Reform des Islam - Abdel-Hakim Ourghi - E-Book

Reform des Islam E-Book

Abdel-Hakim Ourghi

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Beschreibung

„Ein wichtiger und mutiger Beitrag zur Debatte. Der Islamwissenschaftler Ourghi benennt die wirklichen Krankheiten im islamischen Denken, die eine Reform verhindern.“ Hamed Abdel-Samad Eine Debatte polarisiert noch immer das Land: Gehört der Islam zu Deutschland oder nicht? Der in Algerien geborene und in Freiburg lehrende Religionswissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi bezieht klare Position. Ein Islam der Unterwerfung, der fehlenden Kritikfähigkeit gehört weder zu Deutschland noch zu Europa. Deshalb braucht es eine Reformation des Islam. Deshalb dürfen muslimische Kinder in Deutschland nicht durch den Koranunterricht aus ihrer westlichen Lebenswelt herausgerissen werden. Deshalb muss der politische Einfluss muslimischer Dachverbände und radikaler Imame eingedämmt werden. Es ist höchste Zeit, die kanonischen Quellen des Islam – den Koran und das Leben des Propheten – reflektiert zu verstehen und zeitgemäß zu interpretieren. Im westlichen Kontext meint dies: die islamische Identität anhand der Vernunft kritisch infrage zu stellen und so den Rahmen für eine grundlegende Islam-Reform abzustecken. In seinem ersten, mit Spannung erwarteten Sachbuch benennt Ourghi Missstände, Chancen und Rezepte für einen weltoffenen und verfassungsloyalen Islam in Deutschland.

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Die zitierten Koranverse wurden übersetzt von Rudi Paret (Der Koran. Übersetzung, Stuttgart 112010), Hartmut Bobzin (Der Koran. Aus dem Arabischen neu übertragen, München 2010) sowie vom Autor selbst.

Copyright © Claudius Verlag, München 2017

www.claudius.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt München

Layout: Mario Moths, Marl

Gesetzt aus der Times New Roman und Trade Gothic

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-532-60018-4

INHALT

Cover

Titel

Impressum

I. Einführung

II. Der pathologische Zustand der islamischen Identität

III. Die Wächter des Tempels

IV. Die vierzig Thesen

1. Es ist Zeit für einen Europäischen Islam.

2. Die Heilige Schrift des Islam an sich ist leblos. Erst die Interpretation macht sie lebendig.

3. Jede Muslimin und jeder Muslim hat die Freiheit, den Koran so zu interpretieren, wie sie oder er will.

4. Eine Reform des Islam braucht mutige Reformer.

5. Das Erbe des Islam muss frei erforscht werden können.

6. Die Reform des Islam ist im Koran selbst angelegt.

7. Reform des Islam bedeutet seine Anpassung an die Moderne.

8. Islamkritik ist keine pauschale Ablehnung des islamischen Glaubens.

9. Der Koran als Gotteswort ist im Laufe der Jahrhunderte zum Menschenwort geworden.

10. Wer den Koran respektiert, kann ihn nicht wortwörtlich nehmen.

11. Die Muslime müssen den Koran wieder zu einem Buch des Friedens machen.

12. Nur als Grundbuch einer humanistischen Ethik ist der Koran ewig und zeitlos.

13. Der Islam ist keine universale Religion, denn der Koran ist eine an die Araber adressierte Religionsschrift.

14. Das richtige Glaubensbekenntnis des Islam lautet: „Ich bezeuge: Es gibt keinen Gott außer Allah.“ (Koran 20:14)

15. Der Koran selbst betont die Wahrheit von Thora und Evangelien.

16. Muḥammad ist nur ein Mensch wie die anderen Menschen.

17. Irren ist menschlich, selbst der Prophet irrte.

18. Die Tradition des Propheten ist zwei Jahrhunderte nach dem Tod des Propheten aus politischen Gründen entstanden.

19. Die Reform des Islam ist ein ständiger Kampf gegen die Vernebelung der Vernunft.

20. Der Islam hat ein gestörtes Verhältnis zur Reflexion.

21. Die Muslime brauchen keine Gelehrten als vermittelnde Instanz zwischen Gott und den Menschen.

22. Die Moscheen müssen endlich von Import- und Selfmade-Imamen befreit werden.

23. Gott ist kein Tyrann, der sehnsüchtig darauf wartet, die Menschen zu bestrafen. Gott ist Liebe, Barmherzigkeit und Gnade.

24. Der Islam ist mehr als die fünf Säulen und die Glaubenslehre, nämlich auch gutes Handeln.Sola actio!

25. Gott hat den Menschen zur Freiheit befreit.

26. Gott hat den Menschen die Meinungsfreiheit geschenkt.

27. Das Prinzip der Glaubensfreiheit gilt auch im Islam.

28. Niemand hat das Recht, andere Menschen zu Ungläubigen zu erklären.

29. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – das gilt auch für den Islam und die Muslime.

30. Der Dialog unter den Muslimen ist unentbehrlich, denn es gibt im Islam keine auserwählte Glaubensgemeinschaft.

31. Versöhnte Vielfalt in der dialogischen Begegnung: Religiös zu sein bedeutet heute interreligiös zu sein.

32. Keine Religion ist im Besitz der absoluten Wahrheit und kein Mensch hat den Schlüssel zum Paradies.

33. Der Islam hat die Frauen nicht zu freien Menschen gemacht, sondern zu Knechten der Männer. Die Frauen des Islam müssen sich erheben, denn ihre Peiniger werden sie nicht befreien.

34. Das Kopftuch ist keine religiöse Vorschrift, sondern ein historisches Produkt der männlichen Herrschaft.

35. Nicht der Koran, sondern die männliche Herrschaft des konservativen Islam verbietet den Frauen als Imaminnen in ihren Gemeinden tätig zu sein.

36. Der Islamismus hat sehr wohl etwas mit dem Islam zu tun.

37. Der nicht reformierte Islam ist keine Religion des Friedens.

38. Die Sinnkrise des Islam ist hausgemacht. Wir Muslime sind keine Opfer.

39. Der humanistisch-moderne Islam teilt die Welt mit anderen Religionen und Weltanschauungen

40. Nur ein liberaler Islam ist zukunftsfähig.

V. Epilog

Anmerkungen

I.EINFÜHRUNG

Je mehr mich die Leute bedrohen,

umso größer meine Zuversicht.

Martin Luther

Religiosität wird heute im Westen der Privatsphäre des Einzelnen zugerechnet, trotzdem erleben wir spätestens seit dem 11. September 2001 eine verstärkte Rückkehr der Religion in den öffentlichen Diskurs. Gleichzeitig nimmt das Interesse an der öffentlichen Bedeutung von Religion in allen Schichten der Gesellschaft immer mehr zu.1 Möglicherweise hat auch die alltägliche mediale Präsenz des Islam in den letzten Jahren dazu geführt, dass die gesellschaftliche Bedeutung von Religion zu überdenken ist.2

Der Präsident des Päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog, Kurienkardinal Jean-Louis Tauran, dankte den Muslimen jedenfalls kürzlich dafür, dass sie die Religion zurück in die öffentliche Sphäre Europas gebracht hätten.3 Von einzelnen christlichen Würdenträgern habe ich selbst gehört, dass sie mit Neid auf volle Moscheen beim Freitagsgebet blicken, während ihre eigenen Gotteshäuser weitgehend leer bleiben. Da schleicht sich bei mir manchmal der Verdacht ein, dass man sich von der Zusammenarbeit mit den konservativen Dachverbänden des Islam eine Wiederbelebung des Glaubens an sich erhofft. Als ob Gott in Europa ohne den Islam verloren wäre! Zieht man jedenfalls den Islam in Betracht, lebt Gott heute mehr denn je in Europa. Religion ist ein sinnstiftendes Teilsystem in den westlichen Gesellschaften und der Islam trägt zu ihrem multikulturellen Reichtum bei. Doch die dialogische Begegnung der Religionen und Weltanschauungen bleibt von radikalen Glaubensinhalten und -praktiken im Islam überschattet, die nicht selten auch zur Legitimation von Gewalt dienen und die ganze Welt damit in Angst und Schrecken versetzen.

Anhand der negativen Schlagzeilen über den Islam in der westlichen und islamischen Welt kann man davon ausgehen, dass der Islam sich in einer Sinnkrise befindet und die Muslime mitten in einer Zerreißprobe stecken. Die Moderne hat den Menschen von Grund auf verändert, die Glaubensvorstellungen und -praktiken des Islam allerdings sind weitgehend dieselben geblieben. Seit Jahrhunderten wird der Islam von einer konservativen Theologie beherrscht, was immer wieder in Gewalttaten mündet. Deshalb muss der Islam unbedingt reformiert werden. Wir können nicht anders als dem vorherrschenden Diskurs des Islam zu widersprechen und ihn kritisch infrage zu stellen. Dieser überfälligen Reform wird der konservative Islam sich nur mit Gewalt widersetzen können. Aufhalten können wird er sie jedoch nicht, denn der neue Kontext des Islam ist der Westen, der durch Meinungsfreiheit geprägt ist.

Die Reform des Islam richtet sich gegen die Macht des politischen Islam und der konservativen Gelehrten, deren veraltete Sichtweisen nicht mehr der Lebenswelt der Muslime im westlichen Kontext entsprechen. Solch ein konservativer Islam will einen Getto-Glauben in den muslimischen Gemeinden durch die eigene Abschottung und Abkapselung von der Mehrheitsgesellschaft im Westen konservieren. Die Reform des Islam predigt dagegen das Sichöffnen der Muslime gegenüber Angehörigen anderer Religionen sowie gegenüber andersdenkenden Menschen im Allgemeinen.

Die Islamreform, hier in Gestalt von 40 Thesen skizziert, ist eine öffentliche Anklage des seit Jahrhunderten herrschenden konservativen Islam, der das Privileg der absoluten Kontrolle von Körper und Geist aller Muslime unter keinen Umständen abgeben möchte. Sie ist eine bewusste Rebellion der Vernunft gegen den verstockten konservativen Islam, der die blinde Rückkehr zum Islam der Entstehungszeit des 7. Jahrhunderts propagiert. Sie ist der Aufstand gegen veraltete Islamdiskurse vergangener Epochen, die bis heute das kollektive Bewusstsein der Muslime in der ganzen Welt prägen. Der moderne humanistische Islam will nicht mehr und nicht weniger als den Islam von seinen verkrusteten Denkschichten befreien, seinen wahren Kern freilegen und ihn gemäß seiner heutigen Situation neu interpretieren.

Man würde die Bedeutung der Islamreform verkennen, würde man diese als konfessionelle Abspaltung im Sinne eines Schismas unter den Muslimen verstehen. Der humanistische Islam will vielmehr auf der Grundlage der Vernunft die Vielfalt in der Einheit deutlich machen, indem er historische Verfremdungen und Verklärungen in archaischen Diskursen aufdeckt. Im Rahmen eines Aufklärungsprogramms und mithilfe einer differenzierten und sachlichen Islamkritik will die Islamreform außerdem bewusst den Religions- und Sozialvertrag zwischen der politischen Macht, wie sie etwa durch die selbsternannten Vertreter der Muslime im Westen repräsentiert wird, und den konservativen Gelehrten, beispielsweise in Gestalt sogenannter Import-Imame, aufkündigen.

Das vorliegende Buch ist von einer leidenschaftlichen Sehnsucht nach Freiheit angetrieben und setzt den Akzent auf das Individuum als Souverän seines Selbst und seiner Existenz. Ohne Angst vor den Vertretern des konservativen Islam oder vor dem Vorwurf der Islamophobie möchte ich als liberaler Muslim Tacheles reden. Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Ich will nicht nur widersprechen, sondern auch den Finger in die Wunde des jahrhundertelangen kollektiven Verdrängens der Muslime legen. Als Mensch kann ich auch frei sein, deshalb nehme ich mir die Freiheit, die vorherrschenden Vorstellungen über den Islam, welche derzeit die Kollektive der Muslime prägen, infrage zu stellen. Ich möchte nichts anderes als neu über Gott, den Koran, die Tradition des Propheten und die Ideengeschichte des Islam nachdenken. Deshalb scheue ich nicht davor zurück, den Koran als religiösen Text, den Propheten Muḥammad (750–632) als historische Figur und die Tradition des Propheten als historische Aussagen und Praxis zu kritisieren.

Stillstand in einer Religion – und das gilt auch für den Islam – bedeutet Rückschritt und Stagnation. Er paralysiert den freien Geist. Stillstand führt auch dazu, dass eine Religion den Anschluss an die Menschen und an deren jeweilige Situation verliert. Solch eine Religion

„etabliert sich von vornherein als abschließend und beraubt den menschlichen Geist des Sinns für die Suche, die Nachforschung, die Verblüffung, das Abenteuer. […] Auf ein solches Skelett reduziert, wirkt der Islam, religiös und politisch, wie eine entleerte, unfruchtbare Perspektive, die nichts vom Fleisch der Fragen wissen will, die einen belagernden und aggressiven Monologismus begründet, taub für jeden Dialog und abgeschnitten von den Voraussetzungen, die eine Verbindung zwischen Personen und Völkern, Subjekten und Nationen eröffnen.“4

Der Islam hat auch eine unheimliche Seite, die in seiner Umgebung Unbehagen auslöst. Diese dunkle Seite ist immer dort erkennbar, wo die Religion von der Politik nicht zu trennen ist, wie etwa im gewalttätigen Fanatismus der Islamisten. Sie wird beispielsweise dort deutlich, wo die Kompetenzen des Throns nicht von der Kanzel in der Moschee zu unterscheiden sind oder wo Frauen im Namen einer religiösen männlichen Dominanz unterdrückt werden. Genau wie jede andere Religion kann der Islam auch gefährlich werden, wenn nicht klar zwischen dem Weltlichen und dem Geistlichen unterschieden wird und politische mit religiösen Interessen vermischt werden. Die Reform des Islam ist eine „Gegenpredigt“5 gegen die Predigten des konservativen Islam und seine politischen Herrschaftsansprüche.

Ist der Koran reformierbar? Wenn ja, wie soll seine Aufklärung aussehen? Man ist sich darüber einig, dass der Koran die wichtigste normative Quelle für alle religiösen, moralischen und rechtlichen Vorschriften im Islam ist. Als Heiliges Buch wird er verehrt, gefürchtet, missbraucht oder sogar gehasst. Er besteht aus Versen, deren Aussage klar und verständlich ist, er enthält aber auch mehrdeutige Verse (z.B. Koran 3:7). Er gilt mit den „Geheimnisvollen Buchstaben“ (z.B. Koran 2:1, 7:1 und 10:1) am Anfang von 29 Suren als wohl widersprüchlichstes Buch. Als literarisches Werk bietet er eine Fülle von Poesie und Prosa. Seine Sprache ist die Sprache des Friedens und die Sprache der Gewalt. Er ist mal tolerant, mal herzlos und erbarmungslos. Der in ihm beschriebene Gott ist mal zornig und hart strafend, dann wieder barmherzig und ein Freund seiner Verehrer. Die Auslegung bestimmter Suren kann über Frieden und Krieg, Leben und Tod entscheiden.

Für Muslime aller Couleur stellt der Koran das kollektive Gedächtnis und das Herz des Islam dar. Er verschafft sich historische, kontinuierliche Bedeutsamkeit durch seine multimediale Präsenz im Alltag der Muslime.6 Vielmehr noch gilt er als religiöse Erinnerungsbrücke zwischen seiner historischen Entstehungssituation im 7. Jahrhundert, seiner Rezeption in den folgenden Jahrhunderten und der jetzigen Zeit. Der Koran wird von den Muslimen als das Wort Gottes gesehen, das Maß aller Dinge, an dessen Vorschriften sie sich orientieren und das in ihrem alltäglichen Handeln den wichtigsten Platz einnimmt. Gemäß dem muslimischen Korandiskurs ist der Koran Gottes authentisches, unverfälschtes und letztgültiges Wort. Wer auch nur ein wenig am Wortlaut rüttelt, einen Teil von ihm ablehnt oder ihn gar als Menschenwerk betrachtet, gilt schnell als Häretiker und Apostat. Für Nichtmuslime, die aus unterschiedlichen Gründen Interesse an dem Heiligen Buch des Islam zeigen und es zu lesen versuchen, bleibt der Koran hingegen oft ein befremdliches Buch, bestenfalls ein schwer zugängliches literarisches Kunstwerk. Nicht zuletzt tragen die im deutschsprachigen Raum verbreiteten Koranübersetzungen unter den nichtmuslimischen Lesern zur Irritation bei. Hans Zirker, einer der bekanntesten Koranübersetzer, hat beispielsweise darauf hingewiesen, dass die kommunikative Sprachgestalt des arabischen Originaltextes in den deutschen Koranübersetzungen nicht in Betracht gezogen wird.7

Es entbehrt nicht einer ironischen Note, dass jeder Muslim zwar ein Koranexemplar besitzt, aber bis auf eine Minderheit kaum jemand mehr darin zu lesen weiß – ganz zu schweigen von denjenigen, die Arabisch nicht als Muttersprache sprechen. Es reicht nicht, dass die Mehrheit der Muslime einige Koransuren auswendig beherrscht, mit denen die gottesdienstlichen Handlungen verrichtet werden. Es muss eine ernsthafte innerislamische Debatte über den Umgang mit umstrittenen Suren im Koran, wie etwa mit den Schwertversen oder den Versen über die Unterdrückung der Frau, geben. Eine unabdingbare Voraussetzung für diese Auseinandersetzung der Muslime mit dem Koran beginnt mit der Veröffentlichung einer neuen Koranedition, die dessen Entstehungssituation im 7. Jahrhundert widerspiegelt.

Jeder Muslim ist in der Lage, durch intensive Auseinandersetzung mit dem Koran diesen gemäß seiner aktuellen Situation zu interpretieren und zu verstehen. Vom Deutungsmonopol der Gelehrten muss endlich Abschied genommen werden. Jeder Muslim muss sich selbst über seine Beziehung zu Gott und zu seinen Mitmenschen Gedanken machen. Anders ausgedrückt: Jeder Muslim muss selber denken, ohne fremde Anleitung, und sich von den kollektiven Zwängen befreien, die ihm seit Jahrhunderten auferlegt sind.

Tatsächlich ist der Islam ein wichtiger integraler Bestandteil des Alltags aller Muslime unterschiedlicher Konfession. Gott ist immer präsent im alltäglichen Handeln der Muslime, besonders das Bild von Gott als einem Strafenden. Die Reform des Islam will die Muslime auch von diesem Bild des tyrannischen Gottes und von der Angst vor der Hölle im Jenseits befreien. Sie können auf seine liebevolle Verzeihung hoffen, denn Gottes Barmherzigkeit im Diesseits und Jenseits ist grenzenlos und allumfassend (vgl. Koran 7:156 und 40:7). Seit Jahrhunderten diktieren die männlichen Theologen und Rechtsgelehrten des konservativen Islam den Muslimen und Musliminnen, wie sie ihr Leben zu führen haben, und drohen ihnen mit dem ewigen Höllenfeuer, wenn sie sich nicht an die Gebote und Verbote der koranischen Weisung halten. Doch jede Muslimin und jeder Muslim kann selbst den Koran lesen, verstehen und deuten, um zu Gott zu finden. Es gibt im Islam keine vermittelnde Instanz zwischen Gott und dem Menschen und eine solche ist auch nicht nötig. Auch Frauen können die Grundlagen des Islam im Rahmen ihrer eigenen Selbstbestimmung deuten und damit zum Ende der männlichen Dominanz in ihrer Religion beitragen. Deshalb braucht der Islam dringend Imaminnen.

Ist der Islam dabei, sich abzuschaffen? In seiner jetzigen, konservativen Form, die nicht mehr zeitgemäß ist, bekämpft er sich selbst. Denn der nicht reformierbare Islam in seiner politischen Ausprägung steht der universalen Ethik des mekkanischen Koran diametral gegenüber. Die islamische Welt benötigt nicht nur dringend eine sexuelle Revolution, die Frauen und Männer als gleichberechtigt anerkennt, sondern auch eine Islam- und Selbstkritik auf der Grundlage der Vernunft, die den Weg für die Etablierung eines modernen und humanistischen Islam ebnet. Denn: Auf einen kritikunfähigen, unaufgeklärten und frauendiskriminierenden Islam kann die Aussage „Der Islam gehört zum Westen“ niemals zutreffen.

II.DER  PATHOLOGISCHE  ZUSTAND DER  ISLAMISCHEN  IDENTITÄT

Liebe Muslime, versuchen wir gemeinsam die Augen für einen Augenblick zu schließen. Und nun stellen wir uns unseren islamischen Alltag einmal so vor: keine Autos, keine Züge, keine Flugzeuge, kein Internet, keine Handys, kein Telefon, kein PC, keine Elektrizität. Wir sind uns einig: Ein solcher Alltag wäre ziemlich trist. Nun machen wir gemeinsam die Augen wieder auf und stellen uns die Frage, was unser Beitrag im Laufe der Menschheitsgeschichte bei all diesen Innovationen war. Ohne etwas zu beschönigen, würde die Antwort lauten: Nichts! Gleichzeitig sind wir uns wahrscheinlich einig in dem Befund, dass sich der Islam und wir Muslime uns zurzeit in einer Sinnkrise befinden. Man denke nur an den Dschihad, den Terror und den Fanatismus des politischen und konservativen Islam, der die Gottesherrschaft auf der Erde mit Gewalt durchsetzen will – koste es, was es wolle.

Der Islam hat mit diesen Gräueltaten nichts zu tun – so lautet der Konsens der meisten Muslime in der Welt. Die Täter seien keine Muslime, sie hätten die Lehren der kanonischen Quellen des Islam nicht verstanden oder nicht richtig in die Tat umgesetzt. Die Ideologie der Islamisten habe nichts mit dem Islam zu tun, denn der Islam sei die Religion des Friedens. Viele Vertreter solcher Thesen vergessen, dass die Islamisten nicht in Synagogen, Kirchen oder buddhistischen Tempeln beten, sondern in Moscheen. Ihre Gebetsrichtung ist nicht Jerusalem oder Rom, sondern Mekka, die Heilige Stadt aller Muslime.

Selbstverständlich hat das Weltbild der Islamisten mit dem Islam zu tun, ob diese nun gewalttätig sind oder nicht, sonst hätte sich der islamistische Islam niemals so rasch und erfolgreich in der Welt ausbreiten können. Die erwähnte Apologie scheint vielfach wohlmeinend, ist allerdings unaufrichtig. Sie gibt die Naivität und die Bequemlichkeit ihrer Vertreter preis. Es handelt sich dabei um frommes Wunschdenken, das der Realität jedoch nicht entspricht.

Fest steht, dass nicht alle Muslime Terroristen sind. Fest steht jedoch auch, dass die Terroristen Muslime sind – solche, die sich sogar für die besseren Muslime halten und für sich beanspruchen, nach dem Koran und der Tradition des Propheten zu leben. Schließlich dienen den heutigen Islamisten in der ganzen Welt als Handlungsanleitung der in Medina offenbarte Koran (622–632)8 und das politische Handeln des Propheten selbst als Staatsmann – somit also die kanonischen Quellen der islamischen Rechts- und Religionslehre. Darüber hinaus wird der islamistische Terror durch eine gewalttätige, theologisch begründete Ideologie untermauert, die als eine Rezeption der Ideengeschichte islamischer Gewalt gelten muss.9 Wohl gibt es auch soziale, wirtschaftliche, politische und psychologische Gründe für die heutige Gewalt im Islam. Jedoch spielen die theologischen Grundlagen eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Legitimation dieser Gewalt oder etwa bei der Unterdrückung von Frauen. Auch wenn diese dunkle Seite in den Quellen des Islam von der Mehrheit der in Europa lebenden Muslime verschwiegen wird, so lässt sich gleichwohl nicht leugnen, dass sich der Islam in einem pathologischen Zustand befindet. Wo anderes behauptet wird, dort wird diese Tatsache bewusst verdrängt.

Nach der napoleonischen Invasion in Ägypten (1798–1801), die als Wendepunkt im kollektiven Bewusstsein der Muslime haften blieb, spürten einige Gelehrte die Notwendigkeit, den Islam zu erneuern. Die koloniale Invasion war ihnen ein Zeichen dafür, dass sich nicht nur die islamische Welt und ihre Gesellschaften, sondern auch der Islam selbst in Stagnation befanden, während gleichzeitig Europas Stärke und Macht immer weiter zunahmen. Diese historische Begegnung der islamischen Kultur mit der westlichen Zivilisation führte zu einer kulturellen Identitätskrise. Der Islamwissenschaftler Reinhard Schultze meint, dass ganze Jahrhunderte arabischer und islamischer Geschichte auf einmal „funktionslos und inhaltsleer“ schienen.10 Im Jahr 1930 schrieb der syrisch-libanesische Autor Schakib Arslan ein Buch mit dem Titel Warum sind die Muslime zurückgeblieben, und warum kamen andere voran? Diese herausfordernde Frage stellt sich heute mehr denn je. Sie hat nichts von ihrer Aktualität verloren, denn auch heute erleben Muslime eine ähnlich geartete Sinnkrise.

Im Jahre 2002 bescheinigte der Autor Abdelwahab Meddeb dem Islam in seinem Buch La maladie de l᾿Islam (Die Krankheit des Islam) einen pathologischen Zustand.11 Diese, vom Islam selbst hervorgebrachte Krankheit bedarf mehr denn je eines innerislamischen Therapieprozesses auf der Basis eines Aufklärungsprogramms. Noch pointierter formuliert Meddeb seine These, dass es sich bei der Krankheit, von welcher der Islam befallen ist, um eine hausgemachte handelt, in einem anderen Buch:

„Nicht der Islam ist eine Krankheit, sondern er bringt Krankheit hervor. Diese These des Essays trifft den Nagel auf den Kopf: Der Islamismus ist eine vom Islam hervorgebrachte Krankheit.“12

Meddebs Aussagen mögen zunächst drastisch und übertrieben erscheinen, doch indem er den Islamismus als ein religiöses Produkt des medinensischen Koran und der Tradition des Propheten benennt, spricht er lediglich schonungslos die Wahrheit aus.

Bei der oft beschworenen frühislamischen Glanzzeit, aus der viele Muslime ein Überlegenheitsgefühl anderen gegenüber schöpfen, handelt es sich um pure Nostalgie – ein leeres Konstrukt, welches der heutigen Realität des Islam schlicht nicht entspricht. Das Weltbild dieser Muslime ist durch Herrschsucht, Zerstörungslust, Radikalität und Gewalt gekennzeichnet. Man kann sogar vom „radikalen Bösen“ im Sinne Kants sprechen,13 wenn man die Chronologie der Gewalt betrachtet, welche sich nicht nur durch die ganze Frühgeschichte des Islam, sondern bis hin zum heutigen Tag zieht.

Horrormeldungen über islamistischen Terror gehören heute weltweit zum Alltag der Menschen. Auch wenn diese Wahrheit uns unangenehm sein mag: Es vergeht inzwischen kaum ein Tag, an dem nicht exzessive Gewalttaten von muslimischen Tätern im Namen ihres Glaubens begangen werden. Die Massivität des islamistischen Terrors scheint sich seit dem 11. September verselbständigt zu haben. Die Opfer sind zwar in der Mehrheit Muslime, es trifft aber auch Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften. Schauplatz des islamistischen Terrors sind nicht nur Länder in der islamischen Welt, sondern längst auch westliche Metropolen, in die der Tod zumeist von dort aufgewachsenen Muslimen getragen wird. Die Botschaft der radikalen Islamisten lautet stets: „Ihr seid unsere Feinde, solange ihr so seid, wie ihr seid.“

Mit dem islamistischen Terror hat eine neue Ära der Gewalt im Westen begonnen, ein Protest gegen die westliche Rationalität, Freiheit und Individualität, die als Entfremdung vom rechten Weg empfunden werden. Der Islamismus hat den Westen zu seinem Feind erklärt, und zwar vor allem unter Berufung auf die Lebensweise der Menschen im Westen. Die Islamisten wollen die „satanischen“ Andersdenkenden oder Andersgläubigen auslöschen und die Erde unter der Flagge des Islam vereinen. Wer sich dieser Mission anschließt, wird zu den Geretteten gehören, wer nicht – auch wenn er Muslim ist –, ist zu bekämpfen. Alles, was sich nicht der Herrschaft Gottes im Namen des Islam unterordnet, gilt den Islamisten als verdorben und amoralisch, als Teil einer „Zeit der Unwissenheit“ (ğāhiliyya), Koran 5:50). Dieser Terminus wiederholt sich viermal im medinensischen Korantext (Koran 3:154, 5:50, 33:33 und 48:26) und bezeichnet die Zeit vor der Verkündung des Islam im 7. Jahrhundert, die allgemein als ein „dunkles Zeitalter“ dargestellt wird und damit als Negativfolie, vor der sich der Islam mit seiner mission civilisatrice strahlend abhebt.

Selbstverständlich sind die Islamisten nur eine kleine Minderheit unter den Muslimen. Auf individueller und kollektiver Ebene beteuern Muslime mit Nachdruck, dass der Islam instrumentalisiert und zu Ideologiezwecken missbraucht wird. Solche Distanzierungen sind allerdings nichts weiter als Lippenbekenntnisse. Die gleichen Koranverse, die sogenannten Schwertverse aus der medinensischen Epoche (Koran 2:191, 4:76, 4:79, 4:91, 9:5, 5:33, 9:12, 9:29 und 9:36), mit denen die Islamisten ihre exzessiven Gewalttaten zu legitimieren versuchen, werden in vielen Moscheen bei Predigten zitiert. Möglicherweise sind sich viele Prediger der Tatsache nicht bewusst, dass eben diese Verse die Grundlage der Radikalisierung jener Jugendlicher sind, die in den „heiligen Krieg“ ziehen. Auch viele Aussagen des Propheten, wie etwa: „Mir wurde befohlen, die Menschen zu bekämpfen, solange sie sich nicht zum Islam bekennen“, sind in den Freitagsgebeten immer wieder zu hören. Der Korantext und die Tradition des Propheten sind nun mal das gemeinsame sinnstiftende Identifikationsmerkmal aller Muslime. Als kanonische Quellen bilden sie nicht nur die Grundlage für die religiöse Zugehörigkeit, sondern auch die Basis für das kollektive Gedächtnis aller Muslime über die konfessionellen Grenzen hinweg. Insbesondere der Koran wird von vielen Muslimen memoriert. Er ist im Alltag der Muslime multimedial präsent und gilt als eine religiöse Brücke zwischen seiner historischen Entstehungssituation im 7. Jahrhundert und der Gegenwart.14

Der Gelehrte Ibn Taimiyya (1263–1328), Theologe und Inspirator des modernen Salafismus konservativer Auslegung, berief sich beispielsweise auf solche Koranverse und deklarierte damit den heiligen Krieg als kollektive Pflicht. Ihm zufolge war der Islam – wenn nötig – auch mit dem Schwert zu propagieren. Sayyid Quṭb (1906–1966)15, Ahnherr aller heutigen Extremisten, rechtfertigte Gewaltanwendung damit, dass unsere Zeit mit der vorislamischen, heidnischen Epoche vor der Islamverkündung gleichzusetzen sei. Unter Berufung auf Sure 3, Vers 85, in welcher allein der Islam als wahrer Glaube anerkannt wird, verdammt Quṭb alle Anhänger anderer Religionen als Ungläubige, die zu bekämpfen seien. Heute wird er von einigen muslimischen Gelehrten wegen seiner Gelehrsamkeit und seines gewaltigen Opus grenzenlos verehrt, von anderen Muslimen wegen seiner zum Teil extremistischen Ansichten mit Skepsis betrachtet.

Die Muslime müssen den Mut haben zu gestehen, dass der Islam in vielen Punkten versagt hat. Der Islam steht heutzutage für Sexismus (Koran 2:282 und 4:34), Homophobie (Koran 17:32 und 11:77–83), Gewalt (Koran 9:29 und 5:33) sowie die Ausgrenzung anderer Religionszugehöriger und Andersdenkender (Koran 1:6–7, 2:120 und 3:85). Dieselben Koranverse sind gleichermaßen Fundament des friedlichen und des gewalttätigen Muslims. Besonders die drei letzten erwähnten Suren bieten Anknüpfungspunkte für Gewalt. Diese radikalen Koraninhalte dürfen nicht mehr verharmlost oder ignoriert werden. Aus ihnen entspringt, was Pierre Bourdieu als „symbolische Gewalt“ bezeichnet hat. Symbolische Gewalt operiert dezent und alltäglich und sichert die Anerkennung von Herrschaftsordnungen. In den in Medina offenbarten Teilen des Koran findet sich ein ganzes Sündenregister von Juden, Christen und arabischen Heiden, das letztendlich als Rechtfertigung für den bewaffneten Umgang des Propheten mit diesen Gruppen dient. Durch die tägliche Rezitation dieser Verse legitimieren viele Muslime bis heute unbewusst religiöse Gewalt. Davon könnte sich der Islam durch eine Reform seiner Quellen – insbesondere des medinensischen Koran – emanzipieren. Eine solche Reform ist dringender denn je. Es genügt nicht zu behaupten, dass der Islam eine Religion des Friedens ist. Wir müssen ihn auch dazu machen. Alles andere trägt lediglich zu seiner postfaktischen Verklärung und Idealisierung bei.

Im Islam wird zu wenig hinterfragt und vieles ohne Reflexion hingenommen. Besonders die in den muslimischen Gemeinden im Westen vermittelte Religion ist realitätsfremd, nicht zukunftsfähig und unterliegt einer Pädagogik der Unterwerfung. In den hiesigen Moscheen wird permanent eine Religiosität des Verwerflichen gepredigt. Import-Imame und die Wortführer konservativer Politikorganisationen lehren einen starren Katalog von Gut und Böse. Ihr religiöser Diskurs definiert sich einzig durch die Abwertung der Anhänger anderer Religionen, nicht durch die differenzierte Auseinandersetzung mit den eigenen Werten. Ihre Predigten und der sogenannte Koranunterricht in den Moscheen sind eine Ansammlung fertiger Antworten, die eine Suche der Gläubigen nach ihrem Selbst in Berührung mit dem Anderen verhindern wollen.

Die Islamisten haben praktisch nichts Neues erfunden. Sie haben nur das, woran alle Muslime glauben, in die Tat umgesetzt. Die radikalen Muslime

„haben schlicht die Inhalte des gängigen Islamverständnisses überspitzt und radikalisiert. Ihre Haltung zum Umgang mit ‚Ungläubigen‘, ihre Haltung zur umma, zur religiösen Gemeinschaft der Muslime, oder zur Rolle von Mann und Frau unterscheidet sich nur graduell, nicht prinzipiell. Die Basis ist die gleiche, beide, der Imam von nebenan und der IS-Ideologe