Regeln - Lorraine Daston - E-Book

Regeln E-Book

Lorraine Daston

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Beschreibung

Regeln ordnen fast jeden Aspekt unseres Lebens. Sie legen unsere Arbeitszeiten fest, bestimmen unser Verhalten im Straßenverkehr und ob es angebracht ist, zur Begrüßung die Hand zu geben oder die Wange hinzuhalten. Regeln organisieren die Riten des Lebens von der Geburt bis zum Tod. Nicht alle Regeln, die wir haben, mögen uns gefallen, und manche, die uns abgehen, sehnen wir herbei. Doch keine Kultur kann ohne sie auskommen.

In ihrem reich bebilderten Buch zeichnet die Historikerin Lorraine Daston nach, wie sich Regeln in der westlichen Tradition seit der Antike entwickelt haben. Sie dokumentiert deren verwirrende Vielfalt anhand einer Fülle von Beispielen – von juristischen Traktaten über Militärhandbücher bis hin zu Kochrezepten –, entdeckt aber auch, dass es nur wenige Grundarten gibt, die über die Zeiten Bestand hatten: Algorithmen, Gesetze und Modelle. Und sie zeigt, wann Regeln funktionieren, wie sie sich verändern können und warum einige philosophische Fragen zu Regeln so alt sind wie die Philosophie selbst, andere hingegen so modern wie Rechenmaschinen. Ein souverän geschriebenes, fesselndes Buch über die Zwänge, die uns leiten – ob wir es wissen oder nicht.

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Seitenzahl: 609

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Cover

Titel

3Lorraine Daston

Regeln

Eine kurze Geschichte

Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff

Suhrkamp

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Rules. A Short History of What We Live By bei Princeton University Press

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der deutschen Erstausgabe, 2024.

© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023Copyright © 2022 by Princeton University Press

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Brian Barth

Umschlagabbildung: Hendrik Goltzius, Ars et Usus (Kunst und Übung), © The Trustees of the British Museum

eISBN 978-3-518-77785-5

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

5Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

1 Einleitung Die verborgene Geschichte der Regeln

Hinweise auf eine verborgene Geschichte

Regeln als Paradigmen

und

Algorithmen

Universalien und Einzeldinge

Eine Geschichte des Selbstverständlichen

2 Antike Regeln Richtscheite, Modelle und Gesetze

Drei semantische Cluster

Die Regel ist der Abt

Vorbildern folgen

Schluss: Regeln zwischen Wissenschaft und Handwerk

3 Die Regeln der Kunst: Kopf und Hand vereint

Die verstehende Hand

Füllige Regeln

Regeln im Krieg

Kochbuchwissen

Schluss: Hin und her, weder das eine noch das andere

4 Algorithmen vor der mechanischen Berechnung

Das Klassenzimmer

Was war ein Algorithmus?

Allgemeinheit ohne Algebra

Rechner vor den Rechnern

Schluss: Schlanke Regeln

5 Algorithmische Intelligenz im Zeitalter der Rechenmaschinen

Mechanische Befolgung von Regeln: Babbage und Wittgenstein

»Erst organisieren, dann mechanisieren«: Der Mensch-Maschine-Workflow

Mechanische Achtsamkeit

Algorithmen und Intelligenz

Schluss: Von der mechanischen zur künstlichen Intelligenz

6 Regeln und Vorschriften

Gesetze, Regeln und Vorschriften

500 Jahre Regelversagen: Der Kampf gegen die Mode

Regeln für eine widerborstige Stadt: Die Straßen im Paris der Aufklärungszeit unter Kontrolle bringen

Allzu erfolgreiche Regeln: Die Rechtschreibung

Schluss: Von Regeln zu Normen

7 Gesetze des Naturrechts und Naturgesetze

Die grandiosesten Regeln von allen

Naturrecht

Naturgesetze

Schluss: Universelle Gesetzlichkeit

8 Das Beugen und Brechen von Regeln

Am Limit

Kasuistik: Harte Fälle und zarte Gemüter

Billigkeit: Wenn Recht zu Unrecht wird

Vorrecht und Ausnahmezustand: Herrscher und die Herrschaft des Rechts

Schluss: Was war zuerst, die Regel oder die Ausnahme?

Epilog Wovon der Bruch mehr ehrt

Dank

Anmerkungen

1. Einleitung: Die verborgene Geschichte der Regeln

2. Antike Regeln: Richtscheite, Modelle und Gesetze

3. Die Regeln der Kunst: Kopf und Hand vereint

4. Algorithmen vor der mechanischen Berechnung

5. Algorithmische Intelligenz im Zeitalter der Rechenmaschinen

6. Regeln und Vorschriften

7. Gesetze des Naturrechts und Naturgesetze

8. Das Beugen und Brechen von Regeln

Verzeichnis der Abbildungen

Literatur

Archivquellen

Publikationen

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Informationen zum Buch

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111 Einleitung Die verborgene Geschichte der Regeln

Hinweise auf eine verborgene Geschichte

Dies ist ein kurzes Buch über ein umfangreiches Thema. Wir alle sind ständig und überall eingebunden in ein Netz aus Regeln, das uns Hilfestellung bietet und Beschränkungen aufbürdet. Regeln legen Anfang und Ende des Arbeitstags und des Schuljahrs fest, lenken das Auf und Ab der Verkehrsströme auf den Straßen, bestimmen, wer wen und in welcher Weise heiraten darf, weisen der Gabel den Platz rechts oder links des Tellers zu, bewerten die Tore und Fouls beim Fußball, zähmen die Debatten in Meetings und Parlamentssitzungen, geben an, was man im Handgepäck mit ins Flugzeug nehmen kann, verfügen, wer wo wählen darf, gliedern die Grammatik eines Satzes, leiten Kunden im Supermarkt in die richtige Warteschlange, sagen Hundebesitzern, ob ihre Hunde willkommen sind oder nicht, explizieren Metrum und Rhythmus eines Petrarca-Sonetts und ordnen an, welche Rituale bei Geburt und Tod zu vollziehen sind. Und das sind nur einige Beispiele expliziter Regeln, wie wir sie auf Schildern und in Gebrauchsanleitungen, Handbüchern, heiligen Schriften und Gesetzestexten finden. Berücksichtigen wir dazu noch die impliziten Regeln, erweist sich das Netz als derart dicht gewebt, dass kaum eine menschliche Aktivität durch die Maschen schlüpft: Es gibt ungeschriebene Regeln, die bestimmen, ob die Menschen einander mit Handschlag oder zwei Wangenküssen à la française (oder nur einem à la belge) begrüßen, wie viele Stundenkilometer über einer Geschwindigkeitsbegrenzung toleriert werden, bevor ein Strafzettel fällig wird, welches Trinkgeld in einem Restaurant als angemessen gilt, wann es erlaubt oder angebracht ist, in einem Ge12spräch die Stimme zu heben (oder zu senken), wer wem die Tür aufhalten sollte, wie oft und wie laut eine Opernaufführung durch Beifallsbekundungen oder Buhrufe unterbrochen werden darf, wann man zu einem Abendessen zu erscheinen und wann wieder zu gehen hat, und wie lang ein Epos sein muss. Kulturen unterscheiden sich hinsichtlich der Inhalte ihrer Regeln, doch keine Kultur kommt ohne Regeln aus – und zwar ohne sehr viele Regeln. Ein Buch über all diese Regeln wäre fast schon eine Geschichte der Menschheit.

Regeln sind so allgegenwärtig, unverzichtbar und achtunggebietend, dass sie als selbstverständlich gelten. Wie sollte es jemals eine Gesellschaft ohne Regeln, eine Zeit vor den Regeln gegeben haben? Aus der Universalität der Regeln folgt indessen nicht deren Gleichförmigkeit, weder im Vergleich zwischen Kulturen noch innerhalb geschichtlicher Traditionen. Regeln zeigen nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Form eine schwindelerregende Vielfalt. Die Inhalte waren von jeher Mahlgut für die Mühlen von Reisenden und Ethnographen, seit Herodot (um 484-um 425 v. Chr.) aus altgriechischer Perspektive berichtete, in Ägypten sei alles genau umgekehrt (wenn auch nicht weniger regelmäßig): Die Männer blieben zu Hause und webten, während die Frauen auf den Markt gingen; die Frauen urinierten im Stehen, die Männer dagegen im Sitzen; selbst der Nil fließe andersherum, von Süden nach Norden.1 Die Formen gehören zur langen Liste der Arten, aus denen die Gattung der Regeln besteht: Gesetzen, Maximen, Prinzipien, Leitlinien, Instruktionen, Rezepten, Vorschriften, Aphorismen, Normen und Algorithmen, um hier nur einige zu nennen. Die Vielfalt dieser Arten von Regeln bringt uns auf die Spur einer verborgenen Geschichte dessen, was eine Regel ist und tut.

Seit der griechisch-römischen Antike umschreiben drei semantische Hauptgruppen die Bedeutung von Regeln (siehe Kapitel 2): Werkzeuge zur Messung und Berechnung; Vorbilder beziehungsweise Modelle oder Paradigmen; und Gesetze. Die nachfolgende Geschichte der Regeln ist eine der Vermehrung und Verknüpfung, die immer mehr Arten von Regeln und von jeder Art immer mehr Exemplare hervorbrachte. Das Ergebnis ist eine schier unüberschaubare Vielfalt, die fast ebenso komplex ist wie die Kultur selbst. Von den drei 13Urbedeutungen von »Regel« gehen indessen rote Fäden aus, die sich seit Jahrtausenden durch das Labyrinth der Geschichte ziehen. Aus der Perspektive der longue durée und unter Verwendung von Regeln aus zahlreichen unterschiedlichen Quellen – Klosterregeln und Kochbüchern, Militärhandbüchern und juristischen Abhandlungen, Rechenalgorithmen und Gebrauchsanleitungen – zeichnet dieses Buch die lange Karriere dieses antiken Dreigestirns in den gelehrten und vernakulären Traditionen nach, die auf griechisch-römische Wurzeln zurückgehen und sich gemeinsam im Verlauf von zwei Jahrtausenden entwickelten. Kapitel 2 und 3 rekonstruieren, wie Regeln von der Antike bis zum 18. Jahrhundert als flexible Modelle oder Vorbilder funktionierten; Kapitel 4 und 5 beschreiben, wie Rechenalgorithmen von der Antike bis zum Aufstieg der Algorithmen und der mechanischen Rechenmaschinen im 19. und 20. Jahrhundert in der Praxis eingesetzt wurden. Für die Zeit vom 13. bis zum 18. Jahrhundert vergleichen Kapitel 6 und 7 äußerst spezielle Regeln in Gestalt grundlegender Vorschriften mit sehr allgemeinen Regeln nach Art olympischer Naturgesetze. Kapitel 8 untersucht, wie vom 16. bis zum 20. Jahrhundert moralische, rechtliche und politische Regeln angesichts widerspenstiger Ausnahmen gebeugt und gebrochen wurden.

Die lange Geschichte der Regeln wird von drei Gegensätzen strukturiert. Regeln können füllig oder schlank in der Formulierung, flexibel oder starr in der Anwendung und allgemein oder spezifisch hinsichtlich ihres Geltungsbereichs sein. Diese Gegensätze können sich überschneiden, und manche sind, je nachdem, welcher der drei Arten von Regeln sie angehören, relevanter als andere. Regeln im Sinne von Vorbildern oder Modellen sind eher füllig in der Formulierung und flexibel in der Anwendung (siehe Kapitel 2 und 3). Eine füllige Regel ist gespickt mit Beispielen, Vorbehalten, Beobachtungen und Ausnahmen. Sie geht von beträchtlichen Variationen in den Umständen aus und bedarf daher einer geschmeidigen Anpassung. Regeln im Sinne von Algorithmen sind dagegen eher schlank in der Formulierung und starr in der Anwendung, wenngleich auch sie zuweilen füllig sein können (siehe Kapitel 4 und 5). Ein Algorithmus muss zwar nicht kurz sein, ist aber nur selten für außergewöhnliche oder 14einfach nur unterschiedliche Fälle gedacht. Da schlanke Regeln implizit eine vorhersagbare, stabile Welt voraussetzen, in der sich alle Möglichkeiten vorhersehen lassen, laden sie nicht zur Berücksichtigung von Unterschieden ein. Das ist unproblematisch, solange sie sich auf die Lösung von Lehrbuchbeispielen beschränken – zum Beispiel in der elementaren Arithmetik. Doch die Annalen der Computeralgorithmen sind inzwischen voller warnender Geschichten über Programme für alles, von der Gesichtserkennung bis zur Bezahlung Ihrer Steuern, die allzu schlank gestaltet und allzu starr angelegt wurden, um einer vielfältigeren Realität gerecht zu werden.

Sowohl füllige als auch schlanke Regeln können entweder sehr speziell sein – zum Beispiel die Anleitung zur Herstellung eines Tischs aus einem ganz bestimmten Holz, ein Algorithmus zur Berechnung der Fläche eines ganz bestimmten unregelmäßigen Vielecks – oder aber äußerst allgemein. Regeln im Sinne von Gesetzen reichen möglicherweise von speziellen Parkvorschriften auf dieser Straße an Sonntagen bis hin zur Allgemeinheit der Zehn Gebote oder des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik (siehe Kapitel 6 und 7). Sowohl spezifische als auch allgemeine Gesetze lassen sich entweder starr oder flexibel anwenden. Regeln, in denen es von spezifischen Bestimmungen nur so wimmelt, wie etwa die in Kapitel 6 behandelten Bekleidungsvorschriften, bedürfen bei ihrer Anwendung einer gewissen Dehnbarkeit, und sei es nur, weil die Besonderheiten sich so rasch ändern. Und selbst die denkbar allgemeinsten Gesetze, die als ewige und universell gültige göttliche Gebote gelten, werden gelegentlich gebeugt (siehe Kapitel 8).

Diese Gegensätze sollten eher als die äußeren Enden eines Spektrums von Möglichkeiten verstanden werden denn als Komplemente im strengen Sinne. Die folgenden Kapitel illustrieren, dass Regeln, ob nun als Vorbilder, Algorithmen oder Gesetze, sich hinsichtlich ihres fülligen oder schlanken Charakters, ihrer Starrheit oder Flexibilität, ihre Spezifität oder Allgemeinheit nur graduell voneinander unterscheiden. Obwohl nicht alle Kombinationen gleichermaßen möglich sind, vermag eine lange Geschichte wie diese unser heutiges Vorstellungsvermögen durch Beispiele eines Umgangs mit Regeln an seine 15Grenzen zu bringen, der selten geworden ist, was etwa für Algorithmen gilt, die füllig formuliert sind und flexibel angewendet werden (siehe Kapitel 4).

Regeln bilden eine Kategorie, die zwischen den Stühlen zu sitzen scheint. Im antiken und mittelalterlichen Denken belegten sie den mittleren Bereich zwischen erhabenen Wissenschaften wie der Naturphilosophie, die nach sicherem Wissen hinsichtlich universeller Ursachen strebte, und den niederen, stumpfsinnigen, repetitiven Tätigkeiten ungelernter Arbeiter. Die Domäne der Regeln waren Handwerke und Künste, jene Bereiche praktischen Wissens und Könnens, die Vernunft und Erfahrung, lehrbare Anleitung und nur durch Praxis zu erwerbendes Know-how miteinander verbanden (siehe Kapitel 3).

Im politischen Leben der frühen Neuzeit bewegten Regeln sich zwischen lokalen, von örtlichen Besonderheiten starrenden Vorschriften und universellen Naturgesetzen, die jederzeit und überall für alle galten. Ganz ähnlich waren Regeln in der Wissenschaft der frühen Neuzeit Regelmäßigkeiten, die zu spezifisch waren, um als große Naturgesetze zu gelten, aber zugleich auch zu allgemein, um sie lediglich als isolierte Beobachtungen einzustufen. Man denke etwa an die Regel, dass sich das Volumen von Wasser beim Gefrieren eher vergrößert als verkleinert, im Vergleich zum universellen Gravitationsgesetz, das für die fernsten Planeten ebenso gilt wie für den Apfel, der von diesem (oder jenem) Baum fällt (siehe Kapitel 6 und 7). Regeln definieren soziale und natürliche Ordnungen mittlerer Größe und bewegen sich stets im mittleren Bereich zwischen den Extremen der Sicherheit und des Zufalls, der Allgemeinheit und der Bestimmtheit, der vollkommenen Ordnung und des reinen Chaos.

Alle diese Unterschiede lassen sich auf einen einzigen großen Unterschied reduzieren: den zwischen einer hochgradig veränderlichen, instabilen, unvorhersehbaren Welt und einer Welt, in der die Zukunft sich zuverlässig aus der Vergangenheit extrapolieren lässt, Standardisierung für Gleichförmigkeit sorgt und Durchschnittswerte vertrauenswürdig sind. Die in diesem Buch erzählten Episoden spannen zwar einen großen geschichtlichen Bogen von ersterer zur letzte16ren Welt, doch eine unaufhaltbare Dynamik hin zur Moderne ist hier nicht am Werk. Inseln der Stabilität und Vorhersehbarkeit in einer chaotischen Welt sind zu jeder Zeit und überall die mühsame und stets fragile Errungenschaft politischen Willens, technologischer Infrastruktur und internalisierter Normen. In jedem Augenblick können sie von Krieg, Pandemien, Naturkatastrophen oder Revolution überwältigt werden. In solchen Notsituationen werden schlanke Regeln plötzlich fülliger, starre Regeln weich und allgemeine Regeln spezifisch. Es ist aufschlussreich, dass solch eine Explosion der Unsicherheit als »Ausnahmezustand« bezeichnet wird (siehe Kapitel 8) – ein Zustand, in dem Regeln zeitweilig ihren Halt verlieren. Wenn Regeln allzu oft und allzu schnell geändert werden, um mit den Umständen Schritt zu halten, kann die Idee der Regel selbst ins Wanken geraten (Epilog).

Regeln als Paradigmen und Algorithmen

Regeln bieten einen reichhaltigen Fundus, der sich für philosophische Probleme und Projekte nutzen lässt. Das älteste und dauerhafteste Problem im Zusammenhang mit Regeln ist die Frage, wie Allgemeinbegriffe beschaffen sein müssen, damit sie zu einer potenziell unendlichen Vielzahl von Fällen passen, die bei der Erstellung der Regel niemand vorhersehen kann. Dieses Problem ist so alt wie die Philosophie und begleitet uns heute noch in beträchtlichem Maße. Sämtliche Kapitel in diesem Buch beschreiben, wie es in unterschiedlichen Umfeldern und zu verschiedenen Zeiten angegangen wurde, ob nun im Gerichtssaal, in den Werkstätten der Handwerker oder im Beichtstuhl. Ich werde mich im folgenden Abschnitt damit befassen. Zunächst muss ich jedoch eine Frage beantworten, die zentrale Bedeutung für das Verständnis eines zweiten, eher modernen philosophischen Problems besitzt und die sich Leserinnen und Leser bis hierher zweifellos selbst schon gestellt haben: Algorithmen und Geset17ze sind immer noch zentral für unser Verständnis von Regeln, doch was geschah eigentlich mit dem dritten Mitglied des antiken Dreigestirns, den Vorbildern oder Paradigmen?

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hielt sich diese inzwischen erloschene Bedeutung von »Regel« im Denken wie in der Praxis noch sehr gut. Im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts wurde jedoch das Verständnis von Regeln als Paradigmen zunehmend von dem als Algorithmen abgelöst. Dieser Wechsel verlieh einem zweiten Problem der modernen Philosophie im Zusammenhang mit schlanken Regeln Auftrieb: Kann man Regeln eindeutig, ohne Interpretation oder Kontextualisierung, befolgen, und wenn ja, wie ist das möglich? In Kapitel 5 werden wir sehen, dass dieses Problem sich kaum wirklich formulieren ließ, bevor nicht die Bedeutung des Prototyps einer Regel von Vorbild oder Paradigma auf Algorithmus und insbesondere einen maschinell ausgeführten Algorithmus umgestellt wurde. Der Wechsel erfolgte erst vor erstaunlich kurzer Zeit, und seine Auswirkungen zeigen sich immer noch in Philosophie, Verwaltung, militärischer Strategie und dem ständig wachsenden Bereich des online geführten Alltagslebens.

Algorithmen sind zwar so alt wie die Rechenoperationen der Arithmetik, und die Assoziation von Regeln mit quantitativer Genauigkeit reicht zurück bis in die griechisch-römische Antike und darüber hinaus, doch in den aus dem Mittelmeerraum stammenden geistigen Traditionen bildeten sie nur selten die primäre Bedeutung, nicht einmal in der Mathematik. Als man im 17. und 18. Jahrhundert Wörterbücher der europäischen Volkssprachen zu publizieren begann, erschienen die Algorithmen unter dem Stichwort »Regeln« allenfalls als dritte oder vierte Definition – sofern sie denn überhaupt genannt wurden. Die umfangreichste mathematische Enzyklopädie des 19. Jahrhunderts, ein siebenbändiges Monstrum in deutscher Sprache, besaß nicht einmal einen Eintrag für »Algorithmus«.2 Aber schon zwei Jahrzehnte nach der Veröffentlichung des Werks hatten Algorithmen eine zentrale Bedeutung für das Verständnis des Wesens eines mathematischen Beweises erlangt, und Mitte des 20. Jahrhunderts befeuerten sie die Computerrevolution und nährten zahllose Träume, 18von der künstlichen Intelligenz bis hin zu künstlichem Leben. Heute sind wir alle Untertanen des Reichs der Algorithmen.

Dieses Reich war bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein allenfalls ein Pünktchen auf der Landkarte der Begriffe. Algorithmen spielen in vielen, teils sehr alten mathematischen Traditionen aus aller Welt eine wichtige Rolle, und auch materielle Rechenhilfen wie Kieselsteine, Zählstöcke und Knotenschnüre sind weit verbreitet (siehe Kapitel 4). Der Gedanke, dass viele Formen menschlicher und auch geistiger Arbeit sich auf Algorithmen oder sogar auf maschinell ausgeführte Algorithmen reduzieren lassen, kam jedoch erst im 19. Jahrhundert auf. Bevor man während der Französischen Revolution die ökonomischen Prinzipien der Arbeitsteilung in bemerkenswerten Experimenten auf monumentale Rechenprojekte anwendete, schien es, als wäre die Mechanisierung von Regeln und selbst einfacher arithmetischer Algorithmen zum Scheitern verurteilt. Die von Blaise Pascal (1623-1662), Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) und anderen erfundenen Rechenmaschinen blieben lange Zeit kaum mehr als ein zwar genial ausgetüfteltes, aber unzuverlässiges Spielzeug.3 Der unwahrscheinliche Aufstieg der Algorithmen und ihre Umwandlung von trivialen arithmetischen Operationen zur Sicherung mathematischer Strenge in unendlich abwandelbare Programmiersprachen für Computer ist eine Geschichte, die schon oft und gut erzählt wurde.4 Der Siegeszug der Algorithmen für alles verdeckt indessen, wie eng Algorithmen noch Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem Rechnen assoziiert wurden, und das selbst bei Computerpionieren wie dem US-amerikanischen Physiker Howard Aiken (1900-1973), der glaubte, ein paar Computer würden für das ganze Land ausreichen – womit er die Bedürfnisse umfangreicher Berechnungen für Unternehmungen wie den amerikanischen Zensus meinte.5 Ein Ziel dieses Buches ist es, Licht auf eine entscheidende frühere Episode in dieser Aufstiegsgeschichte zu werfen – wie nämlich mathematische Algorithmen sich in der Industriellen Revolution mit der politischen Ökonomie überschnitten –, und dabei geht es gleichermaßen um die Geschichte der Arbeit und der Maschinen wie um die Geschichte des Rechnens.

19Regeln waren vieles, bevor sie in allererster Linie zu Algorithmen wurden, das heißt zu Anweisungen, die in so kleine und eindeutige Schritte zerlegt sind, dass selbst eine Maschine sie auszuführen vermag. Einige dieser früheren Arten von Regeln würden auch heute noch leicht als solche erkannt, etwa Gesetze, Rituale und Grundsätze. Doch die von der Antike bis zur Aufklärung zentralste Bedeutung von »Regel« wird inzwischen gar nicht mehr mit diesem Begriff assoziiert, nämlich Regel als Vorbild beziehungsweise Modell oder Paradigma. In der Philosophie des 20. Jahrhunderts steht diese einstmals primäre Bedeutung, die bis weit ins 18. Jahrhundert hinein in Wörterbüchern verzeichnet und noch von Immanuel Kant (1724-1804) genannt wurde, sogar in diametralem Gegensatz zu dem, was unter »Regel« verstanden wird.

Welches Vorbild oder Modell könnte als Regel dienen? Das Vorbild könnte ein Mensch sein, der die durch Regeln gestützte Ordnung verkörpert, etwa der Abt eines Klosters laut der Benediktsregel (siehe Kapitel 2). Es könnte ein Kunstwerk aus dem Bereich der bildenden Künste oder der Literatur sein, das exemplarisch eine ganze Gattung definiert, wie die Ilias in der Traditionslinie von der Aeneis bis zu Paradise Lost das Epos definierte. Es könnte auch ein gut gewähltes Beispiel in der Grammatik oder Algebra sein, das die wesentlichen Merkmale einer größeren Klasse von Verben oder Wortproblemen kennzeichnet. Welche Form das Vorbild oder Modell auch annimmt, es muss jedenfalls über sich selbst hinausweisen. Die Beherrschung des im Vorbild verkörperten Könnens geht weit über die Fähigkeit hinaus, es in allen Einzelheiten zu kopieren. Vorbilder gilt es nachzubilden, nicht zu imitieren. Ein Autor, der ein berühmtes Werk der Literatur Wort für Wort reproduzierte wie der Protagonist in der Erzählung von Borges, der Teile des Don Quichote von Miguel de Cervantes wortwörtlich wiedergibt, der befolgte keine Regel im Sinne eines Modells oder Vorbilds, sondern wiederholte sie lediglich.6 Zur Befolgung solch einer Regel gehört auch ein Verständnis für die Frage, welche Aspekte wesentlichen Charakters sind und welche nur nebensächliche Details darstellen. Nur die wesentlichen Merkmale vermögen eine zuverlässige Kette von Analogien zwischen der Regel als 20Modell und neuen Anwendungen herzustellen. Der Verweis auf Präzedenzfälle in gewohnheitsrechtlichen Rechtstraditionen ist hier ein bekanntes Beispiel für Regeln, die als Blaupause für ein analoges Vorgehen fungieren. Nicht jeder Mordfall aus der Vergangenheit kann glaubhaft als Präzedenzfall für einen aktuellen Fall angeführt werden, und nicht jedes Detail selbst eines überzeugenden Präzedenzfalls wird zu dem aktuellen Fall passen. Der Umgang erfahrener Juristen mit rechtlichen Präzedenzien verdeutlicht den Unterschied zwischen einem bloßen Beispiel (diesem oder jenem Mordfall) und einem Modell oder Paradigma (einem tragfähigen Präzedens mit weitreichenden Implikationen für zahlreiche Mordfälle). Ein brauchbares Paradigma muss einen hohen Anteil wesentlicher Details im Vergleich zu nebensächlichen Aspekten aufweisen, und von ihm müssen so viele Analogien ausgehen wie Stacheln vom Körper eines Stachelschweins.

Der moderne locus classicus für den Gegensatz zwischen Regeln und Paradigmen in der Philosophie ist das einflussreiche Buch The Structure of Scientific Revolutions (1962) des Wissenschaftstheoretikers Thomas S. Kuhn (1922-1996), das Auflagen von mehreren Hunderttausend erreichte und früher zum festen Bestand in Lehrveranstaltungen quer durch die Fachgebiete gehörte.7 Es war auch das Buch, das den Ausdruck »Paradigma« zu einem geläufigen Begriff und zum Gegenstand von Karikaturen im New Yorker machte (Abb. 1.1). Nach Kuhn ist eine Wissenschaft erst dann dieses Namens würdig, wenn sie ihr erstes Paradigma entwickelt hat. Durch Lehrbuchparadigmen lernen Wissenschaftler, Probleme zu lösen und überhaupt erst zu verstehen, was ein Problem ist. Wissenschaftliche Revolutionen sind nichts anderes als die Entthronung eines Paradigmas durch ein anderes. Gerade weil der Ausdruck »Paradigma« in Kuhns Buch solch ein Vielzweckwerkzeug darstellt, kommt er dort in zahlreichen (nach einer Zählung insgesamt 21) Bedeutungen vor.8 Es gibt indessen eine Bedeutung von »Paradigma«, die Kuhn immer wieder als die wichtigste hervorhob, nämlich Paradigmen als »Musterbeispiele« im Unterschied zu einem Satz von Regeln. In seinem 1969 verfassten Postskriptum zu The Structure of Scientific Revolutions be21schreibt Kuhn Paradigmen dieser Art als »Vorbilder oder Beispiele«, die »explizite Regeln als Basis für die Lösung der übrigen Probleme der ›normalen Wissenschaft‹ ersetzen« könnten, weil diese Bedeutung des Begriffs philosophisch »die tiefere« sei, auch wenn er nicht genau zu erklären vermochte, wie das funktioniert.9 Um Vorwürfen irrationalen und verworrenen Denkens vorzubeugen, verteidigte er das durch Paradigmen weitergegebene Wissen entschieden als echtes Wissen: »Wenn ich von Wissen spreche, das in gemeinsame Musterbeispiele eingebettet ist, dann spreche ich nicht von einer Art des Wissens, die weniger systematisch oder weniger analysierbar wäre als dasjenige, das in Regeln, Gesetze oder Identifikationskriterien eingebettet ist.« Doch bis heute ist es weder Kuhn noch irgendjemandem sonst gelungen, Klarheit in diese alternative Art von Wissen zu bringen – eine »Ratlosigkeit hinsichtlich der Natur des Ungeheuers«, wie der Philosoph Ian Hacking meinte.10

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Abb. 1.1: Kuhns »Paradigmenwechsel« wird sprichwörtlich, Cartoon von J. ‌. Duffy, 17. Dezember 2001, The New Yorker © Condé Nast.

Kuhns Ratlosigkeit hinsichtlich der Frage, wie sich das Wissen der Paradigmen mit dem von expliziten Regeln vereinbaren lässt, hatte 1969 bereits einen illustren philosophischen Vorläufer. In seinen Philosophischen Untersuchungen (1953) stellte Ludwig Wittgenstein (1889-1951) seine berühmte Behauptung auf, dass selbst mathematische Regeln durch eine unverbesserliche Mehrdeutigkeit gekennzeichnet seien: Wie kann man einer Regel und selbst einer denkbar formalen und algorithmischen Regel folgen, ohne einen unendlichen Regress von Auslegungen dieser Regel in Bewegung zu setzen? Wittgenstein gelangte zu dem Schluss, dass »einer Regel folgen« eine Praxis ist, die innerhalb einer Gemeinschaft von Anwendern eher durch Beispiel als durch Vorschrift gelehrt wird: »Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen).«11 Ironischerweise (und vielleicht auch unwissentlich) führt Wittgensteins Vorschlag die Regel wieder zurück zu ihrer ursprünglichen Bedeutung als einem durch Praxis gelehrten Modell statt als Vorschrift. Doch für seine zahlreichen Leser einschließlich Kuhns waren explizite Regeln, beispielhaft repräsentiert durch mathematische Algorithmen, das genaue Gegenteil von Paradigmen und Praktiken.

So kann es denn als Überraschung empfunden werden, dass der Ausdruck »Regel« und dessen Verwandte in den antiken und modernen europäischen Sprachen vom alten Griechenland und Rom bis in die Aufklärung hinein im größten Teil der Geschichte gleichbedeutend mit »Paradigma« waren.12 Hier zum Beispiel der römische Enzyklopädist Plinius der Ältere (um 23-79 n. Chr.), der die Statue Doryphoros (»Der Speerträger«) des griechischen Bildhauers Polykleitos (um 480-um 420 v. Chr.) als canona (die latinisierte Form des griechischen Worts für Regel, kanon) bezeichnete, als das Vorbild männlicher Schönheit, das würdig sei, von allen Künstlern nachgeahmt zu werden: Er »machte auch dasjenige Standbild, was die Künstler das Probestück (Canona) nennen, weil sie von demselben, wie nach einem Gesetze, die Dimensionen (Lineamenta artis) abnehmen«.13 (Abb. 1.2) Oder Dionysios von Halikarnassos (um 60-um 7 v. Chr.), der den attischen Redner Lysias (um 445-um 380 v. Chr.) als den ka24non der Rhetorik pries und diesen Ausdruck gleich im nächsten Satz als Paradigma (paradeigma) der Vortrefflichkeit erläuterte.14 Oder mit einem raschen Sprung über fast zwei Jahrtausende in die französische Aufklärung: Der Beispielsatz der Encyclopédie für die erste Definition des Stichworts »Règle, Modèle« lautete: »Man kann zum Beispiel sagen, das Leben unseres Herrn sei für Christen die Regel oder das Vorbild.«15 In der griechischen und der lateinischen Grammatik wurden die Ausdrücke kanon und regula neben paradeigma benutzt, um jenes Paradigma aller Paradigmen, die Flexionsformen, zu kennzeichnen, zum Beispiel die von Schulkindern über Jahrhunderte aufgesagte Konjugation des Verbs amare: amo, amas, amat usw.

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Abb. 1.2: Römische Kopie von Polykleitos' Doryphoros (»Der Speerträger«, 1. Jh. v. ‌Chr.), von Plinius dem Älteren als »Kanon« für Künstler bezeichnet. Mit freundlicher Genehmigung des Ministeriums für Kultur, Nationales Archäologisches Museum Neapel. Fotografie von Giorgio Albano.

Auf den ersten Blick mag das nur als ein weiteres Beispiel für die Kuriositäten der Sprachen erscheinen, in denen Worte sich zuweilen in ihr Gegenteil verkehren – aber auch nicht mehr als das. Irgendwann vor langer Zeit bedeutete ein Wort A; heute bedeutet es nicht-A. »Regel« (kanon, regula) bedeutete einst Vorbild beziehungsweise Modell oder Paradigma; heute bedeutet es genau das Gegenteil. Daher Kuhns schwieriges Problem, wie er Paradigmen erklären sollte, ohne sie auf Regeln zurückzuführen, also ohne A auf nicht-A zurückzuführen – und auch der provozierend paradoxe Charakter der Gleichsetzung von »einer Regel folgen« mit Gepflogenheiten und Bräuchen bei Wittgenstein. Die Etymologie der vormodernen Verwandten von »Regel« ist indessen sowohl reicher als auch verwirrender, als die Darstellung der Entwicklung von der Bedeutung A hin zur Bedeutung nicht-A erahnen lässt: Die vertrauteren modernen Assoziationen zu diesem Wort sind nämlich gleichfalls Teil der Definition der vormodernen Verwandten von »Regel«. So konnotierte das altgriechische Wort kanon akribische Genauigkeit vor allem im Bereich der Baukunst und der Zimmerei, aber auch in einem übertragenen Sinne auf Gebieten wie Kunst, Politik, Musik und Astronomie. Derselbe Polykleitos, der den Doryphoros schuf, war Autor einer verschollenen Abhandlung mit dem Titel Kanon, in der er angeblich die genauen Proportionen des menschlichen Körpers darlegte, an die sich die Künstler zu halten hatten. Darstellungen solcher als Vorschriften gedachten Maße klassischer Statuen finden sich im 18. Jahrhundert. (Abb. 1.3) Über 26Hinweise des griechischen Arztes und Philosophen Galen (129-um 210 n. Chr.) auf Polykleitos griffen Andreas Vesalius (1514-1564) und andere frühneuzeitliche Anatomen Begriff und Gedanken des kanonischen Körpers auf.16 (Abb. 1.4) Varianten des Wortes kanon finden sich auch in der antiken Astronomie und Harmonielehre, beides mathematische Wissenschaften. Das Bedeutungsspektrum des lateinischen regula folgte eng dem des griechischen kanon.17 Dieses Bedeutungscluster verweist auf die Strenge der Mathematik sowohl als geometrische Proportionenlehre wie auch als Mess- und Rechenwerkzeug – Bedeutungen, die problemlos mit dem um Vorbilder und Paradigmen zentrierten Cluster koexistierten. Kurzum, über mehrere Jahrtausende bedeuteten das Wort Regel und dessen Verwandte in mehreren alten und modernen europäischen Sprachen zumindest nach modernem Verständnis zugleich A und nicht-A. Das ist nun kein sprachliches Kuriosum mehr, sondern ein äußerst verblüffender Sachverhalt.

Abb. 1.3: An der Statue des Antinous gemessene Proportionen (Stichwort »Dessein«), in: Diderot, d'Alembert (Hg.), Encyclopédie, Bd. 3 (1763).

Ein zweites Ziel dieses Buchs ist die Rekonstruktion der verlorengegangenen Kohärenz innerhalb des Begriffs der Regel, der so lange und offenbar ohne jeden Verdacht auf Widersprüchlichkeit Bedeutungen umfassen konnte, die heute als Antonyme verstanden werden (siehe Kapitel 2 und 3). In vielerlei Hinsicht ist dies das Gegenstück zum ersten Ziel, der Verfolgung der spektakulären Karriere des Algorithmus seit dem 19. Jahrhundert. Algorithmen ersetzten nicht nur Paradigmen als exemplarische Regeln, sondern ließen auch die Funktionsweise der Paradigmen als rätselhaft, intuitiv und einer rationalen Durchdringung unzugänglich erscheinen. Das waren die anrüchigen Assoziationen, mit denen Kuhn zu kämpfen hatte, als er die zentrale Bedeutung der Paradigmen für erfolgreiche Wissenschaft verteidigte, und bis heute wird dadurch jeder Versuch erschwert, den Vorrang der Urteilskraft gegenüber mechanischeren Formen der Beurteilung zu verteidigen. Es ist schon außergewöhnlich, dass gerade jenes Vermögen, in dem Kant die Voraussetzung für ein Verständnis der zeitlichen und räumlichen Einheit der Natur erblickte, zu etwas »bloß Subjektivem« degradiert werden sollte.18 Was im heutigen Jargon als »Ermessensentscheidung« bezeichnet wird, ist ein Urteil, das 27nicht in der öffentlichen Vernunft gründet und nur einen Schritt weit von privater Laune entfernt liegt. Aus der flexiblen Regel wird eine schwabbelige Regel – oder überhaupt keine Regel mehr. Im weiteren Kontext der Degradierung der Urteilskraft von einer Ausübung der Vernunft zu einer Schwelgerei in undurchsichtiger Subjektivität bildet diese Episode in der Geschichte der Regeln einen Teil der modernen Geschichte der Rationalität, die ihrerseits nun durch Regeln definiert wird.19

Universalien und Einzeldinge

Regeln fordern das Urteilsvermögen heraus, weil ihre Anwendung die Kluft zwischen Universalien und Einzeldingen überbrücken muss. Erstens müssen wir entscheiden, ob eine bestimmte Regel zu einem bestimmten Fall passt oder ob wir eine ganz andere Regel anwenden sollten. Vor dieser Frage steht etwa ein Richter, der in einem gewohnheitsrechtlichen System nach gegensätzlichen Präzedenzfällen sucht, oder ein Arzt, der aufgrund uneindeutiger Symptome eine Diagnose stellt, oder auch ein Mathematikstudent, der das Integral einer neuen Funktion sucht. Obwohl häufig klar ist, welche Regel zu einem bestimmten Fall passt (Politessen haben selten Zweifel, welcher Paragraf der Straßenverkehrsordnung bei einem bestimmten Parkverstoß anzuwenden ist), hat man es in vielen anderen Fällen mit einem embarras de règles zu tun – und noch häufiger mit einem Wirrwarr an Einzelfällen, die zu gar keiner Regel passen. Zweitens, selbst wenn Regel und Fall eindeutig zueinander gehören, passen sie doch fast nie perfekt zusammen. In größerem oder geringerem Umfang bedarf es des Zuschneidens und Justierens, um die Lücke zwischen Universellem und Einzelnem zu überspachteln. Ganze Spezialgebiete fachlicher Praxis entstanden und blühen in dieser Lücke: Billigkeit im Recht, Kasuistik in Theologie und Ethik, Fallgeschichten in der Medizin, Ermessen in der Verwaltung.

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Das dritte Ziel dieses Buchs ist eine Klärung der Frage, wie Regeln formuliert wurden, um eine Überbrückung der Lücke zwischen Universalien und Einzeldingen zu antizipieren und zu erleichtern. Diese Untersuchung macht es erforderlich, das Netz möglichst weit zu spannen, um zu Vergleichszwecken viele verschiedene Arten von Regeln zu berücksichtigen: Regeln für religiöse Orden, für Spiele, für das parlamentarische Verfahren, für das Kochen und die Kriegsführung, für das Komponieren von Rondos und Kanons, für die Umrechnung von Maßen und Gewichten, für die Etikette, den Straßenverkehr und die Frage, wer wann welche Art von Luxuskleidung tragen darf. Außerdem gibt es noch das Völkerrecht und das Naturrecht, beides wichtige Ideale, aber auch Gegenideale bezüglich der alltäglicheren und weniger allgemeinen Regeln, die als Vorschriften bezeichnet werden. Im Gegensatz zur Erhabenheit der menschlichen und göttlichen Gesetze nehmen Vorschriften sich des Bereichs der Praxis an, der in verschiedene Anwendungsbereiche unterteilt wird. Dieses bunte Spektrum an Regeln – von lakonischen bis hin zu redseligen, von lokalen bis zu globalen, von spezifischen bis zu allgemeinen – übt Druck auf die farblosen philosophischen Kategorien »Universalien« und »Einzeldinge« aus. Manches Allgemeine ist allgemeiner und manches Partikulare partikularer als anderes. Sowohl der modus ponens als auch die im italienischen Stadtstaat Ferrara 1460 erlassenen Bekleidungsvorschriften sind Regeln, doch während »wenn p dann q; nun p, daher q« überall und für jedes erdenkliche p und q gilt, ist das in Ferrara ausgesprochene Verbot von Seide und Hermelin für Frauen zugleich spezifischer, lokaler und langatmiger als die prägnanten Allgemeinheiten der Aussagenlogik.20 Wir benötigen eine verfeinerte Taxonomie sowohl der Universalien als auch der Einzeldinge, um die Unterschiede zwischen den Brücken zu verstehen, die beide miteinander verbinden, manche so einfach und flexibel wie Seilbrücken, andere so starr und stabil wie ein stählernes Monument der modernen Brückenbaukunst.

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Abb. 1.4 (Fortsetzung).

Abb. 1.4. Der kanonische männliche und weibliche Körper in Andreas Vesalius, De humani corporis favrica. Epitome (1543).

Eine genauere Betrachtung der Frage, welche Art von Brücken welche Art von Regeln mit welcher Art von Fällen verbindet, wird die unterschiedlichen geistigen und kulturellen Voraussetzungen für Re31geln im Sinne von Paradigmen und für Regeln im Sinne von Algorithmen ans Licht holen. Da diese Arten von Regeln so lange miteinander koexistierten – und dies trotz des Aufstiegs der Algorithmen wohl auch heute noch tun –, ist nicht zu erwarten, dass diese Voraussetzungen einander ausschließen. Dennoch haben manche geschichtlichen Entwicklungen wie die Standardisierung zahlreicher Dinge, von Maßen und Gewichten über die Rechtschreibung bis hin zu den Zeitzonen, auch die Standardisierung der Regeln begünstigt: Künstlich auferlegte Gleichförmigkeit kann natürliche Allgemeinheit nachahmen, zumindest unter den historisch außergewöhnlichen Bedingungen einer stabilen Infrastruktur und robuster internationaler Übereinkünfte. Andere Entwicklungen wie die wachsende Rationalisierung der Arbeit in den Industriegesellschaften oder die Übernahme von Idealen des Naturrechts aus der Theologie in die Philosophie und von dort in die Jurisprudenz und die Ethik förderten gleichfalls Regeln von anspruchsvoller Globalität und Genauigkeit. Diese Regeln, die sich in der Neuzeit vor allem (aber nicht ausschließlich) im städtischen Raum verbreiteten, appellieren verstärkt an immer universellere Prinzipien (ob nun des Marktes oder der Menschenrechte) und immer weniger an lokale Zusammenhänge und Hintergrundwissen. Es ist kein Zufall, dass der Aufstieg solcher anspruchsvoller Regeln mit der Expansion des Handels und der Reiche hin zu globalen Dimensionen während des 16. Jahrhunderts zusammenfiel, die beide das Bedürfnis und die Mittel hervorbrachten, Regeln durchzusetzen, die über jede lokale Bindung hinausgingen.

Ob diese Regeln tatsächlich den von ihren Schöpfern angestrebten Grad an Universalität und Präzision erreichen, ist eine Frage, über die in den Wissenschaften vom Menschen heftig gestritten wird, wobei die Ökonomen und zahlreiche Soziologen diese Frage entschieden positiv beantworten, die Historiker und Anthropologen hingegen ebenso entschieden negativ.21 Meine Position lautet, auch wenn die Historiker und Anthropologen Recht mit ihrer Behauptung haben, dass die Effizienz von Regeln, die Kontext und Interpretation angeblich überschreiten, eine Illusion sei, handelt es sich doch unbestreitbar um eine mächtige und weit verbreitete Illusion, die drin32gend einer Erklärung bedarf – und das umso mehr, wenn sie tatsächlich von der Wirklichkeit widerlegt würde. Dieses Buch versucht, beiden Seiten des Streits gerecht zu werden, indem es zeigt, dass das Ausmaß, in dem Regeln den lokalen Kontext überschreiten können (oder nicht können), von den geschichtlichen Voraussetzungen abhängt, die Inseln der Stabilität, Gleichförmigkeit und Vorhersagbarkeit in einer zutiefst unsicheren Welt stützen (oder nicht stützen). Die geschichtlichen Voraussetzungen, die diese Inseln zu einem weit gestreuten Archipel verbinden, ob nun Reich, Vertrag oder Handel, sind sogar noch prekärer. Selbst die am besten eingespielten und zuverlässigsten globalen Regeln können ohne Vorwarnung auf lokale Dimensionen zusammenschrumpfen, wie das Chaos im internationalen Luftverkehr während des Ausbruchs der SARS-CoV2-Pandemie 2020 zeigte. In einer auf Regeln basierenden Weltordnung hängen die Regeln ebenso von der Ordnung ab wie die Ordnung von den Regeln.

Eine Geschichte des Selbstverständlichen

Nicht nur in der akademischen Welt wird über Regeln debattiert. Wir streiten endlos über die Frage, ob es zu viele oder zu wenige davon gibt, ob sie zu streng oder zu lax sind, wann sie anzuwenden sind und wer darüber entscheidet, wie das optimale Gleichgewicht zwischen Vorhersagbarkeit und Spontanität aussehen müsste. Die unterschiedliche Häufigkeit und Intensität solcher Debatten ist ihrerseits ein historisches Phänomen, ein Anscheinsbeweis für die Vermehrung und Erstarrung von Regeln jeglicher Art in Gesellschaften, die auf einer komplizierten Koordination zahlloser Akteure basieren, ob nun Autofahrer auf einer Autobahn, Wählerinnen in allgemeinen Wahlen, Meteorologen, Landwirte, Lastwagenfahrer oder Verkaufsmanagerinnen im internationalen Handel. Regeln choreografieren etwas, das ein Ballett sein sollte, zuweilen aber eher einem wilden Gerangel 33gleicht – oder einem tableau vivant aus Figuren, die wie Statuen bewegungslos in ihren Positionen verharren. Bürokratieforscher haben Begriffe wie »Regelüberlastung« und »Regelabweichung« erfunden, um Pathologien hochgradig regulierter Verwaltungssysteme zu beschreiben.22 Und im öffentlichen Dienst Beschäftigte nutzen einfallsreich genau diese Pathologien beim »Dienst nach Vorschrift«, bei dem die penible Einhaltung sämtlicher Regeln den gesamten Betrieb komplett lahmlegt.23

Ohne Zweifel hat es immer schon Klagen über einzelne Regeln und deren Durchsetzung gegeben. Neu an der Situation in der Moderne sind indessen Klagen über die schiere Menge und die mangelnde Flexibilität von Regeln, ob es sich dabei nun um offen zugängliche Verwaltungsvorschriften oder um die verborgenen Algorithmen von Suchmaschinen handelt. Wir modernen Menschen können ohne Regeln nicht leben. Wir können aber auch nicht mit ihnen leben, zumindest nicht bequem. Die belletristische Literatur des 20. Jahrhunderts hat uns Ausdrücke wie »kafkaesk«, die Gesellschaftstheorie Metaphern wie Max Webers »stahlhartes Gehäuse« geschenkt, die sich beide auf die Bürokratie beziehen. Schriftsteller und Theoretiker des 21. Jahrhunderts fantasieren von einer schönen neuen Welt, in der Computeralgorithmen alle Aspekte unseres Lebens bis hin zu unseren Denkprozessen durchdringen.24 Besitzen moderne Regeln Eigenschaften – ihre angebliche Komplexität, mangelnde Flexibilität, Ineffizienz und schiere Weitschweifigkeit –, die die ubiquitären Spannungen zwischen gebieterischen Universalien und widerspenstigen Einzeldingen, zwischen Ordnung und Freiheit noch verstärken? Und unabhängig davon, ob das der Wirklichkeit entspricht oder bloße Vorstellung ist, stellt sich die Frage, welche historischen Veränderungen in der Art, wie wir Regeln erschaffen und über sie denken, unsere ängstliche Beschäftigung mit ihnen zu erklären vermögen. Der Wechsel von der Regel als Vorbild zur Regel als Algorithmus bietet zumindest Teilantworten auf diese Fragen: Indem Letztere das Ermessen in den Untergrund verdrängt, bricht sie die Brücken ab, die bei Ersterer die Universalien mit den Einzeldingen verbanden.

Dieses Buch ist – sowohl in der antiken als auch der neuzeitlichen 34Bedeutung des Wortes – eine Geschichte.25 Es handelt sich um eine Untersuchung in dem weit ausgreifenden Sinne, in dem Herodot den Ausdruck historia verwendete. Trotz des allgemeinen Charakters seines Gegenstands wimmelt es in ihm aber auch von Einzeldingen, schließt also auch an Aristoteles' (384-322 v. Chr.) Verständnis von historia an, der ihr die Universalien der Philosophie (und Dichtung) gegenüberstellte. Und schließlich ist es eine Geschichte im vertrauteren Sinne eines Narrativs, das sich in der Zeit entfaltet. Doch diese Geschichte ist in allen drei Hinsichten unvollständig. Eine Untersuchung, die sich mit einem derart riesigen Thema über mehr als zwei Jahrtausende und in mehreren Sprachen befasst, kann nur selektiv verfahren. Selbst die Vielzahl der in diesem Buch angesprochenen Einzeldinge ist nur ein Splitter im Universum der Möglichkeiten. Die Reichweite des Narrativs beschränkt sich bedauerlicherweise nur auf das, was etwas irreführend die westliche Tradition genannt wird, und zwar einfach deshalb, weil ich sie noch am besten kenne. Wo das erhellend zu sein schien, habe ich jedoch versucht, auf entsprechende wissenschaftliche Arbeiten über andere, an eigentümlichem Zauber gleichfalls reiche Traditionen zurückzugreifen. Falls das Buch Leserinnen und Leser veranlasst, nach Regeln anderer Art zu anderen Zeiten und an anderen Orten zu fragen, umso besser. Das Buch ist eine Einladung zu weiterer Forschung und Debatte über Regeln im denkbar vielgestaltigsten Sinne. Auch die chronologische Darstellung ist alles andere als lückenlos, und das weitgehend aus denselben Gründen. Um den Bogen von Entwicklungen der longue durée zu erkennen, war ich gezwungen, in einer Weise zwischen Jahrhunderten und Gattungen zu springen, die bei meinen Fachkollegen und Fachkolleginnen wahrscheinlich einen gewissen Bewegungsschwindel auslösen wird, da sie es aus gutem Grunde gewohnt sind, sich auf eine Zeit und einen Ort zu beschränken. Ich muss sie indessen um Nachsicht bitten. Nur durch einen weiten Panoramablick vermag ich Kontraste zu schärfen, Augenblicke des Übergangs zu identifizieren und vor allem die Mittel der Geschichtsforschung einzusetzen, um die Selbstverständlichkeiten unserer heutigen Denkgewohnheiten in Frage zu stellen.

35Ein Nutzen der Geschichte, vor allem einer Geschichte großer Zeiträume, liegt in der Erschütterung heutiger Gewissheiten, die unseren Sinn für das Denkbare erweitert. Es ist eine seltsame Eigenart des jeweils amtierenden Begriffsmilieus, dass es seinen Bewohnern kohärent unvermeidlich erscheint, ganz so wie lokale Gebräuche den Menschen selbstverständlich erscheinen, die nie aus ihrer näheren Umgebung herauskommen. Das grundsätzliche Wissen, dass unser heutiges Denken die Folge historischen Zufalls statt logischer Notwendigkeit ist, dürfte für sich allein jedoch nicht ausreichen, um die Scheuklappen abzustreifen, die Geschichte und Gebräuche uns anlegen. Die mentale Welt, in der wir zufällig leben, beschränkt die Vorstellungskraft auf ihre eigenen begrenzten Dimensionen. Die Selbstverständlichkeiten einer Epoche – wie könnte jemand anders denken? – sorgen in anderen Epochen für Ratlosigkeit – was haben sie sich nur dabei gedacht? Oft bedarf es lebendiger Gegenbeispiele aus anderen Zeiten und Regionen, um einen Keil zwischen Begriffe zu treiben, die im gegenwärtigen Sprachgebrauch regelmäßig miteinander vermengt werden: Allgemeines und Gleichförmiges, Spezifisches und Starres, Algorithmisches und Mechanisches, Mechanisches und Hirnloses, Ermessenshaftes und Subjektives. Beispiele können auch helfen, wieder zusammenzufügen, was die moderne Philosophie getrennt hat: Regel und Paradigma. Hier macht die Geschichtswissenschaft gemeinsame Sache mit der Philosophie in dem Bemühen, begriffliche Möglichkeiten zu klären, zu erweitern und zu öffnen. Die Philosophie steht außerdem vor der beängstigenden Herausforderung, neue Begriffe zu schaffen, statt nur alte zu kritisieren. Die Begriffe der Vergangenheit lassen sich nur selten hinreichend weit dehnen, um den Bedürfnissen der Gegenwart zu entsprechen, denn sie wurden in der Vergangenheit für die Vergangenheit geschaffen. Die Geschichtswissenschaft kann tote Begriffe zwar ebenso wenig wiedererwecken wie tote Menschen, aber sie kann sie kurzzeitig reanimieren: Wiedergänger, die die Selbstgefälligkeit der Lebenden mit ihren Enthüllungen erschüttern.

372 Antike Regeln Richtscheite, Modelle und Gesetze

Drei semantische Cluster

In den Sumpfgebieten des Mittelmeerraums und den Dünen des Nahen und Mittleren Ostens wächst der Riesen- oder Pfahlschilf (Arundo donax), hoch wie ein Baum und gerade wie ein Pfeil. (Abb. 2.1) Über Tausende von Jahren nutzte man in dieser Region seine schnurgeraden Stiele zur Herstellung von Körben, Flöten, Waagbalken und Maßstäben.1 Das altgriechische Wort für »Regel«, kanon, ist von der semitischen (mit dem althebräischen qaneh verwandten) Bezeichnung für diese Pflanze abgeleitet, und dessen früheste nachgewiesene Verwendung verweist auf Stöcke verschiedener Art und später auf Richtscheite. Das altlateinische Äquivalent regula verfügt über ähnliche Assoziationen mit geraden Brettern und Stäben und, stärker metaphorisch, mit etwas, das aufrechterhält und leitet (wie in regere, regieren, oder rex, König) – Nebenbedeutungen, die sich heute noch aus der Mehrdeutigkeit des englischen Worts ruler (Herrscher und Lineal) heraushören lassen.2 In altgriechischen Quellen erscheinen die frühesten nachgewiesenen Verwendungen von kanon im Kontext von Bautätigkeiten aller Art: Maurer, Zimmerleute, Steinmetze und Baumeister benutzen einen kanon, das heißt ein Richtscheit, um sicherzustellen, dass die Baustoffe plan sind und sauber zusammengefügt werden können. Der kanon stand im Dienst der akribischen Genauigkeit, die erforderlich ist, wenn man stabile, gerade, symmetrische Häuser, Tempel, Mauern oder andere Bauwerke errichten will. Das Richtscheit oder Lineal (das mit Maßeinheiten versehen sein kann oder nicht) und der Zirkel waren die emblematischen Werkzeuge des Baumeisters und des Geometers und blieben dies für Jahrtausende. (Abb. 2.2) Diese 38Urbedeutung von »Regel« als einem buchstäblich wie metaphorisch nicht verbiegbaren Lineal war derart stark, dass der antike Komödienschreiber Aristophanes bei seinem Publikum einen sicheren Lacher erzeugen konnte, indem er einem Mathematiker den offensichtlich unsinnigen Ausdruck »das krumme Richtscheit« in den Mund legte.3

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Abb. 2.1: Riesenschilf (Arundo donax). Otto Wilhelm Thoma, Flora von Deutschland, Österreich und der Schweiz (1885).

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Abb. 2.2: Allegorische Darstellung der Geometrie mit ihren Emblemen Richtscheit und Zirkel (um 1570-1600). Johann Sadeler, Geometria, Metropolitan Museum of Art, New York.

Von diesem schilfigen Stamm kanon im Altgriechischen zweigten drei semantische Hauptcluster ab: akribische und oft auch mathematische Genauigkeit; zur Nachahmung bestimmte Modelle oder Muster; und Gesetze oder Erlasse. Da die Bedeutungen des lateinischen Wortes regula und daher auch die der Wörter für »Regel« in modernen europäischen Volkssprachen (italienisch: regola; spanisch: regla; französisch: règle; deutsch: Regel; holländisch: regel) für viele Jahrhunderte die des griechischen kanon mit sich führten, lohnt es sich, jedes dieser drei Cluster genauer zu untersuchen.

Es ist nur ein kurzer Schritt von den Richtscheiten und Maßstäben der Baumeister und Zimmerleute hin zu anderen Anwendungen geometrischer Proportionen und Berechnungen, insbesondere in den exakten antiken Wissenschaften der Astronomie und der Harmonielehre. Die pythagoreische Lehre der harmonischen Intervalle in der Musik wurde als kanonike bezeichnet, nach den Längenverhältnissen von Saiten, die verschiedene Akkorde hervorbringen. Das Monochord, ein Musikinstrument mit einer Saite und einem beweglichen Steg, das diese Prinzipien demonstrierte, wurde gelegentlich auch kanon harmonikos genannt.4 Wie wir in Kapitel 1 gesehen haben, verzeichnete eine verschollene Abhandlung des griechischen Bildhauers Polykleitos mit dem Titel Kanon angeblich die exakten Proportionen des idealen männlichen Körpers und inspirierte noch Jahrhunderte später zu spekulativen Rekonstruktionen.5 Die Verwendung des Ausdrucks kanon in der Astronomie stand dagegen der Arithmetik und dem Rechnen näher als den geometrischen Proportionen. Die Tafeln, die der alexandrinische Astronom Ptolemäus (2. Jh. n. Chr.) in seiner Mathematike Syntaxis, auch Almagest genannt, zusammenstellte und später gesondert unter dem Titel Procheiroi Kanones (»Handliche Tafeln«) veröffentlichte, boten ein Instrument zur Berechnung astronomischer Größen (zum Beispiel Planetenpositionen), das auf den Modellen des Almagest basierte.6 Die kanones des Ptolemäus waren in der Astronomie des Mittelalters und der frühen Neuzeit in der christlichen wie auch der arabischen Welt äußerst einflussreich und liehen ihren Namen allen späteren astronomischen und astrologischen Tafeln. Das griechische Wort kanon wurde in arabischen und persi41schen astronomischen Abhandlungen des Mittelalters als quanun übernommen (so etwa im Al-Qānūn al-Masʿūdī des großen persischen Universalgelehrten Abu Rayhan al-Bīrūnī [973-um 1050], einer Kompilation astronomischen Wissens),7 und im Englischen bezeichnete man noch im späten 17. Jahrhundert astronomische Tafeln als canon.8 Da die Astronomie bis zum Aufstieg des mathematisch gestützten Versicherungswesens im 19. Jahrhundert wahrscheinlich das rechenintensivste Fachgebiet darstellte und Tafeln wie die des Ptolemäus und seiner Nachahmer in erster Linie dem Rechnen dienten, führte diese Verwendung des Ausdrucks »Kanon« dazu, dass dieser sich in Spätantike, Mittelalter und früher Neuzeit fest mit dem Rechnen verband – allerdings mit den von Astronomen und Mathematikern, nicht von Maschinen durchgeführten Rechnungen.

Das zweite Bedeutungscluster lehnt sich gleichfalls an die Kernbedeutung von kanon oder regula als Maßstab für Geradheit oder im übertragenen Sinne für Rechtschaffenheit oder Richtigkeit an. Doch in diesem Fall soll der Standard nicht gemessen, sondern nachgeahmt werden. Während Galen im Kanon des Polykleitos eine (damals bereits verschollene) Abhandlung sah, die zur Anleitung der Bildhauer die Proportionen des idealen männlichen Körpers darlegte, interpretierte Plinius der Ältere das reale Standbild eines nackten männlichen Speerträgers, den Doryphoros, als kanon für Künstler, als Vorbild, das sie nachahmen sollten.9 Die Bedeutung von kanon als Nachahmung eines Vorbilds oder Modells, vor allem eines Menschen, zeigte sich in hellenistischer Zeit (4.-1. Jh. v. Chr.) erstmals in Verbindung mit der Rhetorik, wobei man den einen oder anderen Redner als Krone der Beredsamkeit hinstellte – eine Bedeutung, die Plinius auf den Doryphoros des Polykleitos übertrug, das Vorbild schlechthin einer künstlerischen Darstellung männlicher Schönheit. Ganz ähnlich warnte der griechische Biograf Plutarch (1.-2. Jh. n. Chr.) junge Leser, Figuren aus der Dichtung als Vorbilder menschlicher Tugend nachzuahmen, vor allem wenn das gar nicht den Absichten des Dichters entsprach.10 In diesen Zusammenhängen stellt paradeigma (Beispiel) kanon oft in den Schatten. Denn paradeigmata konnten vielfach bloße »Beispiele« in dem Sinne sein, wie Aristoteles den Ausdruck in 42seiner Rhetorik verwendete.11 Sie konnten jedoch auch physikalische Modelle sein, vor allem im Kontext der Architektur.12 (Abb. 2.3) In dieser Bedeutung benutzte Platon (5.-4. Jh. v. Chr.) den Ausdruck im Timaios, als er die ewigen Urbilder des göttlichen Baumeisters mit denen menschlicher Handwerker verglich, die diese Urbilder nur nachahmten.13 Wie die Verbindung zwischen Regel und Rechnen erwies sich die zwischen Regel und Vorbild oder Paradigma als bemerkenswert beständig und erlebte ihr glanzvolles Finale 1790 in Kants Darstellung des Genies als »das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt«, und zwar durch »Muster«, die anderen »zum Richtmaße oder Regel der Beurteilung dienen« müssten.14 1800 Jahre, nach43dem Plinius den Doryphoros zum canon der bildenden Künstler erhoben hatte, fand die Idee der Regel als eines nachzuahmenden Vorbilds immer noch Widerhall in der ästhetischen Theorie.

Abb. 2.3: Antikes etruskisches Architekturmodell des Tempels in Vulci (um 300 v. ‌Chr.). Museo Nazionale di Villa Giulia, Rom.

Das dritte Cluster, das im Griechischen kanon mit nomos, im Römischen regula mit lex und jus, also »Regel« mit »Gesetz« und »Recht« verbindet, erwies sich als ebenso langlebig. In altgriechischen Büchern bildeten nomos (Recht oder Brauch, aber ursprünglich Landzuteilung oder Weideland) und kanon (das sich auf ein stramm gespanntes Seil, also buchstäblich einen Leitfaden beziehen konnte) ein Dreieck mit horos (Grenze). Alle drei nahmen die Bedeutung einer Grenze an, die nicht straflos überschritten werden kann. Insbesondere im Kontext der Künste wie der Architektur oder der Medizin und später dann bei den Grammatikern erhielt kanon die Bedeutung »Regel«.15 Frühchristliche Autoren wie Klemens von Alexandria (2.-3. Jh. n. Chr.) benutzten kanon gelegentlich zur Bezeichnung der Evangelien, und im 4. Jahrhundert hatten Athanasius (um 298-373 n. Chr.) und andere Kirchenväter die Bedeutung des Wortes auch auf andere Bücher der Heiligen Schrift erweitert, die als von Gott eingegeben und daher als »kanonisch« galten.16 Um dieselbe Zeit begann die frühchristliche Kirche, vor allem die im griechischsprachigen Oströmischen Reich, das Wort kanon zur Bezeichnung von Erlassen diverser Konzile und Synoden zu verwenden, in denen es um die Regelung von Fragen wie dem liturgischen Kalender, den Sakramenten der Taufe oder der Eucharistie und der Fastenzeit ging. Im 5. Jahrhundert wurde diese Sammlung von Regeln oder canones zum »kanonischen Recht« systematisiert.17 Schon im späten 2. Jahrhundert benutzten patristische Autoren zunächst in Griechisch und später auch in Latein den Ausdruck »Regeln der Wahrheit« (kanon tes aletheias, regula veritatis), um eine deutliche Grenze zwischen Orthodoxie und Heterodoxie zu ziehen.18

Nachdem der römische Kaiser Konstantin I. (3.-4. Jh. n. Chr.) im Jahr 313 die Tolerierungen des Christentums verkündet hatte, begann die Terminologie des kirchlichen Rechts sich mit dem des römischen Rechts zu vermischen. Im 6. Jahrhundert etwa verweisen die Novellae und die Digesten Kaiser Justinians I. (um 483-565) häufig 44auf kanones und setzen sogar nomos und kanon miteinander gleich.19 Die Verzweigungen des lateinischen Worts regula, wie kanon ursprünglich die Bezeichnung für das Richtscheit und später allgemeiner für die Regel, behielten viele der weiteren Konnotationen seines griechischen Gegenstücks. Gemeinsam mit dem lateinischen Wort norma (vielleicht von dem griechischen Wort gnomon abgeleitet, einem zum Horizont senkrecht stehenden Stab, später ein Zimmermannswerkzeug zur Herstellung rechter Winkel) erweiterte regula seine Konnotationen von geraden Brettern, wie sie beim Bau verwendet werden, zu Vorbildern in der Rhetorik und zu Regeln in Grammatik und Recht.20

Im römischen Recht dagegen nahm regula eine spezielle Bedeutung an, für die es keine nahe Entsprechung im Griechischen gab, die jedoch bedeutsame Folgen für das spätere Verständnis von Regeln in einem allgemeineren Sinne hatte. Die regula juris galt zwar für einen besonderen Fall, fasste aber auch weitere ähnliche Fälle zusammen. In der spätrömischen Republik sammelten Juristen diese regulae als knappe Destillate früherer, durch Analogien untereinander verbundener Fälle. Das 50. und letzte Buch der Digesten des Justinian, De diversis regulis juris antiqui (Von verschiedenen Regeln des alten Rechts), enthält 211 derartige Regeln. Bücher mit solchen Regeln (libri regularum) zirkulierten im gesamten Römischen Reich unter Beamten mit geringer juristischer Ausbildung. Kapitel des 50. Buchs behandelten Fragen wie das Bürgerrecht in einer Stadt, Steuern und die Verwaltung öffentlichen Eigentums – sämtlich bedeutsam für die Pflichten der Provinzgouverneure. Mittelalterliche Kommentatoren des römischen Rechts behandelten diese Regeln als allgemeine Maximen und versahen sie mit weitschweifigen Kommentaren.21 Einige Aspekte dieser für Praktiker gedachten Regeln waren zukunftsweisend: erstens die Versuche, aus Präzedenzfällen durch Analogiebildung eine Daumenregel abzuleiten; zweitens die ausdrücklich untergeordnete Stellung der Regeln gegenüber dem Gesetz, und zwar sowohl in ihrer Würde als auch hinsichtlich ihrer Allgemeinheit; drittens der besonders hervorgehobene exemplarische Einzelfall (im Unterschied zum allgemeinen Prinzip); und viertens die Betonung 45der Kürze und der Praxis.22 Der römische Jurist Paulus erklärte in einer im letzten Buch der Digesten exzerpierten Passage: »Eine Regel ist, was einen vorliegenden Gegenstand kurz angibt, nicht so, dass aus der Regel das Recht abgeleitet, sondern so, dass aus dem vorhandenen Recht eine Regel gebildet wird.«23 Das Gewohnheitsrecht, die Kasuistik wie auch die freien und die Handwerkskünste siedelten sich nun sämtlich in dem Bereich an, den die römischen libri regularum absteckten. Sie alle stützten sich auf Regeln, die dafür sorgten, dass man Probleme in der Welt praktisch lösen konnte, im Einklang mit, aber nicht abgeleitet von höheren Prinzipien und oft in Form eines durch Analogiebildung erweiterten Beispiels.

Das erste und das dritte semantische Cluster, die in der griechisch-römischen Antike Regeln mit Genauigkeit und Gesetzen verbanden, sind auch im 21. Jahrhundert noch in groben Umrissen erkennbar. Auch wenn wir astronomische Tafeln und Richtscheite nicht mehr beim selben Namen nennen, verstehen wir doch sogleich, in welcher Weise Regeln mit Messen und Rechnen und in eher übertragenem Sinne mit allen Tätigkeiten verbunden sind, die bei ihrer Ausführung eine penible Aufmerksamkeit für die Details und Genauigkeit erfordern. Auch im Recht und der Verwaltung unserer Tage gesellen Regeln und Gesetze sich gerne zueinander und bestätigen die grobe, von Paulus und anderen römischen Juristen definierte Hierarchie. Außerdem fällt es uns nicht schwer, die Bindeglieder in der Assoziationskette zu identifizieren, die einst die Regeln der Baumeister und Zimmerleute mit denen der Astronomen und Grammatiker und schließlich auch denen der Richter und Anwälte verbanden. Regeln aller Art regieren, beschränken, spezifizieren, leiten und ordnen auf welche Weise auch immer das Handeln, so dass Rituale und Routinen entstehen. Regeln diktieren, wann was mit wem zu tun ist, und sie tun es in der Befehlsform bis hin zum letzten Komma. Als Emblem des Geraden und Schmalen mag das Bild des Riesenschilfs auch heute, Jahrtausende später, noch das Wesen der Regeln zum Ausdruck bringen. Regeln regeln.

Nur das zweite Bedeutungscluster, das Regeln mit Nachahmung, Vorbildern und Paradigmen verbindet, ist uns ein Rätsel, auch wenn 46Kant, wie wir gesehen haben, noch Ende des 18. Jahrhunderts in seiner Kritik der Urteilskraft auf diese Bedeutung von »Regel« verweisen konnte. Wodurch wurde der Faden der historischen Kontinuität, der im Fall der beiden anderen Bedeutungscluster so stabil gesponnen wurde, am Ende durchschnitten? Warum verschwanden Modell und Paradigma nicht nur von der Liste der Synonyme für »Regel«, sondern wurden sogar zu deren Antonymen? Wie konnte es möglich, ja selbstverständlich werden, Regeln und Paradigmen einander als unvermischbare Wissensformen entgegenzusetzen – ein Leitmotiv der Philosophie des 20. Jahrhunderts? Der Niedergang des zweiten Bedeutungsclusters wird uns in weiten Teilen dieses Buchs beschäftigen, vor allem in den Kapiteln 5 und 8. Doch zuvor müssen wir seinen Aufstieg gebührend würdigen: die spektakuläre Karriere der Regel als Vorbild in der Spätantike und im lateinischen Mittelalter, versinnbildlicht im Erfolg der Regel des hl. Benedikt als Bauplan für christliche Klostergemeinschaften.

Die Regel ist der Abt

Es ist Mittag, die Stunde der Sext, in der Benediktinerabtei Montecassino im heutigen Italien. (Abb. 2.4) Es könnte Mitte des 6. Jahrhunderts sein, kurz nachdem Benedikt von Nursia (480-547 n. Chr.) das Kloster gegründet hatte, oder hunderte Jahre später oder auch in einem Benediktinerkloster in Canterbury oder Arizona: Überall und in jedem Jahrhundert ist der Tagesablauf der Mönche in derselben Weise geregelt.24 Zur sechsten Stunde des Tages von Ostern bis Pfingsten und zur neunten Stunde mittwochs und freitags für den Rest des Sommers bis zum 13. September versammeln sich die Mönche zur Hauptmahlzeit des Tages: zwei gekochte Gerichte, dazu eine tägliche Ration von einem Pfund Brot, heruntergespült mit einer – und nur einer – Hemina Wein.25 Sie essen schweigend, nur die Stimme des Mönchs ist zu hören, der laut aus der Bibel vorliest – vier oder 48