Redwood Dreams – Es beginnt mit einem Knistern - Kelly Moran - E-Book
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Redwood Dreams – Es beginnt mit einem Knistern E-Book

Kelly Moran

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Beschreibung

Redwood, Oregon. Wo die Liebe zu Hause ist … Der abschließende Band der Bestseller-Reihe von Kelly Moran Parker Maloney ist der Sheriff der kleinen Stadt Redwood. Und er gehört zu den wenigen Singles des Ortes, die nicht Reißaus nehmen, wenn das sogenannte Drachentrio im Anmarsch ist – drei ältere Damen, die schamlos kuppeln. Er hätte nämlich gar nichts dagegen, verkuppelt zu werden – zumindest bis Maddie Freemont wieder in Redwood auftaucht, seine Erzfeindin aus Highschool-Zeiten. Sie ist die einzige, die ihn mit nur ein paar Worten aus der Fassung bringen kann. Er würde sie am liebsten erwürgen. Oder küssen. Egal, solange sie nur die Klappe hält … Humorvoll, emotional und sexy – eine Liebesgeschichte zum Wohlfühlen!

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Kelly Moran

Redwood Dreams – Es beginnt mit einem Knistern

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Anita Nirschl

 

Über dieses Buch

Stadt, Land, Liebe

 

Parker Maloney ist der Sheriff der kleinen Stadt Redwood. Und er gehört zu den wenigen Singles des Ortes, die nicht Reißaus nehmen, wenn das sogenannte Drachentrio im Anmarsch ist – drei ältere Damen, die schamlos kuppeln. Er hätte nämlich gar nichts dagegen, verkuppelt zu werden – zumindest bis Maddie Freemont wieder in Redwood auftaucht, seine Erzfeindin aus Highschool-Zeiten. Sie ist die Einzige, die ihn mit nur ein paar Worten aus der Fassung bringen kann. Er würde sie am liebsten erwürgen. Oder küssen. Egal, solange sie nur die Klappe hält ...

 

Humorvoll, emotional und sexy – eine Liebesgeschichte zum Wohlfühlen!

Vita

Kelly Moran lebt mit ihren drei Söhnen in South Carolina, in den Südstaaten der USA. Sie gehört der Autorenvereinigung der Romance Writers of America an und wurde schon mit diversen Preisen ausgezeichnet. Ihre Trilogie «Redwood Love» über drei Tierärzte in einem kleinen Ort in Oregon wurde von Kritikern und Lesern begeistert aufgenommen. So urteilte beispielsweise die RT Book Reviews über Band 1: «So voller Wärme und Gefühl, dass man sich unweigerlich verliebt ...» Die Bücher standen etliche Wochen auf der Bestsellerliste des Spiegels. Mit «Redwood Dreams» wurde die Erfolgstrilogie um zwei Spin-off-Bände ergänzt, bevor mit «Wildflower Summer» eine neue zweibändige Reihe folgt.

Für Jacki, die seit zwanzig Jahren eine meiner engsten, liebsten Freundinnen ist. Sie bringt mich zum Lachen, bei ihr darf ich weinen, und sie lässt nie zu, dass ich glaube, irgendetwas nicht schaffen zu können. Sie ist ein hinreißender, gütiger, kluger, wunderbarer Mensch. Die Welt braucht mehr Leute wie sie. Und bis zu diesem Jahr hatte sie zu viel Angst davor, eines meiner Bücher zu lesen, falls sie ihr nicht gefallen würden – obwohl ich ihr gesagt habe, dass ich nicht gekränkt wäre. Schließlich hat sie ihre ‹Buch-Unschuld› an meine Redwood-Serie verloren. Jetzt verlangt sie, dass ich noch mehr schreibe. Typisch. (Erleichterter Seufzer.) Jacki, ich bin so froh, dass du den Sprung gewagt und die erste Seite aufgeschlagen hast. Ich liebe dich bis zum Mond und wieder zurück.

Kapitel 1

Parker Maloney legte den Kopf in den Nacken und starrte in den kobaltblauen Himmel, der so strahlend war, dass es ihm fast die Netzhaut versengte. Keine Wolke in Sicht. An den Eichen und Ahornbäumen, die die ruhige Vorstadtstraße säumten, färbten sich etliche Blätter rot und orange, Vorboten des Jahreszeitenwechsels. Einige flatterten bereits über die Straßen und Gehwege, trotz des herrlichen Sonnentages, der ihr kleines malerisches Städtchen in warmes Licht tauchte. Der Morgennebel, der in dieser Gegend zwischen den Klamath Mountains und dem Pazifik üblich war, hatte sich bis zum Nachmittag aufgelöst und nichts als den salzigen Geruch des Meeres zurückgelassen. Eine Taube gurrte, Grillen zirpten, und ein leichter Wind strich sanft über das Gras.

Dieser Tag entwickelte sich beschissen. Wortwörtlich.

«Ihr Köter hat Aa in meinen Garten gemacht, Parker. Tu was.»

Da. Wortwörtliche Scheiße.

Was er tun sollte, war, die dreiunddreißigjährige Hausfrau dafür zu verhaften, dass sie ‹Aa› sagte, als ob er sie danach noch ernst nehmen könnte. Mrs. Granger war ein paar Klassen über ihm in der Schule gewesen, und sie war schon damals ein eingebildeter Snob. Manche Dinge änderten sich wohl nie, nahm er an. Ihre rotblonde Mähne war ordentlich frisiert, ihr Make-up erinnerte an Pennywise, und ihre roten Fingernägel stammten möglicherweise von Freddy Krueger. Außerdem funkelte sie ihn an, als wäre er ihr Untergebener.

«Wagen Sie es nicht, mein Baby einen Köter zu nennen. Cersei ist ein reinrassiger Springer Spaniel.»

Das kam von Mrs. Edgewater, die eher sein Fall war. Sie trug das strubbelige braune Haar lässig mit einer Klammer hochgesteckt, Jogginghose und ein T-Shirt mit einer Kaffeetasse drauf. Sie und ihr Mann waren erst vor kurzem aus Seattle hierhergezogen.

«Wie auch immer. Sie haben sie nach der meistgehassten Figur in Game of Thrones benannt. Das sagt doch alles.»

Punkt für Mrs. Granger.

«Wenigstens sieht mein Hund nicht aus wie etwas, das von einer Katze rausgewürgt wurde.»

Und Treffer unter der Gürtellinie durch Mrs. Edgewater.

Während die beiden Frauen weiterzankten, seufzte Parker schwer. Er schaute von dem beschuldigten Vierbeiner, der seelenruhig, kein einziges schwarz-weißes Härchen gesträubt neben seinem Frauchen saß, zu dem braunen Chihuahua auf dem Arm der anderen Hundebesitzerin, knurrend, zappelnd und zähnefletschend, als wäre er tatsächlich eine Bedrohung und nicht nur so groß wie eine Walnuss.

An manchen Tagen sollte man morgens einfach nicht aufstehen. Er hatte in den drei Jahren, die er nun schon Sheriff von Redwood war – die sieben Jahre zuvor als Polizeibeamter nicht mitgerechnet –, schon einige banale, lächerliche Einsätze gehabt, aber dieser hier war dicht dran, den Vogel abzuschießen. Zugegebenermaßen gab es in einer verschlafenen Bilderbuchstadt mit achtzehnhundert Einwohnern auch nicht viel Verbrechen. Abgesehen von Hundekacke, natürlich.

Diese Angelegenheit nahmen die zwei beteiligten Parteien nun offensichtlich sehr ernst, was bedeutete, dass er sie auch ernst nehmen musste. Das war sein Job, und er brachte ihm Respekt entgegen – selbst wenn er manchmal der Einzige war.

«Ladys», sagte er ruhig und hob beschwichtigend die Hände. Zum Glück hörten sie auf zu streiten. «Warum zeigen Sie mir nicht erst mal das fragliche Beweisstück, und dann können wir den Fall hoffentlich lösen.»

Hatte er gerade wirklich Hundescheiße als Beweisstück bezeichnet? Tja, da ging sie hin, jegliche Hoffnung, bei diesem Einsatz seine Selbstachtung zu bewahren. Bye-bye. Adios. Weggeschleppt von einem der Eichhörnchen, die in den Vorgärten hektisch nach Nüssen suchten, um sich auf den Winter vorzubereiten.

Das Chihuahua-Frauchen nickte nachdrücklich. «Ja, sehr gut. Komm und sieh es dir selbst an.»

Er konnte es kaum erwarten.

Als er den Frauen zwischen ihren kleinen weißen Häusern hindurch folgte, hielt er den Blick sorgsam auf den sauber gestutzten Rasen gerichtet, um nicht in weitere Beweisstücke zu treten. Im hinteren Garten angekommen, blieben sie an einem Punkt stehen, der ziemlich genau die Grundstücksgrenze sein musste.

«Siehst du? Ich habe den Beweis liegen gelassen.»

Sein Blick folgte der Richtung, in die sie zeigte, zu einem Haufen … na ja, Scheiße. Es war tatsächlich Scheiße. Ein kleiner Haufen. Genau genommen schien er zu klein zu sein, um von dem Springer Spaniel zu stammen. Er selbst hatte zu Hause einen Border-Collie-Mischling aus dem Tierheim, der nun schon seit drei Jahren sein treuer Kumpel war. Domino war ungefähr genauso groß wie der Beschuldigte. Und seine Haufen waren doppelt so groß wie der hier.

Er konnte nicht glauben, dass er gerade tatsächlich die Maße von Hundekot untersuchte. Trotzdem sah er die Besitzerin des Spaniels ernst an. «Sie haben in Ihrem Garten nicht zufällig ein Exemplar von …» Er machte eine Geste in Richtung des Haufens.

«Klar. Ich habe die Kacke von heute Vormittag noch nicht weggemacht.» Sie ging ein paar Schritte auf ihre Seite des Grundstücks und deutete auf einen viel größeren Haufen im Gras.

Wie er sich gedacht hatte. Er drehte sich zu dem Chihuahua-Frauchen um und räusperte sich. «Das …» Zögernd ließ er den Kopf kreisen. «Das Aa ihres Hundes ist deutlich größer als der Haufen, den du mir gezeigt hast.»

Was für ein großartiger Detective er doch war. Jemand sollte ihm eine Medaille verleihen. Und zwar pronto.

«Und das war’s? Du willst nichts unternehmen?»

«Ich fürchte, da gibt es nichts zu unternehmen. Vielleicht wäre es eine gute Idee, einen Zaun zwischen den Grundstücken hochzuziehen oder eine Reihe Büsche zu pflanzen? Das sollte einen weiteren Konflikt darüber verhindern, wessen Hund wo sein Geschäft verrichtet.» Trennung von Kirche und Staat. Und somit keine Scheiß-Anrufe mehr in seiner Station.

«Unglaublich!»

Der Meinung war er auch. Mit einem respektvollen Winken wandte er sich zum Gehen.

«Ich werde mich bei der Bürgermeisterin beschweren.» Sie stampfte mit dem Fuß auf, was den Hund auf ihrem Arm dazu veranlasste, etwas zu imitieren, das einem Krampfanfall verdächtig ähnlich sah. «Sie wird von mir alles über diese Sache hier hören.»

Sich nach Kräften ein Grinsen verkneifend, nickte er. Marie, die Bürgermeisterin von Redwood, war eine der drei Frauen, die als das Drachentrio bekannt waren. Marie und ihre beiden Schwestern regierten diese Stadt mit eiserner Faust, Haferkeksen und einem ausgeprägten Hang zur Kuppelei. Sie hatten im Lauf der Jahre schon unzählige Paare zusammengebracht, ihr jüngstes Opfer war sein bester Freund Jason gewesen. Parkers Schwester Paige war Maries Assistentin. Es war außerordentlich selten, dass Marie ihn in polizeilichen Angelegenheiten in Frage stellte.

Weil er gut in seinem Job war.

«Das ist dein gutes Recht.» Noch mal winkte er. «Tut mir leid, dass ich nicht hilfreicher sein konnte. Ich wünsche einen schönen Tag, Ladys. Reizendes Wetter haben wir heute.»

Er ging zu seinem dunkelblauen an der Bordsteinkante geparkten Polizeiwagen und setzte sich hinters Lenkrad. Finster starrte er das Funkgerät an und zögerte, das Mikro zu nehmen und Meldung zu machen. Er konnte praktisch schon hören, wie seine Leute kicherten wie Hyänen.

Ein tiefes Seufzen, dann nahm er das Mikro. Wenn du sie nicht schlagen kannst … «Die Scheiß-Show ist beendet. Mache mich auf den Weg zurück zur Station, bevor sie noch eine Zugabe wollen.»

Das Funkgerät knackte, und gute zehn Sekunden lang hörte er nichts als Gelächter, bevor Sherry, ihre Bürokraft, antwortete. «Verstanden. Gab es irgendwelche Probleme, Sir? Vielleicht gefährliche Dampfentwicklung?»

Er verdrehte die Augen über dieses Wortspiel. «Negativ.»

Sein Handy klingelte auf dem Beifahrersitz, und er warf einen Blick aufs Display. Paige. Seine Schwester rief ihn tagsüber normalerweise nicht an. Mit einem Wisch ging er ran, während er die Lautstärke des Funkgeräts runterdrehte, um das Gelächter zu dämpfen.

«Hey, tut mir leid, dich zu stören, aber ich habe ein Problem. Zwei Probleme, um genau zu sein.»

Tja. Das war’s, was er war. Ein Problemlöser. «Was ist los?»

«Ich glaube, Marie führt was im Schilde.»

Er stieß ein Schnauben aus. «Wir reden hier von der Bürgermeisterin und der Chefin des Drachentrios. Sie führt immer was im Schilde.»

«Na ja, ich glaube, diesmal hat es mit mir zu tun. Ich befürchte, dass ich ihr nächstes Kuppelopfer bin.»

Es kostete ihn all seine Kraft, aber er schaffte es, nicht zu lachen. Die Einwohner von Redwood bezeichneten sich stets als Opfer, wenn sie in die Schusslinie von Amors Pfeil gerieten, abgefeuert vom Drachentrio. Sie rannten davon. Sie versteckten sich. Sie wehrten sich. Aber am Ende wurden sie immer getroffen.

Er war der Sheriff. Er kam viel herum. Er sah und hörte Dinge, die andere Leute nicht mitbekamen. Und die schlichte Wahrheit war, dass nicht ein einziges ‹Opfer› unglücklich zurückblieb, nachdem die Drachen mit ihm fertig waren. Er musste sich vor diesen Frauen verneigen. So absurd die Paarungen teils erschienen und so widrig die Umstände auch sein mochten, am Ende fanden sich dabei zwei Seelenverwandte. Wenn er nur mal so viel Glück hätte. Das Trio verringerte mit seinen Aktionen mühelos die Depressionsrate. Es war regelrecht unheimlich.

Und Paige? Sie konnte ein wenig Glück in ihrem Leben gebrauchen. Ihr Arschloch von Ex-Freund hatte sich aus dem Staub gemacht, als sie ihm gesagt hatte, dass sie schwanger war. Sie hatte ihm zwei Wahlmöglichkeiten gelassen. Bleiben und ihre Tochter gemeinsam großziehen, oder gehen und nie wiederkommen. Er hatte sich für die zweite Möglichkeit entschieden. Das war jetzt fast acht Jahre her. Seitdem hatte sie sich gelegentlich mit anderen Männern verabredet, aber nichts Ernstes war daraus entstanden, bis …

Moment mal. «Ich dachte, du bist mit Erik zusammen.» Erik leitete die Küche im Shooters. Er und seine Schwester Emma Jane hatten die Bar übernommen, als ihr Onkel sich in den Ruhestand zurückzog. Soweit Parker sich erinnerte, hatte Paige Eriks Namen zum ersten Mal Anfang dieses Sommers erwähnt.

«Bin ich auch! Inzwischen ist die Sache zwischen uns von etwas Lockerem zu etwas Ernstem geworden. Daher das Problem. Ich kann mich nicht mit jemand anders verkuppeln lassen.»

Parker kniff sich in den Nasenrücken. «Wenn Marie weiß, dass du mit jemandem zusammen bist, dann funkt sie dir nicht dazwischen.»

«Ach nein? Warum hat sie mich dann gebeten, heute Abend länger zu bleiben?»

«Es ist doch nicht so ungewöhnlich, dass sie –»

«Ihr Büro umräumt? Sie will, dass ich länger bleibe, um ihr Büro umzuräumen, Parker. Sie sagte, sie braucht mehr Feng-Shui. In den sieben Jahren, in denen ich ihre Assistentin bin, hat sie noch nicht mal einen Briefbeschwerer woanders hingestellt.»

Das klang tatsächlich verdächtig. Marie achtete sorgfältig darauf, ihre Mitarbeiter nicht mit Arbeit zu überlasten, sogar während Wahljahren. Außerdem war Paige kein kreativer Mensch. Verdammt, als sie ihre gemütliche Dreizimmerwohnung ein paar Häuser weiter von Mom und Dad gekauft hatte, war Parker derjenige gewesen, der die Möbel und Wandfarben ausgesucht hatte. Auf ihr Drängen hin.

«Dazu fällt mir wirklich nichts ein, Paige. Tut mir leid.» Kurz drehte er die Lautstärke des Funkgeräts hoch, um sicherzugehen, dass seine Leute nicht versuchten, ihn zu erreichen. Sie rissen immer noch Witze auf seine Kosten. Seufzend drehte er die Lautstärke wieder runter.

«Was war das?»

«Nur ein paar Polizisten, die kurz davor sind, im Dienst an Sichtotlachen zu sterben.»

«Was?»

«Ach, nichts.» Er lehnte den Kopf an den Sitz. «Ich würde Marie gegenüber einfach erwähnen, dass es zwischen dir und Erik wirklich gut läuft. Dann hört sie bestimmt auf. Was ist dein anderes Problem? Du sagtest, du hast zwei.»

«Problem eins bewirkt Problem zwei. Kannst du Katie von der Schule abholen? Ich habe nicht damit gerechnet, so lange arbeiten zu müssen, also habe ich keinen Platz in der Nachmittagsbetreuung im Freizeitzentrum für sie reserviert. Marie schlug vor, dass ich dich anrufe, als ich versucht habe, mich aus der Sache rauszuwinden. Was auch merkwürdig ist.»

Es war tatsächlich komisch, dass Marie seine Dienste auf diese Weise anbot. Katie war Paiges Tochter und Parkers liebster Mensch auf der ganzen Welt. Er verbrachte viel Zeit mit seiner Nichte, aber er konnte sich nicht erinnern, dass Marie je versucht hätte, sie ihm aufzuladen.

Wie dem auch sei … «Also, das Problem ist leicht zu lösen. Ja, kann ich.» Er schaute auf seine Uhr. «Mist. Die Schule ist schon in fünf Minuten aus.» Er würde es nie rechtzeitig ans andere Ende der Stadt schaffen.

«Ihre Lehrerin meinte, sie würde bei ihr bleiben, bis du dort bist. Sie muss sowieso noch einen Test korrigieren.» Paige machte eine Pause, und an deren Länge merkte er, dass sie immer noch frustriert war. «Tut mir leid, dass ich dich so kurzfristig frage. Mom und Dad sind auf ihrer Kreuzfahrt, und Eriks Schicht hat schon angefangen. Ich weiß nicht, wie lange ich brauchen werde. Das letzte Mal, dass ich Möbel umstellen musste, war … noch nie.»

Grinsend legte er seinen Sicherheitsgurt an und verband sein Handy über Bluetooth mit der Freisprecheinrichtung. «Entspann dich. Ich kümmere mich um Katie. Sie kann heute Nacht bei mir schlafen.» Sein Gästezimmer war für genau solche Gelegenheiten für seine Nichte eingerichtet. Er überprüfte mit einem Schulterblick den toten Winkel, dann fuhr er los. «Und dass du mir keine zu schweren Sachen allein herumrückst, verstanden?»

«Werd ich nicht. Danke, Parker.»

«Dank mir lieber nicht. Vermutlich werde ich sie morgen mit einer Überdosis Zucker wieder nach Hause bringen.»

«Rache ist süß.» Im Hintergrund raschelte Papier. «Hast Glück, dass ich dich lieb hab.»

«Hab dich lieber. Viel Spaß.»

Er hörte sie noch ein paar Flüche murmeln, dann legte sie auf, und er funkte die Station an, um sie wissen zu lassen, dass er sich abmeldete. Die Hysterie hatte sich offensichtlich gelegt, denn Sherrys Stimme hatte wieder ihren normalen, angenehmen Tonfall, und im Hintergrund waren keine Hyänen mehr zu hören.

Er ließ die Vorortstraßen hinter sich und fuhr im Schneckentempo über das Kopfsteinpflaster der Main Street. Die Straßenlaternen waren mit Maiskolben und Kürbissen dekoriert, und in den Blumenkästen blühten Chrysanthemen in den unterschiedlichsten Farben. Aus vielen der Läden mit ihren reizenden Markisen winkten ihm Leute zu, und er nickte grüßend zurück.

Es waren dieselben Leute, mit denen er aufgewachsen war, dieselben Anblicke, Geräusche und Gerüche. Nur wenig hatte sich verändert, seit er ein kleiner Junge gewesen war. Manche Gesichter waren gealtert, andere schienen von der Zeit unberührt geblieben zu sein, und ein paar wenige waren neu, aber die idealistische Kleinstadtmentalität hatte sich gehalten. In Redwood kümmerte man sich umeinander. Man brauchte nur zu fragen, und schon tauchten ein Dutzend Freiwillige auf, um ihre Hilfe anzubieten. Eltern konnten ihrer Kinder hier sorglos herumstromern und spielen lassen, wie Kinder es eben tun sollten. Jeder kannte jeden, ihre Namen, Geschichten und Angelegenheiten. Der Kummer, die Freude oder die Erfolge eines Einzelnen gehörten nicht nur ihm allein. Sie gehörten allen. Privatsphäre war hier eher eine schöne Illusion. Klatsch und Tratsch hingegen waren eine Lebensart, der Treibstoff, der die Stadt am Laufen hielt. Wenn er auch nur nieste, tauchten Tupperdosen mit Hühnersuppe vor seiner Türschwelle auf. Alle hausgemacht und noch warm vom Topf.

Zugegeben, manchmal konnten die Leute in dieser Kleinstadt auch ganz schön engstirnig sein. Doch hier war Menschlichkeit nicht einfach nur ein Wort im Lexikon.

Es gab keinen Ort, wo er lieber wäre, und nicht das Geringste, das er ändern würde. Einmal hatte er kurz darüber nachgedacht, in eine größere Stadt zu ziehen, mehr Action zu suchen. Das hatte genau null Komma sieben Sekunden lang gedauert. Jenseits von Redwood mochte es zwar Abenteuer geben, aber er würde die Sicherheit des Alltäglichen und das Gefühl von Familie dem Adrenalin jederzeit vorziehen.

Er bog auf den so gut wie leeren Parkplatz der Schule und stieg aus dem Wagen. Eine Welle der Nostalgie überrollte ihn trotz der vielen Male, die er seit seiner Schulzeit hier gewesen war, zum Beispiel wenn er Katie abgeholt hatte. Das einstöckige Ziegelgebäude war nach Osten ausgerichtet, sodass in den Großteil der Räume jeden Morgen Sonnenlicht fiel, und das Innere roch für immer nach Klebstoff und Kreide.

Hinter dem Gebäude lag der Spielplatz, vom Parkplatz aus nicht sichtbar, wo er und Jason mit ihren Streichen bei den Lehrern Chaos gestiftet hatten. Unter dem Klettergerüst hatte er mit vierzehn seinen ersten Kuss bekommen. Eine Wette, zu der sie von den anderen Jugendlichen angestiftet worden waren, natürlich.

Madeline Freemont. Er lächelte. Also das war ein Name, der ihm schon lange nicht mehr in den Sinn gekommen war. Er fragte sich, warum er jetzt wieder an sie dachte. Sie war als Mädchen ein bezaubernder, blonder, blauäugiger Satansbraten gewesen. Und mit Satansbraten meinte er, wortwörtlich, das Kind des Teufels, mit Foto im Lexikon und so. Sie hatte ihm in der Pause die Mütze geklaut und war dann damit weggerannt. Jeden Tag. Sie hatte ihn gnadenlos mit Spötteleien und Beleidigungen gepiesackt. Sie hatte im Unterricht gegen seinen Stuhl getreten. Stundenlang. Aber von alldem einmal abgesehen, war der Kuss schnell, süß und gnädig gewesen. Alles, was sie nicht war.

Kopfschüttelnd verdrängte er die verirrte Erinnerung, riss die Eingangstür auf und betrat das Gebäude. Seine Schuhe quietschten, als er durch den Eingangsbereich ging, am Sekretariat vorbei und den Flur entlang zur Klasse seiner Nichte.

Als er in den Raum spähte, entdeckte er die Lehrerin an ihrem Pult, Blätter vor sich und einen roten Stift in der Hand, und Katie auf einer Spielmatte in der Ecke mit einem Teeset aus Plastik. «Klopf, klopf.»

«Onkel Parker!» Katie sprang auf die Füße, rannte ihm entgegen und sprang in seine Arme.

Grinsend betrachtete er ihre lebhaften grünen Augen und das wellige schwarze Haar, das ihr bis knapp über die Schultern reichte. Beides waren Merkmale der Maloney-Familie väterlicherseits, aber diese runden Wangen und das Lächeln waren ganz seine Mom. Süßes kleines Teufelchen. Ein Stechen brannte hinter seinen Rippen, als er sie an sich drückte. Eines Tages wollte er eine ganze Horde winziger Menschlein genau wie sie haben. Doch leider hatte er die richtige Frau dafür noch nicht gefunden. Er war kurz davor gewesen, aber es hatte einfach nie zu hundert Prozent gepasst. Und obwohl er sich eine eigene Familie wünschte, wäre es für niemanden gut, sich mit jemanden zufriedenzugeben, der einfach nicht richtig war.

«Na, was gibt’s, Sumpfplumps?» Ein Spitzname, den er ihr als Baby gegeben hatte, weil sie so gern Hoppe, hoppe, Reiter spielte. Inzwischen war sie nicht mehr so begeistert.

Sie verdrehte die Augen und sah Paige dadurch von Sekunde zu Sekunde ähnlicher. «Ich warte nur, dass ich nach Hause kann.»

Er lachte. «Wie wär’s, wenn du heute Abend mit zu mir kommst? Ich brauche deine Hilfe bei Domino. Der arme Hund nervt mich ständig damit, wie sehr du ihm fehlst. Ich halt es kaum noch aus.»

«Mom muss länger arbeiten, was?»

Leise lachend lehnte er seine Stirn an ihre. «Das auch. Aber das mit dem Hund meine ich ernst. Tag und Nacht geht es immer nur ‹Katie dies› und ‹Katie das›.»

Ihre Augenbrauen schnellten zweifelnd hoch. «Hunde können nicht reden.»

«Woher willst du das wissen? Vielleicht ist er richtig schlau und verheimlicht es.»

«Er trinkt aus der Toilette und jagt seinen eigenen Schwanz. Er ist nicht schlau.»

Das erntete ein Lachen ihrer Lehrerin.

Er winkte der jungen Brünetten, die frisch vom College kam, über Katies Schulter hinweg zu. Es war ihr erstes Jahr in diesem Beruf. Die Schüler schienen sie wirklich zu mögen. Sie hatte Redwood verlassen, um in Washington aufs College zu gehen, aber wie viele andere war sie zu ihren Wurzeln zurückgekehrt. «Wie geht’s, Miss Reilly? Danke, dass Sie noch geblieben sind, bis ich kommen konnte.»

«Oh, kein Problem. Sie ist ein richtiger Schatz.»

«Pfft.» Er sah seine Nichte an. «Die hast du ja ganz schön hinters Licht geführt.»

Sie zuckte mit den Schultern. «Ich bin bezaubernd. Das sagen alle.»

Er warf den Kopf zurück und lachte. Ein herzhaftes Lachen tief aus dem Bauch heraus, das jegliche Anspannung des Tages auslöschte. Verdammt, er liebte sie unglaublich. Sieben Jahre alt, und schon keck wie mit siebzehn. Er fürchtete den Tag, an dem sie anfing, mit Jungs auszugehen. «Das bist du. Fertig? Schnapp dir deinen Rucksack, damit wir Miss Reilly nach Hause gehen lassen können.»

Gerade als er Katie wieder auf ihre Füße stellte, betrat eine Frau in einem grauen Overall und mit einem Besen in der Hand den Raum und blieb wie angewurzelt stehen. Vertraute blaue Augen wurden groß wie Untertassen, als sie von Miss Reilly zu ihm und wieder zurück schaute.

Wenn man vom Teufel sprach.

«Maddie?» Verdammt. Wie verrückt. Eben beim Reinkommen hatte er noch an sie gedacht, und nun stand sie leibhaftig vor ihm. Und … in einer Hausmeisteruniform? «Arbeitest du hier?» Seit wann? Und warum? Sie war ein verzogenes Gör mit einem Treuhandfonds. Teufel, vor dem Skandal hatte ihrer Familie die halbe Stadt gehört. Und das hatte sie selten jemanden vergessen lassen.

Sie zog den Kopf ein, was den blonden Haarknoten auf ihrem Kopf verrutschen ließ, und vermied Augenkontakt. «Hey, Parker. Lange nicht gesehen.»

Das war untertrieben. Das Letzte, was er über sie gehört hatte, war, dass sie nach dem College in den Norden gezogen war. Das war vor drei Jahren gewesen, als ihr Vater und ihr Verlobter verurteilt worden waren. Wann zum Teufel war sie wieder zurückgekommen? Und wie hatte ihm das entgehen können?

Bevor er sie mit Fragen löchern konnte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit zum Pult. «Tut mir furchtbar leid, dass ich Sie gestört habe, Miss Reilly. Ich dachte, alle wären für heute fertig. Ich komme später wieder.»

Die Lehrerin öffnete den Mund, machte ihn dann aber schnell wieder zu, als Maddie ebenso schnell, wie sie gekommen war, wieder aus dem Raum verschwand.

«Ich habe schon ein paar Mal versucht, freundlich zu sein und Smalltalk zu machen, aber sie ignoriert mich einfach.» Miss Reilly seufzte und ließ das Kinn in die Hand fallen. «Ich weiß, dass sie mit dem Kollegium keinen Kontakt pflegen soll, aber so wegzurennen ist irgendwie extrem.»

Was? Irgendwie war er in einer anderen Dimension gelandet. Die Maddie Freemont, die er kannte – und offen gesagt fürchtete –, rannte vor nichts und niemandem davon. Sie zog nicht den Kopf ein, um eine Konfrontation zu vermeiden, nahm keine Jobs an, die sie als unter ihrer Würde betrachtete, und sie würde sich nie und nimmer in der Öffentlichkeit sehen lassen, ohne dass ihr Haar und ihr Make-up mit makelloser Präzision saßen.

«Ich wusste gar nicht, dass sie wieder in der Stadt ist. Beinahe hätte ich sie nicht erkannt.»

«Wie die Mächtigen gefallen sind.» Miss Reilly ordnete ihre Unterlagen. «Ich habe nie geglaubt, dass sie etwas mit der Betrugsmasche ihres Vaters zu tun hatte, aber da bin ich in der Minderheit. Der Schulausschuss war nur bereit, sie einzustellen, weil sie durchgehend auf Probe ist. Eine einzige Verfehlung, und sie ist weg. Das ist so ziemlich alles, was ich weiß, abgesehen davon, dass sie seit fast drei Jahren hier als Hausmeisterin arbeitet.»

«Drei …» Ihm blieb die Luft weg. «Drei Jahre?» Und er hatte keine Ahnung davon gehabt? Zugegeben, er wusste nicht über jede kleine Kleinigkeit in der Stadt Bescheid, aber an Gerüchte über eine Freemont innerhalb der Stadtgrenzen würde er sich gewiss erinnern. «Als Hausmeisterin?»

Nicht dass an diesem Job irgendetwas falsch wäre. Natürlich nicht. Harte Arbeit war harte Arbeit. Es war ein respektabler Beruf. Aber wenn eine Frau wie Maddie, die als Schülerin über den Hausmeister gespottet hatte, eine solche Stelle annahm, dann braute sich hier ein ernster Fall von What-the-fuck zusammen.

«Soweit ich gehört habe, ist es der einzige Job, den sie kriegen konnte. Sie brauchte das Geld und hat bei ihrem Vorstellungsgespräch nahezu darum gebettelt, eingestellt zu werden.»

Keine Chance, auf gar keinen Fall. Sicher, Gerüchte enthielten oft ein Körnchen Wahrheit, aber selbst wenn Gott der Allmächtige persönlich herabgestiegen wäre, um Parker diese Version der Geschichte zu erzählen, würde er sie für ausgemachten Blödsinn halten.

Stirnrunzelnd musterte er erst die Lehrerin, dann seine Nichte. Vielleicht würde er noch einen kleinen Boxenstopp einlegen, bevor er mit Katie zum Wagen ging.

Kapitel 2

«Kinder sind widerlich.»

Die in Gummihandschuhen steckenden Hände in die Hüften gestemmt, musterte Maddie Freemont die Reihe von Urinalen in einer der beiden Jungentoiletten der Schule und schüttelte den Kopf. Ganz egal, wie oft sie putzte und desinfizierte, es roch hier chronisch nach Urin. Könnte daher kommen, dass der Spruch ‹Knapp daneben ist auch vorbei› hier voll ins Schwarze traf.

Sie hatte einmal versucht, die Schulleiterin dazu zu bringen, Lufterfrischer zu kaufen, die bei jedem Drücken der Spülung Duft abgaben, aber die Frau wollte davon nichts wissen. Ihrer Meinung nach wären Lufterfrischer nicht nötig, wenn Maddie ihre Arbeit richtig machte.

Wie auch immer. Sie sprühte Reiniger auf die Fliesen und Urinale. Während der eine Minute lang einwirkte, ging sie in die Kabinen und kippte Toilettenreiniger in die Schüsseln. Und, na reizend. Die letzte Kabine hielt ein Geschenk nur für sie bereit.

Sie schnappte sich den Gummipümpel von ihrem Putzwagen und machte sich ans Werk. Gott, gurgel-wuusch-wuusch war vermutlich das widerlichste Geräusch in der Geschichte des Universums. Zum Glück floss das Wasser ziemlich schnell ab, und sie putzte die Toiletten fertig.

Während sie auf allen vieren die Urinale schrubbte, fiel ihr der kurze Wortwechsel mit Parker im Klassenzimmer vor kaum zehn Minuten wieder ein. Hitze stieg ihr in die Wangen, und die Hand, die den Schwamm hielt, begann zu zittern.

Das letzte Mal hatte sie ihn vor dem Gericht in Portland nach der Urteilsverkündung gesehen. Sein Vater war damals Sheriff gewesen. Nachdem zahlreiche Bewohner Anzeige erstattet hatten, hatte Mr. Maloney die Bundesbehörden eingeschaltet. Parker hatte gar nicht an der Untersuchung teilgenommen, trotzdem war er im Gerichtssaal gewesen, um seinen Vater und die Bewohner von Redwood zu unterstützen, die um Hunderttausende Dollar gebracht worden waren.

Sie war zu der Zeit in ihrem vierten Collegejahr gewesen und hatte inmitten des ganzen Chaos zu Beginn der Ermittlungen das Studium hingeschmissen. Sie hatte vorgehabt, eines Tages wieder zurückzugehen und ihren Abschluss zu machen, aber der Tag war nie gekommen. Obwohl das FBI mehrere Jahre gebraucht hatte, um genug Beweismaterial zusammenzutragen, und ihr Verlobter David und ihr Daddy die besten Anwälte hatten, hatten sie sich schuldig bekannt, um eine Verhandlung zu vermeiden. Weil die Beweise zu erdrückend waren, hatten sie gesagt.

Ein Tag. Achtunddreißig Monate lang hatten sie ihr immer wieder versichert, dass sie unschuldig waren, und an einem einzigen Tag war ihre Welt in sich zusammengebrochen. Sie hatte ihnen blind und töricht geglaubt, dass sie unmöglich getan haben konnten, was alle behaupteten. Und die Krönung? Sie hatte von ihrem Deal im Gerichtssaal erfahren, zusammen mit der allgemeinen Öffentlichkeit.

Ihre letzte Erinnerung an das Verlassen des Gerichtsgebäudes war Parker Maloney, wie er sie mit den Händen in den Taschen seines Anzugs und der Sonne im Rücken ernst beobachtete.

Heute hingegen hatte er sie voller Schock und Verblüffung angestarrt, mit einem kräftigen Beigeschmack von Mitleid.

In jeder Sekunde jeder Stunde wurde sie an ihren Platz erinnert. Daran, wo sie herkam und wo sie gelandet war. Die beiden Welten waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Sie hatte nichts, das sie ihr Eigen nennen konnte, und keine einzige Menschenseele, bei der sie sich über die Umstände beklagen konnte. Sie hatte gelernt, damit zu leben, ihr Schicksal sogar akzeptiert.

Aber eine einzige Begegnung, ein einziger Blick auf den heiligen Parker Maloney, und ihr Verstand kehrte an einen so dunklen Ort zurück, dass es schwer war, sich zu erinnern, wie Licht einmal ausgesehen hatte. Scham, die nicht ihre eigene sein sollte, hatte sie erfüllt, bis sie ihr aus allen Poren drang.

Sie hatte ihr Allermöglichstes getan, ihm aus dem Weg zu gehen und unter seinem Radar zu bleiben, seit sie wieder in die Stadt gezogen war. Wie es schien, war ihr Glück in dieser Sache aufgebraucht. Was bedeutete, dass sie nun gar keines mehr hatte. Sie konnte damit umgehen, dass die Bewohner der Stadt hinter ihrem Rücken redeten, sie konnte auch mit dem umgehen, was sie ihr offen ins Gesicht sagten, ebenso mit dem Hass und der Verachtung, mit der sie sie behandelten. Aber es hatte etwas besonders Niederschmetterndes an sich, dass der erste Junge, für den sie geschwärmt hatte, sie genauso sah, wie die Welt es tat.

Als wäre sie nichts. Eine Lügnerin. Eine Diebin. Weniger wert als der Kaugummi, den sie sich von den Schuhen kratzten.

Schritte quietschten im Flur, und sie konzentrierte sich wieder aufs Schrubben. Sie durfte frühestens eine halbe Stunde nach Schulschluss auf dem Schulgelände sein. Normalerweise war das Gebäude leer, wenn sie ankam, obwohl es nicht völlig ungewöhnlich war, dass ein Lehrer gelegentlich etwas länger blieb. Sie zog einfach den Kopf ein und ging demjenigen, wer auch immer noch da war, aus dem Weg. Sich auf die Zunge zu beißen und unsichtbar zu bleiben, hatte ihr erlaubt, ihren Job bisher ohne Beschwerden zu erledigen.

Nur dass die Schritte jetzt vor der Toilette anhielten. Der Schatten einer Person füllte die Tür am Rand ihres Blickfelds, aber sie starrte weiter auf die Urinale, die sie putzte, während sie sich gegen die unvermeidliche bissige Bemerkung der wenigen Lehrkräfte wappnete, die es manchmal auf sich nahmen, sie zu verspotten. Das kam nicht mehr so oft vor. Nicht mehr so oft wie in ihren ersten paar Monaten. Trotzdem war sie vorbereitet.

«Ich wusste gar nicht, dass du wieder zurück in die Stadt gezogen bist.»

Oh verdammt, nein. Nicht er. Auf ihn war sie nicht vorbereitet. Diese sanfte und doch respekteinflößende Stimme würde sie überall wiedererkennen. Ein tiefes Grollen mit einem ganzen Universum von Gefühl im Tonfall.

Mit brennenden Augen und zugeschnürter Kehle schrubbte sie fester. Vielleicht würde er den Wink mit dem Zaunpfahl kapieren und einfach wieder gehen. So tun, als hätte er sie nie gesehen.

Stille lag einen Herzschlag lang schwer und laut in der Luft.

«Kannst du nicht mal einen Moment für einen alten Freund erübrigen?»

Wem wollte sie hier etwas vormachen? Wann war je irgendetwas so gelaufen, wie sie wollte? Natürlich würde er stehen bleiben, um zu plaudern. Um den Bären zu reizen. Um die ehemalige Ballkönigin und Prinzessin in ihrer umgekehrten Aschenputtelgeschichte anzugaffen.

Sie räusperte sich, den Blick immer noch auf die Aufgabe vor sich geheftet. «Wir waren nie Freunde.»

Ehrlich gesagt hatte sie keine echten Freunde. Noch nie gehabt. In der Highschool hatten ein paar Mädchen für den sozialen Status so getan, aber die hatten sich zusammen mit der Stadt von ihr abgewendet. Parker war ganz sicher nicht die Art von Freund gewesen, die ihr bei Pyjamapartys seine Geheimnisse anvertraut, ihre Ehre verteidigt und zu ihr gestanden hätte. Wenn sie sich recht erinnerte, und das tat sie, dann war er ihr um jeden Preis aus dem Weg gegangen.

Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der sie alles für einen Blick von ihm getan hätte. Einen einzigen flüchtigen Blick. Irgendetwas, um ihr zu zeigen, dass er wusste, dass sie existierte. Aber das war nicht passiert.

«Nein, ich schätze, das waren wir nicht.» Er lehnte am Türrahmen, neben ihm seine Nichte. «Ich kann mich aber auch nicht an wortloses Schweigen erinnern, Maddie.»

Bei dem Spitznamen schloss sie die Augen. Es war so lange her, dass sie ihn gehört hatte. Jeder nannte sie Madeline. Die einzigen Menschen, die diese Abkürzung regelmäßig verwendet hatten, waren ihre Mom und Parker gewesen. Und ihre Mom war seit fünfzehn Jahren tot.

Nachdem die Urinale geputzt waren, stand sie auf und ging zu den Waschbecken, um sie mit Reiniger einzusprühen.

Hartnäckig machte er mit dem Smalltalk weiter. «Wie ist es dir so ergangen?»

Wie es ihr so ergangen war? Wie es ihr so ergangen war? Beinahe hätte sie die Krallen ausgefahren und ihn angefaucht, eine alte Gewohnheit aus purem Selbstschutz. Doch dann dämmerte ihr, dass das hier Parker war. Er hatte wahrscheinlich null Ahnung, wie ihr Leben in den letzten paar Jahren gewesen war. Seine ehrliche Überraschung vorhin bewies, dass er nicht gelogen und wirklich nicht gewusst hatte, dass sie wieder in der Stadt lebte. Er war und blieb einfach ein wunderbarer Kerl. Nett, selbst wenn er es nicht sein musste, selbst wenn es nicht erwartet wurde.

«Gut», murmelte sie, anstatt die Wahrheit auszuspucken. Sie war sich ziemlich sicher, dass er keine Antworten wie einsam, ängstlich, traurig oder beschämt hören wollte.

Als er nichts erwiderte, machte sie den gewaltigen Fehler, ihn im Spiegel über dem Waschbecken anzusehen. Er war schon in seiner Jugend ein gutaussehender Kerl gewesen, aber nun war er gereift – wie der teure Wein, den ihr Vater immer zu den Mahlzeiten getrunken hatte.

Parker hatte die schlanke, athletische Anmut eines Baseballspielers mit breiten Schultern, schmaler Taille und Händen, die groß genug waren, dass Frau sich fragte, ob gewisse Sprichwörter wohl stimmten. Er trug wie angegossen sitzende Jeans und ein schlichtes weißes T-Shirt, das seine modellierten Oberarmmuskeln betonte. An seinem Gürtel prangte seine Marke neben einem leeren Holster, die Waffe war zweifellos in seinem Wagen eingeschlossen. Sein nachtschwarzes Haar war an den Ohren und im Nacken kurz geschnitten und oben wellig und etwas länger. Ein dunkler Bartschatten bedeckte seinen Kiefer um einen vollen, strengen Mund. Aber seine Augen? Oh verdammt, seine Augen. Wie Smaragde im Sonnenlicht.

Einfühlsam. Anziehend. Ernst.

«Wer ist das, Onkel Parker?»

Rasch richtete Maddie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Waschbecken und wischte das Porzellan ab.

«Das ist Maddie, Kleines. Du kennst sie doch bestimmt, sie ist die Hausmeisterin deiner Schule.»

«Nö. Mr. Ben ist unser Hausmeister. Er putzt Kotze weg und mäht den Rasen und so was.»

Parker warf einen fragenden Blick in Maddies Richtung.

Sie sah ihn im Spiegel kurz an und dann weg, um sich zu angestrengt darauf zu konzentrieren, die Wasserhähne abzuwischen. «Ben ist tagsüber hier und leitet die Hausverwaltung. Ich komme abends. Mir ist nicht erlaubt, mich von den Schülern sehen zu lassen oder mit ihnen zu reden, also ist sie mir noch nie begegnet.»

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. «Warum ist dir nicht erlaubt, in die Nähe der Kinder zu kommen?»

Sie drehte sich um und schleuderte ihm einen Soll-das-ein-Witz-sein-Blick zu, dann schnappte sie sich einen Stapel Papierhandtücher von ihrem Wagen, um den Spender nachzufüllen.

«Doch nicht wegen David und deinem Vater? Willst du das damit sagen?»

Schweigend verriegelte sie den Handtuchspender wieder und nahm die Sachen, um den Spiegel zu putzen, da die Seifen noch nicht aufgefüllt zu werden brauchten.

«Das ist doch beknackt.»

«Onkel Parker! Man darf nicht fluchen!»

Er seufzte und legte dem Mädchen die Hand auf die Schulter. «Da hast du recht, Sumpfplumps. Aber beknackt ist ein ganz normales Wort, auch wenn es sich wie ein Schimpfwort anhört. Es bedeutet verrückt oder lächerlich.»

«Oh. Beknackt ist ein beknacktes Wort.»

Ein Grinsen erstrahlte auf seinem Gesicht und entblößte eine Reihe gerader weißer Zähne.

Maddies Herz schlug einen Salto und schaffte nur mit Mühe die Landung.

Zum Teufel mit diesem ganzen Tag.

Fertig mit dieser Toilette, warf sie noch einmal einen prüfenden Blick in den Raum, zufrieden darüber, dass es jetzt blitzblank war. «Entschuldige mich. Ich muss wieder an die Arbeit.» Ihre Schicht dauerte nur vier Stunden, drei Tage die Woche, und das hier war ein großes Gebäude. Komisch, dass es ihr als Mädchen so klein vorgekommen war.

Ihren Wagen hinter sich herziehend, zwängte sie sich an ihm vorbei, aber bevor sie weit kommen konnte, berührte er sanft ihren Arm.

«Warum gehen wir nicht mal einen Kaffee trinken? Um uns zu unterhalten und auf den neuesten Stand zu bringen.»

Da war er wieder, der heilige Parker, den alle kannten und liebten. Gütig und freundlich, der Junge, der sich stets Mühe gab, allen zu helfen oder dafür zu sorgen, dass sie sich wohler fühlten.

Obwohl das Angebot wahrscheinlich nur so dahingesagt war und erst recht nichts Romantisches andeutete, war es am besten, wenn sie es im Keim erstickte. Mit ihr gesehen zu werden, wäre für ihn vermutlich die schnellste Möglichkeit, den Respekt von Redwoods Bewohnern zu verlieren. Und wenn sie ehrlich war, versteckte sie sich schon zu lange im Schatten. Die Leute daran zu erinnern, dass es sie gab, indem sie bei Tageslicht ausging, könnte böse enden.

Außerdem wollte niemand wirklich mit ihr reden und Kaffee trinken, so gut sich das auch anhörte.

Sie ließ den Blick über ihn wandern und stutzte bei dem funkelnden rosa Rucksack, den er sich über die Schulter geworfen hatte. Dieser anbetungswürdige sexy Mann. «Sorry, Sheriff. Ich gehe nur mit Männern aus, die am selben Ufer schwimmen wie ich.»

Während er auf den Glitzerrucksack starrte, nutzte sie die Gelegenheit, sich den Flur hinunter aus dem Staub zu machen.

«Das ist Katies Rucksack», rief er ihr hinterher.

«Klar.» Sie lächelte, ohne sich bei ihrer Flucht umzudrehen. «Wenn du es sagst.»

Fast erwartete sie, dass er ihr folgen würde. Er tat es nicht.

Typisch. Es war ja nicht so, als hätte sich je irgendjemand die Mühe gemacht, ihr nachzulaufen. Und gerade jetzt würde sicher niemand damit anfangen. Nicht jetzt, wo sie trockene und rissige Hände hatte, ultrakurze Fingernägel, null Make-up und auf dem Kopf locker zu einem Knoten gesteckte Haare. Wo ihr Parfüm Eau de Desinfektion war. Nicht zu vergessen der schicke graue Polyester-Overall. Und da war ihr Ruf noch gar nicht mit einkalkuliert.

Ja, die Männer standen bei ihr Schlange.

Als sie schließlich mit ihren Aufgaben fertig war, war es höchste Zeit für sie, sich auszustempeln. Die andere Jungen-Toilette hatte mit einer Vielzahl von Überraschungen für sie aufgewartet, unter anderem an die Wände geschmissenen Knäueln aus nassem Klopapier. Das sauber zu machen, hatte kostbare Zeit in ihrer eingespielten Routine gekostet. Wenn sie ihre Schicht auch nur um eine Minute überzog, würde ihnen das einen Grund geben, sie zu feuern.

Sie fühlte sich eklig. Leider würde sie nicht duschen können bis zu ihrer Nachtschicht im Freizeitcenter morgen Abend. So war das Leben nun mal.

Im Büro des Hausmeisters stempelte sie sich aus, schlüpfte aus ihrem Overall, warf ihn in den Wäschesack, wusch sich die Hände und schaute in ihr Postfach an der Wand. Zahltage waren toll und beschissen zugleich. Toll weil, na ja, Geld. Geld brachte sie ihren Zielen näher. Beschissen, weil sie völlig erschöpft einen Umweg von mehreren Blocks machen musste, um zur Bank zu kommen, wo sie den Scheck über den Drive-through-Automaten einzahlen konnte. Abends konnte sich niemand beschweren, dass sie zu Fuß an den Autoschalter ging. Während der Geschäftszeiten hinzugehen, kam nicht in Frage.

Sie schaute auf die Wetter-App auf ihrem Handy – ihr Handy war der einzige Luxus, den sie sich leistete, da sie für ihre Arbeitgeber erreichbar sein musste –, und bemerkte, dass es kühler geworden war. Trotzdem war die Temperatur mit zwölf Grad für einen Herbstabend lau. Gut, dass sie ihr Sweatshirt mitgebracht hatte.

Sie nahm den Hoodie aus ihrem Rucksack und schob den Scheck in die Seitentasche, bevor sie die anderen Papiere in ihrem Postfach durchblätterte. Nichts von ihrem unmittelbaren Vorgesetzten. Der Rest sah nach allgemeinen Infos für alle Mitarbeiter aus. Der letzte Flyer im Stapel war der Terminplan für die Süßigkeitenrallye an Halloween und die Ankündigung des Kostümfests.

Auf der Rückseite standen in schwarzem Filzstift die Worte: Sie sind nicht eingeladen.

Als sie auf den Zettel starrte, krampfte sich ihr Magen zusammen. Es war ja nicht so, als hätte sie vorgehabt hinzugehen. Verdammt, sie hatte sich bei keiner der Stadtveranstaltungen blicken lassen, weder beim Feuerwehrball noch beim Ostermarkt oder dem Valentinstagsball oder dem Feuerwerk am vierten Juli. Sie hatte es letztes Jahr nicht einmal gewagt, die Weihnachtsausstellung im Park zu besuchen. Wie boshaft und unnötig war es, sie daran zu erinnern, dass sie unerwünscht war. Das war eine Tatsache, der sie sich nur allzu bewusst war.

Trotzdem tat es weh. Sehr weh.

Sie warf die Flyer in den Müll, schloss das Büro hinter sich ab, ging noch einmal durchs Gebäude, um alle Lichter auszuschalten, und dann zur Vordertür hinaus.

Abends um diese Zeit waren unter der Woche die Bürgersteige hochgeklappt und der größte Teil der Stadt ruhig. Laternen leuchteten ihr den Weg, als sie durch die Seitenstraßen zur Main Street ging. Dort wandte sie sich links statt rechts und stapfte die zwei Blocks zur Bank. Sobald sie fertig war, marschierte sie zum Rand des Parks.

Obwohl es noch verhältnismäßig warm war, zog sie sich die Kapuze über den Kopf, zum Schutz vor dem Wind, der vom Pazifik jenseits der felsigen Steilküste herüberwehte. Der Geruch von Salzwasser lag in der Luft und vermischte sich mit Kiefernduft, je näher sie den Wanderwegen im Wald kam. Laub raschelte unter ihren Schuhen, als sie vom Asphalt auf einen der Waldwege trat. Dunkelheit hüllte sie ein, nur durchbrochen vom Licht des Mondes. Sie war umgeben von hundertjährigen Zypressen und Mammutbäumen. Tiere huschten umher. Eine Eule rief.

Vor drei Jahren, als sie verzweifelt nach einem sicheren Ort gesucht hatte, wo sie unterkommen konnte, als jede Bewerbung für eine Wohnung abgelehnt worden war und auch alle anderen sie abgewiesen hatten, war dieser Weg durch den Wald beängstigend gewesen. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt und konnte ihn im Schlaf gehen.

Eines Tages würde sie wieder ein richtiges Dach über dem Kopf haben. Leider war das aktuell ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. Also genoss sie einstweilen den Frieden der Natur.

Nach einer Viertelmeile den Hang hoch schwenkte sie nach links. Touristen und Einheimische wichen fast nie von den Wegen ab, um sich nicht zu verlaufen oder aus Angst vor wilden Tieren. Beides waren legitime Sorgen und echte Bedrohungen. Aber sie hatte Vorkehrungen getroffen.

Sie blieb stehen und musterte die winzige Lichtung. Zwischen Felsen und hoch aufragenden Mammutbäumen stand ein dunkelgrünes Zweimannzelt. Über dem Zelt, mit den Ecken an vier Baumstämmen befestigt, befand sich eine Plane für zusätzlichen Schutz vor Regen. In der Erde verankerte Metallstäbe mit einem groben, eins zwanzig hohen Stacheldrahtzaun umgaben die Lichtung, um wilde Tiere abzuhalten. Vor der Öffnung des Zelts war eine kleine Feuergrube in die Erde gegraben und von Steinen gesäumt.

Home sweet home.

Sie hatte den Ort sorgfältig ausgewählt. Er lag nahe genug an der Stadt, um alles zu Fuß erreichen zu können, aber abseits der viel benutzten Wege. Raubtiere streunten normalerweise nicht so weit vom Berg herunter, obwohl das Risiko immer bestand. Vorsorglich hatte sie sich nach ihrer ersten Nacht ein Luftgewehr und einen Elektroschocker gekauft. Beides würde einen Puma oder einen Bären nicht umbringen, aber es würde ihr Gelegenheit geben zu flüchten. Allerdings war das Bedrohlichste, dem sie in den letzten Jahren begegnet war, ein Waschbär gewesen.

Insgesamt keine schlechte Leistung für ein Mädchen, das in ihrem ganzen Leben noch keinen einzigen Tag campen gewesen war. Wenn man bedachte, dass sie in einem Tausend-Quadratmeter-Anwesen mit Blick auf die Stadt und mit Bediensteten aufgewachsen war, die ihr alles abgenommen hatten, dann war sie verdammt stolz auf sich. Zugegeben, sie hatte sich alles im Lauf der Zeit durch reines Ausprobieren angeeignet, aber es funktionierte. Und sie war stolz auf sich, auch wenn sie da die Einzige war.

Für ein heißes Bad allerdings würde sie töten.

Sie hob einen behelfsmäßigen Riegel an, schwang das Tor auf und schloss es wieder. Natürlich benutzte sie den Begriff ‹Tor› sehr frei. Sie hatte Metallstäbe mit Kabelbindern und Stacheldraht zu einem Quadrat verbunden und an einem der Zaunpfosten befestigt. Es funktionierte und war besser, als über ihren improvisierten Zaun klettern zu müssen und sich versehentlich zu verletzen.

Mit der Taschenlampe ihres Handys überprüfte sie das Zelt auf etwaiges Krabbelgetier, fand keines und kroch hinein. Sie setzte sich auf ihren Schlafsack und schaltete die batteriebetriebene Laterne ein, die das Zelt mit einem warmen gelben Schein erfüllte.

Nachdem sie den Deckel einer großen Plastikbox in der Ecke geöffnet hatte, betrachtete sie ihre Auswahlmöglichkeiten. Sie hatte gegessen, bevor sie zur Arbeit gegangen war, aber sie brauchte noch etwas, bevor sie sich hinlegte, sonst würde ihr die ganze Nacht der Magen knurren. Ihre Dosenvorräte an Thunfisch, Fleisch, Gemüse und Obst schrumpften. Was blöd war, denn das bedeutete, dass sie sich bald wieder mit den Supermarktverkäufern auseinandersetzen und das Zeug hierherschleppen musste. Aber sie hatte noch einen Müsliriegel übrig.

Bingo.

Während sie davon abbiss, öffnete sie eines von zwei Notizbüchern aus einer anderen kleinen Kiste und trug den Betrag ihres Gehaltsschecks in die entsprechende Spalte ein. Diesen Monat hatte sie etwas mehr Mittel zur Verfügung, weil sie keine Vorräte wie Batterien, Shampoo, Seife oder Toilettenpapier hatte kaufen müssen, außerdem war ihre Handyrechnung niedriger geworden, weil sie das Handy endlich abbezahlt hatte. Andererseits müsste sie bald Lebensmittel einkaufen. Nachdenklich mit dem Stift an ihre Wange klopfend, schätzte sie den Betrag, den sie ausgeben würde, und schlug das zweite Notizbuch auf.