Reformation des Herzens - Christina Brudereck - E-Book

Reformation des Herzens E-Book

Christina Brudereck

4,4

Beschreibung

500 Jahre Reformation - was feiern wir da eigentlich? Um was ging es Martin Luther damals? Und hat es noch etwas mit uns heute zu tun - mit unserem Alltag, unserem Glauben, unserem Herzen? Christina Brudereck und Jürgen Mette nehmen uns mit auf eine vierwöchige Reise zu den vier Entdeckungen der Reformation: Gnade, Bibel, Christus und Glaube. Mal persönlich, mal theologisch, dann wieder humorig, lyrisch oder auch ein wenig provokant nähern sie sich diesen vier Säulen, die auch unsere Herzen nicht kalt lassen, wenn wir uns auf sie einlassen.

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Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-22861-8 (E-Book)ISBN 978-3-417-26727-3 (Lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth

3. Auflage 2017

© 2016 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: [email protected]

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen: Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Weiter wurden verwendet: Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten. (ELB) Hoffnung für alle®, © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.® Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel. (HFA) Bibeltext der Schlachter Bibelübersetzung, © 2000 Genfer Bibelgesellschaft. Wiedergegeben mit der freundlichen Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten. (SCH)

Umschlaggestaltung: JoussenKarliczek, Schorndorf Titelbild: Fritz Bielmeier/StockSnap.ioSatz: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch

INHALT

Über die Autoren

Vorwort

Woche 1:Die Entdeckung der Gnade

Tag 1:Gnade. Das Größte!

Tag 2:Wahre Grazie

Tag 3:Mein Luthererlebnis

Extra: Warum ich diese Strophe nicht singen kann

Tag 4:Gnade – eine Gegenbewegung

Extra: Aus Luthers Leben 1

Tag 5:Gnade dir Gott – ein Traum

Tag 6:Was ist schlecht an guten Werken?

Tag 7:Gnade ist Macht, nicht Strafe

Extra: »Ein feste Burg« – Assoziationen zu einer Hymne

Woche 2:Die Entdeckung der Schrift

Tag 8:Das Wort und die Worte

Extra: Aus Luthers Leben 2

Tag 9:In der Bibel zu Hause

Tag 10:Mein Wortschatz

Tag 11:Ich glaube nicht an die Heilige Schrift

Tag 12:Das Bilderbuch Gottes

Tag 13:Warum ich nicht bibeltreu bin

Extra: Der Stachel der Reformation im Fleisch der Kirche

Tag 14:Luther, Gutenberg und die große Geschichte für alle

Extra: Dennoch! Erbarmen. Heilung. Geistkraft. Solidarität.

Woche 3:Die Entdeckung des Christus

Tag 15:Jesus Christus – einzigartig

Tag 16:Christin bin ich wegen Christus

Tag 17:Jesus – wo die Liebe lebt

Extra: Luther als Familienmensch

Tag 18:Venkatesh und das Feuer

Tag 19:Rabbi Jeschua und seine Schüler

Extra: Aus Luthers Leben 3

Tag 20:Mir liebe katholische Ideen

Tag 21:Weil ich Jesu Schäflein bin

Extra: Mein Lutherbild

Woche 4:Die Entdeckung des Glaubens

Tag 22:Der Glaube allein

Tag 23:Glaube und Wissenschaft

Tag 24:Glaube – Vertrauen und Beständigkeit

Tag 25:Glaube und Zweifel

Extra: Das Beste und das Schlimmste

Tag 26:Glaube ist Heimat

Extra: Luther und die Musik

Tag 27:Warum Gnade besser als Karma ist

Extra: Reformation und Politik

Tag 28:Zwischen Spaltung und Versöhnung – eine »Sola-Synthese« zur Verständigung

Extra: Aus Luthers Leben 4

Tag 29:Zwei persönliche Nachworte

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Über die Autoren

CHRISTINA BRUDERECK spricht und reimt, reist und schreibt und verbindet dabei Theologie und Lyrik, Spiritualität und Kultur. Sie lebt in Essen und engagiert sich im CVJM e/motion, einem Gemeinde-Kultur-Projekt mitten im Ruhrgebiet.

JÜRGEN METTE ist Theologe und war geschäftsführender Vorsitzender der Stiftung Marburger Medien. Er ist verheiratet, Vater von drei Söhnen und Großvater von sechs Enkelkindern. Er hat den Spiegel-Bestseller »Alles außer Mikado« verfasst.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

— VORWORT —

Doppelt genäht, hält besser! Ob das auch stimmt, wenn sich zwei Autoren zusammentun, um ein Buch zu schreiben, wissen wir am Ende dieser dualen Schreibwerkstatt. Aber das sei jetzt schon gesagt: Ein Autoren-Duo muss sich zusammenschreiben, zusammen denken, zusammen wahrnehmen, auf Ergänzung bedacht sein, nichts doppeln und nichts verdoppeln, sondern mit unterschiedlichen Stilen und theologischen Schwerpunkten ein Gesamtwerk schaffen, bei dem der Leser nicht mehr in jedem Artikel nach dem Verfasser fahnden muss. Solche umständlich langen und verschachtelten Sätze können zum Beispiel nur von mir, Jürgen Mette, kommen. Wie heißt doch diese neue Modeformel? Man muss sich aufeinander einlassen!

Wir wollen keine Einzelartikel aneinanderreihen, sondern jeweils das »Geschreib« des anderen so ergänzen, dass der Leser darin ein Gesamtwerk erkennt und gern danach greift. Ob das gelingt, das entscheide die verehrte Leserschaft, also du und Sie und ihr.

Ich würde Ihnen gerne meine Co-Autorin vorstellen, oder sagen wir besser: die Initiativ-Autorin, die mich dem Verlag als Co-Autor vorgeschlagen hat.

Ich bezeichne Christina Brudereck gern als die grande dame des geschriebenen und gesprochenen Wortes. Wenn sie auf der Bühne steht, dann redet sie nicht, sie spricht. Mal schnell, mal langsam, mal distanziert, mal engagiert, mal leidenschaftlich, mal cool, mal im schnodderigen Ruhrpott-Slang, mal druckreif pathetisch, gestochen, präzise, immer aber für den Hörer überraschend. Christina Brudereck ist nicht vorhersagbar und sie erfüllt nicht gern gediegene Erwartungen, weder in ihrer Rede noch in ihrer Schreibe. Dabei hat sie den Mut, sich selbst Evangelistin zu nennen. Sie malt ihrem Auditorium die Schönheit des christlichen Glaubens vor Augen, die Liebe Gottes, die Gemeinschaft des Heiligen Geistes und die Barmherzigkeit Jesu. Das geschieht in lyrischen Passagen, in biografischen Episoden, in anspruchsvollen Lehrvorträgen, immer mit einem Bezug auf die weltweite Gemeinde Jesu, immer um den Dialog bemüht, um das hörende Verstehen. Dabei lebt sie in einer feinen Art Wertschätzung gegenüber Menschen fremder Religionen, ob in Indien, Myanmar oder im Musterland der drei monotheistischen Weltreligionen – Israel.

Christina Brudereck ist studierte Theologin und produktive Autorin, sie war im Dienst der rheinischen Kirche und lebt jetzt als freischaffende Referentin für Spiritualität und Menschenrechtsfragen mit ihrem Mann, dem Pianisten Benjamin Seipel, in einer Wohngemeinschaft in Essen.

Meine persönliche Ambition, mich für dieses Projekt einzusetzen, ist einfach die Sorge, dass das Reformationsjubiläum wie viele andere Jubiläen kommt und geht, ohne dass es zu nachhaltigen Aufbrüchen kommt. Ich will mich dafür einsetzen, dass Christen sich von der Botschaft der Reformation Luthers und anderer Reformatoren anstecken und erwecken lassen.

Ich bin Christina Brudereck. Ich habe mich über die Idee des Verlages zu diesem Buch gefreut. Reformation – die feiere ich gerne. Alle 500 Jahre auch gern etwas größer. Denn ich halte Kirche für reformierungsbedürftig. Wie auch mich selbst. Die Frage nach einer Reformation des Herzens traf sofort mein Interesse. Die Idee, dieses Projekt gemeinsam mit einem Mann zu verwirklichen (»Suchen Sie sich einen!« – was für eine schöne Aufforderung!), lockte mich auch. Die gemeinsame Wahl fiel auf Jürgen Mette. Mein Co-Autor ist Theologe. Er hat sich als Jugendpastor, Gemeindeberater, Evangelist und Lehrbeauftragter an der Evangelischen Hochschule Tabor engagiert und als Vorstandsvorsitzender der Stiftung Marburger Medien. Er ist ein Denker, Musiker und Manager. Aber die vielen Aufgaben, Posten, Vorstandsämter sind nicht das Wichtigste. Er ist Vater von drei großartigen Kindern, drei tollen Menschen und hochbegabten Musikern. Er ist verheiratet mit Heike. Schon Großvater von sechs Enkelkindern. Er ist Marburger, hat aber auch im Mittleren Westen der USA gelebt. Was ich über ihn sagen kann, die ich mit diesem Projekt zum ersten Mal so eng mit ihm zusammenarbeite: Die Herausforderung, mit der Diagnose Parkinson zu leben, wirft große Fragen auf. Jürgen stellt sich ihnen. Die Krankheit verstärkt seinen Mut, klare, offene Worte zu sprechen. Bringt seine tiefste Lebensberufung zutage, Glaube, Hoffnung und Liebe zu teilen. Er nutzt seine Zeit und lässt sich nicht ablenken. Ich lerne mit ihm, dass Brüche eine kostbare Gelegenheit sind, ganz wir selbst zu sein. Ich erlebe, was eine Reformation des Herzens ist.

Wir laden Sie ein, zu lesen, mitzugehen, einzuhaken. Wir verstehen unsere Beiträge als Impulse, die wir zur Debatte stellen. Sie sind ausdrücklich für den Austausch gedacht. Für Widerspruch und Rückfragen. Sie sind protestantisch – und lieben daher auch den Protest. Wir wollen Impulse geben für ein Gespräch, das schon vorher angefangen hat in Ihnen und anschließend weitergeht. Was wir teilen, ist Ausdruck unserer Erfahrung und Theologie.

Und das ist die Aufgabe, die uns der Verlag gestellt hat: Wie legen wir die vier sogenannten Exklusivpartikel Martin Luthers für unsere heutige Zeit aus: allein die Gnade, allein die Schrift, allein Christus und allein der Glaube? Die vier kompakten theologischen Grundsätze, auch Ausschließlichkeitsformeln genannt, fassen das Zentrum der reformatorischen Theologie zusammen. Wir finden sie bereits bei dem großen Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225–1274). Die reformatorische Verwendung dieser vier Begriffe konzentriert sich auf das solus, allein. »Allein aus Gnade« heißt also ausdrücklich »nicht aufgrund menschlicher Leistungen«.

Diese vier Kernbegriffe stellen unser Leben und Denken infrage, auch nach 500 Jahren. Sie haben nichts von ihrer Wirkung verloren, sind wie theologische Prüfkriterien unseres Glaubens. Daran wollen wir immer wieder unseren Glauben messen und uns im flotten Strom aller spirituellen Modewellen verorten und verankern. Wir stellen uns dieser Prüfung – persönlich, nicht auf die Institution Kirche bezogen, sondern auf unsere Herzenshaltung. Es geht um die Frage: Bin ich in meinem Glauben und Denken reformfähig, bereit zur Erneuerung, bereit zur Korrektur? Das Buch gliedert sich in vier Teile mit je sieben Kapiteln – oder vier Wochen mit je sieben Tagen. Jede Woche widmet sich inhaltlich einem dieser vier Themen – Gnade, Schrift, Christus, Glaube.

Wir ermutigen Sie dazu, sich nicht allein auf den Weg zu machen, sondern gemeinsam mit anderen die Reformation der Herzen anzustoßen. Suchen Sie sich Freunde, Wegbegleiter, Mitchristen oder Suchende und treffen Sie sich fünf Wochen lang, um das Gelesene zu diskutieren, zu vertiefen, im Alltag praktisch werden zu lassen. Dazu finden Sie am Ende dieses Buches einen Leitfaden für Kleingruppentreffen. Darüber hinaus bietet Ihnen die gleichnamige DVD wunderbare Gesprächsimpulse; Experten zum Thema sowie bekannte Persönlichkeiten teilen ihr Wissen und ihre Erlebnisse mit Ihnen und lassen so weitere Facetten der vier Entdeckungen der Reformation aufleuchten.

Wir sind dankbar für die Gelegenheit, die dieses Buch schafft – über Gnade, Wort, Christus und den Glauben zu sprechen. Unser größter Wunsch ist, dass alle Worte, geschrieben und gesprochen, gebetet und ersehnt, uns zum Guten und zur Güte verändern. Dass wir beherzt leben!

Christina Brudereck und Jürgen Mette

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— WOCHE 1 — DIE ENTDECKUNG DER GNADE

Nicht die Gnade, die Paulus empfangen, begehr’ ich, nicht die Huld, mit der du dem Paulus verziehen, die nur, die du dem Schächer am Kreuz gewährt hast, nur die erfleh’ ich.

Nikolaus Kopernikus (1473–1543), aus seiner Grabinschrift

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— TAG 1 — GNADE. DAS GRÖSSTE!

Eigentlich wollte ich diese Geschichte nicht zum Besten geben, schon gar nicht als Eröffnung dieses Buches. Es gibt Kindheits- und Jugenderfahrungen, über die man lieber dezent das Schweigen breitet. Aber oft sind es die peinlichen Erlebnisse, die tiefere Spuren in unserem Gewissen und Gemüt hinterlassen, als uns das bewusst ist.

Um das größte Geschenk Gottes für unser Leben zu beschreiben, es fassbar zu machen, erzähle ich diese Geschichte. Die Geschichte von einem Vater, der gerecht sein wollte und im Vollzug der Strafe so von der Gnade erfasst wurde, dass die Züchtigung im Ansatz stecken blieb.

Ich muss in der dritten oder vierten Klasse gewesen sein, als unsere Grundschullehrerin mal wieder eine dieser typischen Fragen stellte, auf die immer nur die Mädchen zu antworten wussten. Sie fragte nämlich, wer von uns zu Hause eine Strickmaschine habe. Sie stellte immer solche typischen Frauenfragen: »Wer hat zu Hause ein Dampfbügeleisen?« »Wer hat schon mal mit einer elektrischen Küchenmaschine gearbeitet?« In diesem Revier hatte ich nichts zu melden. Ich wusste gar nicht, was eine Strickmaschine ist. Wie gern hätte ich einmal damit geprotzt, dass wir zu Hause im elterlichen Holzbaubetrieb Kreissägen hatten, Stichsägen, Bohrmaschinen, Hobelmaschinen und andere technische Innovationen. Aber die Lehrerin fragte nach einer Strickmaschine. Und bevor eins der Mädchen die Hand heben konnte, um stolz zu verkünden, dass sie zu Hause eine Strickmaschine hätten, habe ich mich frech gemeldet und allen Ernstes behauptet, wir hätten so ein Wunderwerk der Technik. Das war natürlich eine Lüge, meine Mutter war Geschäftsfrau und hatte mit Buchhaltung und Büromanagement zu tun; sie hätte nie im Leben Zeit gehabt, an der Strickmaschine zu sitzen. Aber ich wollte den Mädchen das Maul stopfen – und so erfand ich die dreiste Lüge von der Strickmaschine.

Ich hatte die Sache schnell wieder vergessen, aber meine Lüge sollte Folgen haben. Als ich abends bei anbrechender Dunkelheit beim Bauern in der Nachbarschaft die Milch holte und mich dort noch ein bisschen schwatzend aufhielt, kam mein Bruder angelaufen, ich solle gefälligst sofort nach Hause kommen, die Lehrerin sei da und wolle die Strickmaschine besichtigen. In seinen Augen war ein merkwürdiges Glitzern, das ich heute als schadenfroh bezeichnen würde. Wir haben in all den Jahren immer wieder herzlich über diese Episode gelacht.

Damals jedoch packte mich das blanke Entsetzen und ich machte mich von Scham und Angst gepeinigt auf den kurzen Heimweg. Die Lehrerin war inzwischen schon wieder gegangen, meine Mutter saß kopfschüttelnd mit roten Ohren am Küchentisch und riet mir, unverzüglich in Vaters Büro zu erscheinen. Sie wirkte so, als würde sie mich am liebsten mit einer Ohrfeige auf das Gespräch mit Vater vorbereiten. Meine Mutter war mit einer leichten Ohrenmassage durchaus schnell bei der Hand, mein Vater indes gar nicht.

So schlich ich zum Büro meines Vaters und öffnete zaghaft die Tür. Er bat mich herein und eröffnete mir unumwunden, wie erschüttert er über die Dreistigkeit sei, mit der ich die Lehrerin getäuscht und damit meine Eltern in große Verlegenheit gebracht hätte.

Wenn er doch bloß zornig reagiert hätte, wenn er sich wenigstens kurz aufgeregt hätte, damit wäre ich klargekommen. Aber die Erschütterung, die noch durch seine gebeugte Körperhaltung am Schreibtisch unterstrichen wurde, die Schmach, die ihn krümmte, und die Traurigkeit auf seinem Gesicht – das war es, was mich so traf. Ach würde er mich jetzt zum ersten Mal in meinem Leben verprügeln, würde er mir eine zornige Standpauke halten, das würde ich verkraften. Aber er sah mich schweigend an und eröffnete mir mit völlig beherrschten Worten, dass er keine andere Möglichkeit sehen würde, als mich jetzt körperlich zu züchtigen. Er nahm von seinem Reißbrett einen 50 cm langen Maßstab, edles Buchenholz mit weißer Skala, legte mich umständlich über sein Knie – er hatte ja in dieser Prozedur keine Übung – und verpasste mir einen Streich auf den Allerwertesten. Während dieser nahezu schmerzfreien Übung liefen ihm die Tränen über das Gesicht. Er wollte mich züchtigen, weil er keinen anderen Ausweg sah, aber während er zur Zuchtrute griff, muss ihn das Erbarmen ergriffen haben. Die Tränen auf seinem unendlich traurigen Gesicht waren mir Strafe genug. Im Vollzug des Gerichts wurde er selbst von der Gnade besiegt und überwunden, sodass er an mir, seinem geliebten Sohn, Gnade vollzogen hat und nicht das Gericht.

Was immer ich in meinem Leben über meinen Vater vergessen werde, diese kleine Sequenz werde ich nie vergessen. Er war ein Mann, der von der Gnade Gottes gelebt hat, und darum konnte er gnädig sein. Die lächerliche körperliche Züchtigung war nichts im Vergleich zu dem Schmerz auf seinem Gesicht. Und noch schlimmer war es für mich, dass er tagelang kaum gesprochen hat, nicht gesungen, nicht gepfiffen. Er hat an der Dreistigkeit seines Sohnes einfach nur gelitten. Ich konnte ihm auch nicht vermitteln, dass es eigentlich gar keine Lüge war, sondern ein Befreiungsschlag gegen die Weiberherrschaft in meiner Schulklasse. Aber solch eine Deutung hätte ihn wahrscheinlich noch mehr erschüttert.

Er war ein Mann, der von der Gnade Gottes gelebt hat, und darum konnte er gnädig sein.

Als mein Vater dann wenige Tage später wieder in den normalen Verhaltensmodus geriet und auch wieder redete, war das für mich ein großes Freudenfest. Seitdem weiß ich, was Gnade ist. Da leidet einer an der Schuld seiner Leute, hätte allen Grund zu richten, zu ordnen, abzufertigen, ohne eine zweite Chance. Aber er wird selbst von der Gnade überwältigt und lässt Gnade vor Recht ergehen.

Das ist der Grund, warum für mich das sola gratia die wichtigste der vier Entdeckungen der Reformation geworden ist. Die vier sogenannten Exklusivpartikel sola gratia, sola scriptura, sola fide und solus Christus stehen ohne Rangstellung nebeneinander, nicht in einer Wertigkeit hintereinander, aber »allein die Gnade« ist für mich das stärkste Bekenntnis meines Glaubens geworden. Obwohl die Gnade ohne Christus nie mit Leben gefüllt würde und der Glaube ohne die Schrift nicht zustande käme, ist die Gnade die geistliche Qualität, ohne die ich verzweifeln müsste.

So eröffnen wir diese vierwöchige Reise mit der Betrachtung des sola gratia. Der Mensch wird allein durch Gnade gerechtfertigt und nicht aufgrund seiner eigenen Werke, mögen sie noch so geistlich motiviert sein. Jede Heilsinitiative, jede eigene Heilskooperation ist ausgeschlossen. Bei Luther ist die Gnade die favor dei, die Gunst Gottes, die von außen das Erbarmen Gottes über uns ausgießt. Gnade ist kein natürliches Qualitätsmerkmal unseres Lebens, sie kommt nicht aus uns. Sie kommt unverdient und völlig überraschend über unser Leben, gerade dann, wenn wir uns unserer ganzen Unwürdigkeit und Ausweglosigkeit bewusst sind.

Gnade ist kein natürliches Qualitätsmerkmal unseres Lebens, sie kommt nicht aus uns. Sie kommt unverdient und völlig überraschend über unser Leben.

Luther argumentierte gegen die vorherrschende scholastische Theologie, die die Gnade als eine im Menschen vorfindliche oder zu erwerbende Fähigkeit verstand. Die andere Front, an der Luther das neue Verständnis von Gnade verteidigen musste, war der von Rom geduldete kirchliche Ablasshandel. So entwickelte er das Thema zum alles umfassenden Kern- und Kristallisationspunkt des Evangeliums. Das ganze Evangelium ist in diesem Begriff »Gnade« ausgedrückt, komprimiert und entfaltet.

Wir sehnen uns nach Gnade, wir würden ohne Gnade der letzten Hoffnung unseres Lebens beraubt. Wir leben von der Gnade. Darum ein herzliches Willkommen zum ersten Grundpfeiler der Reformation: allein die Gnade. (JM)

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— TAG 2 — WAHRE GRAZIE

Dürfte ich nur ein Wort des Glaubens wählen, ich nähme die Gnade. In dieser erfolgsverwöhnten, selbst optimierten Zeit, in der Scheitern um jeden Preis vermieden werden muss. Hier steckt für mich das wichtigste Protest-Potenzial des Protestantismus. Er widerspricht der Gnadenlosigkeit. Geiz ist nicht geil, Gnade ist großartig. Menschen sind nicht nur Nummern, sie haben Namen. Nicht allein, was wir leisten, gibt uns Wert. Nicht dass wir kaufen, horten, bauen, begründet unsere Würde, sondern dass wir ins Leben geliebt wurden. Dass wir in Beziehung leben, zu uns selbst, zu anderen, zu dieser Welt und zur Anderswelt, stiftet Sinn in unserem Leben.

Klug und gerne klüger, gescheit und noch gescheiter, höher, schneller, weiter auf der Karriereleiter. Wenn er fällt, dann? Mails checken. Auch mal wieder joggen. Das dann später bloggen. Immer rege, der Stratege, Imagepflege. Die Frisur, die Figur, die Statur. Wochenplan, Größenwahn, nix spontan.

Lange schon kein Schlendrian. Autobahn, Autobahn, Autobahn. Deutschlandfunk, Afghanistan. Ganz weit weg und weiter. Wenn er fällt, dann? Baldrian. Telefon, wieder Mutter, schriller Ton, kenn ich schon. Explosion, Freiheit – eine Illusion. Eine Ahnung: dass das hier nicht alles ist. Dass du ganz schön was vermisst. Trug, Betrug, Betrüger, klug wär schön, nur klüger als jetzt und hier.

Atemnot, schwere Not, Sod, Sodbrennen. Flennen, rennen, pennen für vier Stunden in der Nacht, Wecker gerne umgebracht. Deine neue Quote, viele Angebote. Noch ein bessres Angebot. Du bist dein eigener Despot.

Ampel rot. Unterbrechung, Pause, Zeit für eine Flause. Doch verpasst, ungenutzt, Idiot. Zurechtgestutzt. Wieso geht das nicht schneller? Flotter, rascher, stets erpicht, grüner wird es nämlich nicht. Du bist schließlich tüchtig. Süchtig, sehn, sehn, süchtig.

Erster Gang und weiter. Wenn er fällt, dann? Geld verdienen. Dienen, dienen, dienen. Den Terminen, großer Druck. Noch ein Schluck, starker Kaffee, dann ruck, zuck. Zuck zusammen, 20 Uhr, schon. Die Tortur mit Bravour, allerhöchste Konjunktur. Nur, nur, nur – wo bleibt die Zeit? Sonnig, wolkig, heiter, reiß dich zusammen, weiter. Wenn er fällt, dann? Schreit er! Aus proppenvoller Kehle: Sieht niemand, dass ich fehle? Dass ich nur noch stehle – Zeit und meine Seele? Dass ich nicht mehr schenke, mich nicht mehr bedenke? Nicht mehr liebe, mich nicht lieben lasse? Dass ich nur noch …

Weiter. Sonderschicht, Leistungspflicht, Selbstgericht. Genuss, Verzicht – leider nicht im Gleichgewicht. Im Radio Bob Dylan. Unterbrechung. »How many roads?« Und du denkst an deine Gitarre, die alte Gibson. An Feuer, Sternenhimmel, die erste große Liebe. Du hast lange nicht mehr gesungen. Du wolltest immer ein Kind – haben, hüten, sein.

Weiter. Stau. Leisten kann ich mir das nicht. Sonderschicht, Leistungspflicht, Dämmerlicht, Naturgedicht. Schlicht ergreifend, selig Sicht: Abendrot. Unterbrechung, Pause. Zeit für eine Flause. Kurz wünschst du dir ein paar Flügel – bis ans Meer. Ein Pferd und keine Zügel. Musik, ein Kuss, mal kein Muss. Du am Strand, der Reiter. Aber du musst weiter. Bist nicht gerne Zweiter. Wenn er fällt, dann? Ampel, Dylan, Abend, rot – eigner Tod?!

Unterbrechung, Halten. Atmen, Runterschalten. Lernen von den Alten: Ruhe, Hände falten. »Lehre mich bedenken, dass ich endlich bin. In deine Lieb versenken, dass ich endlich bin. Deute uns aufs Wesentliche hin. Weisheit, fette Beute, mach uns klug. Klug genug für heute. Dass ich endlich bin. Dass wir zufrieden leben.«

»Lehre uns, unsere Tage zu zählen, damit unser Herz Weisheit gewinnt. Lass uns aufatmen. Am Morgen sättige uns mit deiner Freundlichkeit, dass wir uns erfreuen an allen unseren Tagen.«

(Psalm 90,12.14; eigene Übersetzung)

Dürfte ich nur ein Wort des Glaubens wählen, ich nähme die Gnade. In gnadenlosen Zeiten, in denen Erfolg uns alles diktiert. Im Job. Zu Hause. Unser Wille muss funktionieren. Unser Körper. Auch unsere Gemeinde, unser Glaube.

Ich wähle die Gnade. Denn sie wählt immer wieder mich. Sie macht mir klar, dass ich endlich bin. Sie hilft mir, in meine Begrenztheit einzuwilligen. Sie liebt mich in meinen Niederlagen und mit meiner Schwäche. Sie sieht meine Fehler freundlich an. Sie begleitet mein Leben und mein Sterben. Sie erinnert mich täglich daran, dass ich mich nicht selbst retten muss.

Gnade ist Geschenk.

Lateinisch gratia. Ich verdanke mein Leben nicht mir selbst. »Alles, was ich weiß, weiß ich von einem andern« (Herman van Veen). Alles, was ich bin und habe, und den Namen, den ich trage, verdanke ich anderen.

Gnade ist Gabe.

Griechisch charis. Begabung. Etwas, das ich mir nicht nur mit Fleiß und Preis erklären kann. Was Gabe ist, kann ich nicht organisieren, planen, kaufen.

Gnade ist Solidarität.

Hebräisch chesed. Das Extra der Güte. Großzügige Nachsicht. Wenn jemand mehr tut, als er muss. Ohne zu klagen. Ohne Rechnung. Ohne Verpflichtung. Weitherzig. Der Busfahrer, der wartet. Die Lehrerin, die Geduld hat. Der Banker, der ein Auge zudrückt. Die Prüfung, die nachgeholt werden kann. Die Zeugin, die mich entlastet. Der Nachbar, der für mich eintritt. Die Chance, mit allen Fehlern weiter in Gemeinschaft leben zu können. Treue trotz allem.

Gnade ist Zukunft.

Begnadigung. Freispruch. Die Freiheit der offenen Zukunft. Das Recht, ein anderer Mensch zu sein. Nicht für immer festgelegt zu werden – auf meine Vergangenheit, auf das, was ich getan habe und mir habe antun lassen. Gnade eröffnet eine neue Zukunft.

Gnade ist Bund.

Gnade ist weit mehr als der persönliche Zuspruch. Sie ist umfassende Verheißung. Eine weltverändernde Größe. Es geht nicht nur darum, dass Gott mir privat und individuell gnädig ist, sondern Gnade ist Gottes Blick, Gottes Tun, Gottes Engagement für diese Welt. Gott kommt mit seiner Schöpfung zum Ziel. Gnade ist Gottes Gerechtigkeit, die allem Leben zu Recht hilft. Gnade ist Gottes Versprechen, Gottes verbindliche Art gegenüber Familie Mensch.

Gnade ist Gottes Gerechtigkeit, die allem Leben zu Recht hilft.

Gnade ist Grazie.

Sie verleiht mir Anmut. Sie macht mich zur Schenkerin. Sie macht mein Herz weich. Sie legt Glanz in meine Augen. Ich höre: »Alles ist gut«, und kann den Blick wieder heben. Mich wieder trauen, zu leben.

Gnade ist eine sympathische Begleiterin.

Sie ist sonntäglich und alltagstauglich. Sie geht mit in den Montag. Sie ist mittwochs gut drauf. Sie hat am Freitag noch Energie. Sie vergewissert sich am Sonntag. Denn wenn wir Gottesdienst feiern, dann kommen wir nicht zusammen, weil wir perfekt sind. Sondern wir kommen mit unseren Brüchen und Verletzungen. Mit unserer Verzweiflung, Schuld und unserem Unglauben. Mit Ängsten. Mit unserer Sehnsucht. Sehnsucht.

Gnade ist die offene Tür.

Lücke in der Mauer. Ausweg. Ich muss nicht funktionieren. Ich darf leben. Ich darf müde sein. Ich darf vergessen. Ich darf passiv sein. Ich muss nichts beweisen. Ich bin geliebt, einfach, weil ich da bin. Ich habe keine Eintrittskarte? Ich darf dabei sein. Keine gültigen Papiere? Ich bekomme Bleiberecht. Den Test nicht bestanden? Ich gehöre doch zu den Erwählten. Das Codewort fällt mir nicht ein? Die Tür öffnet sich.

Gnade ist das erlösende Wort.

Du bist frei. Ja, ich will. Erzähl mal. Sie dürfen gehen. Bleib doch. Lass mich mal sehen. Sie haben Ihr Ziel erreicht. Geschafft. Geheilt. Alles ist gut. Gerettet.

Gnade ist eine Kraft.

Sie wirkt. Fasziniert. Beseelt uns. Sie schenkt Zeit. Sie ist die Gegenkraft zu Leistung, Optimierung, Effizienz, Profit. Sie überwindet Grenzen, Abgrenzung und Urteile. Sie ruft uns in die Freiheit.

Gnade ist Glück.

Sie suchen? Die Gnade sagt Ihnen: Du bist schon gefunden. (CB)

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— TAG 3 — MEIN LUTHERERLEBNIS

Wann immer ich auf der A4 Richtung Dresden unterwegs bin und an Eisenach vorbeifahre, läuft mein Lebensfilm rückwärts. Dorthin, wo Martin Luther vor 500 Jahren eine wesentliche Epoche der Reformation seiner Weltanschauung und seines gesamten theologischen Denkens erlebt und erlitten hat. Kaiser Karl V. hatte Luther nach seinem mutigen Auftritt vor dem Reichstag in Worms zum Ketzer erklärt, aber er hatte ihm freies Geleit zugesichert. Er war vogelfrei, jeder hätte ihn beseitigen können. Als Luther am 4. Mai 1521 nahe Eisenach überfallen und entführt wurde, wusste er nicht, dass dieser Überfall nur fingiert war, um ihn im Auftrag Friedrichs des Weisen vor den Mordabsichten Dritter zu schützen.

Luther wurde auf die Wartburg zu Eisenach gebracht, wo er im Schutz dieser imposanten Festung das Neue Testament in die deutsche Sprache übertrug. Die einfachen Leute – ohne lateinische Sprachkenntnisse – sollten mündige Leser der Bibel werden. In nur drei Monaten stellte er dieses anspruchsvolle Projekt fertig. Im Frühjahr 1522 wurde das Werk in Druck gegeben und im September kam es ohne Nennung des Übersetzers in die Hände der wenigen, die damals lesen konnten. Die Erstauflage betrug 3000 Stück und war innerhalb kürzester Zeit vergriffen. Luther hätte allen Grund zur Niedergeschlagenheit gehabt, aber er resignierte nicht, sondern signierte, schrieb, kennzeichnete.

Genau dort zittert sich 500 Jahre später ein unbedeutender Theologe aus der sicheren Festung seines erfolgsverwöhnten Lebens in die bis dahin gänzlich fremde Welt einer chronischen Erkrankung. Mein Burgerlebnis. Erste Bekanntschaft mit dem unangenehmen Herrn Parkinson, der Schüttellähmung, die nicht nur meinen Körper schütteln sollte, sondern auch meine Seele und meinen Geist mitsamt dem so sicher geglaubten theologischen Fundament.

»Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen.« Vielleicht hatte Luther das Bild der Festung Wartburg vor Augen, als er diesen Klassiker der Kirchenmusik irgendwann zwischen 1521 und 1530 schrieb. Anlass für den wuchtigen und triumphalen Text war entweder die heranziehende Pest oder die heranziehenden osmanischen Invasoren. Wenn heute alle Strophen dieses trotzigen Klassikers inbrünstig geschmettert werden, wird mir bei einem bestimmten Vers immer ganz seltsam zumute. Mir fällt es schwer, die folgende Strophe zu singen:

Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: Lass fahren dahin, sie haben’s kein’ Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben.

Nein, diese starken Lippenbekenntnisse sind nicht durch meinen kleinen Glauben gedeckt. Da schweige ich lieber betreten. Vielleicht bin ich in zehn Jahren so weit, dass ich Gott singend bitte, mir meinen Zitterleib abzunehmen. Luther verkörpert geradezu diese »feste Burg« – ich nicht. Für mich war das Wartburgerlebnis der Anfang einer zunehmend brüchigen Lebensfestung. Wart’ Burg, ich will die Lektion lernen, die mir in deinen Mauern gestellt wurde.

Wart’ Burg, ich will die Lektion lernen, die mir in deinen Mauern gestellt wurde.

Von der historischen Wartburg zurück zur Wartburg als Filmkulisse. Wir produzieren eine Bibelgesprächsserie über den Römerbrief. Die ersten sechs Folgen sind im Kasten. Um Mitternacht schlurfe ich müde über die dicken Teppiche des altehrwürdigen Hotels. Ich bekomme die Füße nicht mehr richtig hoch. Man hört mich kommen und gehen. Ich fühle mich von allen beobachtet.

Beim Mittagessen zittert die ganze linke Seite. Reis und Nudeln fliegen erstmals aus halber Höhe von der Gabel. Fleisch und festkochende Kartoffeln sind kein Problem. Da kann man zustechen, aber drei Erbsen auf einer Gabel zu balancieren, das ist Tischakrobatik der gehobenen Klasse. Ab jetzt wird Reis nur noch mit dem Löffel verspeist. Was macht bloß ein an Parkinson leidender Asiate mit seinen Stäbchen? Richtig, er nimmt sie, um den Ofen anzuschüren.

In jenen Nächten steht erstmalig das Gespenst namens »Morbus Parkinson« an meinem Bett und grinst mich höhnisch an. Ich weiß nichts über die Krankheit, aber ich weiß, dass ich sie habe, besser: dass sie mich hat. Ich schlafe mit Panik ein und wache mit Panik auf. In vier Tagen sind zwölf Folgen im Kasten. Die Regie ist trotz meiner Zitterpartie zufrieden.

Mit dem beklemmenden Gefühl, dass der Rest meines Lebens von diesem Wartburgerlebnis bestimmt sein wird, fahre ich durch die wunderschöne Winterlandschaft des Thüringer Waldes zurück nach Marburg. Diese Strecke ist die junge Witwe Elisabeth von Thüringen im Jahr 1228 mit ihrer Magd Guda und ihren beiden Kindern von der Wartburg bis nach Marburg gelaufen, um sich dort um die Schwachen und Kranken zu kümmern. Das heute so selbstverständliche Hospitalwesen geht auf die »heilige Elisabeth« zurück, auf ihr Mitleid mit den Armen und ihre leidenschaftliche Hingabe an die Verwahrlosten ihrer Zeit. Jedes Mal, wenn ich an Eisenach vorbeifahre, bin ich im Geist bei dieser starken Frau, die infolge der unzureichenden hygienischen Bedingungen bereits im Alter von 24 Jahren starb. Sie hat sich für ihre Patienten restlos verzehrt, aber ihr Lebenszeugnis steht mir täglich vor Augen, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit die nach ihr benannte Elisabethkirche sehe. Das soll im letzten Lebensviertel auch mein Bestreben sein: von der Gnade Gottes überwältigt, Menschen wohlzutun, die in ihrem Leben viele Gründe hatten, an der Gerechtigkeit Gottes zu zweifeln. Vielleicht nicht so streitbar und fundamental wie der große Reformator Martin Luther, aber ganz im Sinne eines ihm zugeschriebenen Textes:

Mir ist es bisher wegen angeborener Bosheit und Schwachheit unmöglich gewesen, den Forderungen Gottes zu genügen. Wenn ich nicht glauben darf, dass Gott mir um Christi willen dies täglich beweinte Zurückbleiben vergebe, so ist´s aus mit mir. Ich muss verzweifeln.

Aber das lass ich bleiben. Wie Judas an den Baum mich hängen, das tue ich nicht. Ich hänge mich an den Hals oder Fuß Christi, wie die Sünderin. Ob ich auch noch schlechter bin als diese, ich halte meinen Herrn fest.

Dann spricht er zum Vater: Dies Anhängsel muss auch durch. Er hat zwar nichts gehalten und alle deine Gebote übertreten, Vater, aber er hängt sich an mich. Was will´s? Ich starb auch für ihn, lass ihn durchschlüpfen. Das soll mein Glaube sein.

Ich lerne zu akzeptieren, dass ich das Muskelmanagement künftig mit diesem üblen Genossen namens Parkinson teilen muss, aber ich weiß auch um die Sperrbezirke, in die er nicht vordringen darf. Doch richtig sicher bin ich mir auch da nicht. Umso überzeugter kann ich allerdings im Rückblick auf mein Wartburg-Trauma mit Luther bekennen:

Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen!

Könnte es sein, dass alle nachhaltigen Reformen von Reformern getragen werden, die gar keine Reformation angestrebt haben, sondern schlicht und einfach den Gehorsam des Glaubens gelebt haben? Ob es eine Reformation war, mag die Nachwelt beurteilen. Wenn nur jeder an seinem Abschnitt treu seine Arbeit tut und auch ohne Applaus fröhlich motiviert bleibt, dann könnte der christliche Glaube von der Harmlosigkeit befreit werden, mit der heute oft in die Welt blickt. Geheilt muss man dazu nicht sein, aber heil. Dann werden die Akzente neu gesetzt. Wer die Gnade Gottes erlebt hat, kann selbst Gnade walten lassen. Das ist meine Herzensreformation. (JM)

Wer die Gnade Gottes erlebt hat, kann selbst Gnade walten lassen.

EXTRA: WARUM ICH DIESE STROPHE NICHT SINGEN KANN

Ich singe gern. Und es singt aus mir heraus, wenn alle um mich herum singen. Da werde ich mitgezogen und ertappe mich immer wieder als gedankenloser Mitsänger.