Raus aus der Suchtfalle Lebensmittel - Iris Zachenhofer - E-Book

Raus aus der Suchtfalle Lebensmittel E-Book

Iris Zachenhofer

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Beschreibung

Nahrungsmittel können süchtig machen. Das belegen aktuelle Studien. Ihre Hersteller sorgen dafür, dass wir immer mehr hochverarbeiteteLebensmittelwollen. Am besten, wir können gar nicht mehr zu essen aufhören. Kein Wunder also, dass Ernährungsumstellungen und Diäten bei vielen Menschen keine Wirkung zeigen. Zwei Suchtmediziner enthüllen in diesem Buch, wie Nahrungsmittelproduzenten unser Suchtpotenzial aktivieren wollen und wie wir uns dagegen wehren können.

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Seitenzahl: 154

Veröffentlichungsjahr: 2024

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RAUS AUS DERSUCHTFALLE LEBENSMITTEL

Dr. Iris Zachenhofer, Dr. Shird Schindler:Raus aus der Suchtfalle Lebensmittel

Alle Rechte vorbehalten

© 2024 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: Bastian Welzer

Satz: Bastian Welzer

Gesetzt in der Premiera

Gedruckt in Deutschland

12345—27262524

ISBN: 978-3-99001-722-7

eISBN: 978-3-99001-723-4

Dr. Iris Zachenhofer

Dr. Shird Schindler

Raus aus derSUCHTFALLE LEBENSMITTEL

Suchtpotenzial erkennen.

Selbstbestimmt essen.

Gewicht reduzieren.

edition a

INHALT

Eine Amerikareise und ihre Folgen

Was dieses Buch für Sie tun kann

Was sind eigentlich hochverarbeitete Lebensmittel?

Die sechs Punkte des Entzugs

Was uns motiviert

Eine Amerikareise und ihre Folgen

»Mega!«, rief meine Freundin Marion ins Telefon, als ich ihr von meiner bevorstehenden Hawaii-Reise erzählte. In Gedanken trug ich schon Tropenbikini und Sarong und saß vor einer Açai-Bowl, Kokoswasser und frischen Früchten in einer Strandbar. Im Reiseführer hatte ich von den vielen tropischen Früchten gelesen, die auf Hawaii wuchsen. Ananas, Papayas, Bananen und auch einige mir Unbekannte wie Brotfrüchte oder Wasserkastanien. Bestimmt gab es nette Bäckereien, wo ich den berühmten Kona-Kaffee trinken und frisch gebackene Macadamianuss-Cookies oder Bananenbrot essen konnte. »Vergiss nicht«, unterbrach Marion meine Gedanken, »Hawaii ist Teil der USA. Da wirst du amerikanische Lebens- und Essensgewohnheiten vorfinden.«

Marion sieht immer gleich alles so negativ, dachte ich. Ja, sicher gehörte Hawaii zu den USA, aber was hieß das schon? Die Inselkette lag mehrere tausend Kilometer vom amerikanischen Festland entfernt im Pazifischen Ozean. Was sollte das tropische Paradies da noch mit amerikanischen Ernährungsgewohnheiten zu tun haben? Selbst wenn es dort vereinzelt Fastfood-Lokale für Festland-Amerikaner gäbe, wäre mir das egal. Wahrscheinlich würde ich die in der Reichhaltigkeit des tropischen Essens gar nicht bemerken.

Ich war noch nie in den USA gewesen, und das hatte seine Gründe. Ich reise am liebsten in Länder, die meiner Heimat Österreich irgendetwas voraushaben, beim Essen zum Beispiel oder bei der Eleganz der Kleidung. Deshalb fuhr ich am liebsten nach Frankreich oder Italien. Ich hatte bisher keine Lust verspürt, meine wenigen Urlaubstage in der Heimat von McDonald’s und Starbucks zu verbringen. Nun hatte sich aber relativ kurzfristig die Möglichkeit ergeben, eine Kollegin, die auf Hawaii lebte, zu besuchen, um gemeinsam mit ihr an einer medizinischen Studie zu arbeiten.

Beim Immigration-Schalter in Los Angeles stellte der Officer die üblichen Fragen, die ich schon aus den Internetforen kannte: Warum besuchen Sie die USA? Wo übernachten Sie? Wie lange bleiben Sie? Ich folgte den Empfehlungen, freundlich zu sein und Scherze über geplante Attentate zu unterdrücken, und fragte mich, was der Mann sich eigentlich einbildete. Hier gab es wahrscheinlich das schlechteste Essen weltweit und dazu ein denkbar mieses Gesundheitssystem. Wie konnte er annehmen, dass ich jemals freiwillig hierbleiben würde?

Als ich schließlich erleichtert zur Gepäckausgabe ging, dachte ich an die vor mir liegenden Tage und ihre kulinarischen Besonderheiten. Marions Warnungen schob ich beiseite, schließlich hatte ich es bisher noch immer geschafft, aus den einfachsten Zutaten leckere und vollwertige Gerichte zu kochen. Ich brauchte auch nicht viel Luxus. Wenn nötig, würde ich Früchte, Reis und Fisch essen. Die USA und deren Ernährungsprobleme würden mir also nichts anhaben können, dachte ich.

Ich kam schneller am Boden der amerikanischen Ernährungs-Wirklichkeit an, als McDonald’s-Pommes lau und schlapp werden. Voller Ankunfts-Euphorie ging ich zum Gate für den Weiterflug nach Honolulu. Gespannt, wer noch so die Maschine nehmen würde, hielt ich Ausschau nach tropischen Schönheiten, athletischen Surfern und verträumten Schnorchlern. Vielleicht würde mich ja sogar einer dieser Kanuten, die sich auf Trips mit den traditionellen Outrigger-Kanus begaben, oder der eine oder andere Hawaiianer mit polynesischen Tattoos begleiten.

Beim Gate schaute ich dreimal auf die Anzeige, um mich zu vergewissern, dass ich wirklich richtig war. Denn Schönheiten, Surfer oder Schnorchler gab es hier definitiv keine. Stattdessen Fluggäste, die geschätzte 150 Kilo auf die Waage brachten und sich wie zerfließende Quallen auf zwei bis drei Sitzplätzen ausbreiteten. Keine Spur von Aloha oder relaxtem Strandleben. Ich kam mir eher vor wie beim Casting für die nächste Staffel der Abnehm-Show »The Biggest Loser«.

Meine Mitreisenden schaufelten auch noch pausenlos Essen in sich hinein und tranken aus Bechern in der Größe von Popcorneimern, als wären sie kurz vor dem Verhungern oder Verdursten. Das spiegelte sich auf dem Fußboden wider, der dem Asphalt nach einem Straßenfest ähnelte. Er war übersät mit leeren Pappbechern, ausgestreutem Popcorn, Chipsbröseln, leeren Burger-Verpackungen und zerknüllten Servietten.

Träge schoben sich diese adipösen Menschen schließlich ins Flugzeug, wo sie reglos in ihren Sitzen verharrten, als hätte sie jemand abgeschaltet. In Bewegung kamen sie erst wieder, als die Stewardessen Chips und Cracker austeilten. Danach fischten sie mit affenartiger Behändigkeit.

Die üblen Vorahnungen, die ich dabei entwickelte, bestätigten sich nach unserer Landung. Die USA hatten die Inseln mit ihrem Lebensstil vollkommen vereinnahmt. Ich sah so dicke Menschen und so dermaßen unförmige Körper wie in Europa noch nie zuvor.

Als wir das erste Mal an einen der wunderschönen Strände von Oahu kamen, musste ich unwillkürlich an die dramatischen Bilder von Umweltschutzorganisationen denken, die hunderte gestrandete Wale an den Küsten von Australien oder Neuseeland zeigten. Auch hier lagen enorme Fleischberge am Strand. Allerdings waren es keine Wale, sondern Menschen, erkennbar vor allem an den Kühltaschen, die jeweils neben ihnen standen, obwohl in ein paar Stunden am Strand niemand verhungert wäre, schon gar nicht mit 150 Kilogramm Substanz.

Während ich meine Blicke umherschweifen ließ, fielen mir Patienten unserer Entzugsstation ein, die so große Angst vor Entzugsbeschwerden hatten, dass sie bei der Aufnahme »sicherheitshalber« Drogen auf die Station zu schmuggeln versuchten. Diese Menschen hier waren genauso süchtig, allerdings nach Essen, und hatten anscheinend dieselbe Angst vor Entzugsbeschwerden, wenn sie mal zwei oder drei Stunden fern eines Kühlschranks, einer Imbissbude oder eines Restaurants waren.

Da ich bei meiner Kollegin wohnte, konnte ich in ihrer Küche kochen. Ich wollte einfache Speisen zubereiten, die vor sich hinköcheln konnten, während wir an unserer Studie arbeiteten. So hatte ich mir das zumindest vorgestellt. Sicherheitshalber hatte ich für den Start Olivenöl, Kräuter der Provence, ein großes Stück Parmesan, Pinienkerne und sogar dunkle Schokoladenkuvertüre mitgebracht. Die Grundnahrungsmittel würde ich ohnehin überall bekommen, hatte ich bei der Abreise gedacht. Doch da hatte ich noch keine Ahnung davon gehabt, wie weit die Produkte in den Supermärkten hier von den Lebensmitteln, die ich kannte, entfernt waren.

Als ich das erste Mal einen der amerikanischen Supermärkte betrat, fühlte ich mich eher wie in einem riesigen Spielwarengeschäft. Alles war quietschbunt, und die Verpackungsgrößen entsprachen den Kartons von Playmobil-Häusern. Derart gigantische Mengen gibt es bei uns am ehesten im Fachhandel für Gastronomie.

Zunächst belächelten wir diese bizarren Nahrungsmittel und fühlten uns wie in einem Museum der Kuriositäten. Eine blau gefärbte Tiramisu-Torte. Ein Fünfliterkanister Milch, mit dem sich wahrscheinlich ein Kalb füttern ließ. Chips-Packungen so groß wie meine Müllsäcke daheim.

Mit einem Einkaufswagen, der fast die Maße eines Schiffscontainers hatte, durchforschte ich die Gänge nach etwas, was mir essbar erschien. Vergeblich. Nirgends zuvor hatte ich dermaßen künstlich und ungenießbar wirkende Lebensmittel gesehen. Sogar Grundnahrungsmittel wie Mehl und Reis waren aromatisiert. Jede Milch war mit Vitaminen angereichert oder entfettet oder beides. Brot und Kuchen gab es nur in Plastik, dafür aber in Regenbogenfarben.

Das Gemüse ähnelte eher dem Plastik- oder Holzgemüse in einer Spielzeugküche: hart, geruchs- und wohl auch geschmacklos sowie optisch vollkommen ident und makellos. Für mich war es kaum vorstellbar, solches Zeug zu essen. Immerhin erklärte es die Fünfliterkanister French-, Farmers- oder Bluecheese-Dressings, die in der Gemüseabteilung standen. Diese Tomaten, Gurken und Paprikas waren dermaßen fad, dass sie nur darin ertränkt genießbar waren.

Nach langem Suchen fand ich einen Supermarkt, in dem es auch nicht aromatisierte Milchprodukte gab. Die waren dafür astronomisch teuer. Nahrungsmittel guter Qualität waren anscheinend auch das Einzige, was die amerikanischen Supermärkte nicht in Riesenpackungen anboten. Mascarpone oder Ziegenkäse befanden sich vielmehr in Dosen wie eine Augencreme von Chanel oder eine Nachtcreme von La Mer.

In den kommenden Tagen kauften wir Obst, Gemüse und Fisch in Chinatown, einem historischen Stadtviertel von Honolulu, und suchten auf den Farmers’ Markets danach. Doch nach Chinatown zu fahren, war jedes Mal ein tagesfüllender Ausflug, und auf den Farmers’ Markets boten die meisten Stände nur Smoothies, schokoladeüberzogene Macadamianüsse und kleingeschnittenes Obst für Touristen an.

Ich hatte letztendlich keine Chance, mich gegen die hochverarbeiteten Lebensmittel aus amerikanischer Industrieproduktion zu wehren. Es war, als würde ich in dieser Junk-Flut ertrinken. Irgendwann fehlte mir die Energie, dagegen anzukämpfen, und ich gab auf. Ich hatte genug von den Tagesausflügen nach Chinatown und den japanischen Touristen auf den Farmers’ Markets, die kleingeschnittene Ananas aßen und Kokoswasser aus der Dose tranken.

Auch die Suche nach hawaiianischen Spezialitäten gab ich auf. Denn Kalua Pig, den zarten Schweinebraten, Musubi, den mit Fisch oder Fleisch garnierten zusammengepressten Reis, oder das aus gegarten, zerdrückten Wurzeln bestehende Poi existierten offenbar vor allem auf Internetseiten. Ich beugte mich den Schokocroissants in der Größe von Brotlaiben, den Zweikilopackungen Frühstücksflocken und den Milchfässern aus dem Kühlregal. Der amerikanische Esskultur-Imperialismus hatte gewonnen.

Von da an ließ ich mich mitreißen und ging in der Flut unter wie eine Tomate im Farmers-Dressing. Wie alle um mich herum schob ich ständig irgendetwas in mich hinein. Geregelte Essenszeiten gab es nicht mehr, was keine Rolle spielte, da die Restaurants ohnehin durchgehend Hauptmahlzeiten anboten. Anfangs fantasierte ich noch von frischem Sauerteigbrot und knusprigem Baguette, von Rispentomaten, Weintrauben und frischen Feigen, aber letztendlich gewöhnte ich mich an künstliche türkisblaue Cookies, an Kuchen in Regenbogenfarben und an Hotdogs aus dem Karton.

Mein Körper reagierte binnen Tagen. Er fühlte sich immer schwammiger und weicher an, wie die Brötchenhälften eines billigen Burgers. Es fiel kaum auf, denn ich trug weite Sommerkleider, und auf den Stränden war ich zwischen den vielen Übergewichtigen noch immer eine der Schlanksten. Auch wenn ich unversehens einige Kilo mehr hatte, gehörte ich zwischen all den 150-Kilo-Menschen, die einen bei Walmart mit ihrem Elektromobil fast überrollten, zu den Fliegengewichten.

Das eigentliche Drama dieser Selbstaufgabe wurde mir nach mehreren Wochen Hawaii gleich nach meiner Heimkehr klar. In Wien lösten sich meine neuen Ernährungsgewohnheiten und meine zusätzlichen Kilos nicht einfach wieder in Luft auf. Ich war zwar wieder in einem Land, in dem es hervorragende Lebensmittel nicht nur in sündteuren Luxusrestaurants gab, trotzdem ließ ich mich als Erstes aufs Sofa fallen und verschlang alle Schokolade-Nikoläuse, die vom Advent übrig waren.

Dabei blieb es nicht. In den Supermärkten gab es gerade Weihnachtsschokolade von Lindt, Milka oder After Eight im Abverkauf, und ich nahm die Schoko-Engel, -Christkinder, -Christbaumkugeln und -Glocken gleich dazu. Sogar eine Packung Eulen aus Schokolade war dabei. Der Preis war niedrig, und nach dem Reisestress hatte ich mir das verdient, lautete meine Rechtfertigung.

Manches war wieder wie früher. Ich kaufte ein und kochte wie vor der Reise, und auch die Essenszeiten pendelten sich wieder ein. Aber da war etwas Neues, etwas, was fremd und seltsam war. Ich hatte nie mehr das Gefühl, richtig satt zu sein, und musste ständig an Essen denken. Oft ging ich nach dem Mittagessen zum Supermarkt, umkreiste die Backwaren wie eine Drogensüchtige und kaufte schließlich fast jeden Tag etwas Süßes. Immer wieder aß ich zwischendurch, vormittags, am Nachmittag zum Kaffee oder am Abend vor dem Laptop.

Anfangs dachte ich noch, ich sei etwas daneben vom Jetlag, oder es läge an der vielen liegengebliebenen Arbeit, die ich nun nachholen musste. Aber die Wochen vergingen, meine Ausreden wurden hinfällig, und meine amerikanischen Essgewohnheiten blieben ebenso wie die Sarongs, die Hawaii-Barbies und die Haarspangen mit Frangipaniblüten, die ich als Souvenirs mitgebracht hatte.

Zunächst war ich noch davon überzeugt, ich würde mir dieses üble Verhalten ganz von selbst wieder abgewöhnen, aber das geschah nicht. Irgendetwas schien mit meinem Gehirn passiert zu sein. Es kam mir vernebelt vor, meine Gedanken waren eingetrübt und unklar. Was war nur los mit mir? Ich kannte mich so nicht. Mir war klar, dass hochverarbeitete Lebensmittel auf Dauer nicht gut für mich wären, aber mit dieser nachhaltigen Wirkung nach einem doch vergleichsweise kurzen Ausflug in ihre Welt hatte ich nicht gerechnet.

Bald konnte ich meine Gewichtszunahme nicht mehr schönreden, denn statt Strandkleidern trug ich Jeans, die gewaltig spannten, und meine taillierten Kleider kamen mit meiner neuen Figur sowieso nicht mehr infrage. Meine Laune war im Keller, und trotzdem schaffte ich es nicht, etwas zu verändern. Die Kilos klebten an mir wie die die Karamellsauce an einem Softeis.

Im Frühling, es war bereits die Zeit der Schokolade-Osterhasen, bereitete ich mit meinem Kollegen Shird einen Vortrag zum Thema »Die Gier nach Essen – kann Essen zur Sucht werden?« vor. Ich saß gerade mit dem Laptop auf dem Sofa, als ich über einen Selbsttest stolperte, den wir zu diesem Thema einmal entwickelt hatten. Die zentrale Frage lautete: Wie stark ist Ihr Essen von Suchtverhalten geprägt?

Langsam scrollte ich die Fragen durch und trug gleich meine Antworten ein:

Ich kann nicht mehr aufhören zu essen, wenn ich einmal angefangen habe (oft).

Ich verliere die Kontrolle und esse zu viel (oft).

Ich habe das Gefühl, dass ich die ganze Zeit nur Essen im Kopf habe (immer).

Wenn ich ein Hungergefühl spüre, plane ich sofort, tatsächlich etwas zu essen (immer).

Ich habe nicht die Willenskraft, meinen Essensgelüsten ernsthaft zu widerstehen (immer).

Wenn ich ein Hungergefühl verspüre, denke ich so lange ans Essen, bis ich tatsächlich etwas esse (immer).

Fassungslos schaute ich auf mein Ergebnis. Es attestierte mir »sehr starkes Verlangen« und »hohes Suchtpotenzial«. Damit hatte ich schwarz auf weiß, wie abhängig ich von bestimmten Nahrungsmitteln geworden war.

Ich lehnte mich auf dem Sofa zurück und überlegte. Langsam lichtete sich dabei der Nebel in meinem Kopf und meine Gedanken klärten sich. Es war, als würde ich an einer unbekannten Krankheit mit vielen Beschwerden leiden, wäre von Arzt zu Arzt gelaufen und hätte nun endlich eine Diagnose. Was sich gut anfühlte, denn so würde auch eine Therapie möglich sein.

Die Diagnose lautete: Ich hatte ein süchtiges Essverhalten entwickelt. Im Grunde, gestand ich mir ein, handelte es sich bei der seltsamen Veränderung in meinem Leben um eine Suchterkrankung, und damit konnte ich umgehen. Dafür war ich ausgebildet, und damit verdiente ich mein Geld, nur hatte ich es üblicherweise nicht mit Menschen zu tun, die nach Essen süchtig waren.

Bloß, welchen Plan sollte ich mir machen, und was genau konnte ich tun, um dem Ganzen mehr Sinn zu geben? Was konnte ich all den anderen Menschen sagen, die naiv wie ich in die von der Lebensmittelindustrie teilweise bewusst und gezielt aufgestellten Suchtfallen getappt waren?

Was dieses Buch für Sie tun kann

Etwa zur Zeit meines Hawaii-Aufenthalts sah ich eine fast vierstündige Doku über das legendäre Woodstock-Festival im Jahr 1969. Zwanzig Kameraleute hatten dafür rund hundert Stunden Filmmaterial aufgenommen. Während ich die Lieder und die Stimmung der 1970er-Jahre auf mich wirken ließ, fiel mir etwas auf: Keiner der geschätzten 400.000 Festival-Besucher war übergewichtig. Auch kein Künstler, niemand vom Bühnenbau und keiner der Anrainer, die zu Wort kamen. Alle waren schlank und wirkten beweglich, obwohl es sich um Amerikaner handelte.

Dabei hatten die damaligen Hippies anderes zu tun, als jeden Tag zu joggen. Jane Fonda eroberte erst zwölf Jahre später in Leggings, engem Body und heißen Stulpen mit ihrem »Jane Fonda Workout«-Video die Wohn- und Turnzimmer, Fitnesscenter waren noch ein Minderheitenprogramm, und von einer Dauerbeschallung mit Fitnesstipps wie heute in den klassischen und sozialen Medien konnte ohnedies noch keine Rede sein.

Warum waren dann all diese Menschen so rank und schlank? Ganz einfach, dachte ich: Es gab noch keine hochverarbeiteten Lebensmittel. Zum ersten Mal hatte ich damals den Gedanken, dass die weltweite Ausbreitung des Übergewichts auch für mich als Suchtmedizinerin relevant sein könnte.

Das Problem mit der Evolutionsbiologie

In den Jahrzehnten seit Woodstock haben sich die Lebensmittel grundlegend verändert. Waren sie damals noch weitgehend naturbelassen und frei von künstlichen Inhaltsstoffen, entstehen ihre Rezepte längst nicht mehr in Küchen, sondern in Labors, und ihre genauen Zutaten auseinanderzuklamüsern, erfordert meist chemische Expertise.

Wir sehen auf einer Cracker-Verpackung eine schöne rote Paprika, und vielleicht ist sogar noch »bio«, »mit wertvollen Omega-3-Fettsäuren« oder »vegan« aufgedruckt. Derlei gibt uns das Gefühl, in den Genuss der besten Ernährung aller Zeiten zu kommen. Tatsächlich ist es aber eher die schlechteste, und vor allem ist sie gemein: Denn die Lebensmittel sind absichtlich exakt so entworfen, dass wir mit dem Essen möglichst nicht mehr aufhören können.

Der Forschungsstand dazu ist eindeutig, hinlänglich beschrieben und wurzelt in der Evolutionsbiologie: Im Sinne unseres Überlebens war es entscheidend, dass wir an Kohlenhydrate und Fett kommen. Denn Kohlenhydrate, zu denen Zucker zählt, sind schnelle Energielieferanten, und Fett versorgt unseren Körper längerfristig mit Energie.

In den Jahrzehntausenden des Mangels gewöhnte sich unser Gehirn deshalb an, die Aufnahme von beidem mit massiven Ausschüttungen des Glückshormons Dopamin zu belohnen. Im Sinne der Erhaltung unserer Art sagt uns unser Gehirn seither auf diese Weise: Wenn Kohlenhydrate und Fett da sind, dann iss, so viel du kannst, und ich sorge dafür, dass du entspannt, beruhigt und glücklich bist.

Bei Ratten läuft es genauso. Versuche haben gezeigt, dass ihre Fresslust bei Lebensmitteln mit vielen Kohlenhydraten und viel Fett am größten ist. Forschende stellten fest, dass sich Ratten konkret bei Nahrungsmitteln, die zu fünfzig Prozent aus Kohlenhydraten und zu 35 Prozent aus Fett bestehen, vergessen. Dann ist ihre Gier am größten. Die perfekte Kombination aus Kohlenhydraten und Fett löst im Belohnungszentrum der Ratten- und Menschengehirne einen Suchteffekt aus.

Da sich Lebensmittelhersteller nichts Besseres wünschen können als Kunden, die gar nicht mehr mit dem Essen ihrer Produkte aufhören können, dachten sie nach: Wie lässt sich das ausnützen? Die Natur gab keine Antwort auf diese Frage. Sie bringt keine Lebensmittel mit der gewünschten Zusammensetzung hervor. Natürliche Lebensmittel enthalten entweder Kohlenhydrate oder Fett, aber kaum beides.

Damit schlug die Stunde der Lebensmitteltechniker, die nach inzwischen jahrzehntelanger Forschung ganz genau wissen, welche Zutaten in welcher Zusammensetzung und mit welchen Spezifikationen welche Aktivitäten in welchen Hirnarealen auslösen. Sie wissen, was die stärksten Dopaminausschüttungen bewirkt, und nützen dieses Wissen konsequent und professionell. Nicht nur bei Chips, Fertigpizza oder Keksen, sondern auch bei Brot, Milchprodukten und Tiefkühlgemüse.

Essen, das süchtig macht? Für die Lebensmittelkonzerne ist das perfekt, und wer will ihnen einen Vorwurf machen? Sie müssen so arbeiten, um im Konkurrenzkampf ihrer Branche mithalten zu können. Würden sie aus ethischen Gründen darauf verzichten, würden sie in Schönheit untergehen.

Sucht-Tricks aus dem Labor

Die weiß bemäntelten Männer und Frauen in den Laborküchen der Konzerne befassen sich dabei längst mit mehr als dem richtigen Verhältnis von Kohlenhydraten und Fett. Sie arbeiten etwa auch mit der Geschwindigkeit, mit der Lebensmittel Kohlenhydrate und Fette freisetzen. Denn je schneller sie das tun, desto höher ist ihr Suchtpotenzial.