Rebellische Pianistin - DIGITAL - Moritz von Bredow - E-Book

Rebellische Pianistin - DIGITAL E-Book

Moritz von Bredow

4,8

Beschreibung

Moritz von Bredows erfolgreiche Biografie der Pianistin Grete Sultan (1906-2005) liegt nun auch als digital erweitertes E-Book vor. In vielen Hörbeispielen erhält der Leser einen Eindruck von Gretes Klavierspiel. Grete Sultan war eine der ungewöhnlichsten Pianistinnen des 20. Jahrhunderts. Aufgewachsen im jüdischen Großbürgertum Berlins, wurde sie in den 1920er- Jahren zu einer gefeierten Interpretin der klassischen wie der Neuen Musik. Nach Berufsverbot und wachsender Bedrohung gelang ihr 1941 in letzter Minute die Flucht. Sie wurde zur Freundin und Muse von John Cage, dessen Etudes Australes sie in der ganzen Welt spielte. (Optimiert für iPad)

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Rebellische Pianistin - DIGITAL

 

Grete Sultan. Portrait von Franz Rederer, New York, 1944

 

 

 

Moritz von Bredow

Rebellische Pianistin -DIGITAL

Das Leben der Grete Sultanzwischen Berlin und New York

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Bestellnummer SDP 101

ISBN 978-3-7957-8649-6

© 2015 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer ED 21350

© 2012, 2014 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

www.schott-music.com

www.schott-buch.de

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlags. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung kopiert und in ein Netzwerk gestellt werden. Das gilt auch für Intranets von Schulen oder sonstigen Bildungseinrichtungen.

Vorwort von Alfred Brendel

Vorwort zur 2. Auflage

Prolog

I 1800–1921Ursprung. Familie. Kindheit und Jugend

II 1921–1933Entwicklung. Hoffnung. Ende

III 1933–1941Entrechtung. Berufsverbot. Flucht

IV 1941–1945Exil. Freunde. Neubeginn

V 1945–1970Perspektiven. John Cage. Berlin

VI 1971–2005Carnegie Hall. Etudes Australes. Abschied

Epilog und Danksagung

Anhang

Anmerkungen

Zeittafel

Literatur

Diskografie

Personenregister

Bildnachweis

Inhalt

Vorwort von Alfred Brendel

Vorwort zur 2. Auflage

Prolog

I1800–1921Ursprung. Familie. Kindheit und JugendII1921–1933Entwicklung. Hoffnung. EndeIII1933–1941Entrechtung. Berufsverbot. FluchtIV1941–1945Exil. Freunde. NeubeginnV1945–1970Perspektiven. John Cage. BerlinVI1971–2005Carnegie Hall. Etudes Australes. Abschied

Epilog und Danksagung

 

 

Anhang

Anmerkungen

Zeittafel

Literatur

Diskografie

Personenregister

Verzeichnis der Hörbeispiele

Bildnachweis

Vorwort

Eine deutsch-jüdische Pianistin des Jahrgangs 1906 beschäftigt sich im Alter von zehn Jahren mit Arnold Schönbergs Drei Klavierstücken op. 11 und zwölfjährig mit Beethovens Sonate op. 111. Elf Jahre später absolviert sie ihr pianistisches Debüt in Berlin, das Beethovens Hammerklaviersonate einschließt. Dieses und zwei andere Riesenwerke, Beethovens Diabelli- und vor allem Bachs Goldberg-Variationen, bleiben Stützen ihres Repertoires, zu denen sich immer mehr zeitgenössische Werke gesellen. 1933 verlässt sie nicht wie die vor einer Vielzahl von Konzerten stehende Käte Aschaffenburg (Katja Andy), Freundin und Kollegin im Unterricht bei Edwin Fischer, Deutschland, sondern bleibt bei ihrer geliebten Familie bis in den Krieg hinein. Im letzten Moment, 1941, emigriert sie und kommt in den USA zu späten Ehren.

Das Berlin, in dem Grete Sultan aufwuchs, war eine Musikmetropole sondergleichen. Um 1930 wirkten dort die Dirigenten Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter, Otto Klemperer und Erich Kleiber. Es spielten und lehrten neben vielen anderen die Pianisten Edwin Fischer, Artur Schnabel und Wilhelm Kempff. In Furtwänglers Philharmonischem Orchester saßen als Stimmführer die Geiger Szymon Goldberg und die Cellisten Emanuel Feuermann und Gregor Piatigorsky. Das Trio Cortot-Thibaud-Casals, das Busch-Quartett wie auch das Kolisch-Quartett ergänzten damals ein europäisches Niveau des Musizierens, das man heute nur beneiden kann.

Tief und traumatisch hat dann Hitlers Übernahme der Macht in das Leben jüdischer Musiker eingegriffen. Es ist in Moritz von Bredows Buch fesselnd nachzulesen, wie der von den Nazis geduldete Jüdische Kulturbund jenen, die – sei es aus familiären Gründen oder einfach, weil sie sich so deutsch fühlten – im Lande blieben, zunächst Gelegenheit bot, ihrer künstlerischen Tätigkeit in einer Art von musikalischem Getto weiter nachzugehen. Wenn sie Glück hatten, durften sie schließlich in versiegelten Waggons ausreisen. Wem dies nicht gelang, dem drohten Suizid, Konzentrationslager und Tod.

Grete Sultan war vielleicht die erste Pianistin in Mitteleuropa, die sich mit solcher Entschiedenheit der Neuen Musik zuwandte. Auf dem Programm ihres Debütkonzerts standen Bach und Beethoven vor Strawinsky und Schönberg. Und neben Elly Ney war sie wohl das erste weibliche Wesen, das sich in den Zwanzigerjahren an Beethovens op. 106 wagte. Der Ehrgeiz, das Schwierigste und Anspruchsvollste an älterer wie jüngster Musik zu meistern, hat sie auch weiterhin nicht verlassen. Zur höchsten Blüte geriet ihre Passion für das Neueste durch die Begegnung mit John Cage, dem sie vierzig Jahre lang in enger Freundschaft verbunden blieb. Es ist erstaunlich, wie in ein und derselben Person die unablässige Bemühung um ein Werk wie Bachs Goldberg-Variationen mit der Begeisterung für Cages kalkulierte Zufallsmusik Hand in Hand gehen konnte, ja zu einer Art komplementärer Verknüpfung führte, seltsamste Polarität von »Soli deo gloria« auf der einen und Zen-Buddhismus beziehungsweise I Ging auf der anderen Seite. Mit dem für sie komponierten Mammutwerk, John Cages Etudes Australes, bereiste sie in Begleitung des Komponisten mehrere Jahre lang die Welt. Im Flugzeug spielten die beiden Schach.

Von Natur aus schüchtern, mit zarter, hoher Stimme, umgab Grete Sultan eine Aura staunender Verehrung. Zweimal versuchte Theodor W. Adorno vergeblich, sie nach Deutschland zurückzulocken. Bronisław Huberman schenkte ihr zu Beginn der Amerika-Zeit einen Bechstein-Flügel. Bei der Gedenkfeier für Fritz Busch spielte sie Beethovens Lebewohl-Sonate. Claudio Arrau war hilfreich und schickte Schüler. Das viele Üben schien sie gut auszuhalten; man rühmte allgemein ihren schönen, nuancierten Klavierton. In New York lebte sie zwischen Muscheln, Mineralien, Pflanzen, Schachfiguren und Katzen. (Bei Moritz von Bredow kommen sowohl die Zeitläufte als auch der Blick auf das Private zu ihrem Recht.) Andere Namen der Avantgarde, denen Grete Sultan musikalisch behilflich wurde, waren Henry Cowell, Earle Brown, Morton Feldman, Christian Wolff, aber auch Stefan Wolpe. John Cage sprach bewundernd von Grete Sultans »ruhiger, unbezähmbarer Kraft«.

Alfred Brendel, London, im Oktober 2011

Vorwort zur 2. Auflage

Als die Pianistin Grete Sultan 2005 kurz nach ihrem 99. Geburtstag in New York starb, befand sich diese ihre Biographie noch mitten in der Entstehung. Ein reiches, vielfältiges, traumatisiertes wie erfülltes Leben für die Musik hatte sich vollendet. Die Trauer um sie war groß, wird aber bei weitem durch eine tiefe Dankbarkeit überwogen.

Wichtige Menschen, die in vielfältiger Weise zu der Biographie beigetragen haben, sind seither ebenfalls gestorben: Grete Sultans Cousine Hanna Sohst-Sultan, ihr Neffe Claus Victorius, ihre Nichte Rita Guttsman, der Tänzer Merce Cunningham sowie Margrit Rederer, die Witwe des Malers Franz Rederer, sowie ihre Freundin Katja Andy im Alter von 106 Jahren.

Die »Rebellische Pianistin« mit dem Vorwort Alfred Brendels erfuhr große Beachtung im In- und Ausland, und gemeinsam mit der bei wergo veröffentlichten CD-Anthologie »Piano Seasons« erlebt Grete Sultan in dem Land ihrer Kindheit, aus dem die Nationalsozialisten sie vertrieben hatten, zunehmendes Interesse: erneut berührt und fasziniert sie jene Menschen, die ihr Klavierspiel nun wieder hören können, die über ihr Leben und Musizieren lesen können. Das hat Grete Sultan verdient.

Ich bin Schott Music in Mainz, insbesondere Sebastian Burkart, für die wunderbare Realisierung der 2. Auflage überaus dankbar. Möge auch diese wiederum die ungeteilte Aufmerksamkeit vieler Leserinnen und Leser finden, welche sich durch die Begegnung mit Grete Sultan und der Kunst ihres Klavierspiels anregen und bereichern lassen sowie oft von ihr und über sie sprechen mögen.

Moritz von Bredow, Hamburg, im April 2014

Die „Rebellische Pianistin“ als erweitertes E-Book

Vor zehn Jahren, am 26. Juni 2005, starb Grete Sultan in New York, am frühen Morgen erwachte sie nicht mehr aus ihrem Schlaf. Knapp sieben Jahre nach ihrem Tod erschien Grete Sultans Biographie „Rebellische Pianistin“ bei Schott Music in Mainz, und ihre Klavieraufnahmen wurden unter dem Titel „Piano Seasons“ von WERGO neu aufgelegt. Was folgte, war ein überaus großes, daher überraschendes mediales Echo im In- und Ausland, und so hat diese ungewöhnliche, zutiefst musikalische Pianistin ihren Platz in der Musikgeschichte gefunden, der ihr schon lange gebührte.

Dass Schott Music sich nun die große Mühe gemacht hat, mein Buch über Grete Sultan auch in der Welt der digitalen Medien als E-Book und Enhanced E-Book vorzustellen, erfüllt mich mit größter Freude. So können auch jene Menschen, welche Bücher lieber am Bildschirm lesen mögen, in Grete Sultans Lebensgeschichte Einblick nehmen, sich anhand der zahlreichen Ton- und Bilddateien im Enhanced E-Book noch intensiver und noch unmittelbarer mit ihrem Wesen und künstlerischen Wirken auseinandersetzen.

Ich möchte Elisabeth Loder, die im Rahmen ihres Musikwissenschafts-Studiums ein Verlagspraktikum absolvierte, sowie Sebastian Burkart von Schott Music für die Digitalisierung meines Buches sowie die vertrauensvolle Zusammenarbeit von Herzen danken. Ohne ihren Einsatz wäre Grete Sultan, die sich immer für die Menschen und die Musik ihrer Zeit interessierte, der digitalen Welt des 21. Jahrhunderts abhanden gekommen.

 

Moritz von Bredow

Hamburg, im April 2015

Grete spielt

 

Der suchende Geist,

Vom Wundergewebe

Letzter Musik erhoben,

Horcht ins Unerhörte,

In das Gezweige des Alls,

Tastend die Tangente

Durch Sternenlicht

Zum geometrisch gezeichneten

Seidigen Mottenflügel,

und seine eigenen sehnenden Fühler

zittern bezaubert in der Sekunde,

Schon sie verlierend,

Tonberückt.

Vera Lachmann

Prolog

Die Pianistin Grete Sultan, 1906 in Berlin geboren, macht in den späten Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren auf sich aufmerksam. Theodor W. Adorno beschreibt sie im Dezember 1930 als »hochbegabte, merkwürdig expressive und rebellische Pianistin«. Musiker, Maler, Dichter und Intellektuelle säumen den Weg ihrer Familie. Grete Sultan steht am Anfang einer verheißungsvollen künstlerischen Karriere, aber dann wird ihre Familie von den Nationalsozialisten verfolgt und zerschlagen. Wer kann, flieht ins Exil, andere sterben durch Suizid oder in den Vernichtungslagern. Grete Sultan überlebt und kann noch Mitte 1941 ins amerikanische Exil fliehen – hier entwickeln sich ihr neues Leben und vor allem ihre Freundschaft und künstlerische Zusammenarbeit mit John Cage. In Deutschland wird sie weitgehend vergessen. Im Sommer 2005, wenige Tage nach ihrem 99. Geburtstag, stirbt Grete Sultan in New York.

Die Kritik hat die virtuose Schlichtheit ihrer Interpretationen von Bach, Beethoven, Debussy, Schönberg und Cage erst spät wiederentdeckt. Dazu trugen vor allem mehrere Zeitungsartikel, Radiosendungen und Fernsehbeiträge anlässlich von Grete Sultans 95. Geburtstag im Sommer 2001 bei. Zwar war eine Einspielung von Cages Etudes Australes schon seit den Achtzigerjahren erhältlich, aber erst durch die 1996 von dem New Yorker Produzenten Heiner Stadler erstmals veröffentlichten historischen Aufnahmen begann man sich auch in Deutschland wieder zu erinnern. Die Einspielungen zeigen den singenden Klavierton Grete Sultans, der sich mit der ihr eigenen geistigen Durchdringung des Werkes und technischer Meisterschaft verbindet. Jene unprätentiöse Klarheit ihres Klavierspiels, die gleichermaßen auf bescheidener Zurückhaltung und dem ihr innewohnenden musikalischen Impuls beruht, ist ein herausragendes Merkmal ihres Künstlertums.

In der Pianistin Grete Sultan vereinen sich die Klavierschulen Clara Schumanns und Theodor Leschetizkys mit den direkten Einflüssen ihrer Lehrer Richard Buhlig, Leonid Kreutzer und Edwin Fischer. Ihr von früh an vorhandenes Interesse an Neuer Musik, ihr Streben nach Werktreue sowie ihre persönliche Zurücknahme fast bis zur Selbstverneinung stellen Grete Sultan in Gegensatz zu vielen bekannten Pianistinnen und Pianisten ihrer Zeit. Sie weigerte sich beharrlich, bei der Auswahl ihrer Programme zwischen musikalischen Epochen zu unterscheiden. »Wir leben heute!«, war ihr Motto. Und so spielte sie auch die Neue Musik ihrer Zeit – zum Schluss vor allem die Etudes Australes von John Cage – mit dem Atem und dem Grund ihrer klassischen, auf einer langen musikalischen Tradition fußenden Ausbildung. Zudem war sie eine verehrte, maßgebende Klavierpädagogin.

Grete Sultans Entwicklung, ihre Musikalität und ihre Persönlichkeit sind untrennbar mit der Geschichte ihrer Familie verbunden. In ihr finden sich sowohl eine herausragende musische Prägung als auch Aspekte einer individuellen, gesellschaftlichen Normen skeptisch gegenüberstehenden Haltung. Bildungsideale stehen im Mittelpunkt der Erziehung, vor allem die Musik. Sie gibt Grete Sultan von früh an ihre bleibende Identität. So fällt das Licht in dieser Biografie zunächst auf ihre Mutter Coba und deren Schwester Charlotte Baerwald, geb. Lewino, die beide für die Entwicklung Grete Sultans besonders richtungsweisend waren.

Vorgeschichte und Schicksal der Familie Grete Sultans, ihr eigener Lebensweg und ihre Verbindung zu den großen Künstlern ihrer Zeit legen nicht nur Zeugnis von einer einzigartigen Künstlerpersönlichkeit ab, sondern dokumentieren darüber hinaus auch die Musikgeschichte des gesamten 20. Jahrhunderts. Diese Biografie möchte zur nachhaltigen Würdigung Grete Sultans beitragen und die Leser neugierig machen auf ihre Interpretationen der Musik von Frescobaldi bis Cage.

Moritz von Bredow, Hamburg, im November 2011

Der gesamte Sultan-Victorius-Haushalt im Grunewald und später in Schlachtensee hat ihre Persönlichkeit, weil sie in diesem Milieu lebte, mit Sicherheit geprägt, auch wenn sie stets verneint, daran interessiert zu sein.   Claus Victorius1

In welchem Käfig [cage] man sich auch befindet – man soll ihn verlassen.    John Cage2

 

 

Die Familie: Herkunft und Musikalität

November 2002: Grete Sultan ist beinahe hundert Jahre alt und schon seit Langem die älteste Bewohnerin des Westbeth Artists Housing nahe am Hudson River, im westlichen Teil des New Yorker Künstlerviertels Greenwich Village. Sie sitzt im Korbstuhl am Fenster ihrer Wohnung, deren Zentrum zwei Steinway-Flügel bilden. Die Pianistin wirkt klein, ihr Rücken ist gebeugt, sie umfasst auch im Sitzen ihren Stock. Aber sie lächelt, hell und klar sind ihre Augen, ihre Stimme ist beinahe mädchenhaft. Grete Sultan trägt eine indische, kunstvoll dunkelrot und blau gemusterte Bluse und weite dunkelblaue Hosen. Das feine Haar, schlohweiß, ist sorgfältig zurückgesteckt, die Lippen sind schmal, der Ausdruck des alten Gesichtes ist konzentriert und ganz wach. Zu der gebeugten Haltung und dem mühsamen, alt gewordenen Gang passen die Hände: Lang und schmal, knorrig verbogen sind die Finger, die bläulichen Venen liegen wie Perlenschnüre unter der Haut, knotig verdickt sind die Gelenke. In diesen Händen, mit denen Grete Sultan seit mehr als neunzig Jahren Klavier spielt, konzentrieren sich ihr Ausdruck und ihre Kraft, ihre Sprache, Mimik und Gestik.

Sie lächelt versonnen. Langsam, doch stetig kehren Erinnerungen zurück, Erinnerungen an schon lange vergangene Zeiten, an Erzählungen aus noch länger vergangenen Zeiten. Erinnerungen an den Vater und die Mutter, von der sie auch im hohen Alter mit dem vertrauten Kosenamen spricht: »Da waren so viele Pianisten in meiner Familie, die kannten alle meine Mutti!«3 Grete beginnt zu erzählen, immer weiter wandern ihre Gedanken zurück.

Die mütterliche Linie. Jacob und Emmy Lewino

Grete Sultans Großvater Jacob Lewino entstammt einer Familie, die ursprünglich Levy hieß und »seit mehr als tausend Jahren«4 im Rheinland ansässig ist. Die Familie Levi, später Leoni, aus der die Großmutter Emmeline Leoni hervorgeht, stammt aus der Pfalz.

In beiden Familien werden im frühen 19. Jahrhundert die jüdischen Feste noch feierlich begangen, die alten Traditionen der Vorfahren leben vorerst weiter. Gleichzeitig aber wachsen Gretes Vorfahren mehr und mehr in die bürgerliche Gesellschaft hinein, Thorastudium und Synagogenbesuch werden immer weniger Zeit eingeräumt. Allgemeine Bildung steht in diesen sich der Moderne öffnenden jüdischen Familien mehr und mehr im Vordergrund, vor allem ein ausgeprägtes Interesse für kulturelle Werte und Inhalte sowie die aktive Beschäftigung mit Kunst, Literatur und Musik. Um gesellschaftlich anerkannt und integriert zu werden, konvertieren zahlreiche Mitglieder der assimilierten jüdischen Familien zum Christentum, viele von ihnen geben sogar ihre Namen auf. Auch in Grete Sultans Familie ist dieser Prozess nachweisbar: Aus den Familien Levy und Levi werden Mitte des 19. Jahrhunderts die Familien Lewino und Leoni.

Emmeline Leoni, ca. 1866

Grete Sultans Großmutter mütterlicherseits, Emmeline Leoni, kommt um 1847 in Mainz als jüngstes Kind des Weinhändlers Leo Levi und seiner Frau Louisa zur Welt. Sie wird Emmy genannt, ist von früher Kindheit an eine »wilde Hummel«5 und erträgt es als Neunjährige nur mit Mühe, dass ihr älterer Bruder Eugen Albert ihr Goethes Wilhelm Meister vorliest – viel lieber will sie sich mit seinen Freunden balgen. So sind Emmys Schulnoten wenig glanzvoll, die Betragensnote ist gar »höchst bedenklich«;6 dabei zeichnen sie ein starkes Temperament und lebhafte Fantasie aus. Schon früh initiiert Emmy Lese- und Diskutierkreise und entzieht sich mehr und mehr dem beengenden Einfluss ihrer Eltern. Die nehmen mit skeptischem Empfinden den unbändigen Drang nach Freiheit und Individualität ihrer Tochter wahr und schicken sie wohl auch aus diesem Grund nicht wie ihre Schwestern aufs Pensionat. Emmy soll weiter in elterlicher Obhut und unter Aufsicht aufwachsen.

Jacob Lewino um 1868

Eines Abends im Jahre 1864 kommt Louisas Neffe, der zwanzigjährige Jurastudent Jacob Levy, zu Besuch, der schon als kleiner Junge ein hochsensibles musikalisches Talent gezeigt und ersten Klavierunterricht erhalten hat. Auch bei der Familie seiner Tante setzt Jacob sich an den Flügel und spielt stundenlang. An diesem Abend verliert »die siebzehnjährige, bildschöne, von Leben sprühende Emmeline ihr Herz für ihr ganzes Leben«7 an Jacob. Als die Liebe der beiden offenkundig wird, verbietet Emmys Mutter ihrem Neffen den weiteren Umgang mit seiner Cousine, die dadurch allerdings nur noch mehr in ihrer Sehnsucht bestärkt wird und bald gelobt, nie einen anderen Mann als Jacob heiraten zu wollen. Der mit Güte und Innigkeit, aber auch mit kritischem Denken und stets hinterfragendem Wesen ausgestattete Jacob wird von Emmy ermutigt, die Konventionen seines frommen, eher altmodischen und kleinstädtischen Elternhauses beiseitezuschieben. So entwickelt er mehr und mehr das freigeistige Denken eines Liberalen, welches sich bis in Erziehung und Wesen seiner Enkelin Grete Sultan hinein fortsetzen wird.

1868 lässt Jacob Levy sich in Alzey als Rechtsanwalt nieder und verfasst während dieser Zeit zahlreiche Gedichte und dramatische Versuche – die literarische Neigung wird in seiner Tochter Coba, Grete Sultans Mutter, weiterleben. Anderthalb Jahre später jedoch kehrt er nach Mainz zurück, denn Emmys Eltern haben endlich ihren Widerstand gegen die Verbindung mit ihrer Tochter aufgegeben. Als Jacob Levy 1869 seine Emmy heiratet, entschließt auch er sich zur Namensänderung, und das Paar heißt fortan Lewino. Jacob und Emmy beziehen in Mainz eine ansehnliche Wohnung, deren Mittelpunkt ein Blüthner-Flügel ist. An ihm spielt Jacob, mittlerweile Richter am Amtsgericht, viele Stunden am Tag, und Hauskonzerte bei den Lewinos werden bald zu regelmäßigen gesellschaftlichen Ereignissen.

Lotte und Coba Lewino

Das friedliche Leben in Mainz endet vorerst im Juli 1870 mit der Kriegserklärung Frankreichs an Preußen. Viele Familien flüchten in die Schweiz, doch Jacob und seine hochschwangere Frau Emmy bleiben. Charlotte Viktoria Lewino wird wenige Tage nach Kriegsbeginn im August 1870 geboren, und vielleicht ist der Zeitpunkt der Grund für den zweifelhaften Kosenamen »Schnetteredeng«, den Jacob seiner Tochter gibt.

Im Herbst 1871, nachdem Elsass-Lothringen im Frankfurter Frieden an Deutschland abgetreten worden ist, wird Jacob Lewino als Landgerichtsrat an die Zivilkammer in Metz berufen, und die Familie zieht mit der gut einjährigen Lotte ins Elsass um. Auch hier veranstalten die Lewinos bald wieder »mit anderen juristischen guten Dilettanten«8 regelmäßige Kammermusikabende. Theaterbesuche und Gesellschaften bestimmen das Familienleben, doch die kleine Lotte »giebt den Ton im Hause an«.9 Im Jahr darauf, Emmy erwartet gerade das zweite Kind, verschlechtert sich der Gesundheitszustand Jacobs, der als Student eine Typhuserkrankung durchgemacht hat, zunehmend. Unerträgliche Bauchschmerzen und weitere Symptome einer Bauchfellentzündung lassen ein Arbeiten nicht mehr zu. Die Familie verlässt Metz und reist nach Worms zu Jacobs Eltern. Doch auch die dortigen Ärzte können nicht helfen, selbst monatelange Kuraufenthalte bringen Jacob keine Besserung.

Grete Sultans Großeltern Emmy und Jacob Lewino nach ihrer Hochzeit, 1869

Am 26. November 1872 bringt Emmy Lewino ihre zweite Tochter Ida Rosa zur Welt, Grete Sultans Mutter. Die Familienchronik berichtet, dass Emmy bei der Geburt nicht den leisesten Schmerz empfunden habe, da ihre seelischen Qualen um den sterbenden Mann so viel größer gewesen seien. Jacob Lewino sieht seine kleine Tochter nur für elf Tage. Drei Jahre nach der lang ersehnten Hochzeit mit Emmy stirbt er im Alter von 28 Jahren. Ida Rosa aber wird fortan in Erinnerung an ihren Vater Jacoba, kurz: Coba, genannt.

Emmy Lewino ist erst 25 Jahre alt und plötzlich mit zwei kleinen Töchtern auf sich allein gestellt. Zwar unterstützen sie sowohl Jacobs Eltern in Worms als auch die ihren in Mainz, aber sie entscheidet sich für ein eigenständiges Leben mit den beiden Mädchen. Sie wird nicht wieder heiraten. Ihre Eltern drängen Emmy, nach Mainz zurückzukehren, doch diese zieht stattdessen mit Lotte und Coba nach Wiesbaden. Der ehemals kleine Taunusort hat sich zu einer internationalen Kurstadt mit ausgedehnten Parkanlagen, mondänen Villen, belebten Promenaden und einem aktiven kulturellen Leben entwickelt.

1873, als die Lewinos in die Stadt ziehen, wird das Städtische Kur- und Sinfonieorchester Wiesbaden gegründet, das Louis Lüstner mehr als dreißig Jahre leiten wird. Lüstner holt die größten Musiker der damaligen Zeit nach Wiesbaden, unter ihnen Johannes Brahms, Clara Schumann, Joseph Joachim, Ferruccio Busoni, Hans von Bülow, Camille Saint-Saëns und den Liszt-Schüler Bernhard Stavenhagen. Später gelangt das Orchester unter Carl Schuricht zu künstlerischem Ruhm, und namhafte Gastdirigenten, unter ihnen Felix Weingartner, Bruno Walter und Richard Strauss, kommen nach Wiesbaden, um hier zu musizieren.

Für die nun meist verschleierte und in weite, schwarze Kleider gehüllte Emmy Lewino und ihre Töchter öffnet sich in Wiesbaden eine andere Welt. Der Kontakt zu Emmys Eltern bleibt eng, jede Woche setzt die Familie über den Rhein, um die Leonis in Mainz zu besuchen. Doch Emmy schätzt auch die Distanz, welche ihr Eigenständigkeit und familiäre Unabhängigkeit ermöglicht.

In den folgenden Jahren nimmt sie sich viel Zeit für Erziehung und Unterricht der musisch begabten Mädchen. Schon früh, lange vor der Einschulung, lernen die Töchter lesen. Emmy lädt regelmäßig Freunde ein, um die Dramen Schillers und Goethes mit verteilten Rollen durchzunehmen. Gedichte werden auswendig gelernt, Schauspielszenen und selbst verfasste Stückchen einstudiert, und regelmäßig besucht die Familie Konzerte und Theateraufführungen in Wiesbaden und Frankfurt. Behutsam, aber konsequent setzt Emmy Lewino ihr Vorhaben um, ihre Töchter zu willensstarken, künstlerisch ambitionierten Menschen heranzubilden. Dabei bemüht sie sich, »bei aller Neigung zur Bohème die Rahmenbedingungen einer bürgerlichen Existenz aufrechtzuerhalten«.10 Obwohl die Bindung zum Judentum schon brüchig geworden ist, erleben Lotte und Coba auch den zunehmenden Antisemitismus am eigenen Leib, als sie andere Mädchen verächtlich über die »Judde« reden hören. Emmy bezeichnet sich als »freireligiös« und tritt aus der jüdischen Gemeinde aus. Sie verkehrt nur mit Menschen, die ihr gefallen, bewegt sich in Konversationszirkeln und musischen Kreisen, gründet den literarisch-dramatischen »Stiefmütterchenklub« und tritt dem Chor des Frankfurter Cäcilienvereins bei.

Lotte und später auch Coba erhalten Klavierunterricht bei dem »ersten Hoboist[en] des königlichen Theaterorchesters«,11 Carl Buths. Während Lotte zur ernsthaften Pianistin heranreift und von ihrem Lehrer als seine beste Schülerin gelobt wird, widmet Coba sich zunehmend der Literatur, der Dichtung und dem Erlernen fremder Sprachen. Als junges Mädchen beherrscht sie fließend Französisch, Englisch und Italienisch. So spiegeln sich in beiden Töchtern die musischen Talente ihres Vaters Jacob Lewino wider. Die Entwicklung der Kinder verläuft rasant: Lotte kann mit noch nicht einmal acht Jahren drei Schulklassen überspringen und die sechste Klasse besuchen, während Coba, noch keine sechs Jahre alt, bereits in die zweite Klasse geht.

Lotte Lewino: Klavierstudium bei Eugenie und Clara Schumann

Lotte Lewinos enge Beziehung zur Mutter und ihre Reifung zur Pianistin sind für ihre Nichte Grete Sultan, die später von ihr unterrichtet und viele Anregungen erhalten wird, von Bedeutung. Es lohnt sich daher, Lottes Entwicklung an dieser Stelle genauer zu betrachten, zumal Grete Sultan selbst ihre mütterliche Familie immer als für ihre musikalische Entwicklung wesentlicher denn die väterliche angesehen hat.

Im Jahr 1883 geht Emmy Lewino daran, Lottes Weg als Pianistin mit Nachdruck vorzubereiten. Sie berät sich mit ihrer Schwester Rosalia, deren Tochter Anna Klara Lewino bei Clara Schumann in Frankfurt am Hoch’schen Konservatorium Klavier studiert. Schon im Frühjahr 1884 werden Lotte und ihre Mutter von der Witwe Robert Schumanns empfangen. Lotte erinnert sich:

Das große Zimmer mit den beiden geöffneten Flügeln, den Bildern und Büsten berühmter Leute, die hier zu Hause zu sein schienen, löste eine feierliche und ehrfurchtgebietende Stimmung aus. Plötzlich war Frau Schumann bei uns, im schwarzen Kleid mit schwarzem Spitzenhäubchen auf dem gescheitelten Haar über den großen ausdrucksvollen Zügen.12

Lotte Lewino spielt drei Inventionen von Johann Sebastian Bach sowie Frédéric Chopins Minutenwalzer und legt schließlich eine erfolgreiche Gehörprüfung ab, sodass Clara Schumann ihre Aufnahme am Hoch’schen Konservatorium empfiehlt. Im Herbst 1884 beginnt Lotte, beglückt und beunruhigt zugleich, ihr Studium in der Klasse Eugenie Schumanns. »Meine Bildung wurde also etwas plötzlich und vorzeitig beendet«,13 erinnert sie sich. Ihre Nichte Grete Sultan wird fast vierzig Jahre später einen ähnlichen Weg einschlagen und die Schulzeit im Alter von fünfzehn Jahren beenden, um in die Musikhochschule einzutreten.

Lottes Leben verändert sich von nun an grundlegend. Sie zieht nach Frankfurt zu ihrer Großmutter und einer anstrengenden Tante, zweimal pro Woche erhält sie Unterricht. Von Anfang an betritt sie das Schumann’sche Haus stets mit einem »unheimlich bangen Gefühl am Halse«. Eugenie Schumann, »eine zarte Blondine […] mit feinen, etwas verschlossenen Zügen, […] Dienerin der Kunst und des Namens Schumann«,14 ist zurückhaltend und leidet an Depressionen, was die Stimmung der zarten, sensiblen Lotte nicht gerade hebt. Nach der Klavierstunde dürfen Eugenies Schüler Clara Schumann beim Unterricht zuhören.15

Doch obwohl Lotte erneut eine gute Prüfung bei Clara Schumann absolviert, ist sie zunehmend angespannt und bedrückt. Die Fünfzehnjährige empfindet die an sie gestellten Anforderungen als zu große Belastung. Emmy beschließt, Lottes Unterricht nach knapp zwei Jahren vorerst zu beenden. Lotte ist verzweifelt über diese Entscheidung, aber schon bald bahnt sich eine neue, vielversprechende Entwicklung an.

Unterricht bei Theodor Leschetizky

Immer am Donnerstag ist »Jour fixe« bei Emmy Lewino in Wiesbaden. Freunde und Bekannte finden sich ein. »An diesen Nachmittagen wurde geplaudert, vorgelesen, rezitiert oder musiziert.«16 Diese Donnerstage werden für Lotte und die jüngere Coba prägend. Unter den Gästen Emmy Lewinos weilt häufig auch Maria Wilhelmj, die Schwägerin des Geigers August Wilhelmj. Sie studiert in Wien bei dem berühmten Klavierpädagogen Theodor Leschetizky,17 einem Schüler Carl Czernys. Mit energischer Bestimmtheit organisiert sie nun bei ihrem in Frankfurt konzertierenden Lehrer ein Vorspiel für Lotte, das im Februar 1887 stattfindet. Die Sechzehnjährige spielt unter anderem eine Sonate Domenico Scarlattis, »die durch häufiges Übersetzen der linken Hand über die rechte viel Gelegenheit zum Vergreifen bietet«.18 Theodor Leschetizky hört aufmerksam zu, lobt besonders Lottes »ungemein günstige Hand« und nimmt sie als Schülerin an. Schon im Mai ziehen die Lewinos von Wiesbaden nach Wien.

Coba erlebt diese Jugendjahre mit all der Neugier und Faszination des aufbrechenden, suchenden Geistes, vertieft sich in Bücher und besucht Ausstellungen, entdeckt Dantes Göttliche Komödie und folgt der Entwicklung ihrer Schwester Lotte mit glühender Begeisterung.

Theodor Leschetizky führt in Wien ein anderes Haus als Clara Schumann in Frankfurt. Die Atmosphäre ist zwangloser und freier. Der Klavierpädagoge lehnt die von Clara und Eugenie Schumann gelehrte Wieck’sche Methode19 ab und bedeutet Lotte Lewino, dass sie mit dem Klavierstudium von Grund auf neu beginnen müsse. Leschetizkys zweite Frau Annette Essipowa, die Lehrerin von Grete Sultans späterem Hochschulprofessor Leonid Kreutzer, nimmt sich der Familie an und organisiert eine Wohnung, eine Schule für Coba, einen Flügel für Lotte.

Leschetizky lässt alle neuen Schüler zur Vorbereitung auf seinen Unterricht zunächst von fortgeschrittenen Assistenten ausbilden. So auch Lotte Lewino, die von ihrer ersten Wiener Lehrerin, Melanie von Wienzkowska, erzählt:

Ihr Unterricht gestaltete sich für mich zu einer wahren Offenbarung. […] Der Leschetizky’sche Anschlag verlagerte die ganze Kraft in die Finger-spitzen, holte sie gleichsam herbei, und durch ungemein sensitive Verbundenheit mit den Tasten holten die Finger den Ton so hervor, wie man ihn innerlich hörte.20

Lotte ist selig. Endlich hat sie die Methode gefunden, welche ihrem Wesen und ihrer Auffassung vom Klavierspiel am nächsten kommt. Neben einer ausgebildeten Anschlagskultur werden ihr die Bedeutung von Fingersatz und richtigem Pedalgebrauch, Armführung sowie vor allem der singende Klavierton vermittelt – eine gründliche wie unverzichtbare Vorbereitung auf den eigentlichen Unterricht bei Leschetizky selbst. Melanie von Wienzkowska ist zufrieden mit Lottes Fortschritten, und Theodor Leschetizky nimmt sie nun sowohl in seinen eigenen Unterricht als auch in seine Mittwochklassen auf, in denen sich die Schüler gegenseitig vorspielen. Leschetizky schreibt hierzu:

[…] dass die Mittwoch-Zusammenkünfte meiner Schüler keine Productionen sind, da Ein oder der andere Schüler ohne jede Vorbereitung irgend etwas von denjenigen Stücken spielt, welche er augenblicklich in der Arbeit hat. Es handelt sich eben nur darum, dass die Schüler sich durch gegenseitiges Vorspielen Routine u. Geistesgegenwart aneignen; darum kann von der Benennung »Production« nicht die Rede sein, indem es eigentlich nur Proben sind, die dazu dienen, dass auch ich daraus ersehen kann, ob irgend Einer der Schüler späterhin zur Öffentlichkeit tauglich sein dürfte oder nicht. Ich von meiner Seite opfere meinen Schülern die Zeit, um sie auf diese Art besser kennen zu lernen. Dieses Opfer kann ich von anderen Künstlern nicht verlangen.21

Wenn Leschetizky unzufrieden ist und die Geduld verliert, kommt es schon vor, dass er einem Schüler die Noten vor die Füße wirft und ihm versichert, er könne mit seinem Spiel nicht einmal eine Katze hinter dem Ofen hervorlocken und solle lieber gleich Schuster werden. Manche Schüler, so wie einmal Artur Schnabel,22 müssen daraufhin den Vorspielabenden monatelang fernbleiben. Der Klavierpädagoge stellt hohe Ansprüche an Geistesgegenwart und Elastizität seiner Studenten, während Unbeholfenheit und Mangel an Einfühlungsvermögen ihn schier zur Verzweiflung bringen. Bevor das Üben beginne, müsse der Schüler das gesamte Werk auswendig spielen können, an jeder beliebigen Stelle – egal ob mit rechter oder linker Hand – einsetzen können, und zwar »nicht nur nach dem Gehör, sondern ganz bewußt«.23

Theodor Leschetizky, 1889.Das Bild trägt eine Widmung für Emmy Lewino

Lotte Lewino wird so durch Theodor Leschetizky, der seinen Studenten die Mittel gibt, selbstständig zu werden, und jeden auf seine Art spielen lässt, zu einer bewussten Künstlerin erzogen. Sie wird diese reiche Erfahrung später an ihre Nichte Grete Sultan weitergeben, die sie schon als Kind in den Sommerferien unterrichtet.

Zu derselben Zeit lebt Coba Lewino im Internat des Institutes Winterberg, einer gewerblichen Fortbildungsschule für Mädchen in Wien. Coba befindet sich so in einer »bunte[n] und amüsante[n] Gesellschaft«, während Lotte mit ihrer Mutter im Wiener Stadtteil Währing Quartier genommen hat. Im Erdgeschoss ihres Hauses lebt Ignacy Paderewski,24ein »Künstler mit einem gewaltigen, rotblonden Haarwust, […] ein liebenswürdiger und vornehm zurückhaltender Hausgenosse«.25 Der 27-Jährige studiert seit 1884 bei Leschetizky und wird von Lotte Lewino als »zweiter Chopin« bezeichnet. Der »legitime Nachfolger Liszts und Anton Rubinsteins«,26 dessen beispiellose Pianistenkarriere bald beginnen soll, übt täglich ununterbrochen viele Stunden, und Lotte hört ihm, wenn sie nicht selber übt, fasziniert zu.

Eindringlich erleben Lotte und Coba auch die Auftritte des Geigers Joseph Joachim; sie gehen mit ihrer Mutter ins Burgtheater und in die Wiener Hofoper, sehen und hören die großen Künstler ihrer Zeit. Die Eindrücke des Wiener Kulturlebens wirken maßgeblich und fördernd auf die Schwestern.

Während Lotte sich zu einer ernsthaften Pianistin entwickelt, lebt Coba in Dichtung und Literatur und spielt nur dann Klavier, wenn ihre Schwester nicht da ist. Sie ist noch scheuer und zurückhaltender als Lotte, und Emmy Lewino hofft nun doch, dass Coba eine »perfekte Hausfrau« werden möge. Doch es wird wohl alles etwas anders kommen, als erwartet:

In dem Coba anvertrauten Flickkorb fanden sich nach einigen Stunden noch ebenso viele zerrissene Strümpfe als vorher, dafür war aber die Literatur um einige lyrische Perlen bereichert worden, wie sich aus vielen umherliegenden Zetteln erwies. Coba, auf der Übergangsstufe vom Backfisch zum jungen Mädchen, war von heftiger Dichteritis ergriffen und ging träumend durch die Welt. Es gelang Mama nur mit dem Aufgebot ihrer ganzen, nicht geringen Energie, sie dem häuslichen Ideal näher zu bringen.27

Lotte wird mit wechselndem Erfolg von Theodor Leschetizky unterrichtet. Ihre häufigen depressiven Stimmungen lassen sie immer wieder an sich zweifeln, zwischenzeitlich hält sie sich gar für die unwürdigste aller seiner Schülerinnen. In dieser Hinsicht wird es bei ihrer Nichte Grete Sultan später gewisse Parallelen geben. Dennoch erkennt Lotte später, dass die Wiener Jahre von 1887 bis 1889 für sie »erstaunliche Früchte«28 getragen haben.

Emmy Lewino hat sich während dieser Zeit in der zunächst fremden Gesellschaft einen eigenen Platz erobert sowie mit sicherem Instinkt und gegen den Widerstand der »heimischen Spießer«, wie Lotte die Verwandten rückblickend nennt, wichtige Entscheidungen für ihre Töchter getroffen. In ihrer besonderen Art, gesellschaftliche Konventionen vielfach zu ignorieren, wirkt Emmy erfrischend auf den Kreis um Leschetizky, in dem sie sich – im Gegensatz zu ihrer früheren bürgerlichen Umgebung – verstanden fühlt. Dabei schwankt sie zunehmend zwischen den ihr dennoch innewohnenden rigiden, bürgerlichen Regeln und einem Leben außerhalb derartiger Einengungen. Die Charakterbildung Lottes und Cobas wird durch das frühe Beispiel ihrer Mutter entscheidend geprägt. Sowohl Emmys unorthodoxes Naturell als auch die musischen Wesenszüge Jacob Lewinos werden sich nicht nur in den Töchtern fortsetzen, sondern auch im Wesen ihrer Enkelin Grete Sultan auf markante Weise wiederkehren.

Rückkehr nach Wiesbaden. Berlin

Im Sommer 1889 beschließt Emmy Lewino, mit Lotte und Coba nach Wiesbaden zurückzukehren. Dieser Entschluss ist hauptsächlich mit ihrem zunehmenden Heimweh zu erklären, zudem ist Emmy des Reisens und häufigen Umziehens müde. Lotte wird von der Entscheidung ihrer Mutter völlig unvorbereitet getroffen und unglücklich, denn sie fühlt sich nun »gerade reif« für den anspruchsvollen Unterricht bei Theodor Leschetizky. Doch sie spürt auch die Entwurzelung und Einsamkeit ihrer Mutter sowie die Verantwortung, dieser den Wunsch nach Rückkehr zu erfüllen. Emmy Lewino gibt das Leben einer Wiener Bohemienne auf, um nun doch in die bürgerliche Gesellschaft Wiesbadens zurückzukehren – das ständige Mahnen der Brüder und ein zunehmendes Sicherheitsbedürfnis haben schlussendlich über ihren Freiheitsdrang gesiegt.

Wieder in Wiesbaden, dauert es nicht lange, bis alte Freunde sich einstellen. Auf Empfehlung Leschetizkys und durch die unermüdliche Maria Wilhelmj vermittelt, kommen erste Klavierschülerinnen zu Lotte Lewino. Bald kann sie in Mainz Felix Mendelssohn Bartholdys g-Moll-Konzert zur Aufführung bringen, ein Ereignis, das in der Presse lebhaften Widerhall findet.

Eine Karriere als Pianistin wird sich für Lotte dennoch nicht einstellen. Dazu trägt neben ihrer Nervosität auch ein Besuch der schwierigen Tante Tina aus Frankfurt bei, die sich, selbst kinderlos, in moralisierender Art besorgt zeigt, dass die gerade neunzehnjährige Lotte ihr ganzes Leben zu ruinieren im Begriff sei und bald eine »verknöcherte alte Jungfer« werde. Emmy Lewino beschließt, ihre Tochter zu verheiraten, doch eine erste Verlobung wird nach einigen Monaten überraschend wieder gelöst.

Die mittlerweile erwachsen gewordenen Schwestern Lotte und Coba Lewino machen sich zunehmend Gedanken, wie sich ihr Leben »in dieser charakterlosen Bäderstadt«29 Wiesbaden weiterentwickeln könne. Im Januar 1893 reist Lotte nach Berlin, um musikalische Anregungen zu suchen und die Perspektive eines Lebens in der Hauptstadt auszuleuchten. Sie kommt bei Leo Lewino, dem Bruder ihres Vaters, unter, der hier einen Weingroßhandel betreibt.

Im September ziehen auf Lottes Initiative auch ihre Mutter und Coba nach Berlin, in »eine etwas trübselige Wohnung«30 am Winterfeldtplatz. In der Metropole bieten sich ganz andere Perspektiven und Kontakte, doch auch hier stagniert Lottes künstlerische Entwicklung. Zu mächtig zerren Selbstzweifel und Lampenfieber an ihren Nerven, doch unterrichtet sie viele Schüler, widmet sich dem Kammermusikspiel und tritt in Hauskonzerten auf. Bei der befreundeten Familie Levysohn werden die Lewinos unter anderem mit dem Schriftsteller und Philosophen Fritz Mauthner sowie dem Maler Lesser Ury bekannt. Sie erleben erneut Joseph Joachim mit seinem Quartett, begegnen den Pianisten Eugen d’Albert und Teresa Carreño, hören Anton Rubinsteins Abschiedskonzert und sehen Theaterpremieren mit Werken von Henrik Ibsen und Gerhart Hauptmann. So beruhigt sich in Berlin das bis dahin eher unstete Leben Emmys und ihrer Töchter, bleibt aber angefüllt mit reichen kulturellen Erlebnissen und Begegnungen.

1894 lernt die knapp 22-jährige Coba Lewino auf einer Gesellschaft in Berlin den acht Jahre älteren Fabrikbesitzer Leo Victorius aus Graudenz kennen. Er ist der Sohn des Fabrikbesitzers Carl Victorius und seiner bereits 1880 verstorbenen Frau Anna, geb. Kadisch. Das Eisengießerei- und Emaillierwerk »Herzfeld & Victorius« im westpreußischen Graudenz expandiert stetig und trägt nachhaltig zum wirtschaftlichen Aufstieg des Garnisonsstädtchens bei. Coba und Leo sind sich sofort sympathisch, und auch ihre verwitweten Eltern verständigen sich schnell: Emmy Lewino und Carl Victorius ist sehr an einer Hochzeit ihrer Kinder gelegen, Emmy klingt nach wie vor das drängende Wort ihrer Frankfurter Cousine im Ohr. So heiraten Coba und Leo Victorius noch im selben Jahr, Coba zieht nach Graudenz und beginnt ein neues Leben.

Emmy Lewino mit ihren Töchtern Coba (m.) und Lotte (r.),Wien um 1888

Einige Jahre später trifft Lotte auf einer Hochzeit den Frankfurter Gynäkologen Arnold Baerwald. Er ist vier Jahre älter als sie und verwitwet, lebt allein mit seinem dreijährigen Sohn Hans. Zwischen Lotte und Arnold ist es wohl »Liebe auf den ersten Blick« – hier wird nichts von Mutter Emmy oder Tante Tina arrangiert. 1899 heiraten Lotte Lewino und Arnold Baerwald, ihre Kinder Friedrich und Therese kommen 1900 und 1906 zur Welt. Lotte gibt das Leben einer Pianistin nun vollständig auf und spielt nur noch für sich zu Hause und in Hauskonzerten, leitet ihre Kinder an, musiziert mit Freunden, unterrichtet. Aus der vielversprechenden Schülerin Eugenie Schumanns und Theodor Leschetizkys ist eine Klavier spielende Ehefrau, Mutter und Hausfrau geworden – eine Rolle, die Lotte wohl weniger anstrengt als die einer konzertierenden, ständig von Nervosität und Selbstzweifeln geplagten Pianistin.

Cobas erste Ehe

Was ist denn aus Coba geworden, aus Mutti? Grete Sultan ist hellwach, während sie in New York über die Geschichte ihrer Familie spricht. Immer wieder bedecken ihre Hände das Gesicht, sie spielen in der Luft Klavier auf imaginären Tasten, sie schweben hin und her, sie drehen und winden sich, suchend, sinnend, erkennend. Manchmal bleiben ihre Gedanken hängen an Daten, an Begebenheiten, an Freunden, an Erlebtem und Erlittenem. »Warten Sie! Von Mutti will ich jetzt erzählen«, sagt sie. Gretes Stimme ist wieder mädchenhaft hell und kräftiger als zuvor. Das Deutsche fällt ihr leicht, sie spricht schön und singend. Der Korbstuhl knarrt.

 

Leo Victorius hat mittlerweile die Eisenwarenfabrik seines Vaters übernommen und engagiert sich kommunalpolitisch als Stadtrat in Graudenz, wo er sich mit Coba, die nach Ansicht ihrer Schwester Lotte »an die äußerste Ostgrenze des deutschen Reiches verpflanzt ist«,31 eine neue Wohnung einrichtet.

Drei Kinder werden in den folgenden Jahren geboren: 1895 kommt Jacob Curt auf die Welt, 1897 Anna, genannt Anni, und 1901 schließlich Käte. Coba widmet sich völlig der Erziehung, ähnlich wie ihre Mutter Emmy fördert sie ihre Kinder musisch und regt sie immer wieder zu neuen Entwicklungen an. Besonders Anni erinnert mit einer ausgeprägten Musikalität an das Talent ihrer Tante Lotte. Coba weiß aber auch um die seelischen Probleme und Überforderungen, welche verbissener Ehrgeiz und ein zu eifriges mütterliches Streben in einem Kind auslösen können. Ihren eigenen Kindern vermittelt sie Bildungserlebnisse und Wissen auf eine zwar konsequente, aber doch weniger fordernde Weise als Emmy.

Am 1. April 1902 stirbt Leo Victorius im Alter von 37 Jahren an einer unheilbaren Erkrankung; Käte ist gerade vier Monate alt. Cobas Leben hat sich in den vergangenen acht Jahren radikal gewandelt: Hochzeit, drei Kinder, Witwe mit 28 Jahren – die Parallelität zum Leben ihrer Mutter ist unübersehbar. Anders als Emmy Lewino wird Coba jedoch ihrem Leben eine völlig andere Richtung geben.

Die väterliche Linie. Johanna und Wolff Sultan

Die väterlichen Vorfahren Grete Sultans, sephardische Juden, sind von Spanien aus über Umwege nach Osteuropa gekommen und haben sich in Galizien niedergelassen.32 Sie integrieren sich nach und nach in die Gemeinschaft der vorwiegend im Schtetl lebenden aschkenasischen Juden. Einige ziehen weiter nach Westpreußen. Dort findet sich auch Grete Sultans Urgroßvater, der Kaufmann Simon Wolf Sultan, der mit seiner Frau Liebke Joseph seit 1816 in Gollub bei Thorn lebt. Liebke und Simon Sultan haben fünf Kinder. Ihr jüngstes Kind ist Grete Sultans Großvater, Wolff Sultan, der 1832 in Gollub geboren wird.

Wolff zeigt schon als Kind musikalisches Talent und wird ein guter Bratschist; nach der Schule absolviert er eine kaufmännische Lehre und gründet 1858 die »W. Sultan, Spritfabrik« (später »Sultan & Co.«) in Mocker bei Thorn. Hier werden Liköre, Wodka und Cognac für die Belieferung der Umgebung und für den Export produziert; von 1869 an betreibt Wolff Sultan auch in Thorn eine »Spritfabrikation«.

Ebenfalls 1858 heiratet er seine Kinderfreundin Johanna Barnass, »eine unglaublich kluge Frau«,33 und zwei Jahre später zieht die Familie von Gollub nach Thorn. In dem neu erworbenen Patrizierhaus aus dem 17. Jahrhundert wird musiziert und gelesen, gedichtet und diskutiert; alle Kinder lernen von früh an, ein Musikinstrument zu spielen. Sieben Kinder haben Johanna und Wolff Sultan, von denen zwei, Louis und Gertrud, in früher Kindheit an Scharlach sterben. Grete Sultans älteste Tante Elise, 1859 geboren, zieht mit ihrem Mann, dem Landgerichtsrat Moritz Berwin, in die oberschlesische Stadt Gleiwitz, wo die Kinder Frieda, Beate und Luzian geboren werden. Später ziehen die Berwins auch nach Berlin, wo ihr Haus von Musik, Literatur und Kunst erfüllt ist.

Gretes Großeltern Johanna und Wolff Sultan, ca. 1880

Elises Schwester Laura Sultan kommt 1862 in Thorn zur Welt und heiratet den Amtsgerichtsrat Max Silbermann, ihre Töchter heißen Klara und Gertrud. Georg Sultan, 1865 in Thorn geboren, wird ein bekannter Chirurg und gründet später das Krankenhaus in Berlin-Neukölln. Der jüngste Sultan-Spross heißt Curt und kommt 1872 zu Welt. Er ist musikalisch begabt, erlernt das Cellospiel und begeistert sich für Kunst und Literatur. Auch Curt Sultan wird Chirurg. 1907 heiratet er die Klinik-mitarbeiterin Erna Karl, ihre Tochter Hanna erblickt 1915 das Licht der Welt.

Adolf Sultans erste Ehe

Grete Sultans Vater wird 1861 in Gollub als Abraham Sultan geboren. Auch er ist – wie alle seine Geschwister – musikalisch begabt; schon als Kind erlernt er das Geigenspiel, später glänzt er auch auf der Bratsche. Nach dem Abitur benennt Abraham Sultan sich um – aus Abraham wird Adolf. Er tritt in die väterliche Spirituosenfabrik ein, durchläuft dort eine kaufmännische Ausbildung und übernimmt den Betrieb nach dem Tod seines Vaters. Im Februar 1889 heiratet er die jüngere Schwester von Leo Victorius, Margarethe Mirjam.

Auch Margarethe und Adolf Sultan werden drei Kinder geschenkt. Ende November 1889 kommt zunächst Anna Frieda, genannt Ännchen, zur Welt. Nach deren Geburt fällt die Mutter in eine schwere Depression, von der sie sich Zeit ihres kurzen Lebens nicht mehr richtig erholen wird. Ännchen stirbt bereits mit zehn Jahren an Gehirnhautentzündung. Clara Paula, genannt Claere, wird 1891 geboren, ihr Bruder Herbert Siegfried Sultan schließlich 1894.

In den folgenden Jahren verschlimmert sich die Gemütserkrankung Margarethe Sultans immer mehr. In der Hoffnung, seiner Frau mit einem Ortswechsel helfen zu können, beschließt Adolf Sultan, nach Berlin zu ziehen, und verkauft 1901 das alte Haus in Thorn. Er kann die Geschäfte der Likörfabrik von Berlin aus weiter regeln und zugleich seiner Familie vielfältigere Anregungen als in Thorn bieten. Noch im selben Jahr ziehen die Sultans nach Berlin in die Rankestraße 33, unweit vom Kurfürstendamm. In der Wohnung steht ein großer Bechstein-Flügel; eine umfangreiche Bibliothek, kostbare Möbel, Teppiche und Gemälde ergänzen die Einrichtung der wohlhabenden großbürgerlichen Industriellenfamilie. Margarethe Sultan tut der Wechsel von Thorn nach Berlin zwar sichtlich gut, doch ihr Gesundheitszustand bessert sich nur kurzfristig. Ende 1902 stirbt sie unerwartet im Alter von 34 Jahren an einer schweren Infektion.

Adolf Sultan um 1907

Coba und Adolf: alte Freunde, neue Liebe

Innerhalb weniger Monate verlieren Coba Victorius und Adolf Sultan ihre Ehepartner und sind mit ihren Kindern plötzlich allein. Beide kennen sich schon seit Cobas Hochzeit und von häufigen gegenseitigen Besuchen in Graudenz und Thorn. Auf der Beerdigung Margarethe Sultans in Berlin treffen sie sich wieder und können sich über ihre Situation als alleinstehende, verwitwete Eltern sowie über die Sorge um ihre Kinder austauschen.

Coba und Adolf sind sich immer sympathisch gewesen, und so reift im Laufe des Jahres 1903 aus alter Freundschaft eine neue Liebe heran. Schon bald geben sie ihre Verlobung bekannt, und Coba Victorius zieht mit Curt, Anni und Käte zu Adolf Sultan mit Claere und Herbert nach Berlin in die Rankestraße. Im Februar 1904 heiraten die beiden. So führt eine auch auf praktischer Vernunft und Überlegung basierende Suche nach wirtschaftlich und familiär stabilen Perspektiven zu einer für alle glücklichen Lösung. Aber die Ehe Coba und Adolf Sultans ist vor allem auf Liebe gegründet, und die kinderreiche Familie erlebt eine überaus glückliche Zeit – so bleibt es Grete Sultan stets in lebendiger Erinnerung.

Coba Sultan um 1907

Bald nach der Hochzeit wird deutlich, dass die Wohnung in der Rankestraße zu klein ist für so viele Menschen, für die Kinderschar und ihre Freunde, für die Eltern und das Personal. Adolf beauftragt den Münchener Architekten Richard Riemerschmid, dessen Kreativität er bereits 1900 auf der Pariser Weltausstellung bewundert hat, mit dem Gesamtentwurf einer Villa am Hubertussee in Berlin-Grunewald. Riemerschmid gilt als eine der »vielseitigsten Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts«34 und hat sich als Kunstmaler, Architekt und Innenarchitekt sowie als Gestalter von Möbeln, Keramik und Stoffmustern einen Namen gemacht.

Die Geschwister Herbert, Curt, Käte, Claere und Anni (v. l. n. r.), 1904

Nicht nur das Gebäude soll er entwerfen, sondern auch die Innenausstattung mit allen Möbeln besorgen. Er macht sich ans Werk, und während der nächsten beiden Jahre entsteht Grete Sultans Elternhaus, dessen Ausführung in der Delbrückstraße 6a Richard Riemerschmid selbst beaufsichtigt.

In dieser Zeit erwartet Coba das erste gemeinsame Kind; Anfang 1905 bringt sie einen Jungen zur Welt, der in Erinnerung an Adolf Sultans 1897 verstorbenen Vater Wolfgang genannt wird. Groß ist die Freude nicht nur bei den Eltern, auch die fünf Kinder schließen den Neuankömmling schnell in ihr Herz. Die knapp vierzehn Jahre ältere Claere kümmert sich besonders intensiv um den kleinen Bruder.

Grete Sultans Geburt. Das Grunewaldhaus

Im Jahr nach Wolfgangs Geburt steht die Welt politisch »im Zeichen von Imperialismus, Kolonialismus und gigantischer Aufrüstung«.35 Durch die Entente cordiale zwischen Frankreich, England und später auch Russland wird Deutschland zunehmend isoliert. In Preußen wird das Leben wesentlich von Militarismus und Obrigkeitsgehorsam geprägt, die Ignoranz von Staat und Verwaltung gegenüber sozial im Abseits stehenden Bürgern ist charakteristisch für jene Zeit. Zu Tausenden gehen die Menschen im Mai auf die Straße, um gegen die oft unmenschlichen Arbeitsbedingungen zu protestieren.

Von all dem wird das Leben der Familie Sultan noch kaum berührt. Der Bau des gewaltigen Hauses in Berlin-Grunewald schreitet voran, wenn auch nicht so schnell wie erhofft. Nötig ist es allemal, denn Coba erwartet bereits 1906 ihr fünftes Kind, das nun insgesamt siebente der wachsenden Familie. Am 21. Juni bringt sie nachts um halb zwölf ein gesundes Mädchen zur Welt. Es wird nach der ersten Frau Adolf Sultans auf die Namen Johanna Margarete getauft.

Ich wurde am 21. Juni 1906 in Berlin, Rankestraße 33, geboren. Meine Mutter hat mich sozusagen unter dem Klavier zur Welt gebracht, weil in der Wohnung wohl nicht so viel Platz war. Und mein Vater und der Arzt haben da gewartet auf mich und wahrscheinlich zusammen Schach gespielt.36

Johanna Margarete – niemand ruft sie so, von Anfang an wird das Mädchen nur Grete genannt. Für die Familie ist die Zeit turbulent, denn der Umzug in das Grunewaldhaus, dessen Fertigstellung sich immer wieder verzögert, steht bevor.

Hoch und wuchtig thront das mehrstöckige Gebäude mit seinen beiden ausladenden Giebeln über dem Hubertussee, eine Granitmauer mit kunstvollem Schmiedezaun begrenzt das weitläufige Grundstück. Die Giebel und das Eingangsportal sind mit Ornamenten und Köpfen verziert, über der Eingangstür hat Riemerschmid als kleines Kuriosum die Figur eines Sultans im Relief anbringen lassen. Die schweren Fensterbögen und die Veranda werden von kräftigen Säulen aus Granit gestützt, eine Terrasse ragt weit in den Garten.

Auch im Inneren setzen Bögen und Säulen sich fort, in der gewaltigen Eingangshalle, im Treppenhaus und in den oberen Geschossen. Weit und erhaben wirken die Gänge, in denen man sich schnell verläuft und in denen die Kinder sich prächtig verstecken können. Das Musikzimmer ist ein lang gestreckter Salon mit Fenstern zur Seeseite, auf einem Podest steht der Bechstein-Flügel. In diesem Salon werden die Sultan’schen Quartettproben und Hauskonzerte stattfinden, hier wird Grete Sultan ihre ersten musikalischen Eindrücke erleben und schon als Kleinkind die Grundlage für ihr gesamtes Leben erhalten. Gegenüber der kleinen Bühne verbindet eine breite, eichene Schiebetür den Musiksalon mit dem Wohnzimmer, eine Bibliothek schließt sich an. Sämtliche Möbel und Einbauschränke im Grunewaldhaus, die Bücherregale, die Standuhr, die Notenpulte, Kassettendecken und Wandpaneele hat ebenfalls Richard Riemerschmid entworfen. Sie bestehen aus Kiefern-, Eichen- und Zypressenhölzern, die mit einer speziellen Technik bearbeitet worden sind, sodass sich die Maserung besonders deutlich und in Rillenform sogar tastbar darstellt. Sie gibt dem Holz einen »goldigen, warmen Ton«.37

Das Grunewaldhaus um 1913.In der Mitte Wolfgang und Grete Sultan mit ihrer Tante

Ende Oktober 1906 ist es so weit: Der verspätete Umzug in das Grunewaldhaus kann endlich beginnen. Coba Sultan hat ihn zusammen mit der Zeit des ersten Einlebens in dem neuen, mondänen Haus schriftlich festgehalten. Sie erinnert sich an manche Aufregung, die sich in den ersten Tagen zuträgt. Immerhin muss der Umzug mit sieben Kindern, einer Amme, einer Kinderfrau, einem Hausmädchen und diversen Dienstboten bewältigt werden. Wie es das Schicksal will, hat Vater Sultan ausgerechnet an diesem Tag eine zehnstündige Sitzung, sodass die gesamte Verantwortung auf Cobas Schultern lastet. Obwohl sie sich immer wieder schützend vor den Kinderwagen stellt, in dem die vier Monate alte Grete schlummert, wird dieser in einem unbeobachteten Moment von den Möbelpackern mit Schwung in den bereitstehenden Transportwagen verfrachtet. Die Arbeiter sehen nur den Kinderwagen, das Frachtobjekt, sie blicken nicht hinein. Die Aufregung ist enorm, als das Verschwinden des Säuglings bemerkt wird, Coba aber bewahrt Ruhe. Instinktsicher findet sie Grete im Möbelwagen und kann ihre Tochter aus der misslichen Situation befreien. Resolut nimmt sie sich nun selbst des Kinderwagens an und schiebt Grete höchstpersönlich über den ganzen Kurfürstendamm bis zum Hubertussee.

Müde und abgekämpft sitzt sie abends zusammen mit der fünfzehnjährigen Claere auf einer Umzugskiste, als ein Passant das neue Haus erblickt und erstaunt fragt: »Wat is’n det für een komischet Haus?« Der alte Bauwächter aber wirft mit seinem heiseren Bierbass zurück: »Det is keen komischet Haus, det is altertiemlich, det is Jeschmack!«38 Abgesehen von dieser Anekdote scheint Riemerschmids Entwurf aber den Zeitgeschmack zu treffen; in der angesehenen Zeitschrift Deutsche Kunst und Dekoration erscheint 1908 ein Aufsatz mit knapp dreißig Innen- und Außenaufnahmen des Hauses, in dem »das Haus Sultan im Grunewald« als »mehr als ein feudaler Sitz«39 bezeichnet wird.

In diesem Haus, das neuartig und ungewohnt wirkt, das Freunde und Bekannte als »zu sachlich und nüchtern«40 betrachten, leben die Sultans während der nächsten sechzehn Jahre, hier wachsen die Kinder heran. Mehrere Hausangestellte erleichtern den Alltag: Neben den bereits erwähnten Bediensteten wird die Näherin Anna Perschke beschäftigt, eine »unkomplizierte, doch weise Seele«,41 die für die Kinderschar zu einer liebevollen und vollkommen integrierten Bezugsperson wird. Außerdem lebt eine belgische Gouvernante mit im Haus, die mit den Kindern nur Französisch spricht, sodass diese quasi zweisprachig aufwachsen. Für Grete, dieses scheue und eher im Stillen lebende Kind, ist das Grunewaldhaus mit seinen riesigen Dimensionen zu pompös und zu mächtig. Schon in ihrer Jugend bevorzugt sie die Schlichtheit des Äußeren, gepaart mit der Tiefe des Inneren, und so erinnert Grete Sultan sich nicht allzu gerne an ihr Elternhaus:

Ach, das Grunewaldhaus! Da habe ich gar kein Interesse dran, das hat nichts mit mir zu tun. Ich habe Klavier gespielt! Es hat mich […] gar nicht interessiert. Nein, gar nicht, absolut nicht, das war nicht mein Geschmack. Nein, im Gegenteil, […] es hat mich gestört. Ach! Ich hab’s gehasst.42

Das neue Domizil der Sultans wird schon bald zu einem lebendigen, offenen Haus und zum gesellschaftlichen Mittelpunkt in der sogenannten Grunewald-Kolonie. Hier setzen Coba und Adolf Sultan die in ihren Elternhäusern gepflegten Traditionen fort: Hauskonzerte, Lesungen und Abendgesellschaften finden statt, Freunde gehen ein und aus, Verwandte kommen zu Besuch. Die Kinder bringen wiederum Spielkameraden mit, sodass stets ein buntes Treiben herrscht, vor allem aber ein mannigfaltiges Musizieren. Während der Musiksalon mit dem Bechstein-Flügel für Hauskonzerte und weihnachtliche Therateraufführungen der Kinder genutzt wird, erhalten diese im ersten Stock Unterricht; dort findet auch das tägliche Üben an den verschiedenen Instrumenten statt, sodass tagsüber ebenso wie am Abend im ganzen Haus die unterschiedlichsten Klänge zu hören sind.

Aber nicht nur Musik und Theater füllen das Leben der Kinder aus: Sie gehen in ihrer Freizeit mit Freunden schwimmen oder segeln, fahren Fahrrad und im Winter Schlitten, spielen Tennis und Eishockey. Sie erleben eine aktive, vielfältig angefüllte Kindheit, sorglos, aber von den Eltern bewusst gestaltet.

Ein Bonbon für Ernst Barlach

Coba und Adolf Sultan besuchen regelmäßig Berlins Theater und Opernhäuser, Konzerte und Ausstellungen, stets mit mehreren oder gar allen Kindern zusammen. So eröffnen sie ihnen die Künste und erweitern gleichzeitig den eigenen Freundeskreis. Besonders durch die Freundschaft mit Paul Jonas, einem prominenten Berliner Anwalt, kommen die Sultans mit Berliner Künstlern und Intellektuellen in Kontakt. Neben dem Dramatiker Gerhart Hauptmann und Otto Brahm, dem Direktor des Lessingtheaters, bereichert insbesondere die Schauspielerin Agnes Sorma das Leben im Grunewaldhaus, und auch die »interessante und anregende Bekanntschaft«43 mit der Sozialreformerin Alice Salomon inspiriert Coba Sultan nachhaltig.

Grete Sultan um 1908

Ausgedehnte Reisen zählen zu den weiteren frühen Bildungserlebnissen der Sultan’schen Kinder. Neapel und Sizilien, Umbrien und die Toskana sind ebenso wie Korsika, Griechenland und Nordafrika Reiseziele der Familie; oft werden sie von Freunden oder dem unverheirateten Bruder Adolfs, Georg Sultan, begleitet. Auch die Kanarischen Inseln und Ägypten werden bereist, später unternimmt die Familie sogar eine Nordlandreise fast bis zur Arktis.

Die Schauspielerin Tilla Durieux und ihr zukünftiger zweiter Mann, der Kunsthändler, Galerist und Verleger Paul Cassirer, werden zu engen Freunden der Sultans. Gemeinsam reisen sie nach Noordwijk in den Niederlanden, wo Cassirer ein Sommerhaus besitzt. Im Sommer 1907 ist auch Ernst Barlach in Noordwijk und porträtiert Tilla Durieux. Unter dem Tisch sitzt die gut fünfjährige Käte Victorius und lauscht einer Konversation zwischen Maler und Modell, in welcher Barlach über seine Entbehrungen und Kümmernisse spricht: die Erfolglosigkeit seiner Arbeit, den chronischen Geldmangel mit der Folge, sich keine Farben und Materialien kaufen zu können, sowie seine schwierige Beziehung zu einer Frau, die schließlich mit einem Gerichtsprozess geendet hat. Am nächsten Abend findet Barlach auf seinem Kopfkissen drei kleine Dinge, die Käte ihm aus Mitleid dort hingelegt hat: einen Pfennig, eine duftende Blume und einen in Papier gewickelten Bonbon. Coba und Adolf Sultan treffen Ernst Barlach bald zwanzig Jahre später auf einer Gesellschaft wieder. Als Barlach ihren Namen hört, nimmt er seine Brieftasche heraus und zeigt den überraschten Sultans drei Dinge: einen Pfennig, eine gepresste Blume und ein gefaltetes Bonbonpapier – jene kleinen Geschenke Kätes, die er seither stets mit sich geführt habe.

Die Sultans erleben auch noch die letzten Auftritte des Geigers Joseph Joachim und seines Streichquartetts, das »mit einer nie wieder gehörten inneren Beseeltheit und Stil-Feinheit«44 spielt. Eine weitere Künstlerfreundschaft wird indirekt durch Gretes Onkel Georg Sultan vermittelt. Er bringt eines Tages den Kammersänger Kurt Sommer mit, Tenor an der königlichen Oper, und schon bald bilden die zwei Sultan-Brüder und der Sänger eine Skatrunde. Über Sommer lernt Adolf Sultan den Komponisten Richard Strauss kennen. Sympathie und Freundschaft entwickeln sich schnell, und Strauss kommt nun häufiger ins Grunewaldhaus, wo er mit Adolf Sultan und dem Pianisten Artur Schnabel musiziert, aber auch leidenschaftlich Skat spielt, oft »vom frühen Nachmittag bis lange nach Mitternacht«.45

Adolf und Coba Sultans gesellschaftliches Leben ist vielfältig, und durch ihre Begegnungen mit »fast der gesamten Berliner Secession«46 entwickeln sie immer mehr Freundschaften. Zudem erweitert Adolf Sultan seine Kunstsammlung mit Werken von Max Liebermann, Walter Leistikow, Ludwig von Hofmann, Camille Pissarro und anderen, er besucht mit seiner Familie Cassirers Ausstellungen moderner Kunst sowie die Berliner Secession.

Um das Leben in der Grunewald-Kolonie und die Bewohner der großen Villen, in denen bisweilen sogar ausländische Monarchen bei Staatsbesuchen untergebracht werden, ranken sich zahlreiche, oftmals bissig-ironische Anekdoten, die auch in der satirischen Zeitschrift Kladderadatsch veröffentlich werden. Auch Grete Sultans Familie kommt nicht ungeschoren davon. Einer ihrer Nachbarn ist der Bankier Adolf Jaroslawsky, der ein wahres Palais in einem parkartigen Garten bewohnt. Zwischen den Hausangestellten der beiden Familien scheint es hin und wieder Meinungsverschiedenheiten zu geben:

Die Hausangestellten von 6 a stritten häufig mit denen aus der Nummer 11. Es ging um wichtige Dinge. Adolf Sultan war für »Gediegenes«, worunter er kostbare alte Möbel, Porzellan und Bilder verstand. Jaroslawsky hatte es dagegen »mit’s Moderne«. Es war zwischen den Palästen so etwas wie ein Wettbewerb, an dem die Hausangestellten eifrig teilnahmen. Die einen sprachen von der »Sultanschen Plunderkiste«, die anderen erklärten, das Jaroslawskysche Palais wäre ein Kitschladen. In der dämmrigen Delbrückstraße sollen diese Meinungsverschiedenheiten oft handgreiflich ausgetragen worden sein.47

Leben mit sieben Kindern: Musik von morgens bis abends

Alle sieben Kinder im Hause Sultan werden von Anfang an mit Musik vertraut gemacht, ohne die das Familienleben kaum denkbar scheint. Dennoch wird die Musik mit unterschiedlicher Begeisterung ausgeübt: Claere, die älteste Tochter, erhält Geigenunterricht, spielt aber nur während einiger Kindheitsjahre und hängt das Instrument bald aus Unlust an den Nagel. Allerdings verbindet eine andere Leidenschaft Claere mit ihren Eltern, sodass diese mit dem musikalischen Misserfolg versöhnt werden: das Schachspiel. Gegen den Vater zu gewinnen, ist jedoch schwierig, wie ihre Cousine Hanna sich erinnert: »Wenn Claere mit ihrem Vater Schach spielte, dann hatte sie, wenn sie am Verlieren war, immer bestimmte Ausdrücke. Dann saß sie ziemlich nachdenklich da und sagte: ›Ick seh bis im November.‹ Dann wusste man, dass sie verliert.«48

Nicht nur Claere verliert gegen den Vater. Bei den täglichen Schachpartien zwischen den Eltern, die meist nach dem Mittagessen stattfinden, weisen Andeutungen des Vaters auf Cobas drohende Niederlage hin: »Eure Mutti ist eine fabelhafte Freundin und sehr gute Spielerin!«49 Wenn das Blatt sich jedoch gegen ihn wendet und Coba die Oberhand behält, summt Adolf Sultan gerne eine Arie aus Richard Strauss’ Rosenkavalier.

Herbert spielt, wie der Vater, Violine und Viola, kann allerdings, wie Grete etwas spöttisch erzählt, »nur mit einem Finger Klavier spielen«.50 Curt spielt Cello und ist »äußerst begabt«51 – er möchte Cellist werden, worin sein Lehrer Hugo Becker ihn bestärkt. Käte, das jüngste Victorius-Kind, hat als einziges der Kinder das absolute Gehör und spielt ebenfalls Violine. Auch sie tritt in Hauskonzerten auf, meist im Trio mit ihren jüngeren Geschwistern Wolfgang und Grete. Außerdem hat Käte eine schöne Stimme und interpretiert, von Grete begleitet, Lieder von Schubert und Schumann.

Das zweifellos musikalisch begabteste Kind unter den Geschwistern Grete Sultans aber ist Anni Victorius. Sie beginnt unter der Anleitung ihrer Mutter schon früh Klavier zu spielen, aber auch ihre Tanten Lotte Baerwald und Anna Klara Bamberger unterrichten sie bei Ferienbesuchen in Frankfurt und Mainz. Anni ist mit Eifer und Begeisterung bei der Sache, Nervosität und Selbstzweifel kennt sie nicht.

Bereits um 1903 haben Coba und Adolf Sultan den jungen amerikanischen Pianisten Richard Buhlig kennengelernt, einen aus Chicago stammenden Leschetizky-Schüler, der zwei Jahre zuvor nach Berlin gezogen ist. Er hat große Erfolge als Pianist, und Coba erkennt in ihm »einen […] feingebildeten, klugen, vielseitig interessierten, warmherzigen und lieben Menschen«.52 Es entwickelt sich eine enge Freundschaft, und Buhlig wird Annis erster »richtiger« Klavierlehrer. Unter seiner Anleitung sind ihre Fortschritte unübersehbar, allerdings verlässt er Berlin Mitte 1905 vorübergehend in Richtung England. Glücklicherweise findet Coba mit Artur Schnabel und dem schottischen Liszt-Schüler Frederic Lamond53 zwei Pianisten und Pädagogen besonderer Güte für Anni.

Das Mädchen besucht weder eine reguläre Schule noch je ein Konservatorium, sondern wird stets nur privat unterrichtet. Klavierstunden erhält sie zu Hause, die Schulfächer werden meist in der Villa des Bankiers Franz von Mendelssohn gelehrt. Mendelssohn ist ein Großneffe zweiten Grades Felix Mendelssohn Bartholdys und ehemaliger Schüler Joseph Joachims. Seine Tochter Lilli, eine ebenfalls begabte Geigenschülerin, wird Annis »innige Freundin«,54 die Mädchen musizieren viel zusammen und treten regelmäßig in Hauskonzerten ihrer Eltern auf.

Wolfgang erhält als Kleinkind zunächst von Anni Klavierunterricht. Die »kleine Schwester« Grete erinnert sich:

Sie war streng, […] nicht mit mir, aber mit meinem Bruder Wolfgang. Dem hat sie Ohrfeigen gegeben, wenn er nicht geübt hat! Und der ging unters Bett, […] er hatte keine Lust zu üben oder irgendwas. Aber er hatte eine wunderschöne Stimme, der konnte singen! Ja, er hat gesungen, aber ich konnte nie singen. Aber als meine Schwester Claere 1912 heiratete, habe ich schon Klavier gespielt und ich habe ihn begleitet, verschiedene Sachen …55

Viel mehr liegen Wolfgang der Gesang und das Cellospiel, das auch er von Hugo Becker lernt. Der Junge liebt die Musik sehr, er versteckt sich mit Grete nachts unter Treppen und Tischen, um den Erwachsenen beim Quartettspiel zuzuhören. Das Triospiel der Geschwister in Hauskonzerten bei den Eltern, den Mendelssohns und anderen Freunden gehört zu den lebendigsten Erinnerungen Grete Sultans an die gemeinsame Kindheit. Als jüngstes der Sultan-Kinder wird sie von allen besonders geliebt und verwöhnt, behütet wächst sie in einer Welt voller Musik heran. Schon als Kleinkind läuft Grete immer wieder zum Klavier, das eine merkwürdig starke Anziehungskraft auf sie auszuüben scheint. Oft hört die Zweijährige zu, wenn Anni übt oder Unterricht erhält, und früh wird deutlich, dass diesem Kind eine ungewöhnliche Musikalität innezuwohnen scheint.

Streichquartett im Grunewaldhaus

Ihre Kindheit und Jugend in der Harmonie des Berliner Familienlebens empfindet Grete Sultan Zeit ihres Lebens als eine Art Zauber, die Hauskonzerte aber bleiben ihr auf besondere Weise in Erinnerung.

Meine Kindheit? Ja! Meine Eltern waren sehr lieb zu mir, zu allen Kindern! Mein Vater hat mich sehr geliebt, und meine Mutter hat mich auch sehr geliebt. Meine Eltern hatten eine sehr glückliche Ehe. Sehr! Ja! Die haben sich innigst verstanden! Die haben jeden Abend zusammen Schach gespielt. Ich habe nie erlebt, daß meine Eltern sich gestritten haben! Nein. Mein Vater hat alles getan für meine Mutter, und sie für ihn.