Rechte Tür Links - Kyrylo Tkachenko - E-Book

Rechte Tür Links E-Book

Kyrylo Tkachenko

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Beschreibung

Wie kommt es, dass viele Linke besonders anfällig für russische Narrative über den russisch-ukrainischen Krieg sind? Und warum überschneiden sich die linken Interpretationen so stark mit denjenigen der Rechten, sobald es um die Ukraine geht? Kommt dabei etwas zum Ausdruck, das man als linkes Ressentiment bezeichnen könnte –Trauer über eine als verloren empfundene Vergangenheit, gemischt mit eigener Unsicherheit darüber, wie das politische System aussehen soll, welches nach linker Sicht repräsentative Demokratien ablösen sollte? Das vorliegende Buch stellt den wohl umfassendsten Versuch dar, die Reaktionen auf die sogenannte Ukraine-Krise innerhalb der deutschen Linken zu erklären und historisch zu kontextualisieren – einschließlich der linken geopolitischen Wende, deren vielleicht erstaunlichste Eigenschaft wiederum die Übereinstimmung mit den Positionen der extremen Rechten ist. Nebenbei wird das bisherige Bild der Ukraine in der deutschen Gesellschaft herausgearbeitet und einer kritischen Analyse unterzogen.

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Seitenzahl: 254

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Contents

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Einleitung

Kapitel I Rechtswendung durch die Ukraine

Die „Ukraine-Krise“ und die Reaktion der Linken

Ein neues Bündnis von Rot und Braun

Das linke Ressentiment

Kapitel II Die Ukraine aus deutscher Sicht: Ein blinder Fleck auf der Karte Osteuropas

Nicht problematisierte Probleme

Wunde Stelle: der Fall Iwan Demjanjuk

Erinnerungspolitik: Nach deutschem Muster

Kapitel III Die Abhängigkeit von der Tradition

Linkssein und Tradition?

Die erste geopolitische Wende

Die Sowjetunion und die Probleme linker Interpretation

Das „Goldene Zeitalter“ der Links-Rechts-Allianzen

„Das Goldene Zeitalter“ und das Problem der Kontinuitäten

Faschismus vs. Kommunismus: Kriterien der Unterscheidung

Die strahlende Vergangenheit lässt nicht los

Kapitel IV Linke Regression: Antisemitismus

Linker Terror im Nachkriegsdeutschland

Antisemitische Motivation

Das Phänomen des „Ouring“

Linker Terror und „Aktualität der Kontinuitäten“

Linker Antisemitismus außerhalb des deutschen Kontextes

Kapitel V Abhängigkeit vom Wunschbild der Zukunft

Das Unüberwindbare bleibt unüberwunden

Über die Notwendigkeit der Entzauberung

Zusammenfassung

Kyrylo Tkachenko

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Vier Jahre ist es her, dass dieses Buch auf Ukrainisch erschienen ist. Die Geschichte seiner Entstehung ist lang und etwas verworren. Zunächst ging es um meine vergeblichen Versuche, 2014–2017 die deutschen Linken über den Maidan, die russische Annexion der Krym und den Krieg im Donbas aufzuklären. Es handelte sich dabei auch um die Zusammenhänge, bei denen ich während meines langen Aufenthalts in Deutschland aktiv war. Auch wenn ich selbst 2014 in die Ukraine zurückkehrte, taten die Aktivitäten meiner ehemaligen Gleichgesinnten aus Deutschland beinahe weh. Wie ist es möglich, als Linker eine rechte Diktatur zu unterstützen, die aus nationalistischen Gründen einen Nachbarstaat überfällt, Teile seines Territoriums annektiert und mit Krieg überzieht? Welchen Sinn macht dabei dieses tausendfach wiederholte Nie wieder!, wenn es sich um nichts anderes als die erste gewaltsame Annexion in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg handelt? Wieso bereitete ausgerechnet das linke Milieu den fruchtbaren Boden für das propagandistische Framing der Ukraine als ein durch Faschismus geprägtes Land, während die Ukraine neben Belarus gerade diejenigen Sowjetrepubliken darstellte, die am meisten durch den deutschen Überfall gelitten haben?

Meine Aufklärungsversuche von damals erwiesen sich als eine ziemlich bittere, frustrierende Erfahrung. Egal wie faktenbasiert Linke aus Osteuropa in den deutschen Debatten argumentieren versuchten, ihr Einfluss blieb dabei mehr als bescheiden. Die plumpen, kenntnisarmen, oder gar nachweislich falschen Reproduktionen von talking points aus der russischen Staatspropaganda hatten hier eindeutig mehr Gewicht. Mit der Zeit musste ich anerkennen, dass man mit Fakten und Argumenten gegen ideologische Glaubensartikel kaum durchkommt, dass die letzteren leider zu tief sitzen und dass es dafür bestimmte Gründe geben soll. So kehrte ich nach und nach von der Aufgabe der Aufklärung ab und suchte mehr und mehr nach Erklärung. Der erste Versuch war ein englischsprachiger Essay über die deutsche Linke im Kontext der „Ukraine-Krise“, den ich für das Magazin Eurozine schrieb. Der Essay wurde viel zu lang, veröffentlicht wurde im Magazin nur ein Teil davon (2017). Für meinen Essay hat sich aber der ukrainische Verlag Krytyka interessiert, und so wurde aus der ersten, kürzeren englischsprachigen Fassung 2019 dieses Buch auf Ukrainisch.

Vier Jahre ist im Fall der heutigen Ukraine ein gewaltiger Abstand. Geändert hat sich viel auch in Deutschland. Dennoch habe ich mich dafür entschieden, das Buch für die deutsche Ausgabe nicht zu überarbeiten – die einzige Ausnahme ist das zweite Kapitel, das noch 2019 leicht überarbeitet wurde. Zum einen befürchtete ich, dass im Fall einer Überarbeitung ein komplett neues Buch entstehen würde. In diesem Fall wäre auch nicht mehr die Linke sondern das Verhältnis der ganzen deutschen Gesellschaft zur Ukraine, Russland und Osteuropa der Hauptfokus (vielleicht schreibe ich so ein Buch irgendwann später). Das vorliegende Buch, so hoffe ich zumindest, ist aber nicht bloß als ein zeitgenössisches Dokument interessant, das die ersten Jahre der deutschen Reaktion auf die „Ukraine-Krise“ insbesondere unter den Linken thematisiert.

Was die heutige deutsche Linke anbelangt, so scheint sie beim Thema Ukraine immer noch dort zu stehen, wie vor zehn Jahren. Selbst angesichts des russischen Großangriffs auf die Ukraine und den mehrfach dokumentierten schrecklichen Kriegsverbrechen, stößt man auf dieselben seltsamen Debatten, in denen Russland zwar eingangs verurteilt wird, dann aber nicht als Täter, sondern eher als Opfer westlicher Provokationen dargestellt wird. Der einzige Unterschied zu den Debatten vor Jahren scheint in der Tat zu sein, dass das arme Wörtchen „aber“ heute noch stärker missbraucht wird. Wie bereits vor Jahren, stimmen die Linkspartei und die AfD unisono ab, sobald es um die Ukraine geht. Wie damals, kann man auch heute die ganzen Ukraine-bezogenen Passagen von Sprechern der beiden Parteien wechselseitig umtauschen, ohne dass jemand dabei einen inhaltlichen Unterschied bemerken wird. Wirft man den Blick auf die Streitigkeiten innerhalb der Linkspartei, Erwägungen Wagenknechts, eine neue Partei zu gründen, die „Friedensdemos“, welche besonders gut von Menschen aus dem linken und dem rechten Milieu besucht werden, so will man sich beinahe die Augen reiben. Man kennt das schon alles! Trotz neuer Umstände wiederholt sich das Ganze aus der Periode 2013–2018 aufs Neue. Das betrifft die „Friedendemos“ von damals, die Debatten innerhalb der Linkspartei, Wagenknechts Versuch, eine neue „Bewegung“ zu gründen und vieles mehr… Wer also sich heute wundert, oder einfach mehr verstehen will, dem ich dieses Buch nur zu empfehlen.

Meine Beurteilung der heutigen Zustände in der deutschen Linken mag jemandem viel zu pauschal und ungerecht erscheinen, dazu ein paar Anmerkungen. „Die Linke“ im nicht-parteilichen, übergreifenden Sinne gibt es natürlich nicht, es handelt sich vielmehr um eine Gesamtheit von mehreren Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen, die untereinander öfters zerstritten sind, sich sogar gegenseitig für „nicht wirklich links“ halten und tatsächlich in manchen Aspekten an politische Richtungen jenseits der Linken näher sind, als an seine vermeintlichen Gleichgesinnten innerhalb des linken Milieus (wie beispielsweise die Linkspartei in Hinblick auf die Ukraine näher an die AfD als an die SPD ist). Dennoch gibt es wichtige Gemeinsamkeiten wie zum Beispiel geteilte ideologische Grundsätze, die es uns mit gewissen Einschränkungen erlauben, von der Linken im Allgemeinen zu sprechen. Trotz aller ehrenwerten Ausnahmen gibt es schließlich eine vorherrschende Tendenz im Umgang mit der Ukraine innerhalb dieses Milieus. Eine weitere Anmerkung: Auf die Linkspartei konzentriere ich mich vor allem deswegen, weil sie die größte linke Organisation in der Bundesrepublik ist. Ihrem Programm, Gesetzvorschlägen und lokalen Initiativen zufolge ist sie natürlich genauso wenig „linksradikal“, wie die AfD „faschistisch“ ist. Trotzdem vereinigt sie wohl die größte Zahl der Menschen in Deutschland, die eine radikal „antikapitalistische“ politische Einstellung haben. Mehr Differenziertheit dazu, sowie detailliertere Überlegungen, inwiefern Verallgemeinerungen im Fall „der Linken“ erlaubt sind, findet man im Buch selbst.

Im Unterschied zu dem linken Milieu stellt jedenfalls die deutsche Gesellschaft insgesamt einen viel interessanteren Fall dar. Einerseits muss man anerkennen, dass sie seit Februar 2022 einen immensen Fortschritt gemacht hat. Das Konzept „Wandel durch Handel“ in Bezug auf das Regime von Vladimir Putin scheint jedenfalls durch die Politik ad acta gelegt zu werden. Trotz eines, leider zu langen Zögerns entschied sich die Bundesregierung am Ende doch für eine systematische, anhaltende Unterstützung der Ukraine —, die Lieferung von schweren Waffen eingeschlossen. Ich würde mich zwar sehr ungern täuschen, aber mein Eindruck ist, dass auch die Appeaser unter den deutschen Intellektuellen, welche einen vermeintlichen „Frieden mit Russland“ durch die Aufgabe des ukrainischen Territoriums erreichen wollten, heute nicht mehr so tonangebend sind, wie noch in der ersten Hälfte von 2022. Die heutigen Debatten in der deutschen Presse unterscheiden sich schließlich merklich von denjenigen, die noch 2013–2018 geführt wurden. Die Umstände sind nur zu bedauern, aber die Ukraine scheint nun wirklich einen eigenen Platz auf der deutschen mentalen Karte von Osteuropa zu gewinnen und nicht mehr als ein vages Gebiet im Schatten von Russland wahrgenommen zu werden.

Andererseits verstehe ich nur zu gut, wie viel Zeit und wie viel Arbeit ein konsequenter Bruch mit einer Tradition voraussetzt, die von den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert bis zu dem Bau von Nord Stream reicht. Deutsche Adlige haben sehr viel zum Aufbau des Russischen Reiches bereits lange vor Teilungen Polens beigetragen, es gab sogar eine Periode, als weder der russische Zar noch sein Hof Russisch sprachen. Zu einem wahren Eldorado wurde das Russische Reich, in dem eine deutsche Generalstochter zur Kaiserin oder einer der unzähligen Barons von Münchhausen zum ruhmreichen Feldherrn oder einem mächtigen Minister werden konnte. Schon aus dieser Zeit stammt ein zwar ambivalenter, aber im Grunde begeistert-positiver Blick auf das russische Kolonialreich sowie die Idee einer Notwendigkeit, für die „Ordnung“ in Osteuropa gemeinsam mit Russland zu sorgen. Es geht um eine jahrhundertelange Geschichte der Regelung deutsch-russischer Verhältnisse, deren größte Opfer die Völker dazwischen waren. Selbst wenn diese Regelung auf eine „friedliche“ Art ausgehandelt wurde, bedeutete es leider zu oft für die „kleineren“ Völker Osteuropas Unfreiheit und Unterwerfung. Man denke etwa an den Mythos von der erfolgreichen „neuen Ostpolitik“ der Nachkriegszeit, die — entgegen einer verbreiteten Meinung — nicht nur keinen nennenswerten Beitrag zum Zusammenbruch kommunistischer Regime leistete, sondern umgekehrt zur Stärkung sowjetischer Militärpräsenz in Osteuropa beitrug. Der Grundpfeiler der „neuen Ostpolitik“ war doch eine konsequente Anerkennung des sowjetischen „Außenimperiums“ im Namen einer vermeintlichen Versöhnung. Die Kontinuität von einem „besonderen“ Verhältnis zu Russland erkennt man in der deutschen Außenpolitik auch nach dem Zusammenbruch der UdSSR, egal ob bei Kohl, Schröder oder Merkel. Selbst die Regierung von Scholz stand in dieser Tradition noch unmittelbar bis zu Beginn der großangelegten russischen Invasion im Februar 2022.

Das geographisch schon seit langem falsche Bild „unseres großen Nachbarn Russland“ wird wohl nicht so schnell verschwinden; der Drang, „den Frieden“ im Raum zwischen Berlin und Moskau in einer Art und Weise zu gestalten, indem man die Länder dazwischen übersieht, wird die deutsche Gesellschaft in der einen oder anderen Form aller Wahrscheinlichkeit noch lange heimsuchen. Zu hoffen ist nur, dass es nie wieder zu einer mehrheitsfähigen Strömung wird. Damit die vielgepriesene „Zeitenwende“ zu etwas Dauerhaftem wird, sollte sie auch eine lange kulturelle Arbeit miteinschließen. Das vorliegende Buch kann als einer der vielen nötigen Versuche und Schritte in diese Richtung betrachtet werden. Inwiefern der Autor im vorliegenden Buch falsch oder richtig liegt, muss der Leser entscheiden. Ich hoffe zumindest, dass die Perspektive, aus der es geschrieben wurde, manchem Leser seinen eigenen Blick erweitern und somit zum Nachdenken verhelfen kann. Selbstverständlich garantiert die Tatsache, dass ich selbst ein Ukrainer bin, noch keinesfalls, dass ich als „Betroffener“ besser über Zusammenhänge beurteilen kann, die in diesem Buch thematisiert werden.

Editorische Notiz des Übersetzers:

Die Transliteration von Namen und Orte orientiert sich daran, dass diese in den Medien leicht wiedergefunden werden können.

Die einzelnen Verweise auf Internetquellen wurden nicht intensiv überprüft und schon gar nicht durch kollationierte exaktere Nachweise in den Druckausgaben der einzelnen Zeitungen und Zeitschriften ersetzt.

Die Literaturangaben wurden ergänzt um deutsche bzw. ukrainische Übersetzungen der zitierten Werke, letzteres, um so auf die ebenso interessante wie interessierte Rezeption deutscher und angelsächsischer Forschung in der Ukraine hinzuweisen.

Einleitung

Anfang 2014 geriet die Ukraine aus heiterem Himmel ins Zentrum der Aufmerksamkeit der westlichen radikalen Linken. Charakteristisch für die Situation, die aus diesem unerwarteten Interesse ergab, waren erhebliche Überschneidungen in den Interpretationen der damaligen Ereignisse durch die Vertreter des extrem linken und des extrem rechten Flügels des politischen Spektrums. Die Verwischung der traditionellen Unterscheidungen zwischen diesen Kreisen gilt es zu verstehen und erklären. Im Rahmen dieser Analyse soll versucht werden, dies am Beispiel des modernen Deutschlands zu zeigen.

Die Darstellung wird sich jedoch nicht darauf beschränken, die Reaktion der deutschen radikalen Linken auf die sogenannte „Ukraine-Krise“ zu beschreiben. Erstens ist es unmöglich, spezifisch linke Interpretationen ohne ihre Kontextualisierung zu verstehen, d. h. ohne die breiteren politischen Debatten im modernen Deutschland zu betrachten und das in der deutschen Kultur etabliert Bild der Ukraine zu analysieren. Zweitens erfordert die Erklärung des Phänomens der Links-Rechts-Allianzen eine historische Kontextualisierung, ohne die die aktuelle Situation nicht vollständig verstanden werden kann. Schließlich bietet das Material selbst eine gute Gelegenheit, sowohl die herkömmliche Kartierung des politischen Raums zu problematisieren als auch die linke Tradition kritisch zu überdenken.

Um Missverständnissen vorzubeugen, sei gleich darauf hingewiesen, dass in erster Linie die radikale Linke Gegenstand der Betrachtung sein wird, also der Teil der linken Bewegung, der die Revolution anstrebt und darin einen Weg zur gewünschten politischen Veränderung sieht. Der Begriff „radikale Linke“ ist eine Selbstbezeichnung. Die Bedeutung, in der er hier verwendet wird, stimmt im Allgemeinen mit dem überein, was sie selbst ihm beimisst. Es ist nicht notwendig, die von der radikalen Linken gezogenen Schlussfolgerungen auf andere Menschen zu übertragen, die sich selbst als Linke bezeichnen, aber gleichzeitig muss anerkannt werden, dass es keine klare Grenze zwischen ihnen und der radikalen Linken gibt. Vielleicht ist es gerade das Fehlen einer kritischen Distanz zur linksradikalen Tradition, die sich als eines der entscheidenden Merkmale erweisen wird, das den „Rest der Linken“ eint.

Die Analyse besteht aus fünf Kapiteln. Das erste, „Rechtswendung durch die Ukraine“, zeigt, wie die deutsche radikale Linke den Euromaidan und den russisch-ukrainischen Krieg wahrnimmt. Die Interpretation, die dieses Milieu den Ereignissen in der Ukraine gibt, passt zur geopolitischen Wende – die der modernen westlichen radikalen Linken innewohnenden Tendenz, sich mit jedem Regime zu solidarisieren, das sich als antiwestlich positioniert. Und das symptomatischste Zeichen für die linke geopolitische Wende ist ihre Übereinstimmung mit den Positionen der extremen Rechten. Es geht um die negative Bewertung der „Farbenrevolutionen“, Antiamerikanismus, Euroskeptizismus, „Antizionismus“ und vieles mehr, was beiden politischen Lagern gemeinsam ist. Es kann argumentiert werden, dass die geopolitische Wende und der daraus resultierende „Verähnlichungs-Effekt“ durch das antiliberale Ressentiment motiviert ist, das sich vor dem Hintergrund der Veränderungen in der internationalen Politik nach 2014 besonders ausgeprägt hat.

Das zweite Kapitel „Die Ukraine aus deutscher Sicht: Ein blinder Fleck auf der Landkarte Osteuropas“ widmet sich der Beschreibung des allgemeinen Rahmens, in dem die Debatte um die „Ukraine-Krise“ im modernen Deutschland stattfindet. Wir werden untersuchen, inwieweit diese Debatten durch das traditionelle Bild der Ukraine in der deutschen Kultur geprägt sind. Die bestimmenden Merkmale dieser imaginären Ukraine sind ihre gleichzeitige Unsichtbarkeit und (jedenfalls für Westeuropa) enorme Größe. Als vielleicht größter blinder Fleck auf der ererbten mentalen Landkarte Osteuropas ist die Ukraine zugleich eine ideale Projektionsfläche, in der sich einige der „Nebenwirkungen“ der Erinnerungspolitik in der deutschen Gesellschaft manifestieren. Zusätzlich sind die negativen Züge des Bildes der Ukraine durch das imperiale Erbe Russlands belastet, das immer noch die Sicht der Ukraine im Westen prägt.

Das dritte Kapitel, „Abhängigkeit von der Tradition“, widmet sich der ersten wirklichen geopolitischen Wende in der Geschichte der linken Bewegung und der Kontinuitäten, die von der Zeit der Solidarisierung mit der UdSSR unter Stalin bis heute nachzeichnen lassen. In den 1920er und 1930er Jahren kristallisierte sich die für die westliche linksradikale Bewegung charakteristische Konstruktion der „kritischen Solidarität“ heraus. Das antiliberale Potential der linksradikalen Bewegung zeigte sich schon damals in vollem Ausmaß. In dieser Zeit entstanden die Argumentationsmethoden, rhetorischen Techniken und Konzepte, die die westliche radikale Linke bis heute verwendet. Es gibt Gründe zu der Annahme, dass die Wiederkehr von Regressionen ein spezifisches Merkmal der radikalen linken Bewegung ist. Nicht nur hat sich das in diesem Milieu verwendete Vokabular im Vergleich zum „Goldenen Zeitalter“ der rot-braunen Koalitionen nicht verbessert. Im Gegenteil, es hat zahlreiche regressive Reduktionen erfahren. Das in diesem Kapitel gesammelte Material ist auch ein guter Grund, die konventionelle Unterscheidung zwischen faschistischen und kommunistischen Regimen zu problematisieren.

Die Hinwendung zur Geschichte des linken Terrors in der bundesrepublikanischen westdeutschen Nachkriegszeit im vierten Kapitel „Linke Regression: Antisemitismus“ ermöglicht es zu zeigen, dass starke regressive Tendenzen nicht nur ein Merkmal der „dunklen“ Seiten der linksradikalen Bewegung sind, die angeblich „überholt“ wurden – sie wohnen auch der „neuen“ Linken in den westlichen Ländern, die keine kommunistische Herrschaft kannten, inne. Selbst auf dem Höhepunkt der stärksten geopolitischen Blindheit der 1930er Jahre war Antisemitismus nicht ihr bestimmendes Merkmal. Die Aktivitäten der westdeutschen radikalen Linken der ersten Nachkriegsgeneration bekamen jedoch eine deutlich antisemitische Färbung. Tatsächlich wurden die abscheulichsten antisemitisch motivierten Verbrechen im Nachkriegsdeutschland von der radikalen „neuen“ Linken begangen. Über den spezifisch deutschen Kontext hinaus ist es sinnvoll, den „Antizionismus“ als eine allgemeine Tendenz zu betrachten, die der modernen westlichen radikalen Linken innewohnt. Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Neigung der westlichen Linken zu Verschwörungstheorien. Es ist anzunehmen, dass dies eine Reaktion auf die Erkenntnis ist, dass vom westlichen Nachkriegsproletariat keine „Weltrevolution“ zu erwarten ist.

Das fünfte, abschließende Kapitel „Abhängigkeit vom Wunschbild der Zukunft“ widmet sich der Untermauerung der These von der Notwendigkeit, dass die linke Tradition kritisch überdacht werden muss. Die Unfähigkeit der radikalen Linken, die Last ihres eigenen historischen Erbes zu überwinden, liegt an der entsprechenden Zukunftsvision. Im Rahmen der linksradikalen Weltanschauung muss die repräsentative Demokratie durch eine bessere politische Ordnung ersetzt werden. Damit dies geschieht, muss eine Revolution stattfinden. Die revolutionäre Idee hat jedoch eine „Leerstelle“, die ihr zwar utopische Kraft verleiht, gleichzeitig aber die damit einhergehenden Regressionen strukturiert. Ihr fehlt die Vorstellung von der Organisation der politischen Macht innerhalb des Gebildes, das die repräsentative Demokratie ersetzen soll. Es scheint, dass diese „Leerstelle“ in der linksradikalen Revolutionsidee mystischer Natur ist und mit rationalen und theoretischen Mitteln prinzipiell nicht gefüllt werden kann. Am Ende des letzten Kapitels wird die Figur des linken Intellektuellen umrissen und die Notwendigkeit betont, die linke intellektuelle Tradition zu revidieren.

* * *

Dieses vom Umfang her kleine und, wie ich hoffe, verständlich geschriebene Buch ist das Ergebnis einer langen und nicht einfachen Arbeit. Ich möchte den Menschen aufrichtig danken, ohne deren Unterstützung und Hilfe es nicht die Welt gesehen hätte: Yevgenia Belorusets, Olga Bryukhovetska, Tobias Weihmann, Katia Vásquez-Pacheco, Oleksandr Volodarsky, Halyna Herasym, György Dalos, Vadym Dyvnych, Tatiana Zhurzhenko, Johann Zajaczkowski, Ivan Ivashchenko, Friedrich Klehr, Hiroaki Kuromiya, Roman Leksikov, Christian Martin, Ponnammal Moses, Andrii Mokrousov, Anja Pichl, Andrii Portnov, Olga Reznikova, Mykola Ryabchuk, James Thomson, Andreas Umland, Oliver Feldhaus, Alya Shandra, Gregory Schwartz, Anton Shekhovtsov, Karina Shirokikh, Martina Steis, John-Paul Himka.

Besonders hervorzuheben sind die Institutionen, die mir die Gelegenheit gegeben haben, mich eingehender und gründlicher mit den in diesem Buch behandelten Themen zu befassen. Die Unterstützung seitens der Marion-Dönhoff-Stiftung ermöglichte mir im Herbst 2015 eine zweimonatige Recherche zum traditionellen Bild der Ukraine in der deutschen Kultur. Im November 2016 bot mir das Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien ideale Bedingungen, um mich intensiv mit dem Thema rot-brauner Allianzen zu beschäftigen. In der zweiten Hälfte des Jahres 2017 unterstützte die Renaissance Foundation das Projekt Reft&Light, dass es mir ermöglichte, die Links-Rechts-Tendenzen in der zeitgenössischen Politik weiter zu verfolgen. Abschließend gilt ein besonderer Dank der ZEIT-Stiftung – sie hatte Verständnis dafür, dass ich von der Hauptrichtung meiner wissenschaftlichen Forschung abgewichen bin, die in keinerlei Zusammenhang mit dem Thema dieses Buches steht.

 

 

Kapitel IRechtswendung durch die Ukraine

Die „Ukraine-Krise“ und die Reaktion der Linken

Aus den Berichten deutscher linker Zeitungen, selbst der wichtigsten, und aus den Reden linker Politiker, selbst der prominentesten, kann man mitunter Unglaubliches über die Ukraine erfahren. So versammelten sich angeblich auf dem Maidan beispielsweise einen „antisemitischen und ultrarechten Mob“, der beabsichtigte, „nationalbefreite Zonen“ zu schaffen;1 das neue Gesetz über die Grundsätze der Sprachpolitik verbiete die russische Sprache;2 die antirussische Gewalt in der Ukraine nehme zu,3 US-Gelder in Höhe von 5 Milliarden US-Dollar hätten den „Regimewechsel“ in der Ukraine herbeigeführt;4 im Land gebe es eine nach Joseph Goebbels benannte Parteischule;5 der Dreizack im Wappen der Ukraine sei ein Nazi-Symbol6 usw.

All dies ist nur ein Tropfen aus dem Meer möglicher Beispiele. Und sie entstammen ausschließlich Zeitschriften mit einer Auflage von mehr als 10.000 Exemplaren sowie Aussagen von führenden Politikern der Partei DIE LINKE, der stärksten Linkspartei in Deutschland. Das heißt, diese Aussagen können nicht als aus dem Zusammenhang gerissen betrachtet werden, im Gegenteil, sie sind sehr repräsentativ. Selbst die antistalinistischste und russlandkritischste der populärsten deutschen linken Zeitungen, die Jungle World, veröffentlicht Äußerungen wie „Die Krim [ist] so russisch wie Niedersachsen deutsch“.7 In weniger repräsentativen Quellen kann man auf noch absurdere Erfindungen über die Ukraine stoßen: von einer wörtlichen Wiederholung der Klassiker des russischen Chauvinismus, wonach die Ukraine kein „echtes“ Land8 sei und die ukrainische Sprache nicht existiere, bis hin zu echten Entdeckungen wie Hinweisen auf „jüngste“ ethnische Säuberungen gegen Rumänen, oder Argumenten, der Maidan sei „in Wirklichkeit“ von „Zionisten“ organisiert worden.9

Es gibt natürlich einige Ausnahmen, aber das sind einsame Stimmen, die den Klang des allgemeinen Chors nicht beeinträchtigen. Sehr bezeichnend sind zum Beispiel die Veranstaltungen auf dem Bundesparteitag der Partei DIE LINKE im Juni 2017 (die Partei hält jedes Jahr Parteitage ab, auf denen sie ihr Programm überprüft und verabschiedet). Der Vorschlag einer Gruppe von Parteimitgliedern, die Annexion der Krym und die Beteiligung Russlands am Krieg im Donbas zu verurteilen, wurde von der überwältigenden Mehrheit nicht bloß abgelehnt, sondern sie begrüßten ihre Entscheidung mit Beifall, einige standen sogar auf.10 Dies ist eine äußerst symbolträchtige Szene. Schaut man sich den Kontext der Mahnwachen vor der russischen Botschaft in Berlin während der Spätphase der Belagerung von Aleppo genauer an, ist es schwierig, die vielen verurteilenden Stimmen der Linken zu überhören, die über diese „russophoben Aktionen“ empört sind, die ihrer Meinung nach nichts mit dem „Kampf für den Frieden“ zu tun haben.11 Gleichzeitig ist es müßig zu versuchen, in dieser oder ähnlichen Initiativen irgendeine nennenswerte Beteiligung der radikalen Linken zu erwähnen.

Man kann viel Interessantes über die Unterstützung erfahren, die die radikale Linke den selbsternannten „Antifaschisten“ im Donbas zukommen lässt, von dem endlosen Strom aufrüttelnder Proklamationen bis hin zu Spendensammlungen und der Ausrüstung von Freiwilligen für den „Krieg gegen den Faschismus“. Gleichzeitig hat dieses Milieu keine nennenswerten Aktionen oder Erklärungen zur Unterstützung der territorialen Integrität der Ukraine, Solidaritätsbekundungen mit den Einwohnern von Aleppo oder mit in Russland verfolgten Homosexuellen hervorgebracht. Selbst wenn Kritik am Vorgehen Russlands geäußert wird, wird diese meist durch das unvermeidliche „aber“ im selben Satz relativiert. Dutzende, wenn nicht Hunderte von Konstellationen, die dem Kontext der Mahnwachen vor der russischen Botschaft in Berlin im Dezember 2016 ähneln, deuten darauf hin, dass es sich nicht um isolierte Vorfälle handelt, sondern eine unbestreitbar klare Tendenz in der deutschen radikalen Linken.

Es ist wichtig, dies zu betonen, da viele davor warnen, zu verallgemeinern, dass in der linken Bewegung pro-russische Menschen dominieren, und sagen, dass sie zu breit und vielschichtig sei. Dieser Argumentation neigen am ehesten Befürworter des Vorschlags zur Verurteilung der russischen Aggression, der 2017 vom Parteitag der Partei DIE LINKE abgelehnt wurde, zu. Dennoch blieben sie in der Partei, trotz des neu verabschiedeten Programms, trotz der Wiederwahl von Personen wie Sahra Wagenknecht in Schlüsselpositionen, trotz allem, was ihrem Selbstverständnis als Teil einer „breiten demokratischen Bewegung“ widerspricht. Sie sind nach wie vor bereit, an Demonstrationen mit Slogans wie „Danke Russland für die Befreiung von Aleppo!“ teilzunehmen und lesen Zeitungen, deren Redakteure – natürlich bloß „unter anderem“ – die schwersten Verbrechen des stalinistischen Regimes leugnen. Solche Beispiele zeigen deutlich, wie das Phänomen des „trotzdem dazugehören“ zu einem integralen Bestandteil des kollektiven Konstrukts wird, das sich „linke Bewegung“ nennt. In den abschließenden Kapiteln dieser Analyse soll versucht werden, näher zu erklären, wie sich die Position der moralischen Überlegenheit aus dem Akzeptieren einer linken Identität ergibt.

Zusammenfassend lässt sich argumentieren, dass die deutsche radikale Linke das russische Propaganda-Narrativ über die Ukraine mitsamt seinen dreistesten Lügen übernommen hat. Zuerst dachten viele Leute (und auch ich), das sei eine Art Verirrung, die zwar schrecklich, aber ihrem Wesen nach eher zufällig war, und dass die Situation korrigiert werden könne, indem man die eklatantesten Verzerrungen der linken Wahrnehmung beseitigt, die Fakten abwägt und eine sorgfältige Aufklärungsarbeit leistet. Doch fünf Jahre nach Beginn des Maidan führt die Analyse der Situation zu nüchternen Schlussfolgerungen: Der Gedanke Verirrung war falsch. Es geht um etwas anderes, und dieses Andere bedarf der Erklärung, der historischen Kontextualisierung und eines gründlichen Verständnisses.

Keine einzige deutsche linke Zeitung hat sich für die Verbreitung falscher Behauptungen über die Ukraine entschuldigt, obwohl der Löwenanteil solcher Beiträge durch einen einfachen Faktencheck vor der Veröffentlichung, der nicht einmal Kenntnisse der ukrainischen oder russischen Sprache erforderte, hätte unterbunden werden können. Dietmar Bartsch, Co-Vorsitzender der Fraktion der Partei DIE LINKE im Deutschen Bundestag, hat seine Erfindungen über die nach Joseph Goebbels benannte Parteischule in der Ukraine nicht bedauert. Auch von seinen Parteikollegen hörte er keine Kritik, zumindest gibt es in öffentlichen Quellen keinen Hinweis darauf. Angesichts der Tatsache, dass es in der Ukraine überhaupt keine Parteischule gibt, erscheint Goebbels’ Schatten eher aufgrund von Bartschs eigenen Äußerungen, insbesondere wenn man bedenkt, dass sie wenige Wochen nach der russischen Invasion in den Donbas im August/September 2014 getätigt wurden. Die unbegründeten Äußerungen der anderen Co-Vorsitzenden der Partei DIE LINKE, Sahra Wagenknecht, während der parlamentarischen Debatte über die Finanzierung des Maidan mit fünf Milliarden US-Dollar sind noch immer unkommentiert auf ihrer Website zu finden.12 Trotz gründlicher Widerlegung dieser von der russischen Propagandamaschine geschaffenen Lüge (z. B veröffentlichte eine der meistgelesenen deutschen Zeitungen im Mai 2015 darüber),13 existiert sie in linken Kreisen immer noch: auf die Erwähnung von „Milliarden US-Dollar an umstürzlerische Gruppen in der Ukraine“ konnte man noch Ende 2018 in deutschen linken Medien stoßen.14 Die Erklärung, in der der Dreizack im ukrainischen Wappen zum „Nazi-Symbol“ erklärt wurde, wurde heimlich von der offiziellen Website der Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE entfernt, aber es gibt in offenen Quellen keinen Hinweis auf eine Entschuldigung seitens der Parteifunktionäre.

Und obwohl der Unsinn über die Ukraine sowie die Besessenheit, mit der er geäußert wurden, im Vergleich zu 2014 etwas abgenommen haben, liegt dies neben Änderungen im Propagandanarrativ Russlands eher an einer gewissen „Ukraine-Müdigkeit“ der deutschen Linken als an einer grundlegenden Revision ihres Weltbildes. Dem ausgetretenen Weg folgend, hörten deutsche linke Zeitungen im Sommer 2018 nicht auf, Artikel mit der Schlagzeile „Wie Nazis in Kiew die Oberhand gewinnen“ zu veröffentlichen, von denselben Autoren, in deren Beiträgen die „Kiewer Nazis“ vor langer Zeit alle denkbaren Siege errungen hatten.15 Der Spendenfluss an die „Antifaschisten des Donbass“ ist inzwischen zurückgegangen, aber die entsprechenden Aufrufe finden sich immer noch auf den Websites selbst der angesehensten deutschen linken Organisationen.16 Autoritäten wie die linke Gruppe Banda Bassotti veranstalten weiterhin Konzerte zur Unterstützung „der Antifaschisten des Donbas“, als hätte es keine Aufklärungsarbeit über die Besonderheiten des „Antifaschismus“ in den dortigen „Volksrepubliken“ gegeben.17 Das vielleicht aussagekräftigste Beispiel für die Stimmung in diesem Milieu ist ein langer Artikel in einer der führenden linken Zeitungen Deutschlands, in der Jungen Welt, der „aufdeckt“, dass der Holodomor nicht wirklich stattgefunden habe, alles „nationalistische antikommunistische Lügen“ seien. Der Artikel trug den Titel „Der erfundene Völkermord“.18 Die Souveränität der Ukraine hingegen sah der Sprecher für Osteuropa der Fraktion der Partei DIE LINKE 2018 wie folgt: „Die Souveränität der Ukraine entspricht etwa der Souveränität eines dreijährigen Kindes, in Abhängigkeit von seiner Mama.“19 Es ist also müßig, hier auf einen grundlegenden Wandel zu hoffen. Natürlich werden diese Umstände für diejenigen ukrainischen und weiteren Leser, die mit der linken Bewegung sympathisieren, äußerst unangenehm sein, aber wichtiger als die Hoffnung auf künftige Veränderungen sollte der, wenn auch nicht schmerzlose, so doch aber ehrliche Versuch sein, die aktuellen Ereignisse zu verstehen. In diesem Fall – am Beispiel der linken Bewegung in Deutschland.

In Deutschland aber finden auch 2018 unter Beteiligung von Bundestagsabgeordneten der Partei DIE LINKE Veranstaltungen statt, in denen sie den Putsch und die Junta anprangern, und als Redner lädt man Leute wie Sergei Kirichuk ein, den Führer der stalinistischen Organisation „Borotba“ (Kampf), dem nach einem gescheiterten Versuch, die „Volksrepublik Charkiw“ zu leiten, nicht ohne die Unterstützung seiner linken Genossen politisches Asyl in Deutschland gewährt wurde.20 Das im Sommer 2017 neu verabschiedete Parteiprogramm von DIE LINKE erwähnt in einem Abschnitt zur Ukraine die Interessen Russlands dreimal, die Interessen der Ukraine kein einziges Mal.21 Die Partei drängt nach wie vor auf den Austritt Deutschlands aus der NATO und die Schaffung eines neuen Systems der kollektiven Sicherheit – im Bündnis mit Russland, also dem Land, das mit militärischer Gewalt das bisherige Sicherheitssystem, das 1975 durch die Schlussakte von Helsinki errichtet und 1990 durch die Charta von Paris für ein neues Europa neu bekräftigt wurde, zerstört hat. Nach wie vor fordert die Partei DIE LINKE in ihren Entschließungen vom Deutschen Bundestag, „dem Narrativ einer russischen Aggression als Ursache des Konflikts [im Donbas] entgegenzutreten.“22 Ziel echter Friedenspolitik, so erklärt Sahra Wagenknecht, Co-Vorsitzende der Bundestagsfraktion, müsse sein, „alles zu vermeiden, was in Russland als Provokation empfunden werden kann“.23

Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang die Zusammenarbeit der Partei DIE LINKE mit russischen Propagandasendern wie Sputnik und insbesondere RT Deutsch. 2014 als deutscher Ableger von Russia Today gegründet, hat sich RT Deutsch schnell zu einem der wichtigsten Mittel entwickelt, um Antisemiten zu legitimieren, Verschwörungstheorien und „Sensationen“ über fiktive Migrantenverbrechen zu verbreiten und vieles mehr.24 Im Studio sind regelmäßig nur zwei der im Bundestag vertretenen Parteien zu Gast: die Partei DIE LINKE und die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD).25 Es handelt sich um eine Art „kumulative Symbiose“: Die Gesprächspartner des Senders (Landtagsabgeordnete, Bundestagsabgeordnete, Europaparlamentarier) verleihen dieser in allem anderen sonst eher marginalen Medienquelle durch ihren Status Wichtigkeit, und der auf diese Weise legitimierte TV-Sender wird zur Quelle von „alternativer“ Information für Sympathisanten der Partei DIE LINKE und der AfD und bietet den Funktionären dieser Parteien auch eine feste Adresse für ihre Verweise auf „seriöse Quellen“. Oskar Lafontaine, Veteran und Mitbegründer der Partei DIE LINKE und Ehemann von Sahra Wagenknecht, kämpft auf Facebook regelmäßig gegen die „Lügenpropaganda der amerikanischen Kriegspartei“, die angeblich die Presse „vieler Länder“ dominiert, und empfiehlt seinen Lesern, sich das entlarvende Video auf RT Deutsch anzusehen, das angeblich „Tag für Tag die Weltmeinung vergiftenden Propagandalügen des US-Imperialismus“ aufdecke.26

Als die israelische Armee die „Weißhelme“ vor russischen Luftangriffen und Assads iranischen Verbündeten retten musste, und die Bundesregierung zustimmte, bis zu acht von mehreren hundert Geretteten Asyl zu gewähren, kritisierte die stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE Heike Hänsel die Regierungsentscheidung scharf.27 Es ist gut möglich, dass sie tatsächlich am meisten über das Vorgehen Israels empört war (sie hat auch früher wiederholt – selbst für ein Mitglied der Partei DIE LINKE – „flammende“ Gefühle für dieses Land gezeigt). Aber in diesem Zusammenhang ist noch etwas anderes von Bedeutung. Alle von Frau Hänsel erhobenen Anschuldigungen stammen von Russia Today und seinen Tochterunternehmen wie RT Deutsch.28 Bei der Durchführung von Kampagnen gegen die „Weißhelme“ (die nicht nur den Opfern halfen, sondern auch die Kriegsverbrechen der von Assad kontrollierten Verbände dokumentierten), forderte der russische Fernsehsender, dass Assad und Russland gerichtlich zur Verantwortung ziehen sollten.29

Das Ausmaß der pro-russischen Stimmung in der Partei ermöglicht es beispielsweise einem anderen prominenten Funktionär, dem früheren Parlamentssprecher der Fraktion der Partei DIE LINKE, Gregor Gysi, zu argumentieren, es wäre besser für den Rest der Welt, wenn Trump und Putin sich darauf einigen würden, Einflusssphären zu teilen.30