Thema Lehrer-Eltern-Diplomatie weiß man den Satz einzuordnen: Wir sitzen alle im selben Boot.

Das Konzept der Neuen Autorität baut auf unserem Vorwissen auf. Wahrscheinlich werden sich etliche Leserinnen und Leser in ihrem Tun wiedererkennen, bestätigt fühlen und durch unsere Ausführungen neue Ideen entwickeln, eigene festigen, weiter ausbauen und im Schulteam verbreiten.

Wir wünschen gutes Gelingen!

KAPITEL 1:

Ein neues Autoritätsverständnis

Vor einigen Jahren sorgte in Israel ein Fall für Schlagzeilen, bei dem ein Mädchen brutal und über längere Zeit von einer Gruppe Jugendlicher vergewaltigt worden war. Opfer und Täter besuchten dieselbe Schule. Verschiedene Zeitungen brachten über zwanzig Leitartikel, in denen die an der Schule Tätigen angeprangert wurden. Sie warfen den Lehrkräften Versagen vor und behaupteten, sie hätten das Mädchen nicht ausreichend geschützt. Die Wahrheit war ganz anders. Die stellvertretende Direktorin deckte den Fall auf, gerade weil sie aufmerksam und sensibel genug war, um die Veränderungen im Verhalten des Mädchens wahrzunehmen. Sie wandte sich direkt ans Sozialamt, und die tatverdächtigen Jugendlichen wurden noch am selben Tag von der Polizei verhört. Die Schule schuf ein Unterstützernetzwerk für das Mädchen und ihre Familie. Später prüften zwei unabhängige Untersuchungskommissionen – eine kommunale und eine staatliche – den Fall. Nach monatelangen Recherchen bestätigten beide, dass die Lehrkräfte und die Direktorin die Situation erkannt, richtig gehandelt und angemessen sowie verantwortungsvoll reagiert hätten. Über die vollständige Entlastung der Schule durch die Untersuchungsberichte stand nichts in den Medien, welche die Schule vorher so harsch kritisiert hatten. Diese Nachricht machte keine Schlagzeilen. Ähnliche Fälle kennen wir auch aus Westeuropa. Es ist heute im Trend, über Lehrkräfte oder Schulen herzuziehen.

1.1Veränderung der gesellschaftlichen Erwartungen an Erziehende

Die allgemeine Kritik an Lehrkräften und Eltern gründet auf tiefgreifenden ideologischen Veränderungen, was die Erwartungen an Erziehende angeht.

Früher genügte es, wenn sich diese um die praktischen Bedürfnisse des Kindes kümmerten und ihm Grundwerte und Grundwissen vermittelten. Verhielt sich das Kind trotz sichtbarer Bemühungen des Erziehenden auffällig, galt dies nicht automatisch als dessen Versagen. Als Grund für das problematische Verhalten nahm man vielmehr eine Grunddisposition oder negative Einflüsse auf das kindliche Verhalten an. Heute sollen Lehrkräfte und Eltern auch die Persönlichkeit des Kindes formen, die Verantwortung für Erfolge respektive Misserfolge in seinem (Erwachsenen-)Leben übernehmen. Diese Haltung erzeugt Druck auf die Erziehenden. Fast automatisch wird ihnen die Schuld zugesprochen, wenn Kinder und Jugendliche sich nicht wie erwünscht entwickeln. Früher war eine solche Schlussfolgerung undenkbar. Niemand hätte Geppetto für Pinocchios Verhalten verantwortlich gemacht, auch nicht die Familie von Max und Moritz, die unter den Streichen der beiden genauso litt wie Nachbarn und Lehrer. Sie waren halt unartige Buben.

Das Verhalten dieser Kinder galt als vermeintlich angeborene Böswilligkeit, Naivität und Verspieltheit. Vielleicht gab es Verführer mit schlechtem Einfluss. Mit den Erziehungsleistungen der Eltern oder anderer Bezugspersonen wurde es nicht in Verbindung gebracht.

1.2Kinder wachsen an Herausforderungen

In den 1960er Jahren setzte man zunehmend auf antiautoritäre Erziehung. Mit der Zeit erwuchs daraus ein Misstrauen gegenüber jeglicher Form von Autorität. Die freie Erziehung stand für eine spontane und somit optimale Entwicklung. Verhielt sich ein Kind problematisch, suchte man aus diesem Verständnis heraus die unterdrückende Instanz, die die natürliche und positive Entwicklung verhinderte. Der Traum von einer antiautoritären Erziehung erwies sich allerdings als trügerisch. Hunderte von Studien belegen, dass Kinder, die ohne Grenzen und Anforderungen heranwachsen, sich weniger gut entwickeln als traditionell erzogene. Sogenannte frei erzogene Kinder haben nicht nur eine niedrigere Frustrationstoleranz, brechen öfters die Schule ab und sind anfälliger für verschiedene Risikofaktoren, sie haben auch ein geringeres Selbstwertgefühl. Die Erfahrung, dass es Schwierigkeiten überwinden kann, macht ein Kind stark, fehlt sie, fühlt es sich später inkompetent und weniger wert.

Wie kommt es dazu? Das Selbstbild entwickelt sich nicht allein durch positive Reflexion. Diese ist zwar ein wichtiger Faktor, das Selbstbild basiert aber auch auf der Erfahrung, dass Schwierigkeiten überwunden werden können. Ein Kind begegnet vielen herausfordernden Situationen, etwa dem Eintritt in den Kindergarten, der Einschulung, der Notwendigkeit, Regeln und Vorschriften akzeptieren oder die Befriedigung eigener Bedürfnisse aufschieben zu müssen. Anfangs sind Kinder damit vielleicht überfordert. Die meisten lernen, damit umzugehen. Die Bewältigung der Herausforderungen verhilft ihnen zu einem persönlichen Erfolg und damit zu einem Entwicklungsschritt. Kindern, die in einem übermäßig permissiven Erziehungsumfeld aufwachsen, bleiben diese positiven Erfahrungen verwehrt. Permissiv bedeutet, dass dem Kind eine Aufgabe abgenommen wird, sobald es sie ablehnt oder als zu schwierig empfindet. Diesem Kind fehlen die Erfahrungen, die ihm ein Gefühl von Kompetenz vermitteln. Entwicklung ist in einem hohen Maß das Ergebnis von Anstrengungen zur Bewältigung der Schwierigkeiten auf unserem Lebensweg.

Von Lehrkräften und Eltern wird immer noch erwartet, dass sie keine Autorität ausüben und in ihrer Erziehung lediglich auf ihre wohltuende Anwesenheit und ihr persönliches Charisma setzen. Es gibt Lehrkräfte und Eltern mit ausreichend Präsenz und Ausstrahlung, die ein Kind oder eine Klasse selbst in schwierigsten Situationen führen können. Die allermeisten von uns sind aber irgendwann mit einer Situation konfrontiert, in der wir auf Unterstützung, Vernetzung und Zusammenarbeit angewiesen sind, um den Erziehungsauftrag und die Fürsorgepflicht adäquat wahrnehmen zu können.

1.3Lehrkräfte und Eltern – Partner statt Feinde

Die Stellung von Lehrkräften und Eltern wird nicht nur durch die kritische öffentliche Meinung geschwächt, sondern auch durch die Vereinzelung in unserer Gesellschaft. Eltern sind heute weniger denn je in Gemeinschaften eingebunden. Lehrkräfte sind von Berufs wegen eher Einzelkämpfer1. Sie arbeiten im eigenen Klassenzimmer und nicht in Gruppen, wie es in anderen Berufen üblich ist. Dies begünstigt Rivalität statt Solidarität und vertieft damit das Gefühl der Vereinsamung. Parallel zur Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung werden größere Schulen gebaut, die Anonymität nimmt zu. Der Lehrer war früher eine vertraute Figur in der Gemeinde. Das sicherte ihm ein gewisses Maß an Zugehörigkeit und Unterstützung. Heute haben Lehrkräfte nicht mehr per se eine tragende Rolle in der Gemeinde.

Angst vor Kritik drängt Menschen in die Defensive. Lehrkräfte ziehen sich darum lieber zurück. Eltern wiederum fürchten, für negatives Verhalten ihrer Kinder in der Schule kritisiert zu werden. Sie verhalten sich der Schule gegenüber abwehrend. Die beiderseitige Angst vor Schuldzuweisungen ist Nährboden für Feindseligkeiten und gegenseitige Abwertung in Bezug auf die Arbeit mit dem Kind. Es entstehen Denkmuster wie: »Nicht wir Eltern sind schuld, sondern die Lehrkräfte, die nichts verstehen und ihre Arbeit falsch machen!« Oder: »Wir Lehrer sind nicht schuld, sondern die Eltern, die ihre Kinder falsch erziehen!« Das Problem verschärft sich, wenn beide Seiten die zwingende Partnerschaft in der Erziehung des Kindes aufgeben und sich im schlimmsten Falle als Feinde begegnen. Der deutsche Neurobiologe Joachim Bauer schreibt dazu:

»Wo Schule und Eltern nicht kooperieren, bleibt das Kind auf der Strecke. Wie soll es in die Lage kommen, sich innerlich auf die Schule einzulassen, Motivation aufzubauen und sich mit den Bildungszielen zu identifizieren, wenn es spürt, dass Eltern Vorbehalte gegenüber der Schule haben, dass die Eltern meinen, das Kind vor den Lehrern schützen zu müssen, oder wenn die Eltern gar mehr oder weniger offenen Krieg gegen die Schule führen? Motivation einerseits und aktuelle Beziehungen mit Erwachsenen andererseits sind für das Kind untrennbar miteinander verbunden: Es lernt – aus Sicht seiner neurobiologischen Motivationssysteme – durchaus für den Lehrer bzw. für die Lehrerin. Das Kind wird aus einer Hand, die ihm eine Person (Lehrerin oder Lehrer) reicht, für die seine Eltern keinen Respekt empfinden, nichts annehmen« (Bauer, 2007, S. 93 f.).

Eine Atmosphäre des Misstrauens zwischen Schule und Eltern beeinträchtigt die Arbeit der Lehrkräfte. Auch ohne diese Erschwernis ist die Klassenführung heutzutage eine besondere Herausforderung.

•Neue Verantwortlichkeiten (zum Beispiel Sucht- oder Schuldenprävention oder die integrative Förderung) werden an die Schule delegiert. Damit wachsen auch die täglichen Aufgaben rund um die Klassenführung.

•Herkömmliche Erziehungsmethoden sind nicht mehr legitim. Wenn Lehrkräfte im Bemühen um einen geordneten Unterricht trotzdem darauf zurückgreifen, setzten sie sich nicht nur der Kritik der Eltern, sondern auch der vorgesetzten Stellen aus.

•Die allgemein kritische Haltung von Eltern und Gesellschaft gegenüber der Schule stellt die funktionale Autorität der Lehrkräfte zusätzlich infrage.

Kein Wunder, dass Lehrkräfte wie kaum eine andere Berufsgruppe von Burnout gefährdet sind. Die berufliche Überbelastung beeinträchtigt nicht nur ihre Lebensqualität und Gesundheit, sondern auch die Qualität des Unterrichts. Es muss gelingen, die Autorität der Pädagoginnen so wiederherzustellen, dass sie den erzieherischen Werten einer freien Gesellschaft entspricht. Das dient dem Berufstand der Lehrer sowie den Kindern und Jugendlichen – und damit der ganzen Gesellschaft.

1.4Traditionelle und Neue Autorität

Normen, Werte und Haltungen unserer Gesellschaft haben sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Die sogenannte traditionelle Autorität findet darin keinen Platz mehr. Die folgende Übersicht über einige Glaubenssätze der traditionellen Autorität zeigt deutlich, weshalb dieser Ansatz ausgedient hat – auch an unseren Schulen.

Distanz: Früher war sie ein wichtiges Merkmal der Autorität. Der Lehrer war eine Respektsperson, die keine Nähe zuließ und zu der die Schülerinnen aufzusehen hatten. Die Autoritätsperson stand sozusagen auf einem Podest. Gesellschaftliche Umgangsformen unterstrichen die Kluft zwischen Kind und Erwachsenem. Heute ist die Distanz als pädagogischer Leitsatz nicht mehr angebracht. Lehrer interessieren sich für die Lebenswelt der Kinder, lassen Nähe zu und sind authentisch. Die Ablehnung von Distanz als Grundlage der Autorität stellt uns aber auch vor schwierige Fragen: Ist Autorität ohne Distanz überhaupt möglich? Geben Lehrkräfte oder Eltern nicht ihre Stellung auf, wenn sie dem Kind nahestehen? Machen sie sich durch die Nähe zum Freund des Kindes und verlieren dadurch ihre Erziehungsfähigkeit? Diese Fragen sind nicht belanglos. Die frühere Distanz war ein klarer Leitsatz, während die heute gewünschte Nähe viel verschwommener ist. Es ist klar, dass wir nicht zum damaligen Zustand der Distanz zurückkehren wollen, jedoch stellt sich die Frage, wie wir die Nähe und die Autorität unter einen Hut bringen.

Kontrolle und Gehorsamkeit: Früher übten Lehrkräfte Kontrolle aus, und Kinder hatten zu gehorchen. Gute Erziehung wurde mit braven Kindern gleichgesetzt. Nicht so heute: Wir wollen eigenständige, unternehmungslustige und kreative Kinder. Sie sollen selbst denken, kritisch sein und selbstverantwortlich handeln und lernen. Die gehorsamen Kinder aus der Zeit der Industrialisierung sind in unserer Berufswelt nicht mehr gefragt, beruflicher Erfolg verlangt heute andere Kompetenzen. Wir schrecken vor strenger Kontrolle zurück, verleiht diese der Autoritätsperson doch eine uneingeschränkte Macht und verwandelt das Kind in ein Objekt ohne die Fähigkeit, selbst Verantwortung zu übernehmen. Wir fragen uns, wie viel Freiheit für eine gesunde Entwicklung des Kindes zulässig ist. Ist eine Autorität, die weder Kontrolle noch Gehorsam anstrebt, überhaupt möglich? Sind Macht und Gehorsam nicht das Grundwesen jeder Form von Autorität?

Hierarchie: Früher herrschte eine klare und eindeutige Hierarchie. Die Autoritätsperson musste keine Rechenschaft ablegen. Lehrkräfte hatten absolute Macht im Klassenzimmer, die Eltern hatten absolute Macht zu Hause. Beide wurden nicht kritisiert. Heute beansprucht die Gesellschaft das Recht zu prüfen, was in der Schulklasse oder zu Hause geschieht, insbesondere dann, wenn es Anzeichen für einen Machtmissbrauch gibt. Die Lehrkraft genießt also nicht mehr uneingeschränkte Autorität in der Klasse. Es ist legitim, ihre Entscheidungen infrage zu stellen. Früher war die Einsamkeit des Lehrers eine vornehme. Heute ist die Lehrkraft einsam, weil sie allein vor der Klasse steht, angreifbar und ohne unterstützendes Netzwerk. Wir stehen vor einem Dilemma: Die hierarchische Struktur ist aufgebrochen, das Geschehen in der Klasse wird einem kritischen Blick unterzogen. Erschüttern wir damit nicht die Autorität der Lehrkräfte in ihren Grundfesten?

Prinzip der unmittelbaren Bestrafung: Früher bestraften Autoritätspersonen jedes negative Verhalten, zuweilen schmerzhaft, und – als klares Zeichen der Autorität – unmittelbar. Nur durch sofortige Bestrafung erwirkt man Gehorsam. Diesen Mechanismus finden wir bereits in der griechischen Mythologie. Zeus beherrscht die Welt mithilfe des Blitzes, dem Symbol tödlicher und unmittelbarer Bestrafung. Heute gilt das Prinzip der unmittelbaren Bestrafung als falsch. Sie geschähe nämlich in einem Moment höchster emotionaler Erregung – meistens Wut – auf beiden Seiten. Wird die Strafe genau dann verhängt, besteht ein hohes Eskalationsrisiko, besonders bei aufsässigen Schülerinnen. Eine unmittelbare Bestrafung verhindert, dass sich Erziehende die nötige Zeit nehmen, um über eine angemessene Intervention nachzudenken. Schließlich sollen Lehrkräfte nicht mehr schnell und schmerzhaft strafen wie früher. Weder die Mittel noch die pädagogische Haltung entsprechen unseren heutigen Werten. Falls überhaupt, wird heute mit Bedacht bestraft. Sanktionen, zum Beispiel eine Suspendierung vom Unterricht, müssen oft über bürokratische Kanäle genehmigt werden. Das Nachsitzen am Mittwochnachmittag muss mit den Eltern abgesprochen und mit den diversen Freizeitbeschäftigungen des Kindes koordiniert werden. Mit diesen Hindernissen schützt unsere Gesellschaft Kinder vor der Willkür von Autoritätspersonen. Es sind notwendige Veränderungen, aber auch sie werfen die Frage auf: Wird die Autoritätsperson durch den Verzicht auf unmittelbare Sanktionen nicht entmachtet?

Die Ablehnung dieser Grundpfeiler eines veralteten Autoritätsverständnisses ist heute eine unbestrittene Tatsache. Und jetzt? Wir wissen, dass antiautoritäre Erziehung ein utopischer Versuch war, Kinder ohne Grenzen und Anforderungen zu erziehen. Die Mittel der traditionellen Autorität sind nicht mehr legitim. Und trotzdem brauchen wir eine Form von Autorität, um unseren pädagogischen Auftrag zu erfüllen. Das Modell der Neuen Autorität beschreibt einen Weg aus diesem Dilemma. Es ermöglicht Erziehenden, ihre Position, ihre Stärke und ihren Einfluss auf eine Art und Weise zu etablieren, die unseren heutigen Haltungen, Normen und Werten hinsichtlich der modernen Erziehung entspricht. Im Folgenden stellen wir die Prinzipien der Neuen Autorität als Alternative zum traditionellen Autoritätsverständnis vor.

Präsenz – anstelle von Distanz: Im Verständnis der Neuen Autorität ersetzen entschlossene Präsenz, Anteilnahme und Fürsorge die Distanz. Ein Kind spürt elterliche Präsenz vor allem in schwierigen Situationen; dann, wenn das Verhalten der Eltern ihm folgende Botschaft vermittelt: »Ich bin deine Mutter, dein Vater. Du kannst mir weder kündigen noch kannst du mich wegschicken. Ich bin hier, und ich bleibe hier!« So spürt das Kind, dass es echte Eltern hat und nicht nur Lieferanten von Geld und Dienstleistungen. Und ebenso wichtig: Der Vater, die Mutter fühlen sich präsent und bedeutungsvoll. Ähnlich funktioniert Präsenz im Sinne der Neuen Autorität für Lehrkräfte. Die Schüler sehen und spüren die physische und mentale Anwesenheit der Lehrkraft, nehmen sie als interessiert wahr, aber auch als wachsam und entschlossen im Umgang mit Problemen in der Klasse. Je präsenter eine Lehrkraft ist, desto weniger können Schüler sie missachten oder ignorieren.

Hier bin ich, hier bleibe ich! als Botschaft der Präsenz

Eine Lehrerin übernahm vier Monate vor Schuljahresende eine schwierige sechste Klasse. In der ersten Stunde fragten die Schülerinnen und Schüler: »Wie lange bleiben Sie?« Die Lehrerin antwortete: »Bis zu den Sommerferien.« Darauf erwiderten die Anführer der Klasse keck: »Das sagte Ihre Vorgängerin auch.« Es stellte sich heraus, dass die Klasse in einem Schuljahr bereits vier verschiedene Lehrkräfte gehabt hatte. Die Lehrerin wusste zwar nichts von Neuer Autorität und der wichtigen Botschaft der Präsenz, aber sie war wegen eines längeren Auslandaufenthalts in finanzieller Bedrängnis und brauchte den Job. Sie beschied der Klasse: »Ihr könnt euch benehmen wie ihr wollt, aber ich bleibe hier, darauf könnt ihr euch verlassen!« In dieser Ankündigung »Da stehe ich und da bleibe ich – darauf könnt ihr euch verlassen« steckte viel mehr autoritäre Kraft, als sich die Lehrerin bewusst war. Am Ende des Schuljahres nach mehrheitlich guten Wochen der Zusammenarbeit bekannte der auffälligste Schüler der Lehrerin: »Sie hätten auch ein bisschen früher kommen können.« Gerade die verhaltensauffälligen Kinder und Jugendlichen schätzen Verlässlichkeit und diese Form der Autorität. Sie gibt ihnen Sicherheit und Orientierung – wie der sprichwörtliche »Fels in der Brandung«.

Mit welchen gezielten Maßnahmen Lehrkräfte ihre Präsenz verstärken können, erfahren Sie im Kapitel 2.

Vernetzung – anstelle des Einzelkampfs: Statt des Prinzips einer allein verantwortlichen Autoritätsperson an der Spitze der Hierarchie vertritt die Neue Autorität gegenseitige Unterstützung und Teamarbeit. Botschaften wie »Du tust, was ich sage!« ersetzen Lehrkräfte durch »Wir machen, was wir sagen!«. Das Wir kann sich je nach Kontext auf eine andere Gruppe beziehen, zum Beispiel auf ich und die Klassenlehrerin, ich und deine Eltern, oder wir, das Schulpersonal. Autorität ist nicht mehr allein Sache der einzelnen Lehrkraft. Sie entsteht auch aufgrund der Legitimation durch ihre Rolle, der damit einhergehenden Verantwortung, durch die Zusammenarbeit mit den Eltern, die Unterstützung des Kollegiums und durch gemeinsam getragene Konzepte und Verhaltensvereinbarungen. Selbst die Schülerschaft kann miteinbezogen werden bei der Förderung eines gewaltfreien Schulklimas. Mit dieser Basis gewinnt auch die einzelne Pädagogin an Stärke. Als Vertreterin eines Netzwerks hat sie um vieles mehr Einfluss und Gewicht denn als Einzelperson. Wie der Aufbau dieser Netzwerke gelingt, beschreiben wir in den Kapiteln 3, 4 und 5.

Öffentlichkeit – statt Verheimlichung: Sie kann als Begleiterscheinung, als bewusste Verstärkung der Vernetzung betrachtet und genutzt werden. Eltern, die mit ihrer Tochter im Konflikt sind, suchen die Eltern der besten Freundin ihrer Tochter auf und besprechen mit ihnen Fragen zur Nutzung des Mobiltelefons, zum Ausgang oder zum Taschengeld. Diese Eltern gewinnen an Stärke. Lehrkräfte in schwierigen Klassensituationen öffnen die Tür und bitten die Kollegin im Nachbarzimmer, dasselbe zu tun, oder sie laden Eltern zu einem Besuch ein. Diese Lehrkräfte sind weniger einsam. Fußballtrainer oder andere für die Familie und das Kind wichtige Bezugspersonen zum Elterngespräch hinzuzubitten, ist unterstützend und stärkt das Vertrauen in die Schule. Das Prinzip der Öffentlichkeit finden Sie in den meisten unserer Beispiele.

Beharrlichkeit, Aufschub und Deeskalation – anstelle des Prinzips der unmittelbaren Reaktion: Die Neue Autorität basiert auf Beharrlichkeit und einem langen Atem. Die Zeit wird selbst zu einem Element der Stärke. Befreit von der Pflicht, sofort zu reagieren, gewinnt die Lehrkraft Zeit, ihre Schritte zu planen und Unterstützung zu suchen. Nicht zu vergessen ist die Botschaft an das Kind: »Ich habe es gesehen – ich dulde es nicht – ich werde mir Gedanken machen – ich komme darauf zurück!« Dieses Vorgehen schützt Erziehende nicht nur vor emotionalen und unüberlegten Maßnahmen, sondern hat auch noch andere Vorteile und Wirkungsfelder:

•Das Kind oder die Kindergruppe hat Zeit, sich zum Vorfall eigene Gedanken zu machen, ohne dass eine vorschnelle Reaktion der Lehrkraft die Aufmerksamkeit schon auf die Lösung lenkt.

•Die Lehrkraft zeigt, dass sie die Sache nicht vergisst und ihr nachgehen wird. Das Prinzip der Beharrlichkeit macht sie zu einer Figur der Kontinuität, die die Vergangenheit mit der Zukunft verbindet. Die Präsenz der Lehrkraft gewinnt an Entschlossenheit, Glaubwürdigkeit und Tiefe.

•Das Prinzip der Beharrlichkeit beeinflusst auch die Familie. Plant die Lehrkraft eine Verhaltensveränderung beim Schüler langfristig, werden in der Regel auch die unterstützenden Aktionen der Eltern ausdauernder sein.

•Sofortreaktionen schließen nur die unmittelbar Beteiligten mit ein, längerfristig ausgelegtes Vorgehen berücksichtigt auch diejenigen Personen, die für das Kind außerhalb der Unterrichtszeiten verantwortlich sind, zum Beispiel schulische Betreuungspersonen, Tagesmütter oder Sporttrainerinnen. Solche Maßnahmen werden gemeinsam abgesprochen und regelmäßig überprüft. Klassisch ist in der Schweiz das Vorgehen nach einem sogenannten Förderzyklus, welcher die Elemente Schulisches Standortgespräch, Förderplanung, Überprüfung und Neudefinition der Förderziele beinhaltet.

Autorität, die auf Sofortreaktionen basiert, existiert nur im Augenblick. Sie wirkt oberflächlich und birgt zudem das Risiko einer ungeeigneten Intervention. Erhält die Lehrkraft in einer Sache oder einem Problem ihre Präsenz über einen längeren Zeitraum aufrecht, gewinnt sie immer an Stärke. Die Verzögerung betrifft die Maßnahme und nicht die Intervention im Moment, die nötig ist, um zum Beispiel akute Handgreiflichkeiten zu unterbinden. Da braucht es selbstverständlich ein sofortiges Eingreifen, ein Signal, das gewalttätiges Handeln stoppt. Anschließend folgt die Ankündigung: »Ich habe es gesehen, dieses Verhalten dulde ich nicht, ich komme darauf zurück.« Selbstkontrolle – anstelle von Kontrolle und dem Erzwingen von Gehorsam: Neue Autorität setzt auf Selbstkontrolle und die bewusste Verantwortung für die Rolle des Erziehenden. Eine Führungsperson, die Selbstkontrolle übt und Verantwortung übernimmt, achten und respektieren wir. Führungspersonen, die impulsiv, unsicher oder provokativ handeln, begegnen wir weder mit echter Anerkennung noch mit Vertrauen. Will eine Lehrkraft ihre Autorität (wieder-)herstellen, ist Arbeit an der Selbstkontrolle wichtig. Es ist hilfreich für Pädagogen, sich mit ihren Triggerpunkten und Eskalationsfallen vertraut zu machen. Das bedeutet eine bewusste Auseinandersetzung mit der persönlichen Fragestellung: »Was bringt mich aus dem Konzept?« und Nachdenken über mögliche Reaktionen. Das ist im Rahmen eines Coachings oder einer Intervision möglich und hilft, in schwierigen Situationen die Selbstkontrolle zu wahren. Eine Referendarin erzählte uns folgende Geschichte:

Strategien auf Vorrat

Bei ihrer Prüfungslehrprobe saß ein Junge in der Klasse, dessen Verhalten der Referendarin besondere Mühe bereitete. Im Stuhlkreis erheischte er die Aufmerksamkeit der Klasse, indem er sich immer wieder vom Stuhl fallen ließ. Am Tag vor der Prüfungsstunde wandte sich die Studentin an ihre Ausbildungslehrerin und fragte sie um Rat zum Umgang mit dem Jungen. Schließlich ging es um ihr Examen. Die Praktikumslehrerin wies die angehende Lehrerin an: »Denk daran, du hast fünf Pfeile im Köcher. Alle fünf Pfeile müssen ins Schwarze treffen, falls nötig. Überlege dir also fünf Möglichkeiten, wie du reagieren wirst, wenn der Knabe während deiner Prüfung vom Stuhl fällt und die anderen Kinder durch sein Verhalten ablenkt.« Die Referendarin tat wie geheißen und trat gewappnet zu ihrer Prüfung an. Zu ihrem Erstaunen fiel der Knabe nicht ein einziges Mal vom Stuhl, auch nicht in den folgenden Stunden, die sie in der Klasse unterrichtete.

Mit einer guten Vorbereitung beugen Lehrkräfte unliebsamen Überraschungen vor. Sie strahlen eine Stärke aus, die bereits präventiv wirkt. Tappen Lehrkräfte nicht in die Fallen provozierender Schüler, sondern bleiben dank Selbstkontrolle erfolgreich im Gleichgewicht – und damit souverän –, gelingt es ihnen besser, ihre Führungsrolle wahrzunehmen.

Grundlage der Selbstkontrolle ist die Erkenntnis: Du kannst das Verhalten des Kindes nicht kontrollieren, nur dein eigenes. Der unter dem Stichwort »Vernetzung« formulierte Beispielsatz »Wir machen, was wir sagen« hat dieses Prinzip bereits vorausgenommen. Vielleicht wirkt die Umkehr unseres ursprünglichen Autoritätsverständnisses im ersten Moment anstrengend oder ernüchternd, bei genauerer Betrachtung aber weist sie den Weg hinaus aus der oftmals erlebten Ohnmacht von Erziehungspersonen. Diese Haltung macht sie nämlich unabhängig vom Verhalten eines Kindes oder eines Jugendlichen, und sie können frei über ihre Reaktion entscheiden.

Im Laufe unserer Arbeit entstanden vier Kernsätze für eine gute Selbstkontrolle:

•Man muss das Eisen schmieden, wenn es kalt ist! Mit diesem Leitsatz können Eltern und Lehrer verschärfende Reaktionen dort vermeiden, wo ihre Sofortreaktion vermutlich in eine Eskalation führen würde.

•Ich bin nicht allein, ich kann mir Unterstützung holen. Dieses Wissen verleiht eine innere Stärke, die für das Kind und die Klasse spürbar ist.

•Man muss nicht gewinnen, sondern nur beharrlich sein! Mit diesem Leitsatz beugen Erziehende Machtkämpfen mit dem Kind vor, aus denen beide nur als Verlierer hervorgehen können.

•Fehler sind unvermeidbar, aber sie können korrigiert werden! Wir werden noch aufzeigen, dass die Bereitschaft, Fehler zuzugeben und zu korrigieren, neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Niemand muss auf fehlerhaften Handlungen oder Einschätzungen beharren oder seine Meinung stur vertreten.

Selbstkontrolle vermeidet überstürztes Verhalten und wirkt deeskalierend. So bleiben wir souverän. Für das Konzept der Neuen Autorität und jede Führungsposition ist Selbstkontrolle heutzutage unerlässlich.

Widerstand und Wiedergutmachung – anstelle von Strafen: Schulische Interventionen haben immer einen geregelten Schulalltag und einen geschützten Rahmen für ein angstfreies Lernen zum Ziel. Unterrichtsstörungen oder Gewalt unter den Schülern soll deshalb entschieden nachgegangen werden. Aber anstelle von Strafen stellt gewaltfreier Widerstand das Lernen in den Fokus. Die Schule ist nicht die Justiz, sie hat einen Erziehungsauftrag. Diesen gilt es auch gegenüber Störenfrieden in der Schülerschaft zu erfüllen. Mit dem Prinzip der Wiedergutmachung erfahren Kinder und Jugendliche, dass sie zu ihren Fehlern stehen können, dass es Möglichkeiten gibt, diese wieder in Ordnung zu bringen und somit wieder Teil der Gemeinschaft zu werden. Regelübertretungen sind darum immer auch als Lernfeld zu betrachten. Mehr zu diesem Thema erfahren Sie im Kapitel 7.

Im Gegensatz zum herkömmlichen Autoritätsverständnis von Distanz, Hierarchie und unmittelbarer Bestrafung wirken die Elemente der Neuen Autorität beziehungsstärkend und über den Unterricht hinaus. Verstärkte Präsenz verschafft der Lehrkraft über den direkten Kontakt hinaus Einfluss auf die Lernenden.

Präsenz ist mehr als Anwesenheit

Sandro hatte ein hohes Gewaltpotenzial. In der Primarstufe galt er als Schläger. Seinen Vater hatte er seit Jahren nicht mehr gesehen, seine Mutter arbeitete viel, hatte einen neuen Freund und nahm sich wenig Zeit für den Jungen. Dreimal die Woche trainierte Sandro in einem Kampfsportzentrum. Seine Sekundarschullehrerin zeichnete sich durch