Ravens Schicksal - Terry Waiden - E-Book

Ravens Schicksal E-Book

Terry Waiden

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Beschreibung

Obwohl Adriana ihrer Magie beraubt im Kerker des Schlosses eingesperrt ist, sammeln die bösen Mächte des Nordens Ihre Kräfte und formieren sich zu einer Armee des Schreckens, die unaufhaltsam herannaht, um Adriana zu befreien. Nur Raven könnte sie aufhalten, doch ihre Ausbildung hat erst begonnen. Ihre Mutter ist eine ausgebildete Do-Lla, aber nach der langen Gefangenschaft, aus der Raven sie befreit hat, sehr schwach. Wird es ihnen gelingen, das unaufhaltsam herannahende Böse zu besiegen?

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Terry Waiden

RAVENS SCHICKSAL

Die Fortsetzung der Fantasy »Ravens Geheimnis« von Ruth Gogoll

© 2014édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-087-5

Coverillustration: © veryviktory – Fotolia.com

Es sah aus, als würden sich Abertausende von Mücken aus den Dächern der Stadt lösen und einer Windhose gleich zu einer riesigen Wolke verbinden. Raven sah zu, wie sich der Mückenschwarm zu drehen begann und in Bewegung setzte, Richtung Norden. Dahinter wurde der Himmel von einem Blau überzogen, wie Raven es noch nie zuvor gesehen hatte. Bestimmt war die Sonne dafür verantwortlich, deren Strahlen im Norden die dunkle Wolke vor sich hertrieben und im Süden die Welt bis zum Horizont ausleuchteten.

Raven spürte in die Stadt hinein, in jedes Haus, suchte nach dem Gefühl, das Elayna und Lektra Glück genannt hatten. Doch da war nichts.

Ratsuchend drehte sie sich im Sattel zu dem kleinen Wagen um, in dem die beiden anderen Frauen saßen. Elayna – ihre Mutter – sah zwar noch sehr erschöpft aus, schien sich aber von Minute zu Minute zu erholen. Erst wenige Stunden zuvor hatte sie einen Kampf ausgetragen, der sie fast ihre ganze Kraft gekostet hätte, und bis dahin zwanzig Jahre lang in einem Kerker dahinvegetiert; doch nun hätte das niemand mehr vermuten können. Vielleicht hatten Do-Llas neben all ihren anderen unglaublichen Fähigkeiten auch übernatürliche Selbstheilungskräfte, mutmaßte Raven.

Sie ließ sich ein wenig zurückfallen, um den beiden in die Augen sehen zu können, und stellte die Frage, die sie so beschäftigte: »Wieso haben sich die Menschen nicht verändert, obwohl wir Adriana besiegt haben und das Amulett wieder ganz ist?«

Elayna tauschte einen wissenden Blick mit Lektra aus. Raven hörte das stumme Gespräch, das sie miteinander führten, konnte die Worte aber nicht verstehen. Verärgert wollte sie wenigstens Lektra dazu bewegen, ihre Gedanken zu offenbaren, doch ihre Mutter hinderte sie daran. Der Stromschlag, mit dem sie Ravens Brücke zu Lektras Denken einriss, ließ Raven zusammenzucken.

»Es ist uns nicht gestattet, in den Gedanken anderer zu lesen, wenn es nur einem selbstsüchtigen Zweck dient«, tadelte Elayna ihre Tochter. »Wir würden uns selbst damit schaden. Unsere positiven Energien würden sich über kurz oder lang ins Gegenteil wandeln, ins Böse, Zerstörerische.«

Keuchend brachte Raven hervor: »Aber ihr weicht mir aus. Dabei habe ich nur eine simple Frage gestellt.« Erleichtert fühlte sie den Schmerz nachlassen. Sie sah, wie ihre Mutter Lektra kurz zunickte.

Diese zügelte die Maultiere und bedeutete Raven abzusitzen. Dann stieg sie aus dem Wagen, half Elayna ebenfalls heraus und schob Raven zwischen sie beide. Sie legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. »Es ist das Misstrauen und die Angst, weißt du. Für mehr als zwei Jahrzehnte hatte die Finsternis sie alle fest im Griff.«

Ravens Mutter hob ebenfalls den Arm und berührte Ravens andere Schulter. »Sie haben das Glücklichsein verlernt. Oder nie kennengelernt«, flüsterte sie. »So wie du.«

Eine Zeitlang verharrten die drei Frauen auf halbem Weg zwischen Schloss und Stadt und beobachteten das bunte Treiben innerhalb der Stadtmauern. Selbst auf die Entfernung wirkten die Leute lebhafter, ihre Schritte federnder. Doch Raven blieb nicht verborgen, dass vereinzelt kleine dunkle Wolkenfetzen den Sonnenstrahlen auswichen. Sie ahnte, was das bedeutete.

Lektra sprach ihre Gedanken laut aus: »Das Böse lässt sich nicht zur Gänze vertreiben.«

»Es wird deine Aufgabe sein, Raven, dafür zu sorgen«, ergänzte Elayna. Mit einem sanften Druck ihrer Hand bedeutete sie Raven, sich in ihre Richtung zu drehen. »Ich weiß, dass dir das nicht gefällt. Aber Lektra und ich werden dir helfen.«

»Heißt das, dass ich weiterhin durch die Gegend ziehen werde?«, fragte Raven sarkastisch und überspielte damit das leichte Unbehagen, das sich in ihr bemerkbar machte. »Und werde ich dann für den Rest meines Lebens nicht mehr Raven, sondern nur noch die Beschützerin der Unterdrückten sein?«

Es hatte ein Scherz sein sollen, doch sobald die Worte ausgesprochen waren, spürte sie ihr Gewicht. Wollte sie diese Verantwortung überhaupt übernehmen? Jetzt in diesem Augenblick fühlte sie sich geborgen, in Gesellschaft der beiden Frauen, denen sie so innig verbunden war. Für die beiden würde sie vieles, vielleicht sogar alles wagen. Was aber war mit all den anderen, die ihr nichts bedeuteten – denen sie nichts bedeutete? Was wäre sie für diese Menschen zu tun bereit? Und was war mit ihr selbst? Ihren Wünschen? Ihren Bedürfnissen?

Sie war so sehr in ihre Gedanken versunken, dass sie die bedeutungsschwere Stille um sich erst nach einer Weile wahrnahm. Niemand hatte auf ihre Frage geantwortet.

»Wenn deine Ausbildung abgeschlossen ist, wirst du alles erfahren«, brach Lektra das Schweigen, als Raven aufsah. »Bis dahin musst du deiner Mutter und mir einfach vertrauen.«

Erstaunt schaute Raven zwischen Elayna und Lektra hin und her. »Was soll das heißen? Ich dachte, ich bin jetzt eine fertige Do-Lla.«

Die beiden lachten gleichzeitig auf. »Glaub mir, meine Tochter«, bemerkte Elayna mit einem leichten Zwinkern, »du wirst niemals eine fertige Do-Lla sein.«

»Aber . . .?« Jetzt verstand Raven gar nichts mehr. Vor wenigen Stunden war ihr eingeredet worden, sie sei die mächtigste Do-Lla, die es je gegeben hatte. Und jetzt behauptete ihre Mutter das Gegenteil?

Ruhig fuhr Elayna fort: »Das ist zu deinem und zum Schutz der Menschen.« Sie lächelte Raven an. »Du musst immer das Gefühl haben, noch lernen zu müssen, damit du demütig bleibst.«

»Adriana hatte das Gefühl nicht«, ergänzte Lektra. »Darum ist sie jetzt die Gefangene in ihrem eigenen Schloss.«

All diese Informationen überschwemmten Raven. Zu viel war innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden passiert, ihre ganze Welt war aus den Angeln gehoben worden. Nun griff eine unsagbare Erschöpfung nach ihr. Langsam ließ sie sich auf den moosbewachsenen Boden vor einer großen Eiche sinken, deren Äste einen natürlichen Baldachin bildeten.

Es war ja nicht nur der Kampf gewesen, sondern auch die zahlreichen schlaflosen Nächte davor . . . Kurz blitzte Zulya vor ihrem inneren Auge auf, die ihr einige dieser Nächte beschert hatte. Aber nicht einmal das Kribbeln, das die Erinnerung an die gemeinsamen Stunden hervorrief, sorgte für die übliche angenehme Ablenkung. Stattdessen wurde Zulyas Bild unvermittelt von Tyra verdrängt – der bisher stellvertretenden Stadtkommandantin.

»Warum war eigentlich Tyra nicht bei dem Kampf dabei?«, fragte sie. Doch die Antwort hörte sie nicht mehr, weil sie im selben Moment in einen tiefen Schlaf entglitt.

»Du hast noch einen weiten Weg vor dir«, dachte Elayna. Ihr Blick ruhte liebevoll auf ihrer schlafenden Tochter. »Ich wünschte, ich könnte dir die eine oder andere Enttäuschung ersparen.«

»Das liegt nicht in deiner Macht«, stoppte Lektra den Gedanken. »Sie muss ihre Erfahrungen selbst machen und ihre Kämpfe selbst austragen.«

»Aber es lastet so viel auf ihren Schultern . . .« Elaynas stumme Entgegnung klang fast verzweifelt. »Am liebsten würde ich sie vor allen Kämpfen bewahren. Sie ist doch meine Tochter. Die einzige, die ich habe.«

»Ich weiß.« Lektra beugte sich zu Raven und strich ihr hauchzart eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Dann sah sie Elayna fest in die Augen. »Aber du darfst das nicht noch einmal tun. Sonst verlieren wir den Kampf auf ewig. Das weißt du.«

Elayna nickte traurig. Sie setzte sich neben ihre Tochter und griff nach deren Hand. »Ach, Raven. Warum kannst du keine normale junge Frau sein? Dich verlieben wie jede andere und glücklich sein?«

»Dazu muss sie erst den Unterschied zwischen Liebe und körperlicher Befriedigung erkennen«, stellte Lektra fest.

Elayna schaute ihre Vertraute fragend an. »Wie meinst du das?«

»Nun«, antwortete Lektra schmunzelnd, »deine Tochter hat sich bisher nur auf Abenteuer für eine Nacht eingelassen. Höchstens vielleicht zwei oder drei.«

Anstatt zu antworten, fuhr Elayna plötzlich in die Höhe. »Fühlst du es auch?« Aufgeregt sah sie sich um. Eine freudige Ahnung hatte von ihr Besitz ergriffen, die Wahrnehmung einer unterstützenden Gegenwart, die ihre eigenen Kräfte ergänzte und stärkte . . . Aber das konnte doch nicht sein. Vermutlich hatten die Jahre in Gefangenschaft ihre Instinkte in Mitleidenschaft gezogen. Die Hoffnungen und Träume, die sie am Leben erhalten hatten, vermischten sich mit der Realität, und was sie spürte, war nicht mehr als der Nachhall dieser Träume.

Lektra drehte sich in alle Himmelsrichtungen, ihr Gesicht zeigte Unverständnis. »Ich fühle nichts«, sagte sie überflüssigerweise.

Im selben Moment sahen sie, dass Ravens Augenlider flatterten. »Sie wacht auf«, sagte Lektra stumm.

Und Elayna schickte ihr voll freudiger Erregung die Worte: »Sie fühlt es auch. Das weiß ich.«

~*~*~*~

Im Traum breitete sich um Raven eine eigentümliche Aura aus Licht und Farben aus. Zunächst schienen es einzelne Flüsse zu sein, die jedoch nach und nach ineinander mündeten. Die Farben vermischten sich, und das Licht wurde heller. Um den Strom, der daraus entstand, legte sich ein Band, das sich zu einem Kreis schloss. Raven spürte die Stärke, die der Kreis ausstrahlte, fühlte sich wohl darin. Mit einem Mal legten sich von außen einzelne Figuren auf den Kreis. Dreiecke, die sich jeweils an zwei Kanten miteinander verbanden. Am Ende sah Raven ein Sechseck vor sich, aus dem Energie direkt in ihre Adern zu fließen schien, einem feurigen Regenbogen gleich. Selbst als sie die Augen öffnete, sah sie das Sechseck noch einige Sekunden vor sich und spürte seine Kraft wie Wärme.

Elaynas Stimme drang an ihr Ohr: »Was hast du gesehen?« Sie ließ Raven nicht einmal die Zeit, sich richtig aufzusetzen.

»Müsstest du das nicht wissen?«, gab Raven schnippisch zurück. Noch wollte sie nicht über ihren Traum reden. Noch wollte sie ihn für sich behalten, die eigenartige Energie, die er freigesetzt hatte, allein auskosten – und sei es nur für ein paar Augenblicke.

»Sei nicht so respektlos«, schaltete sich Lektra ein.

Elayna winkte ab: »Lass gut sein.« An Raven gewandt sagte sie: »Ich habe dir vorhin schon erklärt, dass wir das nicht dürfen.«

Raven nickte. Doch sie ließ sich Zeit mit der Antwort, streckte sich zuerst einmal ausgiebig und lockerte die vom Schlaf steif gewordenen Muskeln, obwohl sie die Ungeduld Lektras und ihrer Mutter spürte. Sie wollte die Bilder richtig aufzeigen, die Farben, Formen und Kräfte akkurat übermitteln. Die beiden älteren Frauen sollten den Eindruck, den der Traum auf Raven gemacht hatte, nicht nur nachvollziehen können, sondern selbst spüren.

Als Raven zu sprechen begann, wählte sie daher jedes Wort mit Bedacht und ließ an geeigneten Stellen zu, dass ihre Gefühle auf ihre Mutter und Lektra überschwappten. Je weiter sie in den Traum vordrang, desto gerader richtete sich Elaynas Körper auf, desto mehr öffnete sich ihr Brustkorb. Raven bot sich ein Bild, als erblühe vor ihr eine Rose; Blatt für Blatt reckte sich der Sonne entgegen.

Nachdem sie geendet hatte, erklärte Elayna stockend: »Das war kein Traum. Und ich . . . ich hatte recht.«

Raven suchte den Blick ihrer Mutter, versuchte deren Reaktion zu deuten. Eigentlich erwartete sie, dass sie dafür sofort in ihre Schranken verwiesen würde, aber nein: Elayna offenbarte ihr lächelnd ihre Gefühle.

»Du bist aufgeregt«, stellte Raven zufrieden fest. Während sie aufstand, scherzte sie: »Verrätst du mir auch warum, oder muss ich es aus deinen Gedanken lesen?«

»Versuch es, und du wirst leiden«, gab Elayna immer noch lächelnd zurück. Nichts erinnerte jetzt mehr an den Zustand völliger Entkräftung, in dem sie sich vor wenigen Stunden noch befunden hatte. Geschmeidig wie ein junges Mädchen erhob sie sich, griff in die Tasche ihres Kaftans, holte das Amulett hervor und reichte es Raven. »Was siehst du darauf?«

Raven starrte auf die Rückseite, und ihr Atem stockte. »Hier ist ein Sechseck abgebildet.«

»So wie du es im Schlaf gesehen hast«, sagte Elayna ruhig. »Und nun schau genau hin. Waren die Ecken der Dreiecke, die du gesehen hast, in derselben Weise verbunden wie hier?«

Millimeter für Millimeter tasteten Ravens Augen die Formen ab. Schließlich hob sie irritiert den Kopf. »Ja. Sogar das eine Dreieck hier.« Sie legte einen Finger auf die besagte Figur. »Es war auch nicht gleichförmig. Dadurch gibt es diese Unterbrechung.«

»Das habe ich befürchtet«, murmelte Elayna mehr zu sich selbst.

Lektra, die bisher geschwiegen hatte, griff nach dem Amulett. Sie warf nur einen kurzen Blick darauf, aber ihre Augen weiteten sich sofort. »Du meinst . . .« Sie ließ den Satz unvollendet.

»Es reicht!«, rief Raven. Die Wärme, die sie beim Aufwachen umfangen hatte, wich zurück, und je weiter sie sich entfernte, desto mehr brach Ravens Ungeduld sich Bahn. Warum machten ihre Mutter und Lektra ständig irgendwelche bedeutungsvollen Andeutungen, hatten aber anscheinend nicht die Absicht, sie in ihre Erkenntnisse einzuweihen? Sie spürte doch ganz genau, dass es da etwas gab, etwas Wichtiges, das die beiden einerseits freudig stimmte und andererseits beunruhigte. Aber sie hielten ihre Gedanken fest unter Verschluss. Sobald Raven versuchte, zu ihnen vorzudringen, prallte sie wieder gegen eine Mauer.

Ohne wirklich zu wissen, was sie da tat, gab sie ihrer Ungeduld die Zügel frei und feuerte sie auf die älteren Frauen ab.

»Raven«, ächzte Lektra, während ihr Oberkörper wie getroffen nach vorn knickte.

Elayna konnte offenbar rechtzeitig ausweichen, denn sie zog nur scharf die Luft ein. »Hör sofort damit auf!«, maßregelte sie ihre Tochter.

Jetzt erst wurde Raven bewusst, wie stark sie sich darauf konzentriert hatte, unbedingt eine Antwort haben zu wollen – und was sie damit angerichtet hatte. Kleinlaut sagte sie: »Es tut mir leid.« Dann öffnete sie den Blick wieder für alles andere, was um sie passierte. Diese Schwingungen, die der Traum, oder was immer es gewesen war, freigesetzt zu haben schien und die nicht allein von ihrer Mutter oder Lektra kommen konnten . . . Was war das? Es fühlte sich an, als dehne sich das gesamte Universum in ihr aus.

Elayna nahm ihre Hand. »Nun gut, Raven . . .«, begann sie und schaute ihr fest in die Augen. »Die Figur auf dem Amulett steht für die sieben Familien. Der Kreis in der Mitte: Das sind wir – die mächtigste Familie, das Haus Thur. Diejenigen, deren Aufgabe es ist, das Gute zusammenzuhalten und zu beschützen. Die Dreiecke sind die anderen sechs Familien, die ihre Kräfte vereint haben, um uns zu helfen. Die aber doch auch für sich selbst stehen. Daher gibt es die Lücken zwischen dem Kreis und der jeweiligen Familie. Aber jede von ihnen ist stets an einem bestimmten Punkt mit uns und einer anderen verbunden. Das macht uns so stark. Wir stehen für Individualität und Zusammenhalt. Etwas, das wir uns immer bewahren wollen.«

Raven hatte regungslos zugehört. Nun wusste sie, was ihr Traum bedeutete: »Außer Tyra und uns gibt es noch mehr Überlebende des großen Kampfes.«

Lektra übernahm die Antwort: »Ja. Und da es an einer Stelle einen Riss im Verbund gibt . . .«

». . . heißt das, dass ein Familienmitglied uns schaden will«, erklärte Elayna weiter.

»Weil es durch die Lücke das Böse hindurchlässt«, vervollständigte Raven. Sie atmete kurz durch und zog dann ihre Hand aus Elaynas zurück. »Was bedeutet das für uns?«

»Nun . . .«, meinte Elayna gedehnt. »Das hört sich vielleicht dramatisch an, aber für das Gesamtproblem sind das hervorragende Nachrichten.«

Hervorragende Nachrichten. Mit verschränkten Armen schaute Raven auf die Stadt. Bis vor ein paar Tagen war sie nur eine junge Frau mit ein paar abnormalen Fähigkeiten gewesen. Jetzt war sie – ja, was eigentlich? Eine Heldin? Die Retterin der Welt? So richtig konnte sie sich immer noch nicht damit abfinden, dass diese Gut-gegen-Böse-Geschichte tatsächlich Realität sein sollte und ihr selbst darin offenbar eine tragende Rolle zugedacht war. Was also war an dem ganzen Chaos hervorragend? Und: »Was meinst du mit Gesamtproblem?«, fragte sie Elayna.

Doch diese wich aus: »Lass uns in die Stadt fahren.«

Raven verschränkte die Arme eine Spur fester. Die Kraft ihres Blickes hielt sie diesmal im Zaum, obwohl es ihr schwerfiel.

Lektra sagte leise, an Elayna gewandt: »Du musst es ihr sagen. Es ist an der Zeit für die Wahrheit.«

Elayna schaute erst auf Raven und dann auf Lektra, als kämpfe sie mit sich. »Du hast recht«, stimmte sie schließlich ergeben zu. In ihrem Blick, der auf Raven gerichtet war, lag ein so tiefer Ernst, dass diese schlucken musste. »Gut. Ich werde dir alles erklären.«

Raven wartete mit klopfendem Herzen. Sie spürte, dass ihre Mutter nach den richtigen Worten suchte; dass die Wahrheit etwas war, das sich nicht in wenigen Sätzen erklären ließ. Daher unterließ sie es zu drängen. Vielleicht auch deshalb, weil die Wahrheit, sobald sie ausgesprochen war, ihr Leben auf den Kopf stellen würde. Aber sie wusste, dass sie sich dem nicht verschließen konnte.

Endlich begann Elayna zu sprechen. »Hast du dich eigentlich nicht gefragt, warum ich Adriana nicht töten konnte?«

Mit einer Frage hatte Raven nicht gerechnet. Sie schaute Elayna einige Augenblicke verdattert an, bevor sie antworten konnte. »Nur ganz kurz. Aber Lektra hat doch gesagt, dass du nicht in der Lage bist, jemanden zu töten. Vor allem nicht deine Schwester . . .« Sie stockte kurz. Der Gedanke, dass Adriana ihre Tante war, war ihr immer noch äußerst unangenehm – nicht nur deren abgrundtiefer Bosheit wegen. Bevor sie rot werden konnte, sprach sie rasch weiter. »Und wie hat sie es euch gedankt?«

»Sie ist nicht die Einzige, die Fehler gemacht hat«, gab Elayna leise zurück.

Raven stutzte. Wie passte das nun zu der Sache mit Gut und Böse? Waren die Guten am Ende doch nicht nur gut? Diese Unterhaltung entwickelte sich ganz und gar nicht so, wie sie es erwartet hatte. »Was meinst du damit?«

Elayna gab sich einen Ruck. »Ich habe auch große Schuld auf mich geladen«, gestand sie leise, aber klar und deutlich. »Und du musst dafür büßen.«

Sprachlos starrte Raven ihre Mutter an. Das glaubte sie nicht. Lektra hatte doch gesagt, Elayna würde niemals irgendwem etwas zuleide tun. Am allerwenigsten ihrer eigenen Tochter, sollte man meinen . . . Außerdem hatte Elayna mehr als zwanzig Jahre in Gefangenschaft gelebt. Was hätte sie da anstellen können?

Elayna strich ihr zärtlich über die Wange. »Damals, beim großen Kampf«, flüsterte sie, »habe ich das Amulett zerbrochen, um dich zu schützen. Ich hatte mir eingebildet, dass ich Adriana allein besiegen und dann wieder alles zum Guten wenden könnte – und dass ich dich aus allem heraushalten könnte.« Ihr Blick hatte sich in den letzten Sekunden in weite Ferne gerichtet, als befinde sie sich in der Vergangenheit. »Es war ein Trugschluss. Ich kam in Gefangenschaft und du zu den Gauklern. Ich hatte den Kampf nicht von dir abgehalten, sondern nur aufgeschoben. Und für die Menschen hier bedeutete das, dass sie nun schutzlos dem Bösen ausgeliefert waren. Sie wussten, genau wie Adriana es wusste, dass es dich irgendwo gab – mich hielten sie ja für tot. Und da du nicht aufgetaucht bist, haben sie dich für alles Schlimme verantwortlich gemacht. Du warst für sie feige. Das führte dazu, dass sie begonnen haben, dich zu hassen.«