Autorität durch Beziehung - Haim Omer - E-Book

Autorität durch Beziehung E-Book

Haim Omer

4,8

Beschreibung

In den letzten zwanzig Jahren hat Haim Omers ursprünglicher Behandlungsansatz der »elterlichen Präsenz« eine rasante und weite Verbreitung gefunden. Das betrifft zum einen die konzeptionelle Entwicklung vom »gewaltlosen Widerstand« über die Neudefinition von Autorität bis hin zur entwicklungspsychologischen Einbettung der elterlichen Ankerfunktion. Zum anderen finden sich die Grundsätze einer »Neuen Autorität« inzwischen auch von sozialpädagogischen bis hin zu Konzepten der Unternehmensführung wieder. Die aktuelle Bestandsaufnahme zeigt einmal mehr, wie entscheidend die wertschätzende Achtung der Probleme von Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und Erziehungspersonen bis hin zu Konfliktkonstellationen in Gemeinwesen-orientierten Zusammenhängen ist – und der Respekt vor der Autonomie derjenigen, die im Fokus von Hilfsangeboten stehen. Es gibt kein grundlegenderes Werk zur »Neuen Autorität«.

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Haim Omer / Arist von Schlippe

Autorität durch Beziehung

Gewaltloser Widerstand in Beratung, Therapie, Erziehung und Gemeinde

10., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

 

Aus dem Englischen von Astrid Hildenbrand

 

 

 

Mit einer Abbildung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2023, 2004 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Gottingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: © Alessio-B, Butterfly

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99340-9

Inhalt

Vorwort von Arist von Schlippe

Einführung

Die Entwicklung des gewaltlosen Widerstands

Anwendungsoptionen

Forschung

Indikationen und Kontraindikationen

Schlussfolgerungen

1 Grundsätze und Zielsetzungen

Gewaltloser Widerstand ist ein Kampf

Gewaltloser Widerstand anstelle von Bemühungen, Veränderung allein durch Dialog, Verhandlung und Überredung zu erreichen

Gewaltloser Widerstand angesichts von Gewalt

Aus der Isolation heraustreten und Möglichkeiten der Offenheit erkennen

Blinden Gehorsam und den naturgegebenen Status der Macht auflösen

Innere Kräfte des gewaltlosen Widerstands

Selbstdisziplin und Gewaltlosigkeit

Die Ziele des gewaltlosen Widerstands

Respekt vor dem Kontrahenten und versöhnliche Gesten

2 Eskalationsprozesse

Unterwerfung

»Wer ist der Stärkere?«

Emotionale Erregung

Wortreiche Debatten

Kontroversen und Polarisierung

Enge und Starre

Versöhnungsgesten

Eskalation: Ein Integratives Modell

3 Anleitung zum Gewaltlosen Widerstand – Ein Handbuch für Eltern

Gemeinsam verfasst mit Uri Weinblatt, Carmelit Avraham-Krehwinkel und Irit Schorr-Sapir

Der gewaltlose Widerstand

Selbstbeherrschung

Die Übung mit den drei Körben

Die Ankündigung

Das Sit-in

Den Schleier der Heimlichkeit lüften: Unterstützer und Vermittler hinzuziehen

Die elterliche Präsenz steigern

Die Telefonrunde

Der überraschende Elternbesuch

Die »Befehlsverweigerung«

Abträgliche Dienstleistungen verweigern

Gesten der Versöhnung

Fazit

4 Gewaltloser Widerstand in der praktischen Anwendung

Gängige Fehlannahmen

Ausführliche Beispiele

FALL 1: DER »TORNADO«

FALL 2: WER VERÄNDERT SICH: DAS KIND ODER DIE ELTERN?

FALL 3: FRÜHZEITIGE SELBSTSTÄNDIGKEIT

5 Gewalt von Geschwistern gegen Geschwister

Ursachen für die geschwisterliche Gewalt

Fehlende Präsenz der Eltern

Die Verfügbarkeit des Opfers

Arten von geschwisterlicher Gewalt

Gewalt von Geschwistern gegen Geschwister entdecken

Umgang mit Gewalt unter Geschwistern mithilfe des gewaltlosen Widerstands

Praktische Schritte

6 Kontrollierende und in sich zurückgezogene Kinder

Kontrollierende Kinder

FALL 4: DEN »UNWIDERSTEHLICHEN« SYMPTOMEN WIDERSTEHEN

Selbstabschottung und Vereinzelung

FALL 5: EIN SANFTES SIT-IN

7 Schulen und andere pädagogische Einrichtungen

Faktoren, die die Autorität von Eltern und Lehrerinnen/Lehrern schwächen

Das Konzept des gewaltlosen Widerstands in Schulen

FALL 6: KLEINER GROSSER MANN

FALL 7: DIE NICHT GANZ ERNST GEMEINTE BESTRAFUNG

FALL 8: DAS NETZWERK DER WACHSAMEN SORGE

8 Gewaltloser Widerstand auf der Ebene des Gemeinwesens

Gemeinsam verfasst mit Igal Kenigswald und Ziv Gilad

Die Merkmale des gewaltlosen Widerstands im Kontext eines Gemeinwesens

Ein Gemeindeprojekt gegen illegales Geländewagenfahren und Alkoholpartys

Die »Väter des Stadtviertels«

Unterstützung Mobilisieren und ein größeres »Wir« gegen Gewalt schaffen

Die Präsenz Erwachsener in Bereichen hoher Gewaltanfälligkeit

Konstruktiver Kampf der Polizei im Umgang mit Minderheiten

Nachwort

Literatur

Vorwort

Seit Haim Omer und ich uns kennengelernt haben, sind nun schon bald 25 Jahre vergangen. Die ersten Anfänge gehen bis 1999 zurück, als ich erstmals von den hier vorgestellten Überlegungen erfuhr. Es begann eine Phase des Kennenlernens und der intensiven Zusammenarbeit, die sich in einer Vielzahl von Tagungen in Osnabrück, meiner Heimatstadt, und von Veröffentlichungen von Haim und mir niederschlug. Inzwischen hat sich die kreative Idee, die Haim Omer hatte, nämlich die Haltungen und Methoden des gewaltlosen Widerstands auf die Beratungsarbeit zu übertragen, stürmisch weiterentwickelt. Sie ist inzwischen international, aber gerade auch in der deutschsprachigen Fachwelt gut verankert. Manchmal wurde und wird sie heftig diskutiert (von Schlippe, 2007), oft aber, überwiegend, ist sie mit Dankbarkeit und Erleichterung aufgenommen worden. Auf keine andere Veröffentlichung habe ich so viel positive Resonanz gerade von den Menschen bekommen, die wir vor allem mit unseren Büchern ansprechen wollten: von betroffenen Eltern, hilflosen alleinerziehenden Müttern, ratlosen Lehrpersonen. Immer wieder war der Tenor der Briefe, die mich bzw. uns erreichten, etwa so: »Sie haben dieses Buch für mich geschrieben …«, »Woher wissen Sie so genau, wie es bei uns zugeht und wie hoffnungslos ich mich gefühlt habe?«

Die Bücher vermitteln ganz offenbar nicht nur Trost, sondern sie geben den Betroffenen oft Handlungsmöglichkeiten an die Hand, wie sie die Falle des Entweder-oder vermeiden können, die Falle von Eskalation oder Nachgeben. In einer eigenen deutschen Studie konnten wir eindrücklich zeigen, dass hilflose und verzweifelte Eltern in einem Maß demoralisiert waren, dass sie eigentlich Anzeichen einer behandlungsbedürftigen Depression zeigten, ehe sie begannen, sich mit Gewaltlosigkeit zu beschäftigen. Nach der Beratung lagen ihre Werte wieder in mittleren Bereichen (Ollefs, von Schlippe, Omer u. Kriz, 2009). Besonders schön fand ich den Bericht einer alleinerziehenden Mutter, die einen Kreis von ähnlich Betroffenen um sich herum gesammelt hatte: Gemeinsam lasen sie Kapitel für Kapitel des Buches, diskutierten darüber, sammelten (ermutigende) Erfahrungen zu Hause und tauschten sich darüber aus.

Gern möchte ich in diesem Zusammenhang eine Mutter zitieren, die an uns als Autoren die folgende Mail schickte (leicht gekürzt):

»Ihr Buch hat mir Mut gemacht. Es war eine Wohltat und erleichternd zu lesen, dass ich nicht die Einzige bin, die im Laufe der Jahre ihre Stimme gegenüber ihrem Kind verloren hat und nun in einer Situation steckt, die ich im Übrigen weder im privaten Freundeskreis noch im beruflichen Leben kenne. Das Gefühl der Ohnmacht, Verzweiflung und auch der Scham ist allgegenwärtig, wohlwissend, dass genau dies eine Gefahr für die Beziehung zu meinem Kind ist.

Besonders wohltuend war es zu lesen, dass Sie Verständnis für die Eltern haben und erkunden, warum sie das Heft aus der Hand gegeben haben. Ihr Buch hat mir klar gemacht, dass mein immerwährender Versuch, es jedem recht zu machen und meinem Kind ein möglichst angenehmes Leben zu bieten, uns an den Rand gebracht hat.

Es sollte nicht darunter ›leiden‹, dass seine Eltern getrennt sind und ich auch noch ganztägig berufstätig bin. Meine Schuldgefühle und der Anspruch, eine gute Mutter sein zu müssen, haben dazu geführt, dass die Rollen komplett vertauscht sind; ich richte mich nach meinem Kind und nicht umgekehrt.

Ich arbeite nun daran, dass mein Sohn meine Stimme durch Präsenz, Widerstand und Hartnäckigkeit wieder hört. Ich versuche, dabei ruhig zu bleiben, es gelingt mir immer häufiger, aber nicht immer. In den schlaflosen Nächten greife ich oft zu Ihrem Buch, lese immer wieder Ihre Fälle, Beispiele und Vorschläge und versuche dabei Lösungen zu finden, die für uns passen. Und dafür brauche ich jemanden, der mir den Rücken stärkt und mit mir gemeinsam überlegt, welcher Weg passt. Denn ich merke, dass der Grat zwischen Akzeptanz und Abwendung schmal ist.

Danke an Sie beide für das Buch!«

Als ich vor über 20 Jahren dem Verlag vorgeschlagen hatte, Haims erstes Buch »Parental Presence« zu übersetzen und es so im deutschsprachigen Feld bekannt zu machen, meinte der Programmleiter, dass doch ich, wenn möglich, als Co-Autor fungieren solle. Da Haim diesen Vorschlag freudig begrüßte, entstand eine ganz besondere Kooperationsbeziehung zwischen uns, die wohl nur möglich wurde, weil sich zwischen uns sehr schnell eine tiefe Freundschaft entwickelt hatte, die bis heute trägt. Es waren ja ursprünglich jeweils Haims Bücher, die dieser manchmal auf Hebräisch, manchmal auf Englisch verfasst hatte. Ich machte mich nun mit dem Anspruch, Co-Autor zu sein, daran, die Übersetzungen intensiv zu bearbeiten. Ich adaptierte Formulierungen, ergänzte, fügte zum Teil ganze Kapitel und eigene Fallbeispiele hinzu und arbeitete deutsche Quellen mit hinein, sodass ich mir den Titel »Co-Autor« auch jeweils wirklich erarbeitet habe. Auf diese Weise entstanden unsere vier gemeinsamen Bücher in deutscher Sprache, immer – angemessen – mit Haim als Erstautor (Omer u. von Schlippe, 2002, 2004, 2009; Omer, Alon u. von Schlippe, 2007).

»Autorität durch Beziehung« ist unter diesen Titeln wohl das Werk, das die beste Einführung in die grundlegenden Konzepte des gewaltlosen Widerstands in dem Feld darstellt, für das es ursprünglich entwickelt wurde: für die Familie, für die vielen Fallstricke, in die sich Familien mit sich selbst verwickeln können (endlose Machtkämpfe, Erosion der eigentlich meist von allen Familienmitgliedern gewünschten und ersehnten liebevollen Bezogenheit) oder in die sie in den für Familien bedeutsamen Kontexten geraten, also Schule, Gemeinde, Nachbarschaft usw. Über die Jahrzehnte hinweg bleibt die Nachfrage konstant und es ist nicht verwunderlich, dass Haim entschied, den Text einmal intensiv und grundlegend neu zu bearbeiten. Anders als bei der Ausgabe von 2004 ist nun dem ersten Kapitel eine umfangreiche Einführung vorangesetzt: Der Einstieg besteht in einem Überblick über die Bandbreite der Anwendungsfelder, in die hinein sich das Konzept entwickelt hat. Richtete es sich anfangs nur an hilflose Eltern, finden sich inzwischen Adaptationen in ganz anderen Bereichen: in Schule, in Gemeinde- und Nachbarschaftskontexten bis hin zu Modellen transformativer Führung. Ihnen gemeinsam ist, dass sie sich daraus herleiten, was wir »Neue Autorität« (Omer u. von Schlippe, 2009; von Schlippe, 2019; siehe auch Lemme u. Körner, 2018, 2022) genannt haben. Hinzu kommt ein Überblick über die beeindruckende Zahl von Forschungsarbeiten, die zu diesem Ansatz in den vergangenen Jahrzehnten entstanden sind.

Als nun Haim mir berichtete, dass er mit dieser Überarbeitung beschäftigt war, und mich fragte, ob ich auch bei dieser völligen Neubearbeitung als Co-Autor fungieren könne, zögerte ich. Mein Weg hatte sich nach 2005 in eine völlig andere Richtung hineinentwickelt, als ich eine Position an der Universität Witten/Herdecke annahm, und zwar an der Wirtschaftsfakultät. Ich habe mich seitdem intensiv mit Familienunternehmen und Unternehmerfamilien beschäftigt, gelegentlich passten auch hier die Konzepte von Gewaltlosigkeit und Neuer Autorität, doch war mein Arbeitsfeld ein gänzlich anderes geworden. Bei aller Verbundenheit mit Haim Omer waren doch die praktischen Pfade, in die ich mich hineinentwickelt hatte, sehr anders.

In der ersten Fassung dieses von Haim überarbeiteten Manuskripts hatte ich dann verfolgen können, wie unglaublich groß die Bandbreite der internationalen Forschungen geworden ist, die zu einem großen Teil unter seiner Ägide durchgeführt worden waren. Mir wurde klar, wie sehr sich die in den frühen Jahren des neuen Jahrtausends gemeinsam so intensiv diskutierten Fragen über die Richtung der Konzeptentwicklung im Feld der vielen mittlerweile von diesen Überlegungen begeisterten Menschen weiterentwickelt hatten, während ich in ganz anderen Feldern unterwegs war. Und so schlug ich vor, dass die Neufassung des Werkes doch besser unter Haims alleiniger Autorschaft publiziert werden sollte – war es doch offensichtlich, dass ich seit 2005 keinen aktiven Anteil mehr an dem weiteren Ausbau des Konzepts und seiner praktischen Weiterentwicklung hatte (mit Ausnahme eines Aufsatzes von 2019, bei dem ich mich an einer »Skizze einer Systemtheorie der Neuen Autorität« versuchte).

Damit war Haim jedoch nicht einverstanden. Für ihn gehöre ich mit zu diesem Buch. Wir haben in den frühen Jahren und auch in vielen der Begegnungen danach unsere Vorstellungen in vielen gemeinsamen Diskussionen grundlegend ausdifferenziert. Es freut mich sehr, dass er mir hier einen Platz in der Entstehungsgeschichte des Konzeptes zuweist – die Bedeutung der Wiederherstellung der Bindungsbeziehung etwa und die Unterscheidung zwischen der »Stärke der Faust« und der »Stärke des Ankers« waren wichtige Ergebnisse unserer Diskussionen. Ich denke in dem Zusammenhang auch an eine ganz besondere gemeinsame Seminarreise nach Polen 2004, als deren Ergebnis uns ein tiefes Verständnis der persönlichen Wurzeln unserer Freundschaft und den Erfahrungen unserer Eltern bleibt.1 Sie haben uns auch die Augen geöffnet für unsere Verantwortung als Psychologen, aktiv daran zu arbeiten, dass Menschen möglichst früh der Gewalt aktiv entgegentreten, vor allem da, wo sie entsteht.

Gern habe ich daher dann »Ja« gesagt. Und doch bleibt ein Dilemma, aber es ist ein lösbares: Immer wieder wird in diesem Buch das Wort »ich« auftauchen, wenn Haim über Erfahrungen, die er gemacht, oder Forschungen, die er verantwortet, berichtet. Und auch wenn von »wir« die Rede ist, geht es oft um Arbeitsgruppen, an denen Haim beteiligt ist, ich aber nicht. Manchmal bezeichnet »wir« aber auch uns beide; ich hoffe, das ist nicht zu verwirrend. Weniger als in den vergangenen Büchern habe ich dieses Mal auch in den Korpus des Textes selbst eingegriffen, meine »Handschrift« ist in diesem Buch weniger deutlich. Aus meiner Sicht gibt es im Vergleich zu früheren Versionen auch weniger Anlässe zum Eingreifen, das Konzept selbst ist rund geworden. Zugleich habe ich aber gern daran gearbeitet, das Buch durch das zusätzliche Einarbeiten deutschsprachiger Quellen ein Stück mehr in unseren kulturellen Kontext zu verankern.

Ich wünsche dem Buch einen so guten und segensreichen Weg, wie es der ersten Ausgabe vergönnt war.

Arist von Schlippe

 

1Haims Sohn Noam ist ein Künstler. Er hat in seiner Kunst eine besondere Form gefunden, diese Verbindungen symbolisch auszudrücken. Im Katalog einer Ausstellung seiner Werke 2011 wurden die Geschichten von Haims und meiner Familie zusammen vorgestellt. Es freut mich, dass Haim und Noam meinen Vater noch kennengelernt haben und die Geschichte von Franz, dem polnischen Lebensretter meines Vaters, hörten – mehrere Bilder von Noam befassen sich mit diesem besonderen Menschen. Der Katalog kann über diesen Link heruntergeladen werden: https://en.wikipedia.org/wiki/Noam_Omer#cite_note-12 (8.11.2022).

Einführung

Die Entwicklung des gewaltlosen Widerstands

In diesem Buch wird ein Ansatz vorgestellt, der sich am Konzept des gewaltlosen Widerstands2 orientiert, also an der Lehre, wie Mahatma Gandhi und Martin Luther King Jr. sie vertreten haben. Es mag auf den ersten Blick unverständlich erscheinen, dass ein Ansatz, der entwickelt wurde, um politischer Unterdrückung wirksam und auf moralische Weise entgegenzutreten, als passend erachtet werden sollte, um Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen zu helfen. Eltern sind im Verhältnis zu ihren Kindern gewöhnlich nicht in einer Position der Schwäche und erleben sich auch nicht als unterdrückt. Gleichwohl eröffneten sich in dem Moment, in dem wir3 begriffen, dass die Prinzipien und Methoden des politisch motivierten gewaltlosen Widerstands in unserer therapeutischen Arbeit mit Eltern helfen könnten, ungeahnte Möglichkeiten. Um dies zu verstehen, müssen wir das vergegenwärtigen, was in der psychotherapeutischen Arbeit mit Eltern aus unserer Sicht gefehlt hat (und immer noch fehlt).

Viele Eltern, die bei uns Hilfe suchen, sind mit höchst belastenden Situationen konfrontiert, auf die sie reagieren müssen. Ein Junge schlägt seine Schwester und demütigt sie vor ihren Freunden; ein Jugendlicher schließt sich in seinem Zimmer ein, nachdem er schreckliche Drohungen ausgestoßen hat; die Eltern werden von der Polizei benachrichtigt, dass ihre Tochter völlig betrunken aufgefunden worden sei – solche und andere Situationen verlangen nach einer elterlichen Reaktion. Und die Eltern reagieren tatsächlich; denn hilflos bleiben und in extremer Sorge zu verharren, ist eine Reaktion, wenn auch vermutlich keine sehr hilfreiche.

Sehr oft kommen die Eltern unter Handlungsdruck zur Therapie. Sie haben oft die Vorstellung, es gebe eine praktische und einfache Lösung und eine klare Orientierung. Der Grund, weshalb die Lösung einfach sein muss, ist der, dass sie unter erheblichem Druck stehen und irritiert sind und dass daher komplexe Informationen für sie nicht befriedigend sind: »Es muss doch jetzt etwas passieren!« Aber als Psychotherapeuten können wir mit einfachen Lösungen oft nicht dienen. In unserer Profession suchen wir gern nach Komplexität. Einfachen Erklärungen gegenüber sind wir tendenziell misstrauisch. Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb wir uns von diesem Beruf angezogen fühlen: Wir möchten danach suchen, was nicht auf der Hand liegt, um den für Lösungen scheinbar ergiebigeren und versteckten Prozessen auf die Spur zu kommen. Dieses Ungleichgewicht zwischen der unmittelbaren Notlage der Eltern und der Tendenz der Beratenden, nach Komplexität zu streben, kann die sich gerade entwickelnde Arbeitsallianz im Keim gefährden.

So ergab sich in der Zeit der Entstehung des Konzepts genau wie heute eine erste Herausforderung durch die Frage, was Eltern mit impulsiven, gewalttätigen oder selbstzerstörerischen Kindern helfen kann: Wie lässt sich ein Weg finden, der Eltern von Anfang an eine klare Richtung, eine Art »elterliche Ein-Nordung« an die Hand gibt, die ihnen als Orientierung dienen kann? Es musste etwas sein, mit dem sie sich identifizieren konnten, etwas, das ihre Verwirrung und Hilflosigkeit abmildern und ihnen das Gefühl geben würde, einen therapeutischen Partner zu haben, der ihrer Belastung und ihrem Handlungsdruck Beachtung schenkte. Wir suchten nach einem anfänglichen Leitkonzept, anhand dessen die Eltern aus ihrer ersten Begegnung mit uns entscheidungsfreudig und hoffnungsvoll herauskommen würden.

Das Konzept der elterlichen Präsenz schien diese Rolle auf vielversprechende Weise einzulösen. Wir hatten nämlich festgestellt, dass Eltern, die hilflos und besorgt zu uns kamen, nach dem Gespräch über ihre Präsenz im Leben ihres Kindes sofort Engagement zeigten. Elterliche Präsenz definierten wir als eine besondere Erfahrung. Sie ist mit Handlungen verbunden, die auf ganz unterschiedliche Weise die Botschaft vermitteln: »Was du auch tust, wir sind und bleiben deine Eltern! Du kannst uns nicht kündigen, dich nicht von uns scheiden lassen und uns auch nicht lahmlegen. Wir sind hier und wir bleiben hier!« Wenn wir auf diese Weise mit Eltern sprachen, wurden sie aufmerksam, zugänglich und motiviert. Die Vorstellung von elterlicher Präsenz machte sie anscheinend zum Zuhören und Handeln bereit, was bei ihrer niedergeschlagenen Haltung so gut wie gefehlt hatte.

In den ersten Jahren unserer therapeutischen Arbeit mit Eltern blieb die Idee von elterlicher Präsenz unser Hauptkonzept. Wir suchten Möglichkeiten, wie Eltern ihre Präsenz demonstrieren und wie sie ihre Stimme, ihren Platz, ihren Einfluss zurückgewinnen konnten. Dabei waren uns die Werke von Gerald Patterson (Patterson, 1980, 1982; Patterson, Dishion u. Bank, 1984; Patterson, Reid u. Dishion, 1992; Patterson, Dishion u. Chamberlain, 1993), Salvador Minuchin, Jay Haley und Milton Erickson von großem Nutzen (siehe zu diesen Autoren von Schlippe u. Schweitzer, 2016, Kapitel 1 und 2). Doch versuchten wir, unsere Leihgaben von den verschiedenen Lehrmeistern jeweils in das Konzept der elterlichen Präsenz hineinzunehmen. So blieben unsere Arbeit und unsere Botschaft eine Einheit, obwohl wir aus vielen verschiedenen Quellen schöpften. Nach und nach machten wir deutlich, dass nicht nur das Kind die Eltern als präsent erleben sollte, sondern dass es auch um die Eltern selbst geht, die sich (wieder) bewusst werden, dass sie eine Stimme haben, Raum einnehmen können und dass sie im Leben der Familie Gewicht und Bedeutung haben. Diese Arbeit fand ihren Höhepunkt in der Veröffentlichung von »Parental presence: Regaining a leadership role in bringing up our children« (Omer, 1999), das in Deutschland gemeinsam mit Arist von Schlippe veröffentlicht wurde (Omer u. von Schlippe, 2002).

Schon als wir dieses Buch schrieben, erfuhren wir von Fällen, in denen die Idee der elterlichen Präsenz missverstanden wurde. Manche Eltern gingen davon aus, dass es darum gehe, die volle Kontrolle über das Kind zu erreichen. Wenn Eltern das so verstehen, gehen sie vielleicht nach Hause, errichten »gewaltfrei« Barrikaden, doch sie vermitteln dadurch unangemessen Botschaften von Über- und Unterordnung, Befehl und Gehorsam. Eine so aufgefasste elterliche Präsenz kann die Eskalation massiv ansteigen lassen. Daher wurde dem Buch ein Kapitel hinzugefügt, in dem Möglichkeiten vorgeschlagen werden, wie Eskalationen infolge des elterlichen Ausdrucks entschlossener Präsenz abgeschwächt werden können.

Doch diese spontane Lösung reichte nicht aus. Eskalation ist nicht einfach nur eine mögliche Folge der elterlichen Demonstration von Präsenz, sondern ist eng damit verbunden. Eskalation ist so etwas wie die Kehrseite der Medaille. Viele Eltern gehen ihrer Präsenz genau deshalb verlustig, weil ihre Versuche, Präsenz zu demonstrieren, manchmal scharfe Reaktionen des Kindes nach sich ziehen und zu erschreckenden Eskalationsausbrüchen führen. Eskalation als eine mögliche Nebenwirkung zu betrachten, die mit beruhigenden Maßnahmen behoben werden kann, reicht nicht aus. So brauchten wir damals ein Konzept, das es möglich machte, Präsenz und Eskalation in ihrer gegenseitigen Verbindung zu sehen.

Das Konzept des gewaltlosen Widerstands war eine Antwort auf diese Herausforderung. Diese Art von Widerstand ist wahrscheinlich das einzige Modell von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, das auf die persönliche, emotionale und moralische Präsenz der Aktivisten setzt. Der Kampf wird nicht dadurch geführt, dass aus der Entfernung Steine geworfen, Pfeile abgeschossen, Speere geschleudert oder Kugeln abgefeuert werden, sondern durch die entschlossene Präsenz von Aktivisten, die die Botschaft vermittelt: »Wir sind hier! Wir bleiben hier! Wir werden uns nicht von der Stelle rühren!« Gewaltloser Widerstand ist die einzige Art von Gegenwehr, bei der die Aktivisten rigoros darauf trainiert sind, jegliche Gewaltakte zu vermeiden und auch Provokationen, Verunglimpfungen und Angriffshandlungen, die zur Eskalation führen könnten, zu unterlassen. Die Begründung dafür ist sowohl moralischer als auch strategischer Natur. Die Kraft des gewaltlosen Widerstands liegt in seinem Potenzial, im gegnerischen Feld positive Stimmen zu aktivieren und zu Meinungen zu ermuntern, die sich gegen die Fortsetzung der gewalttätigen und unterdrückerischen Handlungen auflehnen. Diese Stimmen können so etwas sagen wie: »Hm, die anderen sind auf der moralischen Seite! Sind wir vielleicht auf dem falschen Weg?« Solche Stimmen können jedoch nur dann erfolgreich hervorgelockt werden, wenn Gewalt und vorsätzliche Angriffshandlungen, die der dominanten Seite eine Rechtfertigung für die Fortsetzung ihrer Unterdrückung wären, auf der Seite des Widerstands vermieden werden.

Gewaltloser Widerstand im gesellschaftspolitischen Raum hat weitaus mehr zu unserem Ansatz in der Arbeit mit Eltern beigetragen, als nur zu zeigen, dass Präsenz und Eskalation zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Und zwar deshalb, weil Führungspersönlichkeiten wie Mahatma Gandhi und Martin Luther King Jr. nicht nur inspirierende politische Figuren waren, sondern auch Meisterstrategen. Sie begründeten einen detaillierten Wissensfundus, wie die Prinzipien des gewaltlosen Widerstands in die Alltagspraxis umgesetzt werden können. Sie etablierten Kader für Trainer und Anführer im Feld, mit deren Hilfe eine Moralphilosophie und politische Theorie in eine hocheffiziente Widerstandsmaschine verwandelt wurden. Glücklicherweise fand die Fülle von Prinzipien, Strategien und Taktiken des gewaltlosen Widerstands in der Person von Gene Sharp ihren Meister. Sein klassisches Buch »The politics of nonviolent action« (1973) ist wie der Talmud des gewaltlosen Widerstands, denn es bietet Leitlinien für alle erdenklichen Situationen und beschreibt ausführlich jedes einzelne Widerstandswerkzeug in den jeweiligen Kontexten seiner Anwendung.

Durch das Werk Gene Sharps wurde es möglich, die Ideen des gewaltlosen Widerstands im gesellschaftspolitischen Bereich auf den Familienkontext zu übertragen. Unter Mithilfe einiger engagierter Studierender wurden zunächst sämtliche Interventionen, strategische Prinzipien, taktische Maßnahmen und Trainingsideen eingehend auf ihr Potenzial in der Arbeit mit Eltern untersucht. Die Allianz zwischen dieser Arbeit und unserer früheren Erfahrung mit elterlicher Präsenz führte zur ersten Ausgabe dieses Buchs (Omer u. von Schlippe, 2004) und insbesondere zu unserem kleinen, in diesem Buch eingeschlossenen »Handbuch für Eltern« (in Omer u. von Schlippe, 2004, S. 229–262; siehe jetzt Kapitel 3 im vorliegenden Buch). Jeder einzelne in diesem Handbuch skizzierte Schritt ist eine Kombination aus entschlossener elterlicher Präsenz und Eskalationsprävention. Dieses Handbuch wurde zur Grundlage unseres Behandlungsansatzes und bot einen guten Ausgangspunkt für unser Forschungsprogramm.

Als das Buch seine erste Veröffentlichung erfuhr, waren wir der etwas optimistischen Ansicht, dass der größte Teil unserer konzeptionellen und klinischen Arbeit geleistet sei. Wir dachten, dass wir mit einem anschaulichen Therapiehandbuch in Reichweite alle unsere Bemühungen auf die Forschung konzentrieren könnten. Doch bald sollte eine neue Herausforderung auftauchen, die zeigte, dass wir weit davon entfernt waren, die theoretischen und praktischen Fronten hinter uns lassen zu können.

Der erste Hinweis auf diese Herausforderung kam von den Eltern, die unsere Vorträge über gewaltlosen Widerstand besucht hatten. Diese Eltern stellten immer wieder die gleiche Frage: »Sie präsentieren eine Methode, wie man mit sehr schweren Problemen umgeht. Aber ist sie auch dafür geeignet, mit Routineschwierigkeiten umzugehen?« Ein Vater stellte die Frage auf bildhafte Weise: »Sie bieten eine Heilung für Krebs an. Unsere Kinder leiden aber meistens nur unter einer Erkältung! Haben sie dagegen ein Mittel?« Eine Mutter fragte scherzhaft: »Meine Tochter ist 15 Monate alt, aber jetzt schon störrisch und zornig. Sollte ich ein Sit-in veranstalten?«4 Diese Eltern fragten uns nach der vorbeugenden und normativen Funktion des gewaltlosen Widerstands. Doch das entsprach nicht der ursprünglichen Art, wie gewaltloser Widerstand konzipiert worden war. Die eigentliche Vorstellung von Widerstand impliziert etwas sehr Problematisches, gegen das hartnäckig angekämpft werden sollte. Um zu zeigen, dass gewaltloser Widerstand eine positive, präventive oder auch normative Funktion in der Erziehungsarbeit erfüllen konnte, brauchten wir ein neues Konzept.

Genau das brachte uns zu dem Modell der Neuen Autorität. Autorität wird nicht unbedingt »gegen etwas« ausgeübt, sondern verhindert auch, dass ein solches »Etwas« beunruhigende Ausmaße annimmt. Aus meiner Sicht wollten die Eltern, die solche Fragen stellten, damit andeuten, dass gewaltloser Widerstand vielleicht den Weg zu einer positiven Art von Autorität weisen könnte. Doch sie hatten zu Recht den Eindruck, dass dieser Punkt in unserem ursprünglichen Modell nicht eindeutig war. Die Aufgabe, dies zu formulieren, erwies sich als schwieriger, als wir erwartet hatten. Sieben Jahre Geduldsarbeit liegen zwischen der ersten Ausgabe dieses Buchs von 2004 und »Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde« (Omer u. von Schlippe, 2010). Um dieses komplexe Vorhaben zu bewältigen, mussten wir verstehen, warum die traditionelle Autorität ihre Legitimation verloren hatte und wie eine alternative Form von Autorität entwickelt werden konnte: eine Art von Autorität, die für unsere Generation und unsere Gesellschaft legitim, attraktiv und praktikabel ist. Zum Glück hatten andere schon Vorarbeit geleistet, vor allem Wissenschaftler, die inspiriert waren von Diane Baumrinds fruchtbarem Werk (Baumrind, 1971, 1991; Larzelere, Morris u. Harrist 2013), in dem der Unterschied zwischen autoritären und autoritativen Erziehungsstilen beschrieben wird.

Die Auswirkung der umfassenden gesellschaftlichen Kritik am traditionellen Autoritätsmodell ist nicht zu unterschätzen. Diese Entwicklung, die irgendwann in den späten 1960er Jahren begann und sich fast unvermindert bis heute fortsetzt, entzog Vorstellungen von Autorität, die bis dahin akzeptiert worden waren ihre erzieherischen und moralischen Fundamente. Das Resultat ist, dass der traditionelle Autoritätsbegriff nicht nur bei den meisten Eltern und in der Lehrerschaft, sondern auch bei Experten, Verfasserinnen von Erziehungsratgebern, im Rahmen der Gesetzgebung und bei den Medien seine Akzeptanz verlor. Als wir die Idee entwickelten, die in das Konzept der Neuen Autorität einmündete, konsultierten wir zahlreiche in den 1950er Jahren entstandene pädagogische Bücher und Zeitungsartikel über problematische Kinder. Die dominante Vorstellung dort war die, dass die Ursachen von Problemen hauptsächlich auf eine lasche Erziehung zurückgingen und die Lösung in strengeren Regeln und in der Disziplin liege. Nach Durchsicht der seit den 1970er Jahren verfassten Literatur gewinnt man dagegen den Eindruck, dass Probleme hauptsächlich durch zu viele Regeln und zu viel Disziplin verursacht würden und die Lösung darin liege, sie durch bedingungslose Akzeptanz zu ersetzen. Damit ist das Spannungsfeld eines tiefgreifenden Kulturwandels beschrieben: Die tragenden Säulen der alten Autorität, die nicht mehr akzeptiert wurden, waren Distanz, Kontrolle und Gehorsam, strenge Hierarchien und unverzügliche Strafe.

Distanz galt einst als das Gütesiegel von Autorität. Der Erwachsene mit Autorität sollte dem Kind nicht zu nahekommen, da er sonst seine Autorität aufs Spiel setzte. Von dem Kind wurde erwartet, dass es Autoritätspersonen mit Abstand begegnete und von unten her zu ihnen aufschaute. Die Autoritätsfigur sollte auf einem Podest stehen, und dieser Zustand wurde durch jede Menge Regeln und Konventionen abgesichert. All das wird heute nicht mehr akzeptiert. Wir wollen unseren Kindern nahe und nicht auf Distanz zu ihnen sein. Wir wollen auch, dass die Lehrerinnen und Lehrer unseren Kindern nahe und für sie zugänglich sind. Eine Autorität, die zu ihrer Aufrechterhaltung Distanz fordert, hat in unseren Augen ihre Attraktivität und Legitimität verloren.

Durch die alte Form von Autorität wollte man Kontrolle und Gehorsam erreichen. Die Aufgabe von Eltern und Lehrpersonen war es, die Kinder zu kontrollieren, und die Kinder ihrerseits mussten gehorchen. Der Erziehungsprozess wurde als erfolgreich erachtet, wenn er gehorsame Kinder hervorbrachte. Das akzeptieren wir heute nicht mehr. Wenn die Kinder allzu gehorsam sind, betrachten wir den Erziehungsprozess als gescheitert. Wir wollen unsere Kinder zu autonomen Wesen erziehen, die Initiative zeigen. Von Eltern und Pädagoginnen/Pädagogen wird erwartet, dass sie diese Qualitäten fördern. Unsere Gesellschaft ist äußerst misstrauisch gegenüber strengen Hierarchien geworden – und das umso mehr, wenn weit oben stehende Personen sich gegen Kritik immunisieren. Wir haben erlebt, dass viele Autoritätspersonen ihre Position schamlos ausgenutzt haben. Deshalb erwartet und fordert unsere Gesellschaft zunehmend Transparenz.

Die alte Autorität basierte auf unverzüglicher Strafe. Diese Erwartung wurde symbolhaft dargestellt durch den Blitze schleudernden Jupiter. Man war der Auffassung, dass die Strafe auf dem Fuß folgen müsse, damit Kinder nicht auf die Idee kommen, dass ihnen das Zögern der Eltern Spielraum verschaffen würde. Auch das wird heute nicht mehr unbedingt akzeptiert, auch wenn es als Meinung noch oft Bestand hat. Doch sofortige Bestrafung spielt sich meistens im Bereich der emotionalen Erregung ab, was dann zur Eskalation führt. Die Erwartung, dass Bestrafung sofort erfolgen müsse, schließt damit dann auch vernünftiges Überlegen aus. So ist dieser Vorgang fast eine Garantie für unverhältnismäßige Reaktionen.

Die Kritik am traditionellen Autoritätsbegriff war so überwältigend, dass sie zumindest eine Weile zu der Annahme führte, Autorität an sich sei generell schädlich. Autorität wurde nicht mehr als die Lösung angesehen, sondern als das Problem: Wenn Kinder Anzeichen von Entwicklungsproblemen zeigten, sollte man nach der Autoritätsfigur suchen, die ihre Entwicklung behinderte. Ein Kind war unmotiviert? Man sollte die Autoritätsperson ausfindig machen, die das Kind in diesem Zustand verharren ließ. Ein Kind war ängstlich? Man sollte die Autoritätsfigur aufspüren, die das Kind zurückwies und sein Selbstvertrauen unterminierte. Ein Schüler war langsam? Man sollte nach starren Erziehungsprinzipien suchen, die seine Neugier unterdrückten.

Die Erwartungen an einen Erziehungsprozess, der von den Fesseln der Autorität befreit sein würde, wurden immer größer. Kinder sollten als neugierige, spontane, kreative und prosozial eingestellte Wesen aufwachsen. Freiheit war das Salz der Erziehung. Man glaubte, dass jedes Kind mit dem Keim eines wahren Selbst geboren würde, der nur dann aufgehen könnte, wenn es nicht durch gegen seine Natur gerichteten Einschränkungen deformiert würde. Dieser Auffassung nach werden Kinder durch Autorität zu »little boxes« im Sinne einer autoritär eingestellten Gesellschaft verarbeitet, wie das im Lied von Pete Seeger verewigt ist. Die Idee kam auf, dass eine vollkommen freie Erziehung für uns und unsere Gesellschaft heilsam sein würde.

Diese Hoffnungen wurden jedoch enttäuscht. Die bahnbrechende Forschung von Diane Baumrind (1971, 1991) über die Auswirkungen von permissiven und autoritären Erziehungsstilen zeigte, dass beide gleichermaßen schädlich für die kindliche Entwicklung sind5 und dass ein permissiver Stil nicht unbedingt die Beziehung zwischen Eltern und Kindern verbessert.

Ein Beispiel: Das Konzept der »sozialen Reversibilität« war in den 1970er Jahren sehr populär. Es fordert, dass die Ansprache an das Kind so gestaltet sein sollte, dass prinzipiell das Kind auf die gleiche Art mit dem Erwachsenen sprechen könnte. Statt: »Heb das auf, aber ’n bisschen plötzlich!« lernten Eltern zu bitten: »Würdest du das bitte aufheben!« und vielleicht sogar zu begründen: »Weißt du, ich kann es nicht leiden, wenn es so unordentlich ist.« Wenn wir heute mitbekommen, was in Beratungen berichtet oder gar erlebt wird (vielleicht sogar in der eigenen Familie?), wie heute Kinder mit ihren Eltern umgehen, dann ist da von sozialer Reversibilität oft nicht mehr so viel übrig. Das reicht von der Forderung der Kinder nach Begründung: »Warum?« über: »Reg dich ab, Alter!«, »Mach’s doch selber!« bis zu: »Ach halt doch die Klappe!«

Es genügt offenbar nicht, die Ideen der Autorität abzuschaffen und durch ein Gegenbild zu ersetzen. Baumrinds Studien zufolge geht der autoritative Erziehungsstil, der einen Ausgleich zwischen den beiden zu schaffen schien, mit weitaus besseren Ergebnissen einher. Die Frage war nun: Auf welcher Grundlage entsteht eine solche positive Autorität? Diese Frage verlangte nach einer klaren Antwort; denn mit unserer Kritik an der traditionellen Autorität wurde diese aller ihrer Fundamente beraubt. Es reichte also nicht nur, diese alte Autorität mit einem menschlicheren Gesicht zu versehen, sondern es brauchte ein neues Bild von Autorität, und zwar ein Bild, das die Bestrebungen und Wertvorstellungen unserer Generation anspricht.

Unsere nächste Herausforderung war nun die Entwicklung eines Autoritätsbegriffs, der an unsere Bedürfnisse und Wünsche als Eltern, Lehrer/Lehrerinnen und Sorgeberechtigte appellierte. Eine solche Neue Autorität sollte den Eltern eine Antwort geben, die uns gefragt hatten, ob gewaltloser Widerstand auch die Probleme verhindern helfen könne, zu deren Behebung er ursprünglich entwickelt worden war.

Wie konnten wir es nun anstellen, eine solches Autoritätsmodell zu beschreiben? Aus dem Nichts konnten wir es nicht erschaffen, es musste auf existierenden Erkenntnissen aufbauen. Ansonsten würde es eine Theorieschimäre bleiben. Zum Glück hatten wir zwei Ausgangspunkte: (a) Wir wussten, was wir nicht wollten, nämlich eine Autorität, die auf Distanz, Kontrolle, Gehorsam, strengen Hierarchien und unverzüglicher Strafe basiert. Wenn man weiß, was man nicht will, legt das nahe, was man stattdessen vielleicht will. Wir brauchten neue Fundamente für unser Autoritätskonzept, das die Merkmale der alten Autorität, die wir ablehnten, ersetzen würde. (b) Die meisten von uns sind schon Autoritätspersonen begegnet, die dem traditionellen Modell nicht entsprechen. Solche außergewöhnlichen Menschen konnten irgendwie unseren Respekt gewinnen, obwohl sie alles andere als distanziert, kontrollierend, gebieterisch oder vergeltungssüchtig waren. Die Frage war, ob wir ihrem Geheimnis auf die Spur kommen könnten, statt es einem mysteriösen Charisma zuzuschreiben. Unser Modell der Neuen Autorität wurde dadurch entwickelt, dass wir zwei heuristischen Prinzipien folgten: Ersetzung der inakzeptablen Grundlagen der traditionellen Autorität und Überprüfung unserer Vorstellung von Neuer Autorität an den Autoritätspersonen, die wir respektieren. Die Anwendung dieser Prinzipien führte zu der Formulierung von vier Grundpfeilern der Idee der Neuen Autorität: Präsenz, Selbstbeherrschung, Unterstützung und Beharrlichkeit.

–Präsenz: Wir sind nicht mit einer Vorstellung von Autorität einverstanden, die auf Distanz basiert. Im Gegenteil, sie braucht ein Fundament entschlossener Präsenz. Wenn Eltern und Lehrer ihre Präsenz steigern, dann entwickeln sie eine Art nicht bedrohlicher Autorität. Handlungen, die besagen: »Ich bin hier und ich bleibe hier!« rufen Anerkennung hervor. Solche Eltern und Lehrer können nicht ignoriert werden. Sie bleiben dem Kind nah und in seinem Gedächtnis, auch wenn sie physisch nicht präsent sind. Mit diesem mentalen Aspekt der Präsenz wurde der in der Erstausgabe dieses Buchs (Omer u. von Schlippe, 2004) definierte und eher direkte Sinn des Konzepts erweitert. Hatten wir zuvor Präsenz für die Art und Weise gehalten, wie die Eltern sich den problematischen Verhaltensweisen des Kindes konkret widersetzen, so sahen wir Präsenz nun allmählich als eine mentale Begleitung. Problematische Verhaltensweisen zu verhindern und sich nicht nur dagegen zur Wehr zu setzen, setzt tatsächlich voraus, dass die Eltern »im Kopf des Kindes« auf eine positive Weise präsent sind. Dieses Verständnis von Autorität führte uns zu einer breiter gefächerten und tiefer greifenden Formulierung von Präsenz, die wir als wachsame Sorge (Omer, 2015) bezeichneten. Dieser Gedanke kommt einer Idee unserer zentralen Überlegungen über Menschen mit positiver Autorität gleich: Wir wissen, dass solche Menschen uns im Gedächtnis bleiben und uns innerlich durch schwierige Zeiten begleiten können. Wir denken über sie nach, auch deshalb, weil wir glauben, dass sie über uns nachdenken. Genau diese mentale Begleitung führt bei Kindern dazu, dass sie die Wertvorstellungen ihrer Eltern eher verinnerlichen. Wir stellten die Hypothese auf, dass diese Art von Präsenz beim Kind langsam in die Sorge um das eigene Selbst übergeht. Das Konzept der wachsamen Sorge sollte unseres Erachtens eine herausragende Rolle in Theorie, Praxis und Forschung spielen (Omer, Satran u. Dritter, 2017).

–Selbstbeherrschung: Wir wollen Autorität nicht als etwas verstanden wissen, das auf strenger Kontrolle basiert, die blinden Gehorsam fordert. Die Alternative ist, den Autoritätsbegriff auf dem Konzept der Selbstbeherrschung aufzubauen. Selbstbeherrschung ist im doppelten Sinn eine Quelle von Autorität. Erstens respektieren wir spontan solche Menschen mit Autorität, die Selbstbeherrschung ausstrahlen – im Gegensatz zu solchen Autoritätsfiguren, die sich zu autoritären Wutanfällen hinreißen lassen. Zweitens respektieren wir Menschen mit Autorität, die gewissenhaft ihre Aufgaben erfüllen. Das ist die positive Seite der Selbstbeherrschung. Wenn ein Mensch mit einem starken Verantwortungsbewusstsein ausgestattet ist, strahlt das eine Art von Autorität aus, die das Gegenteil der Autorität launenhafter Tyrannen darstellt. Verantwortungsbewusste Autoritätsfiguren sagen nicht: »Du tust das jetzt, weil ich es dir sage!«, sondern eher: »Ich tue das jetzt, weil es meine Pflicht ist!«

–Unterstützung: Unsere Gesellschaft ist misstrauisch gegenüber steilen Hierarchien, vor allem dann, wenn sie mit einer gewissen Immunität gegen Kritik gepaart sind. Die Alternative ist eine auf breiter Basis angelegte Autorität, bei der die Person in der Führungsrolle »autorisiert« ist und durch ein stützendes Netzwerk bestätigt und legitimiert wird. Diese Person sagt nicht »ich«, wenn sie sich auf ihre Aufgabe bezieht, sondern sie sagt »wir«. Selbst wenn sie die Führungsfigur ist, die tatsächlich die Verantwortung trägt, tut sie dies in Vertretung eines größeren Netzwerks. Diese Art von Autorität ist eher horizontal ausgerichtet – auf Augenhöhe sozusagen (Verhaeghe, 2016) –, wohingegen die alte Autorität auf strenge Vertikalität abzielte. Eltern, Lehrer/Lehrerinnen und Sorgeberechtigte, die ein unterstützendes Netzwerk aufbauen und nutzen, sind weit davon entfernt, ihre Stärken zu verwässern, sondern gewinnen dadurch enorm an legitimer Macht. Wir haben gezeigt, dass die Einrichtung eines stützenden Netzwerks für Eltern und Lehrer wahrscheinlich der am meisten befähigende Schritt in unserem gesamten Programm ist. Werden Unterstützer und Unterstützerinnen in Vorgänge eingebunden, hat das den weiteren Vorteil, dass Transparenz erzeugt und Willkür reduziert wird.

–Beharrlichkeit: Unsere Gesellschaft lehnt das Prinzip der unverzüglichen Bestrafung als legitimes Merkmal von Autorität ab. Die Alternative ist, Autorität auf Beharrlichkeit zu gründen. Sofortige Reaktionen erzeugen eine oberflächliche und augenblicksbezogene Art von Autorität. Beharrlichkeit dagegen erzeugt Kontinuität und Tiefe. Das elterliche »Nein!« stoppt bestehende Probleme nur im und für den Moment, wird aber zu einer Botschaft, an die beharrlich heute, morgen und in der kommenden Woche wieder angeknüpft wird. Eltern und Lehrer, die auf diese Weise an der Sache bleiben, stellen fest, dass ihre Autorität wächst, sich verstetigt und tiefer greift, weil ihre Beharrlichkeit eben auf Dauerhaftigkeit gründet.

Sämtliche Grundsätze der Neuen Autorität hatten sich in den ursprünglichen Prinzipien und Praktiken des gewaltlosen Widerstands irgendwie bereits abgezeichnet. Doch dadurch, dass wir sie als die konstitutiven Elemente des von uns vertretenen Autoritätsbegriffs definierten, haben wir sie in präventive Elemente umgemünzt, statt sie nur als eine Reaktion auf Situationen zu betrachten, die an dem Punkt schon aus dem Ruder gelaufen sind. Eltern und Lehrer sollten vom ersten Tag an Präsenz, Selbstbeherrschung, Unterstützung und Beharrlichkeit entwickeln und auch demonstrieren. Man könnte sagen, dass die Neue Autorität eine Ausweitung des gewaltlosen Widerstands ist, sodass das Autoritätskonzept sowohl Prävention als auch Intervention umfasst.

Eine Zeit lang waren wir zufrieden mit dem, was wir erreicht hatten. Wir hatten das Spektrum des gewaltlosen Widerstands erweitert, sodass er nicht nur bei schweren Problemen, sondern auch im Rahmen der normalen Erziehungsarbeit relevant sein sollte. Wir hatten eine Antwort auf eines der zentralen Elemente des Phänomens gefunden, das wir für die Erziehungskrise unserer Zeit hielten, nämlich die Schwächung von Eltern, Lehrerinnen/Lehrern und sonstigen Sorgeberechtigten. Wir hatten auch die Fundamente dafür geschaffen, dass gewaltloser Widerstand in Schulen und Gemeinden systematisch Verbreitung finden konnte.

Doch schon bald tauchte eine neue Herausforderung auf. Diese kam – wieder einmal – aus den Fragen, die Eltern gestellt hatten. Die wichtigste Frage war: »Inwiefern ist das gut für das Kind?« Oder etwas kritischer gewendet: »Wenn wir unsere Autorität stärken, beeinträchtigen wir damit nicht die Beziehung zu unserem Kind?«

Wir hatten klar herausgestellt, weshalb aus unserer Sicht die Neue Autorität den Erwachsenen, die für Kinder verantwortlich sind, zu Hilfe kommt und stärkt. Nun mussten wir diesen Aspekt nicht nur aus der Perspektive der Erwachsenen betrachten, sondern auch aus dem Blickwinkel des heranwachsenden Kindes. Mit anderen Worten: Wir benötigten eine Brücke zwischen unserem Autoritätsmodell und der Entwicklungspsychologie.

Wieder brauchte es einige Jahre intensiver Arbeit, um eine adäquate Antwort auf diese Frage zu entwickeln. Die elterliche Ankerfunktion, die im Modell des gewaltlosen Widerstands wahrscheinlich das allgemeinste Konzept ist, war die Frucht einer geduldigen Zusammenarbeit mit zahlreichen engagierten Kollegen und Kolleginnen (Omer u. von Schlippe, 2009, 2010; von Schlippe u. Grabbe, 2012; Omer, Steinmetz, Carthy u. von Schlippe, 2013; Grabbe, Borke u. Tsirigotis, 2013; Ollefs, 2017). Mit diesem Konzept wird zu erklären versucht, was Eltern den Kindern geben, wenn sie die positive Kraft der Neuen Autorität wirken lassen – eben eine andere Form der Stärke: nicht die »Stärke der Faust«, sondern die des »Ankers«, der ja auch stark und beharrlich ist, dessen Ziel es aber nicht ist, den anderen zu besiegen. Das Ziel liegt nicht darin, Überlegenheit herzustellen, sondern die Bindungsbeziehung zu festigen.

Wenn Eltern die Fähigkeit entwickeln, ihre Neue Autorität auszuüben, beginnen sie sich selbst zu verändern. Und ihre Veränderung hat einen Einfluss auf den Zustand ihres Kindes. Sobald also die Eltern ihre Präsenz steigern, fühlt sich das Kind nicht nur in einem physischen, sondern auch in einem mentalen Sinn begleitet. Selbst wenn die Eltern physisch nicht anwesend sind, können die Kinder das Gefühl haben, dass sie ihnen nahe sind, weil sie an sie denken und sich um sie sorgen (Omer, 2015; Weinblatt, 2013; Omer, Satran u. Dritter, 2017). Wenn die Eltern Selbstbeherrschung entwickeln, werden die Beziehungen zwischen ihnen und dem Kind ausgeglichener und emotional besser reguliert (Gershy, Meehan, Omer, Papouchis u. Schorr-Sapir, 2017; Schorr-Sapir, Gershy, Apter u. Omer, 2021). Dadurch wird das emotionale und zwischenmenschliche Erleben des Kindes stabiler und positiver. Mit dem Aufbau eines unterstützenden Netzwerks bekommen die Eltern »breitere Schultern«, und die Legitimität und soziale Berechtigung ihrer Haltung wird aufgewertet. Dies hilft dem Kind, die Einstellungen und Wertvorstellungen der Eltern zu akzeptieren und zu internalisieren. Wenn die Eltern lernen, beharrlich zu sein, statt einfach nur kurzschlussartig zu reagieren, entwickelt das Kind eine Vorstellung von Kontinuität. Alle diese Aspekte werden nicht nur manifest, wenn die Eltern sich den problematischen Verhaltensweisen des Kindes widersetzen, sondern auch bei vielerlei Alltagsaktivitäten, Botschaften und im gegenseitigen Austausch. So zeigt sich die Neue Autorität nicht nur in Konfliktbereichen, sondern sie erweist sich auch als ein fester, zuverlässiger und fürsorglicher Beziehungsrahmen. Diese stabilisierende Funktion ordneten wir dem Konzept der elterlichen Ankerfunktion zu.

Das Ankersymbol repräsentiert auf passende Weise die verschiedenen Elemente der Neuen Autorität. So ist der Anker im Untergrund immer präsent, auch wenn das Kind sich manchmal dessen vielleicht nicht direkt bewusst ist. Der Anker ist auch ein schönes Symbol für Selbstbeherrschung. Viele Eltern drücken ihr Gefühl von Selbstbeherrschung spontan durch eine bestimmte Handbewegung aus, die besagt, dass sie fest in der Erde verankert sind. Die Flunken des Ankers stehen bildhaft für das unterstützende Netzwerk. Hierbei ist der Anker ein äußerst treffendes Bild, denn ein Anker mit nur einer Flunke wäre weitaus weniger geeignet, ein abdriftendes Schiff festzumachen. Der Anker ist auch ein sinniges Symbol für Beharrlichkeit, denn er bleibt so lange im Grund verhaftet, wie es nötig ist.

Aber vielleicht mehr als alles andere ist der Anker ein Symbol für Bindung. Die elterliche Ankerfunktion erschöpft sich nicht in der Tatsache, dass die Eltern in der Lage sind, ihr Kind vom Abdriften in unruhiges Gewässer abzuhalten. Sie bietet auch ein sicheres Beziehungsband zwischen Eltern und Kind. Aus diesem Grund präsentierten wir das Konzept der elterlichen Ankerfunktion als eine Erweiterung der Bindungstheorie (Omer u. von Schlippe, 2011; Omer et al., 2013; Grabbe et al., 2013). Unserer Auffassung nach gehört die Ankerfunktion zu den Grundvoraussetzungen für den Aufbau und die Erhaltung einer sicheren Bindung.

Unser Argument ist, dass die elterliche Ankerfunktion den Eltern nicht nur hilft, liebevoll und akzeptierend zu sein, sondern auch »klug und stark«. Bowlbys (1984, 2018; siehe auch Groß, 2012) Grundargument zugunsten eines universalen Bindungstriebs war, dass der vulnerable Jugendliche die Möglichkeit braucht, sich an »kluge und starke« Individuen zu binden, um sein Überleben zu sichern. Der Mensch erlebt unter allen bekannten Spezies die längste Zeitspanne der Schutzlosigkeit. Wir sollten also erwarten, dass das Bedürfnis eines Menschenkindes, sich Erwachsenen anzuschließen, die es schützen können, das unter allen Spezies am stärksten ausgeprägte und das vielleicht dauerhafteste ist. Doch die elterlichen Qualitäten, stark und klug zu sein, gingen anscheinend irgendwie verloren, als die Bindungstheorie in der Entwicklungspsychologie zum bestimmenden Modell wurde. Die von den neuen Generationen in Theorie und Forschung (z. B. Ainsworth, 1991) gelobten Elternqualitäten verwiesen auf Ansprechbarkeit und Akzeptanz und weniger auf Stärke und Klugheit. Deshalb war es uns wichtig, elterliche Stärke und Führungsqualität wieder in den Bedingungskanon für sichere Bindung aufzunehmen (Omer et al., 2013). Wir haben auch geltend gemacht, dass der Aufbau einer sicheren Bindung nicht in den ersten Lebensjahren abgeschlossen ist, sondern die gesamte Kindheit hindurch dauert. Ferner sind wir der Ansicht, dass eine sichere Bindung nicht nur dyadisch angelegt ist. Beim Menschen ist sie mindestens triadisch (den Vater eingeschlossen) oder noch weitergehend, da nicht nur die Eltern, sondern auch weitere Menschen beim Bindungsverhalten eine Rolle spielen.

Folglich erweist sich die Ankerfunktion als ein ziemlich ehrgeiziges Konzept. Es vereint nicht nur die verschiedenen Fundamente der Neuen Autorität, sondern dient auch als Brücke zwischen dem Autoritätsbereich und der Bindungstheorie, die heute wahrscheinlich die einflussreichste Theorie im Feld der kindlichen Entwicklung darstellt.

Selbst damit war die Bedeutsamkeit der Ankerfunktion nicht erschöpft. Ihr Spektrum wurde noch erweitert, als wir feststellten, dass der gewaltlose Widerstand durch eine entsprechende Anpassung auch bei Angststörungen wirksam war (Omer u. Lebowitz, 2012; Lebowitz u. Omer, 2013; Lebowitz, Marin, Martino, Shimshoni u. Silverman, 2019). Als wir mit den Eltern angstgestörter Kinder sprachen, mussten wir für den Begriff des gewaltlosen Widerstands einen anderen Ausdruck suchen. Diese Eltern hatten nicht das Gefühl, sie müssten sich gegen ihr Kind zur Wehr setzen, denn sie erlebten es als verletzbar und hilflos und nicht als aufsässig. Doch leuchtete diesen Eltern ein, dass sie ihrem Kind helfen sollten, sich gegen die mächtigen Wellen der Angst zu stemmen, die es zu überwältigen drohten. Eltern ängstlicher Kinder geraten dabei oft aus der Fassung, wenn sie das Bedürfnis haben, ihr Kind vor der Angst zu retten. Sie neigen dazu oder fühlen sich sogar gezwungen, sich auf die ängstlichen Erwartungen ihres Kindes einzustellen, um es ihm leichter zu machen. Die elterlichen Versorgungsleistungen erweisen sich allerdings bei angstgestörten Kindern als der stärkste Prädiktor von Symptomschwere und Grad der Dysfunktion (Garcia et al. 2010; Shimshoni, Shrinivasa, Cherian u. Lebowitz, 2019). Allmählich wurde uns klar, dass das Zurückfahren elterlicher Versorgungsleistungen nicht nur über den Erfolg einer Individualbehandlung des Kindes entschied, sondern auch eine effiziente Intervention an sich war, selbst wenn das Kind nicht therapeutisch behandelt wurde (Lebowitz, Omer, Hermes u. Scahill, 2014; Lebowitz et al., 2019). Es stellte sich heraus, dass dies auch für andere internalisierende Störungen galt, z. B. bei Zwangsstörungen: Obsessive Compulsive Disorder, OCD (Lebowitz, 2013; Omer, 2003), vermeidenden/restriktiven Nahrungsaufnahmestörungen: Avoidant/Restrictive Food Intake Disorder, ARFID (Shimshoni, Silverman u. Lebowitz, 2020) und bei Autismus-Spektrum-Störungen: High Functioning Autism Spectrum Disorder, HFASD (Golan, Shilo u. Omer, 2016). Wir stellten die Hypothese auf, dass in allen diesen Fällen die Eltern ihre Ankerfunktion zurückgewannen und dadurch eher in der Lage waren, ihr Kind gegen den Sog überwältigender Emotionen zu stabilisieren.

Zum Abschluss dieser Ausführungen möchten wir kurz ein besonders berührendes Beispiel für ein ungewöhnliches Anwendungsfeld der Vermittlung von Ankerfunktionen ansprechen. Die Kolleginnen Michaela Fried und Sabine Sommerhuber aus Österreich sind schon seit Jahren dabei, Eltern in politisch und sozial schwierigen Lebensumständen zu unterstützen, etwa im Gazastreifen oder auf Lesbos. In ihrem Blog6 berichten sie, wie sie afghanischen Flüchtlingsfrauen, die unter den extrem beengten Verhältnissen auf Lesbos im Flüchtlingslager lebten, anboten, sie durch Elterncoaching zu unterstützen:

»Ein winzig kleiner Beitrag, ich weiß, den wir hier leisten, am Ende (oder Beginn) der europäischen Welt. Ein notwendiger Perspektivenwechsel, den wir auch ständig evaluieren. Gemeinsam mit den KlientInnen, ÜbersetzerInnen und den KollegInnen und auf ihre Wirksamkeit überprüfen.

›We love parents coaching‹ sagten zwei afghanische Mütter beim Hinausgehen aus der kleinen Clinic zu Michi und mir, ich hab’ mir diesen Satz, neben vielen anderen, im Herzen mitgenommen.«

Anwendungsoptionen

Die Bereiche, in denen gewaltloser Widerstand angewendet wird, sind seit der Publikation der Erstauflage dieses Buchs zahlreich geworden (siehe für Deutschland etwa: von Schlippe u. Grabbe, 2007; Tsirigotis, von Schlippe u. Schweitzer, 2013; Grabbe et al., 2013; Körner et al., 2019; Lemme u. Körner, 2022; für einen Vergleich zwischen der Marte-Meo-Methode, dem Konzept »Ich schaff’s« und Neuer Autorität siehe Rohr, Omer, Aarts u. Furman, 2021). Jede neue Anwendung ergab sich keineswegs von selbst, sondern erforderte eine sorgfältige Anpassung an Gegebenheiten, um den neuen Problemen, Zielen und Klientengruppen am besten gerecht zu werden. Die Entwicklung des Konzepts richtete sich im Wesentlichen auf: (a) die wachsame Sorge der Eltern; (b) Angststörungen und Probleme in der elterlichen Erziehungsarbeit; (c) auf Schulen und (d) auf Verwaltungen, Organisationen und Gemeinden.

Wachsame Sorge der Eltern

Die Notwendigkeit eines auf gewaltlosem Widerstand basierten Modells zur Einbindung der Eltern in die Risikoprävention ergab sich, als Forschungen zeigten, dass elterliches Überwachen, das bis zur Jahrhundertwende als der führende Ansatz im Feld gegolten hatte, an all den Problemen scheiterte, die typisch sind für die alte Autorität. Das Konzept der elterlichen Überwachung verwies auf elterliche Aktivitäten, mit denen die Aufenthaltsorte und Aktivitäten des Kindes nachverfolgt und kontrolliert wurden (Dishion u. McMahon, 1998). Bei diesem Modell hieß die Grundannahme: Je stärker überwacht wird, desto weniger Risiko. Die Eltern sollten von ihrem Kind beständig Informationen verlangen, sein Handeln überprüfen, klare Regeln festlegen und deren Einhaltung gegebenenfalls einfordern. Kritik an diesem Modell kam aus zwei fruchtbaren Studien, die zeigten, dass die Risikoprävention nicht das Ergebnis der elterlichen Spurensuchereien und Kontrollhandlungen war, sondern aus der spontanen Offenheit des Kindes resultierte (Kerr u. Stattin, 2000; Stattin u. Kerr, 2000). Die nachspürenden und kontrollierenden Akte der Eltern reduzierten, wenn sie überhaupt etwas bewirkten, die spontane Offenheit und erhöhten ansonsten potenziell das Risiko sogar! Diese Zeitschriftenartikel lösten eine Flut von Studien aus, die zeigten, dass eine strenge elterliche Überwachung mit einer starken Zudringlichkeit der Eltern verbunden war, was den Konflikt steigerte und die Kompetenz und das Selbstwertgefühl des Kindes verringerte (für einen Überblick siehe Omer, Satran u. Dritter, 2017). Das die elterliche Überwachung befürwortende Lager akzeptierte solche Kritikpunkte allerdings nicht unbeantwortet. Dessen Anhänger veröffentlichten weiterhin Studien, die zeigten, dass der offene Dialog und die spontane Offenheit nicht ausreichten, vor allem nicht bei hochriskanten Fällen. Bei solchen Kindern sei neben dem aufrichtigen Dialog und der Offenheit ein aktiver Ansatz der elterlichen Überwachung nötig (Coley, Morris u. Hernandez, 2004; Fosko, Stormshak, Dishion u. Winter, 2012; Laird, Marrero u. Sentse, 2010). So hatte die Forschung zu widersprüchlichen Beurteilungen geführt, wie dem Risiko am besten vorzubeugen ist.

Bei der Anpassung des gewaltlosen Widerstands an das Feld der Risikoprävention bestand unser Ziel darin, eine konsequente Haltung wachsamer Sorge der Eltern zu fördern und zu erkunden; dabei wären Kontrolle und Bestrafungsbereitschaft auf niedrigem Niveau, es würde der Dialog gefördert und die Eltern-Kind-Beziehung verbessert und gleichzeitig die Fähigkeit der Eltern zu entschlossenem Handeln gestärkt, wenn Warnsignale auftauchen. Das Konzept der wachsamen Sorge würde somit den Wunsch nach elterlicher Aufsicht kombinieren mit der Förderung des offenen Dialogs und spontaner Offenheit (Omer, 2015; Omer u. Streit, 2016).

Im Gegensatz zur elterlichen Überwachung zielt die wachsame Sorge nicht darauf ab, das Kind zu kontrollieren, sondern ein Gefühl von elterlicher Präsenz und Begleitung in ihm zu wecken. Statt von der Annahme auszugehen, je mehr Überwachung, desto besser, passen wachsam sorgende Eltern ihren Wachsamkeitsgrad den Alarmzeichen an, die sie wahrnehmen. Gibt es keine besonderen Alarmsignale, zeigen sie offene Aufmerksamkeit, halten sich aber mit Befragungen oder der Nachverfolgung der Aktivitäten ihres Kindes zurück. Eltern zeigen offene Aufmerksamkeit dadurch, dass sie positives Interesse am Kind zeigen und ihre Bereitschaft bekunden, entspannte Kontakte mit seinen Freunden, anderen Eltern und Lehrern/Lehrerinnen zu entwickeln, und dass sie willens sind, mit dem Kind über potenziell problematische Themen ins Gespräch zu kommen. Solche Kontakte und Gespräche werden in einer offenen und positiven Atmosphäre geführt. Miteinander zu sprechen ist wichtiger, als problematische Informationen abzufragen.

Wenn aber Alarmsignale auftauchen, dann gehen die Eltern zu einer höheren Ebene der wachsamen Sorge über: zur fokussierten Aufmerksamkeit. Auf dieser Ebene erfragen sie von dem Kind aktiv Informationen hinsichtlich seiner Ausflüge und Aktivitäten nach dem »Was«, »Wo« und »Mit wem« und legen fest, wann es nach Hause zu kommen hat, was sie dann auch überprüfen. Sie sagen dem Kind offen und ehrlich, dass sie ihre Haltung aufgrund der Ereignisse ändern, die die Auslöser ihrer Sorgen sind. Die Erfahrung lehrt, dass die meisten Kinder solche Fragen beantworten – wenn auch manchmal mit saurer Miene –, wenn die Eltern darauf bestehen. Auf dieser Aufmerksamkeitsstufe intensivieren die Eltern auch ihr Engagement bei schulischen Angelegenheiten und bringen sich über die schulischen Leistungen und Verhaltensweisen ihres Kindes auf den neuesten Stand. Wenn das Kind kooperiert und die beunruhigenden Anzeichen nachlassen, kehren die Eltern allmählich zurück auf die Stufe der offenen Aufmerksamkeit.

Wenn aber das Kind lügt, die Kooperation verweigert oder neue Warnsignale auftauchen, gehen die Eltern zu schützenden Schritten über. Jetzt handeln sie entschlossen, um ihr Kind vor Gefahren zu schützen, indem sie beispielsweise Telefonrunden einrichten oder die Orte aufsuchen, an denen das Kind unerlaubt »herumhängt«.

Die wachsame Sorge der Eltern wird von Kindern tendenziell akzeptiert, auch wenn sie zunächst einmal dagegen protestieren. Forschungen zeigen, dass Jugendliche das Engagement der Eltern als berechtigt akzeptieren, wenn es eindeutig mit ihrer Sicherheit zusammenhängt (Padilla-Walker, Nelson u. Knapp, 2014). Die Akzeptanz des elterlichen Handelns wird größer, wenn ein stützendes Netzwerk miteinbezogen wird. Außerdem wird der Konflikt reduziert und die Kooperation verbessert, wenn die Eltern Respekt zeigen, dem Kind nicht nachspionieren und keine kontrollierenden Botschaften aussenden.

Da eine wachsame Sorge weitaus unaufdringlicher ist als das elterliche Überwachen, sollte sie eher geeignet sein, dass das Kind diese Haltung internalisiert. Wir stellten deshalb die Hypothese auf, dass die wachsame Sorge der Eltern beim Kind allmählich in die Sorge um sein eigenes Selbst übergeht. Um im Ankerbild zu bleiben: Wenn das kleine Schiff (das Kind) größer wird, würde der Anker zu einem Teil der eigenen Schiffsausrüstung werden.

Das Konzept der wachsamen Sorge der Eltern ist bei folgenden Problemen angewendet worden: bei gewohnheitsmäßigem Lügen, schlechter Gesellschaft, strafbaren Handlungen, bei Schulproblemen, ungesunden Verhaltensweisen, beginnenden Essstörungen, bei Drogenmissbrauch, früher sexueller Betätigung, digitalem Missbrauch, gefährlichem Autofahren im Jugendalter und Jugendkriminalität (Omer, 2015). Einige dieser Probleme sind systematisch untersucht worden (siehe unten), wobei sich die Annahmen in Bezug auf Risikoprävention, geringem Eltern-Kind-Konflikt und Internalisierung bestätigt haben.

Auch bevor das Modell der wachsamen Sorge explizit entwickelt wurde, setzten schon zahlreiche Kollegen und Kolleginnen, hauptsächlich in Großbritannien, das Konzept des gewaltlosen Widerstands in ihrer Arbeit mit Jugendlichen in hochriskanten Situationen ein, beispielsweise bei jungen Menschen, die in Straßengangs aktiv waren oder von sexuell ausbeuterischen Tätern angeheuert wurden (Heismann, 2013; Heismann, Pierzchniak u. Prescott, 2019; Jakob, 2022), und bei Drogenabhängigen (Attwood et al., 2019). Parallel zu diesen Entwicklungen arbeitete Jakob (2018, 2019) das Konzept des gewaltlosen Widerstands in seine Arbeit mit mehrfach belasteten Familien ein, in denen Kinder und Jugendliche mit hohem Risiko leben.

In einem Projekt, in dem es um Straßengangs und sexuelle Ausbeutung (Heismann, Frimpong, Target u. MacClay, 2020; Heismann, Pierzchniak u. Prescott, 2019) ging, hatte man den gewaltlosen Widerstand für Gruppen angepasst und in der Arbeit mit Familien in sozial benachteiligten Stadtvierteln mit hoher Kriminalität eingesetzt. Es ist bekannt, dass Eltern in solchen Familien nur schwer für eine Teilnahme zu gewinnen sind, weil sie u. a. ein tiefes Misstrauen gegen Vertreter von Sozialbehörden hegen. Um diese Hürde zu überwinden, wurden ausgewählte Familien bis zu vier Mal zu Hause besucht, meistens von dem Therapeuten, der gewaltlosen Widerstand in der Gruppe umsetzte, und