Rehabilitierte Erinnerungen? - Christoph Thonfeld - E-Book

Rehabilitierte Erinnerungen? E-Book

Christoph Thonfeld

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Beschreibung

Wie haben ehemalige NS-Zwangsarbeitende in ihren Herkunftsländern, in Deutschland und in Auswanderungsländern nach 1945 im Kontext der jeweiligen Gesellschaftsordnungen, politischen Systeme und Erinnerungskulturen ihre Erfahrungen verarbeitet und gedeutet? Aufbauend auf vergleichenden empirischen Befunden kontrastiert der Autor fachwissenschaftlich geprägte und gesellschaftlich gewachsene Verständnisse von Zwangsarbeit mit den subjektiven Blicken der Betroffenen und analysiert das Verhältnis von individualisierter und sozialer Erinnerung. Ehemalige Zwangsarbeitende mussten teilweise lebenslang um ihre Anerkennung als NS-Opfer kämpfen. Diese Bemühungen werden nun im Zenit des biographischen Horizonts bilanziert. Die Erzählungen bilden ein Widerlager zu gegenwärtigen Forschungstendenzen, nach denen der Nationalstaat als Referenzpunkt für Erinnerungen an Bedeutung verliere und Interviews nur von der Gegenwart der Erzählenden geprägt seien. Die Erinnerungen an NS-Zwangsarbeit lassen sich nicht in ein eindeutiges Helden- oder Opferschema pressen, sondern ermöglichen Einblicke in die Fähigkeit, unter widrigsten Umständen mit dem Kriegsalltag umzugehen. Dabei werden komplexe Verständnisse von Arbeit und heterogene Dimensionen des Zwangs erkennbar.

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Christoph ThonfeldRehabilitierte Erinnerungen?

Christoph Thonfeld

Rehabilitierte Erinnerungen?

Individuelle Erfahrungsverarbeitungen undkollektive Repräsentationen

von NS-Zwangsarbeit im internationalen Vergleich

Umschlagabbildung: Der polnische ehemalige zivile Zwangsarbeiter Joseph R. am Gedenkstein mit Inschrift am ehemaligen Gestapo-Auffanglager/Arbeitserziehungslager Reichenau (heute Österreich), ohne Datum. Vom Foto des Interviewpartners abfotografiert durch Almut Leh am 16. März 2006. Das Foto ist im Gesamtbestand des International Forced Labourers’ Documentation Project unter dem Namen des Interviewpartners im Deutschen Historischen Museum, Berlin, archiviert.

1. Auflage November 2014

Umschlaggestaltung: Volker Pecher, Essen

ISBN 978-3-8375-1316-5

eISBN 978-3-8375-1422-3

© Klartext Verlag, Essen 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.klartext-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

1.Einleitung: Erinnerung und Geschichte

1.2Oral History in der Geschichtswissenschaft

1.3Quellenwert der Oral History zu NS-Zwangsarbeit

1.4Das International Forced Labourers’ Documentation Project und die Zusammensetzung der Interviewsamples

1.5Samplebildung und Rahmenbedingungen der Interviewführung und -auswertung in einem Sechs-Länder-Vergleich

2.Forschungsstand

3.Theoretische und methodische Zugänge

3.1Vergleichsebenen und Kategorisierungen

3.2Überlieferungsschichten und Erinnerungsbildungen zur NS-Zwangsarbeit

3.3Auswertung der Interviews

4.Perspektive der Rückwanderung: Frankreich, Tschechien, Ukraine

4.1Frankreich

4.2Tschechien

4.3Ukraine

4.4Die Remigrationsperspektive im Ost-West Vergleich

5.Emigration, Remigration, Bleiben: Perspektiven auf NS-Zwangsarbeit in England, Israel und Deutschland

5.1Kontrastierende Perspektiven der Immigration und Remigration: England

5.2Perspektive der jüdischen Auswanderung: Israel

5.3Perspektive der Hiergebliebenen und der Zurückgekehrten: Deutschland

6.Internationaler Vergleich

6.1Kategorisierung sozialer Erinnerungen: Paul Ricoeur’s Überlegungen zum „Missbrauch des Vergessens“

6.2NS-Zwangsarbeit als Teil einer (Zwangs)Migrationserfahrung

6.3NS-Zwangsarbeit als Projektionsfläche für Kollaboration und Niederlagen und als Ausgangspunkt für Widersetzlichkeit

6.4NS-Zwangsarbeit als umstrittene Opfererfahrung mit begrenzten Aussichten auf Entschädigung

6.5Biographischer Stellenwert der NS-Zwangsarbeit und ihr Einfluss auf das Verhältnis zu Deutschland

6.6Handlungs- und Verarbeitungsstrategien der (ehemaligen) NS-Zwangsarbeitenden

6.7Alternative Interpretationen: Cultural discourse about what has happened

7.Individualisierte und soziale Erinnerungen

7.1Das Forschungsfeld

7.2Typologie und Charakteristika von Erinnerungen

7.3Kollektivierung, Psychologisierung, Medialisierung und Fiktionalisierung individualisierter Erinnerungen

7.4Individualisierte Erinnerungsarbeit und offene Identitäten

8.Fazit

Bibliographie

Anmerkungen

Danksagung

Nach Abschluss von acht Jahren Arbeit an diesem Forschungsvorhaben soll unbedingt auch den Menschen gedankt werden, die den Prozess der Entstehung begleitet oder mit Rat und Tat dazu beigetragen haben. Dieser Dank gilt zuerst den fast 600 Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern, die im Rahmen des International Forced Labourers‘ Documentation Project durch ihre Gesprächsbereitschaft den Großteil des Primärquellenfundus ermöglicht haben. Daran waren maßgeblich ebenfalls die 32 Interviewteams beteiligt, die in 25 Ländern Interviews geführt und dokumentiert haben. Dass sie, wie die einzelnen Interviewten, hier nicht einzeln namentlich aufgeführt werden, schmälert nicht die Anerkennung ihres Beitrags. Vervollständigt wurde der Interviewbestand durch Interviews in Deutschland und England, die der Gesamtleiter des Dokumentationsprojekts, Alexander von Plato, und Almut Leh und der Verfasser als geschäftsführende/r Projektleiter/in geführt und dokumentiert haben. Den beiden erstgenannten sowie den Projektmitarbeiter/inne/n Henriette Schlesinger, Elena Danchenko und Joachim Riegel gilt Dank für zweieinhalb intensive, durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ finanzierte Projektjahre von Herbst 2004 bis Frühjahr 2007 am Lüdenscheider Institut für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen.

Danach begann im Sommer 2007 die vertiefte Auswertungsphase der ausgewählten 86 Interviews auf einer wissenschaftlichen Mitarbeiterstelle bis zum Sommer 2009 am DFG-Graduiertenkolleg 846 „Sklaverei – Knechtschaft und Frondienst – Zwangsarbeit“ an der Universität Trier unter der Gesamtleitung der Kollegsprecherin Elisabeth Herrmann-Otto und der wissenschaftlichen Betreuung von Lutz Raphael. Dort gab es reichlich Gelegenheit zum wissenschaftlichen Austausch, wofür neben den Genannten auch den anderen Professor/inn/en des Kollegs und den Kollegiat/inn/en zu danken ist. Regelmäßige Anstöße zum Quer- und Weiterdenken gab daneben insbesondere das Kolloquium für Neuere und Neueste Geschichte bei Lutz Raphael. In diese Zeit fielen auch die ergänzenden Quellenrecherchen, bei denen ich im Imperial War Museum und der British Library in London sowie in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg sowie beim Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen jeweils auf kompetente und freundliche Unterstützung zählen konnte.

Ein Großteil der Schreibphase fiel schließlich in den Zeitraum seit meiner Übersiedlung nach Taiwan im Sommer 2009 und der Tätigkeit als Assistant Professor am Department of Foreign Languages and Cultures an der National Cheng Chi University in Taipeh. Jetzt wurde das Internet zum Hauptmedium der Recherche und des fachlichen Austauschs. Für diesen gilt in dieser Phase Gelinada Grinchenko, Inge Marszolek, Dori Laub, Alexander von Plato und Johannes-Dieter Steinert besonderer Dank. Die Abschlussphase des Manuskripts 2011/12 hat dann außerordentlich vom kritischen Engagement Lutz Raphaels profitiert. Der Verwaltung des Fachbereichs III der Universität Trier sei daneben ausdrücklich für die kooperative administrative Abwicklung eines interkontinentalen Habilitationsverfahrens in den Jahren 2012-2014 gedankt. Schließlich danke ich auch Chen Yi-chun für die Geduld, mit der sie in dieser Zeit den zum größten Teil in Semesterferien, nach Feierabend und am Wochenende erfolgten Schreibprozess aus nächster Nähe begleitet hat.

Taipeh, im Oktober 2014

Rehabilitierte Erinnerungen? Individuelle Erfahrungsverarbeitungen und kollektive Repräsentationen von NS-Zwangsarbeit im internationalen Vergleich

Christoph Thonfeld

1.Einleitung: Erinnerung und Geschichte

In dieser Arbeit werden 86 lebensgeschichtliche Interviews in deutscher, englischer oder französischer Original- oder Übersetzungssprache mit Menschen aus sechs Ländern, die während des Zweiten Weltkriegs für Deutschland Zwangsarbeit geleistet haben, untersucht. Sie liefern die empirische Grundlage für ein Forschungsdesign, mit dem eine Annäherung an die individuellen und sozialen Prozesse der Erinnerung und Verarbeitung von Zwangsarbeit für das nationalsozialistische Deutschland während des Zweiten Weltkriegs ermöglicht werden soll. Das Ziel ist, die jeweiligen Besonderheiten individualisierter und sozialer Erinnerungen bzw. subjektivierter und objektivierter Perspektiven auf Vergangenheit herauszuarbeiten.

Damit bewegt sich die Arbeit auch auf dem umkämpften Terrain, inwieweit Wahrnehmungen und Verarbeitungen von Einzelpersonen im Verhältnis zu gesellschaftlich ausgehandelten und wissenschaftlich ermittelten Deutungen aussagefähig sind.1 Zwei Erwägungen des Anglisten und Judaisten James Young erscheinen hierbei wegweisend: Zum einen können uns die subjektiven Erinnerungen an jenen für historisch Forschende wichtigen Punkt zurückführen, an dem die „Kontingenz der Geschehnisse im Prozess ihrer Entfaltung“2 sichtbar wird, d. h. ein Verständnis dafür entstehen kann, dass Geschichte sich nicht nur in der geradlinigen faktischen Rückschau auf im Nachhinein zwingend oder gar logisch erscheinende Ereignisketten erschöpft. Und auch wenn durch Erinnerung kein unmittelbarer Zugang zu dieser Kontingenz erreicht werden kann, entsteht dennoch ein komplexeres Bild der historischen Verläufe.

Schwerer verdaulich erwies sich für viele Historiker lange Zeit Youngs zweite Überlegung, dass nämlich „die narrative Bearbeitung von Erlebnissen Teil der historischen Wirklichkeit“ ist und ihr insofern ohnehin ein Platz im Geschichtsbuch zukommt. Die Arten und Weisen der Wahrnehmung und Verarbeitung historischer Ereignisse durch die vielen direkt und indirekt Beteiligten bzw. Betroffenen sind demnach ein integraler Bestandteil der Geschichte und müssen daher auch als solcher in die historische Forschung einbezogen und analysiert werden. Daher nimmt diese Arbeit entschieden den Standpunkt ein, dass man Geschichte und Erinnerung vom „Standpunkt ihrer narrativen Verfasstheit“3 eher als ein „Kontinuum mit fließenden Grenzen“4 anzusehen hat (wie dies James Young und der Historiker Peter Burke vertreten), als an der traditionellen Trennung von Ereignis und historischer Erzählung festzuhalten (worauf u. a. die Arbeiten des Soziologen Maurice Halbwachs, des Ägyptologen Jan Assmann und des Historikers Reinhart Koselleck abzielen).5 Dies hat zwar als analytisches Verfahren der Rekonstruktion historischer Ereignisverläufe seine zwingende Berechtigung, greift aber für ein Gesamtverständnis geschichtlicher Prozesse zu kurz.

Eher geht es darum, mit der Ereignisgeschichte als Resonanzboden die besondere Qualität des Verhältnisses der subjektivierten Realität zu der in Akten und anderen Quellen niedergelegten und entsprechend historiographisch objektivierten Realität genauer herauszuarbeiten. Die autobiographischen Erzählungen, die in den Interviews entstanden sind, dienen des Weiteren auch als Medium, um die Dialektik von Erinnern und Vergessen6 sichtbar zu machen, die die Repräsentationen der NS-Zwangsarbeit auf verschiedenen Ebenen – von den „passive memories“7 zurückgezogen lebender Betroffener bis zu den durchchoreographierten staatlichen Gedenkritualen geprägt haben. Diese Dialektik kann als konstitutive Grundlage jeder Vergegenwärtigung von Vergangenheit angesehen werden und ist daher sowohl in der biographischen wie in der historiographischen Sichtweise einflussreich sowie auch in den Wechselwirkungen zwischen beiden Dimensionen.

Gleichzeitig sollen auch die Erinnerungen aus sechs verschiedenen Ländern untereinander in ein vergleichendes Verhältnis gesetzt werden. Maßgebliche Referenzpunkte des Vergleichs sind dabei nationale Kollektive bzw. Staaten und deren Gesellschaften, die sich auch im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert als wichtigste gesellschaftliche Rahmen für die private und öffentliche Auseinandersetzung mit Vergangenheit erwiesen haben bzw. weiterhin erweisen. Allerdings sehen die Soziologen Daniel Levy und Natan Sznaider speziell mit Blick auf die Shoah einen fortscheitenden Verlust des nationalstaatlichen Deutungsmonopols über Erinnerungen durch die zunehmende kulturelle Diversifizierung vieler europäischer Gesellschaften und die Bemühungen um transnationale Annäherung ihrer Erinnerungskulturen.8

Zudem bieten Staaten und Nationen als Rahmen für den Umgang mit Vergangenheit ohnehin nicht die monolithische Homogenität, die sich Forschende oft zu wünschen scheinen, sondern sind auch in sich selbst dynamisch und wandelbar. Der Historiker Wulf Kansteiner formulierte zu diesem Problemzusammenhang: “(M)emory studies presuppose a … surprising desire for cultural homogeneity, consistency and predictability.“9 Im Ergebnis ähnlich, wenn auch in den dorthin führenden Prozessen höchst unterschiedlich, kann man auch bei einzelnen Interviewpartnern keine vollkommen widerspruchsfreien Versionen ihrer Biographie erwarten, ebenso wenig wie die Erinnerungsformationen größerer Gruppen oder Kollektive ein genau dazu passendes, eindeutig fixierbares Widerlager bilden. Vielmehr sind es gerade die Brüche und Ungereimtheiten autobiographischer Präsentationen und die gesellschaftlichen Deutungskämpfe und Konfrontationen, in denen die im Nachhinein entstandenen Darstellungen vergangener Geschehnisse ihre Konturen gewonnen haben.

In dieser Arbeit sollen kollektive bzw. soziale Erinnerungen konzeptionell als im Verhältnis zu individualisierten Erinnerungen nachhaltig unterschiedliche Entitäten begriffen und analysiert werden, die anderen Logiken folgen und in einer anderen Weise funktionieren.10 Mit Aleida Assmann werden individualisierte Erinnerungen in dieser Arbeit als „dynamisches Medium subjektiver Erfahrungsverarbeitung“ begriffen, während soziale Erinnerungen mediengestützte, informelle Kommunikationsformen umfasst, die sich in Schritten von drei bis vier Generationen stetig erneuern.11 Beide Bereiche nehmen sich durchaus wechselseitig zur Validierung in Anspruch und stehen damit in einer teilweise konstitutiven Beziehung zueinander. Daneben werden sie von objektivierten öffentlichen Gedächtnisformen beeinflusst, in denen gesellschaftlich relevante Ereignisse und Erfahrungen durch mediale und politische Verarbeitung sowie wissenschaftliche Aufbereitung bzw. Aufbewahrung in Archiven als geronnene Wissensformen repräsentiert werden. Diese sind jedoch wesentlich stärker an den Hegemonialisierungsbestrebungen, politischen Ansprüchen und der sozialen Positionierung ihrer jeweiligen Trägergruppen ausgerichtet. In der engeren Forschungsperspektive dieser Arbeit werden in erster Linie individualisierte Erinnerungen, in denen der Aneignungscharakter der persönlichen Vergegenwärtigung von Vergangenheit verdeutlicht wird, und soziale Erinnerungen, die den vergesellschafteten und pluralistischen Grundzug von Gruppenerinnerungen hervorheben, untersucht.

Erinnerungen größerer Gruppen im Sinne eines kollektiven Gedächtnis bzw. einer Erinnerungskultur, haben vielfach eine Tendenz dazu, kulturelle Mythen zu produzieren und reproduzieren und sie mit der nötigen Legitimität auszustatten. Damit können sie gegen die Arten und Weisen, wie einzelne Menschen ihren Anteil an einer bestimmten historischen Vergangenheit erinnern, in Stellung gebracht und zu deren Delegitimation instrumentalisiert werden. Im Gegensatz dazu ist es eine Zielsetzung dieser Arbeit, die eigensinnige Struktur der erzählten Lebensgeschichten gegenüber dem auf einen gesellschaftlichen Konsens bezogenen kollektiven Gedächtnis zu rekonstruieren. Im Sinne des Historikers Lutz Niethammers wird so versucht, durch scheinbar „schwache Erinnerungen“ die Homogenisierungen und Diskursivierungen der hegemonialen Vergangenheitsbilder sichtbar zu machen, das „vermachtete Kulturgedächtnis“ als Konstruktion zu analysieren und seine blinden Flecken durch erfahrungsgesättigte Rekonstruktionen zu differenzieren und, wo nötig, zu korrigieren.12 Jedoch unterziehen auch Interviewgeber, wie der Historiker Alexander von Plato aufgezeigt hat, ihre individuellen Rekonstruktionen gewissen Anpassungsprozessen an jeweils neue gesellschaftliche Wahrnehmungs- und Deutungshorizonte. Die ausschließlich an biographischen Quellen orientierten Forschungen laufen dadurch Gefahr, auf der Ebene der individuellen Verarbeitung einen Eindruck von zeitgeistkompatibler Homogenität zu erzeugen und dadurch eher Versatzstücke für „Retortenmenschen“ abzugeben, die der vergangenen Erfahrungsrealität auch nur unzureichend gerecht würden.13

1.2Oral History in der Geschichtswissenschaft

Das (Wieder-)Aufkommen der Oral History in Westdeutschland in den späten 1970er Jahren fiel in eine bewegte Zeit. Einerseits waren Gesellschaft und Geschichtswissenschaft an einem Punkt angelangt, an dem es möglich wurde, die Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus nach persönlichen Erfahrungshorizonten und Handlungsspielräumen zu befragen, was denn auch ausführlich getan wurde. Oral Historians in Deutschland griffen methodisch und inhaltlich vor allem aus England, Italien und den USA stammende Forschungsansätze und Debatten auf. Gemeinsam war allen diesen Ansätzen, dass man für sie von Anfang an eine scharfe Auseinandersetzung gegen die Ablehnung von seiten der etablierten Geschichtswissenschaft bzw. gegen ihre Marginalisierung innerhalb derselben führen musste. Dies war in Deutschland nicht anders. Während die Frage der innerfachlichen Anerkennung in den USA früh im Zentrum der Auseinandersetzung stand,14 kreiste die Diskussion in England lange um den Quellenwert der Oral History für die Realgeschichte und deren demokratisches und emanzipatorisches Potenzial.15 Gleichzeitig betonten italienische Beiträge vor allem von Alessandro Portelli und Luisa Passerini frühzeitig die besondere Qualität der Oral History als historische Ressource und Perspektive eigener Art16 bzw. als Schlüssel zur Reintegration historischer Subjekte und Subjektivitäten in die Geschichtswissenschaft.17 Wesentliche Entwicklungen der Oral History in der alten Bundesrepublik sind anfangs vor allem mit Lutz Niethammer verbunden, in der Folge dann auch zunehmend mit Alexander von Plato und Dorothee Wierling.

Gleichzeitig sah die Zeit um 1980 das Versterben der Erfahrungsgeneration des Ersten Weltkriegs. Während seit der Jahrtausendwende das allmähliche Versterben der „Erfahrungsgeneration“ des Zweiten Weltkriegs in Texten und auf Konferenzen thematisiert und auf seine Konsequenzen hin erkundet wird, schien derselbe Vorgang in der Erfahrungsgeneration der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ ca. 30 Jahre früher weniger Reflektionsprobleme aufzuwerfen. Offensichtlich stellen uns die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges vor so schwerwiegende Probleme der Erkenntnis und des Erinnerns, dass hier den biographischen Zeugnissen der Mitlebenden eine qualitativ neuartige Dimension zugesprochen wurde und weiterhin zugesprochen wird. Diese entfaltet sich allerdings bis heute nicht ohne Spannungen.

Die ersten eigenen Erfahrungen mit individualisierten Erinnerungen an historische Geschehnisse und ihrem Stellenwert in der Geschichtsforschung machte der Verfasser Mitte der 1990er Jahre an der Universität Bremen in einem Seminar über den Vernichtungskrieg der Wehrmacht in Südost- und Osteuropa seit 1941, das im Zusammenhang mit der seinerzeit gerade aktuellen so genannten „Wehrmachtsausstellung“ angeboten wurde. Die erste Sitzreihe im Seminar wurde regelmäßig von älteren Herren besetzt, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Seminarteilnehmern und überdies auch der Dozentin zu erzählen trachteten, wie sich die Geschichte „wirklich“ zugetragen hatte. Hier prallten neueste Erkenntnisse der Geschichtsschreibung und individueller Erfahrungs- und Verarbeitungshorizont unversöhnlich aufeinander und niemand unter den anwesenden Studierenden, zu denen auch der Verfasser zählte, zweifelte daran, dass der Wissenschaft der Sieg in diesem erbitterten Zweikampf gebühre. Bei der spezifischen Herausforderung, die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges für die historische Erkenntnis darstellten, standen sich Wissenschaft und die Erfahrungen und Erinnerungen der „Tätergeneration“ noch deutlich konfrontativ und nicht komplementär gegenüber.

Zu jenem sensiblen Zeitpunkt erwies sich eine integrierte Erzählung des Zweiten Weltkriegs, die Forschungsergebnisse und Erfahrungsperspektiven zusammengebracht hätte, als nicht realisierbar. Dafür tobte noch zu sehr der Kampf um die Herstellung historiographischer Deutungshoheit. Tatsächlich fokussierte und fokussiert die Oral History tendenziell bis heute eher auf die Perspektive von Opfergruppen. Das hat insofern seine Berechtigung, als sie dadurch im Doppelsinn des Wortes Subjekte der Geschichte – als Akteure und als Unterworfene – sichtbar macht, die sonst vielfach im Dunkel bleiben, und es ermöglicht die Einschreibung ihrer Erzählungen in einen historischen Diskurs, der seinerseits auch niemals machtfrei und egalitär ist. Der damit verbundene emanzipatorische Anspruch beeinflusst aber auch grundlegend das Erkenntnisinteresse, weil er die Tendenz hat, die Masse der Täter sowie die vielen Mitläufer und Zuschauer im Umkehrschluss im Dunkel zu belassen und damit auch wieder in gewisser Weise ein verkürztes Verständnis von Handlungszusammenhängen und Entscheidungsspielräumen zu vermitteln.

Zusätzlich wurde an dem Bremer Seminar deutlich, worauf die Rede vom Zeitzeugen als „natürlichem Feind“ des Historikers gründet, die sich ebenfalls ungefähr Mitte der 1990er Jahre in der Zeitgeschichtsforschung etablierte. Diese Rede droht jedoch fehlzugehen, so weit sie sich in einer bloß ontologischen Unterscheidung von objektivierter Wahrheit, die der Letztere angeblich schreibt, und subjektivierter Unwahrheit, die der Erstere angeblich spricht, erschöpft. Wer ausschließlich auf diesen Grundwiderspruch abhebt, der müsste mit Reinhard Koselleck darauf beharren, dass die Zeitgeschichtsschreibung selbst noch von der parteiischen Zeitgenossenschaft kontaminiert ist. Er formulierte mit Blick auf die Zukunft der historiographischen Erforschung der Shoah: „Die moralische Betroffenheit, die verkappten Schutzfunktionen, die Anklagen und Schuldverteilungen der Geschichtsschreibung – all diese Vergangenheitsbewältigungsstrategien verlieren ihren politisch-existenziellen Bezug, sie verblassen zugunsten von wissenschaftlicher Einzelforschung und hypothesengesteuerten Analysen,“18 die aber eben erst nach dem Ableben der Erfahrungszeugen und unter Ausschluss von erinnerungsbasierten Zeugnissen der Erlebnisgeneration – streng genommen inklusive der aus ihr hervorgegangenen historisch Forschenden – durchgeführt werden könnten.

Alexander von Plato wies demgegenüber auf den eigenständigen und nachhaltigen Wert mündlicher Überlieferungen hin: „Wer die Subjektivität der Quellen kritisiert, müsste in Wirklichkeit nicht die Quelle, sondern die Thematik als irrelevant kritisieren. Dies wäre jedoch mehr als fragwürdig, weil es hieße, ein, wenn nicht das wesentliche, Element aus der Geschichte zu eliminieren, nämlich Subjekte im Umgang mit den Zwängen und Möglichkeiten ihrer Zeit, ihre Sicht, ihre Erfahrung und schließlich ihre Verarbeitung zu vernachlässigen.“19

Einige Jahre später interviewte der Verfasser im Rahmen des Bremer Forschungsprojekts „Denunziation in Deutschland 1933-1955“ ältere Deutsche, die während des Zweiten Weltkriegs Jugendliche oder junge Erwachsene gewesen und nach 1945 wegen bzw. trotz ihrer allenfalls marginalen Teilhabe an NS-Organisationen und Kriegs- bzw. Nachkriegsgeschehnissen in der Sowjetischen Besatzungszone durch Denunziationen in Internierungslager der dortigen Militäradministration verbracht worden waren. Eine Gruppe also, die nachhaltig die Eindeutigkeit der Kategorien von Tätern und Opfern in Frage stellte und sich aber möglicherweise gerade dadurch als integrierbar in eine aktengestützte, kohärente Geschichtserzählung – wenn auch in einer übersichtlichen Nebenrolle – erwies, weil es für ihre Erfahrungen kaum etablierte Deutungsmuster gab.

Die für die Speziallager in Ostdeutschland vorfindliche Forschungskonstellation scheint einige Anhaltspunkte für die Relevanz der Oral History bereitzuhalten: Die Aktenüberlieferung zur Internierung in den sowjetischen Speziallagern ist unvollständig bzw. nur teilweise verfügbar, d. h. alleine aus den vorhandenen Dokumentenbeständen lässt sich das Geschehen nicht umfassend rekonstruieren. Dann sind diese Akten aufgrund ideologisierter Vorannahmen, die als Voraussetzung ihrer Erstellung wirksam wurden, nur bedingt aussagefähig, vor allem im Bezug auf Haftgründe, Verhaftungs- und Verurteilungsumstände der Internierten. Schließlich sind sie täterzentriert, geben also in erster Linie – aber auch nicht ungebrochen – über die Verfolgungsperspektive Auskunft. Da die Erfahrungen der Speziallagerinternierten in der DDR tabuisiert und in der alten Bundesrepublik seit den späten 1950er Jahren aus dem öffentlichen Bewusstsein zunehmend ausgeblendet wurden und dies bis zum Zusammenbruch der DDR auch blieben, geraten hier auch die Konjunkturverläufe gesellschaftlicher Gedächtnisformen in den Blick, die wichtige Indikatoren für die Entwicklungsprozesse von Erinnerungskulturen darstellen.

Ein weiterer Aspekt der Aussagefähigkeit mündlich hervorgebrachter und gleichzeitig dokumentierter Geschichtszeugnisse ist die dadurch ermöglichte Überlieferung der alltäglichen Lagererfahrung, die sich über konventionelle Quellen nur als dürres Datengerippe von Barackenbelegungszahlen, Zugangs-, Abgangs- und Sterbelisten erfassen lässt. Solche Erkundungen alltäglicher Erfahrungen und ihrer subjektiven Verarbeitungen unter besonderen historischen Konstellationen hat sich die Oral History früh zur Aufgabe gemacht.20 Überdies erweist sich an diesem, am Schnittpunkt des untergehenden NS-Systems und der sich etablierenden sowjetisierten Herrschaftsstrukturen gelegenen historischen Kontext auch eine weitere Stärke der Oral History, die Richard Crownshaw und Selma Leydesdorff herausgestellt haben: „(T)he oral historian does not render totalitarianism an abstract and homogenised system, with the same effects on those under its control whereever it can be found.“21

Überdies enthalten ja auch die vermeintlich objektiven Archivquellen zweifelsohne ihre Fallstricke, aus denen ein Beispiel herausgegriffen werden soll, das den Entstehungszusammenhängen und der Art der Quellenproduktion nach verwandte Züge zum vorliegenden Untersuchungsfeld aufweist. Der renommierte deutsche Migrationshistoriker Klaus J. Bade spricht von den „falschen Spuren“, die Menschen in Akten hinterlassen, wenn sie in Auseinandersetzung mit der sich stetig verschärfenden Migrationspolitik westeuropäischer Staaten versuchen, ihre Wanderungsabsichten zu realisieren.22 Umgekehrt hat Bade aber gleichzeitig auch diejenigen „falschen Fährten“ im Blick, die dadurch gelegt werden, dass Verwaltungsangestellte versuchen müssen, die komplexe Realität, der sie sich tagtäglich gegenüber gestellt sehen, mit den Handlungsprogrammen ihrer Behörden23 und den Vorgaben ihrer Formulare und Tätigkeitsberichte in Einklang zu bringen. Ein solcher übergreifender quellenkritischer Blick kann auch dazu beitragen, die Debatten um so genannte „falsche Erinnerungen“, die vor allem in den 1990er Jahren in den USA aufkamen und ein ständiger Begleiter der Diskussionen um den Quellenwert der Oral History sind, in einen produktiveren Kontext zu stellen.24 Das würde erfordern, die konfrontative Gegenüberstellung von schriftlichen und mündlichen Quellen zugunsten einer komplementären Ergänzung aufzugeben.

1.3Quellenwert der Oral History zu NS-Zwangsarbeit

Alexander von Plato hat zur Frage der Validität autobiographischer Erinnerungen darauf hingewiesen, dass neben der Bedeutung der Oral History für die Rekonstruktion überlieferungsarmer oder -loser realhistorischer Abläufe sich deren Wertigkeit auch qualitativ genauer bestimmen lasse.25 So steige die Aussagefähigkeit mündlicher Aussagen 1. mit dem Grad der Verknüpfung mit eigenem Erleben, d. h., mit dem, was in den Wahrnehmungsund Denkhorizont der Befragten eintreten konnte, 2. mit der Konkretion der von den Interviewenden gestellten Fragen, 3. mit der persönlichen Nähe der Interviewten zu den Geschehnissen, d. h. solche, bei denen die Erzählenden selbst unmittelbar zugegen waren, sowie 4. mit der Nähe der biographischen Verbindung zu den Geschehnissen, d. h. also welche Bedeutung ein Ereignis im weiteren Verlauf der Entwicklung der Biographie zugeschrieben bekam bzw. bekommt. Umgekehrt warnte Plato aber auch davor, dass die Legitimation und Identifikation stiftenden Funktionen biographischer Erzählungen Interferenzen schaffen, die nur durch Vergleiche aufgefangen werden können, wie überhaupt eine Quellen- und Methodenvielfalt insgesamt am ehesten eine hohe Plausibilität der verschiedenen Lesarten und Deutungen biographischer Quellen ermöglicht, wenn dabei die Stärken und Schwächen der jeweiligen Quellen methodisch angemessen berücksichtigt werden.26

Das ist das unwegsame Gelände, innerhalb dessen das 2007 von Hans-Christoph Seidel und Klaus Tenfelde benannte Postulat der „dringend notwendige(n) weitere(n) erfahrungs- und lebensgeschichtliche(n) Erforschung der Zwangsarbeit“ in dieser Forschungsarbeit eingelöst werden soll.27 Ein wesentlicher Schritt auf dem Weg dorthin ist die notwendige Ausdifferenzierung der in zeitgeschichtlichen Untersuchungen zur NS-Zwangsarbeit in der Regel maßgeblichen Unterscheidung zwischen Zwangs- und Sklavenarbeit, die darauf beruht, dass die Erfahrung erzwungener Arbeit als (zumeist jüdischer) KZ-Häftling oder Ghettobewohner von einer systematischen existenziellen Bedrohung unterlegt war, die für die meisten zivilen Zwangsarbeitenden tendenziell nur situativ auftrat, dabei häufig in der zudem höchst ambivalenten Form alliierter Fliegerangriffe. Diese Differenz klingt auch in der narrativen Verarbeitung von ehemaligen Zwangsarbeitenden, die Interviews gegeben haben, wiederholt an. Dies ist auch ein Indiz für die Gegenüberstellung dessen, was James Young als die eher auf Versöhnung ausgerichtete “common memory“ (zumeist im Falle der zivilen ehemaligen Zwangsarbeitenden) und die von der Unaussprechlichkeit traumatischer Erfahrungen gekennzeichnete “deep memory“ (zumeist im Falle der ehemaligen Arbeitshäftlinge) benannt hat,28 wobei die Kriegsgefangenen eine äußerst heterogene Zwischengruppe darstellen.

Die biographischen Erinnerungen ehemaliger Zwangsarbeitender sind bisher hauptsächlich als untergeordnete Ergänzung ereignisgeschichtlicher Darstellungen genutzt oder mit dokumentarischem Anspruch zusammengetragen worden. Wie verändert sich demgegenüber das Forschungsfeld, wenn jetzt autobiographische Erinnerungen ins Zentrum der Untersuchung gestellt werden? Dazu ist zunächst zu klären, von wessen Erfahrungen gesprochen werden kann, wenn hier deren Stellenwert für das historiographische Gesamtunternehmen der vergleichenden Erforschung der Verarbeitung von NS-Zwangsarbeit bestimmt werden soll. Seit den Arbeiten von Primo Levi ist die Einschränkung überliefert, dass nur noch die Lebenden Erfahrungen bezeugen können und damit der schlimmste Teil des untersuchten historischen Ausschnitts, die Erfahrungen der Toten, nicht mehr in den Blick genommen werden kann. Der Philosoph Giorgio Agamben pointiert das folgendermaßen: „Normalerweise legt der Zeuge im Namen von Wahrheit und Gerechtigkeit Zeugnis ab, und aus ihnen erwächst seinem Wort Dichte und Fülle. Doch hier beruht die Gültigkeit des Zeugnisses wesentlich auf dem, was ihm fehlt; in seinem Zentrum enthält es etwas, von dem nicht Zeugnis abgelegt werden kann, ein Unbezeugbares, das die Überlebenden ihrer Autorität beraubt. […] Die Überlebenden […] bezeugen ein Zeugnis, das fehlt.“29

Und wenn man die Erinnerungen von Personen, die nationalsozialistische Verfolgung und Zwangsarbeit persönlich erlebt und überlebt haben, als historische Quelle untersucht, kommt man zwar nicht umhin festzustellen, das diese in vielen Fällen weniger formal exakt sind als leidenschaftslos zwischen Aktendeckel Gepresstes. Neben diesen unvermeidlichen Problematiken haben mündliche Quellen aber auch unbestreitbares Potential. Dabei ist zunächst auf zwei Aspekte des Quellenprestiges mündlicher Zeugnisse hinzuweisen, die Niethammer und Plato in ihren Forschungen herausgestellt haben. Der erste Aspekt ist der heuristische Wert lebensgeschichtlicher Interviews, auf den vor allem Niethammer schon frühzeitig hingewiesen hat.30 Beim Durcharbeiten der für diese Arbeit verwendeten Transkriptionen fand sich unter anderem eine Passage im Interview eines Auschwitz-Überlebenden, der neben der Veranschaulichung des heuristischen Potentials der Oral History zusätzlich auch noch für die Interaktion zwischen Interviewer und Interviewtem bezeichnend ist:

(D. L., Interviewer): “Did you get rumors, hear news, rumors about killing of Jews?

(Henry G., Interviewter): “I didn’t hear nothing from Auschwitz. You see what it is? I know what happened in Auschwitz is: before they killed the people, made them sign, made them write postcards home and tell them: “We arrived here“ in a certain place. I don’t know what they call the place over there, at Auschwitz. “And we are feeling good, we are going to go to work“, and this and that and then immediately after this they gassed them. And all these people at home got the postcards and everything was fine.

(DL): In your town, too?

(HG): In the town, maybe some. I know that Hungary, in Hungary, they got it a lot. You know.

(DL): I am interested mostly in your own memories.

(HG): Well, my own (-) This, sending the cards, is my memories after the war.“31

Die Erzählung von den Postkarten, mit denen die Opfer und ihre Angehörigen getäuscht und beruhigt werden sollten, kann weitere Nachforschungen nach solchen Postkarten auslösen bzw. zu deren historischer Kontextualisierung beitragen. Gleichzeitig haben wir das Beharren des Interviewers, der hier gar nicht auf die enthaltene Sachinformation abhebt, sondern darauf, den Interviewten daran zu erinnern, dass er sich eng an seinen persönlichen Erinnerungen orientieren soll. Damit will er einerseits verlässlichere Informationen hervorbringen und andererseits den Erzählfluss aktivieren, indem der Interviewte stärker mit seiner eigenen Biographie in Kontakt tritt.

Die bisweilen ungewöhnlich hohe Exaktheit persönlicher Erinnerungen war in dem Dokumentationsprojekt der Fernuniversität Hagen zu Lebensgeschichten ehemaliger NS-Zwangsarbeitender, dem „International Forced Labourers’ Documentation Project“ ein hervorstechender Zug.32 Das wurde von den Projektdurchführenden, zu denen auch der Verfasser zählte, zunächst damit erklärt, dass viele der Interviewten zu jener Zeit gerade das Antragsverfahren auf Entschädigung eingeleitet oder abgeschlossen hatten, wofür sie zahlreiche Dokumente beibringen mussten. Dies führte zu einer aktualisierten inneren und manchmal auch materiellen, äußeren Konfrontation mit den damals wichtigen Orten und Menschen. Nicht selten haben die ehemaligen Zwangsarbeitenden aber auch schriftliche Erinnerungen in Tagebuch- oder anderer Form niedergelegt, an denen sich Erzählungen dann zumindest mittelbar orientieren und größere Verlässlichkeit in Bezug auf konkrete Orte und Zeiten entstehen lassen. Das gibt den entsprechenden Interviews allerdings auch etwas Statisches und Berichthaftes, wodurch die individuelle Dimension des Erinnerungsvorgangs weniger zur Geltung kommt. Das Verhalten dieser Interviewten verweist auf das dauerhaft einseitig verteilte Quellenprestige zwischen mündlichen und schriftlichen historischen Überlieferungen, für die grundsätzlich gleiche Qualitätsstandards gelten, die aber vielmehr den unterschiedlichen Charakter und die unterschiedliche Aussagefähigkeit der jeweiligen Quellen berücksichtigen müssten.33

Die vor allem durch Arbeiten von Forschenden im Umfeld des Sozialpsychologen und Kulturwissenschaftlers Harald Welzer intensivierte Skepsis gegenüber der Zuverlässigkeit und historiographischen Verwertbarkeit autobiographischer Erinnerungen wiederum richtet sich vornehmlich auf ein in Untersuchungen aufgetretenes Phänomen, dem gemäß Interviewte offenbar in einzelnen Situationen Dinge als eigene Erfahrungen berichten, die in sehr ähnlicher Form in Büchern oder Filmen über den Zweiten Weltkrieg auftauchen. Diese flössen, so die daraus abgeleiteten Befunde von Welzer et al, mit der auf persönlichen Erlebnissen beruhenden Erinnerung derart zusammen, dass sie schließlich ein zusammenhängendes Narrativ bildeten.34 Dabei geht es den Erinnernden angeblich darum, die biographische Erzählung kohärenter oder spannender zu machen, da Lebendigkeit der Erzählung immer noch vielfach als Signum von Authentizität gilt.35 Unabhängig von der Häufigkeit oder Seltenheit, mit der solche Phänomene auftreten, zeigt sich daran auch die quellenkritische Problematik, eine gute – im Sinne einer gelungenen – Geschichte von einer wahren, aber schlecht erzählten Geschichte zu unterscheiden und im jeweils eigenen Recht zu würdigen.36 Individuelle Erinnerungen und mediale Repräsentationen der Vergangenheit sind zwar fraglos keine hermetisch voneinander geschiedenen Welten und mediale Darstellungen nehmen sicherlich auch in gewisser Weise Einfluss auf Erinnerungen. Allerdings bedürfen auch mediale Repräsentationen für ihre Wirkmächtigkeit gewisser Ankerpunkte in persönlichen Erfahrungen. Vielleicht finden sich also bestimmte Bilder gerade deshalb in Filmen, weil sich in ihnen gemachte Erfahrungen artikulieren, die dementsprechend auch ausschnitthaft und vereinzelt in individuellen Erinnerungen auftauchen. Die Beeinflussung ist hier also potenziell als eine wechselseitige anzusehen und es darf zumindest als strittig gelten, wer dabei das Urheberrecht reklamieren kann.

Die österreichische Historikerin Maria Ecker hat aus ihren Forschungen heraus in diesem Zusammenhang den Eindruck formuliert, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt, beginnend mit der Berichterstattung zum Prozess gegen Adolf Eichmann 1961/62, der frühere KZ-Arzt Josef Mengele zunehmend häufig in lebensgeschichtlichen Erinnerungen auftauchte. Sie erklärt das damit, dass anhand einiger weniger Kennzeichen (SS-Offizier, gut aussehend, schwarze Uniform, Peitsche) die Erinnerung an einen Arzt bei einer Selektion in Auschwitz unter dem Einfluss zunehmender medialer Berichterstattung mit der Person Mengele zu einer „künstlichen“ Erinnerung zusammengefügt wurde. Aber – abgesehen davon, dass zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich generell die Interviews mit Überlebenden zahlenmäßig zunahmen – erscheint diese Deutung nicht unbedingt plausibler als die umgekehrte Lesart, dass Überlebende der Selektionen sich gegenüber den verwirrenden Umständen des damaligen Geschehens erst im Nachhinein der einzelnen handelnden Personen bewusst wurden, die ihnen während des Handlungsvollzugs nicht unbedingt namentlich bekannt waren. Selektionen waren unvermittelt einsetzende, als massiv bedrohlich und erniedrigend erfahrene Massengeschehnisse, die nur schwierige Erinnerungsbildungen ermöglichten und andere als die alltäglich wiederkehrenden Konfrontationen mit Blockältesten, Kapos oder Vorarbeitern in Arbeitskommandos. Zudem waren Selektionen auch potenziell höchst traumatisierende Vorgänge. Viele haben hier ihre Angehörigen und Freunde zum letzten Mal gesehen, relativ bald danach werden sie zudem bemerkt haben, wie knapp sie selbst dem Tod entgangen sind. Das spricht sehr dafür, dass diese derart befrachtete Sequenz des Erlebens entweder vorläufig verdrängt oder aber zumindest nicht unbedingt vergleichsweise kurze Zeit später bereits in einem historisch orientierten Interview detalliert erinnert werden konnte. Diese Blockade hat sich dann über die Jahrzehnte verändert und ermöglichte erst später eine Annäherung an das Geschehen, was die langsame Zunahme der Nennungen Mengeles über die Jahrzehnte auch erklären könnte.

Die Deutungsversuche von Welzer et al und Ecker können mit diesen gegenläufigen Erwägungen nicht faktisch widerlegt werden. Für beide lassen sich empirische Belege finden, zumal im Hang mancher Interviewter, zur Beglaubigung ihrer Erinnerungen Begegnungen mit Personen der Zeitgeschichte anzuführen, die sich ihrem konkreten Verlauf nach nicht mehr belegen lassen. Widerspruch soll jedoch erhoben werden gegen eine Haltung, die solche empirisch auffindbaren „falschen“ Erinnerungen zum allein gültigen Beobachtungspunkt autobiographischer Aussagen erhebt, von dem aus diese in Gänze zu erschließen und quellenkritisch zu verwerfen seien. Demgegenüber muss weiterhin bestehender Differenzierungs- bzw. Spezifizierungsbedarf angemeldet werden. Weder lassen sich daraus autobiographische Aussagen insgesamt interpretieren noch lassen sich autobiographische Zeugnisse unabhängig von Person und Gegenstand mit einem solchen generalisierenden Deutungsmuster fassen und dabei gleichzeitig auch noch disqualifizieren.

So haben die Forschungsarbeiten der Historikerin Ulrike Jureit zwar gezeigt, dass Holocaustüberlebende in ihren lebensgeschichtlichen Erzählungen und Niederschriften Orte verwechseln oder sich falsch an Namen erinnern. Sie hat aber ebenso ausgeführt, dass es für diese Irrtümer einleuchtende subjektive und objektive Gründe gebe, und dies keinesfalls ein zwingender Hinweis auf die Unrichtigkeit der Erinnerungen insgesamt sei.37 Instruktiv sind zudem auch die Beobachtungen des Historikers Mark Roseman, der Umbildungen in den Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden, die in aller Regel auch Zwangsarbeitende waren, mit Hilfe der psychologischen Traumaforschung erläutert hat.38

1.4Das International Forced Labourers’ Documentation Project und die Zusammensetzung der Interviewsamples

Das International Forced Labourers’ Documentation Project (im Folgenden: IFLDP) begann im Herbst 2004, nachdem eine längere Planungs- und Ausschreibungsphase vorausgegangen war. Angesiedelt am Institut für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen unter der Leitung von Alexander von Plato und finanziert von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ), wurden in 25 Ländern 32 Interviewteams ausgewählt, die – zuzüglich der Interviews, die Alexander von Plato, die Historikerin Almut Leh und der Verfasser als verantwortliche Projektkoordinatoren in Deutschland und England gemacht haben – insgesamt fast 600 lebensgeschichtliche Interviews mit ehemaligen NS-Zwangsarbeitenden führten und dokumentierten. Die Teams bewarben sich zunächst auf eine Ausschreibung des Instituts und wurden dann in Zusammenarbeit der Projektkoordinatoren mit einer international besetzten Expertenjury unter Oberaufsicht der Stiftung EVZ nach den Kriterien der wissenschaftlichen Eignung, der organisatorischen Kapazität sowie des Vorhandenseins von Interview- bzw. Projekterfahrungen ausgewählt.

Der Großteil dieser Gespräche sollte – in Anlehnung an die Entschädigungspraxis der Stiftung, die zu der Zeit in vollem Gange war – in Staaten der ehemaligen Sowjetunion (Belarus, Russland, Ukraine) sowie in Polen und Tschechien stattfinden. Ein weiterer Schwerpunkt lag auf (jüdischen) ehemaligen Arbeitshäftlingen, die heute vornehmlich in Israel und den USA leben. Für die übrigen Länder waren nur relativ kleine Samples vorgesehen, die – wie auch alle anderen nicht-deutschsprachigen Interviews – aus Budgetgründen nur zu ca. einem Viertel ins Deutsche übersetzt werden konnten. Die Vorgaben für die Zusammensetzung der Samples waren zweigeteilt – einerseits sollten sie sich möglichst an den historischen Gegebenheiten der Häufigkeitsverteilung unter den NS-Zwangsarbeitenden des jeweiligen Landes ausrichten, also am Anteil von Frauen und Männern, den Formen ihrer Unterbringungs- und Arbeitseinsatzorte etc. Andererseits sollten aber auch „ungewöhnliche“ Schicksale, die sonst üblicherweise durch die aggregierenden Raster der Forschung fallen, Berücksichtigung finden.

Die Zusammensetzung der Interviewsamples

England: Bei der Zusammensetzung des Samples wurden gemäß dem Votum der internationalen Jury, die die Auswahl der Interviewteams beschlossen hatte, keine britischen ehemaligen Kriegsgefangenen befragt, von denen ca. 100.000 für das Deutsche Reich Zwangsarbeit leisten mussten. Obwohl für diese Personengruppe weiterhin Forschungsbedarf besteht,39 wurde eher die Besonderheit Englands als Einwanderungsland für überlebende ehemalige Zwangsarbeitende nach 1945 hervorgehoben. Dementsprechend wurden im Rahmen des IFLDP nur sechs eingewanderte ehemalige Zwangsarbeitende polnischer, tschechischer, ukrainischer und deutsch-jüdischer Herkunft interviewt. Für die vorliegende Forschungsarbeit wurde dieses Sample durch vier weitere Interviews mit Angehörigen dieses Personenkreises (darunter eine Interviewte ex-jugoslawischer Herkunft) sowie Interviews mit zehn britischen ehemaligen Kriegsgefangenen, die in Deutschland Zwangsarbeit geleistet haben, ergänzt. Diese Interviews sind zu früheren Zeitpunkten entweder vom National Sound Archive der British Library oder vom Sound Archive des Imperial War Museum geführt worden. Die Interviews liegen in englischer Sprache vor.

Deutschland: Neben sechs als Deutsche geborenen deutschen Staatsangehörigen und zwei osteuropäischen ehemaligen Zwangsarbeitenden, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten haben, wurden zwölf Interviews aus den Beständen des Instituts für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen und der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg herangezogen, die zu früheren Zeitpunkten mit Opfern nationalsozialistischer Verfolgung, die Zwangsarbeit geleistet haben, geführt worden sind. So entstanden zwei gleich große Teilsamples, die jeweils zehn Personen berücksichtigen, die als Deutsche Zwangsarbeit verrichtet haben bzw. als Ausländer nach Deutschland gebracht wurden, dort Zwangsarbeit geleistet haben und nach dem Krieg im Land geblieben sind. Alle Interviews sind in deutscher Sprache geführt worden.

Frankreich: Das französische Sample besteht aus acht ehemaligen Rekrutierten des Service du Travail Obligatoire – eines Pflichtarbeitsdienstes, den das Vichy-Regime Anfang 1943 zur Unterstützung des deutschen Arbeitskräfteeinsatzes eingeführt hatte – sowie aus zwei in Frankreich lebenden, nicht als Franzosen geborenen Personen, die für Deutschland im Zweiten Weltkrieg als KZ-Häftling bzw. Zivildeportierte erzwungene Arbeitsleistungen erbracht haben, einem österreichischen Juden und einer Ukrainerin. Der Fokus der Untersuchung folgt hier der Ausrichtung des Samples, die vor allem die komplexe Rekrutierungssituation im Vichy-regierten Frankreich berücksichtigen sollte. Auch dieses Sample wurde durch ein bereits früher geführtes Interview des Instituts für Geschichte und Biographie mit einem französischen ehemaligen zivilen Zwangsarbeiter ergänzt. Die Interviews liegen im französischen Original und/oder in deutscher Übersetzung vor.

Israel: Das Sample besteht aus ehemaligen jüdischen Arbeitshäftlingen, wobei ein Interviewter libyscher Herkunft, der in nordafrikanischen Arbeitslagern interniert war, eher als ziviler Zwangsarbeitender angesprochen werden muss, weil er nicht von der Deportation in ein Vernichtungslager bedroht war und auch die sonstigen Arbeitsumstände nicht denen der KZ-Häftlingsarbeit entsprachen. Auch dieses Sample wurde durch ein bereits früher geführtes Interview des Instituts für Geschichte und Biographie mit einem polnischstämmigen jüdischen weiblichen ehemaligen Arbeitshäftling ergänzt. Alle Interviews liegen entweder in deutscher Übersetzung aus dem Hebräischen vor oder sind auf Deutsch oder Englisch geführt worden.

Tschechien: Das tschechische Sample entstammt komplett dem IFLDP. Die Interviews berücksichtigen ehemalige zivile Zwangsarbeitende und Arbeitshäftlinge. Darunter ist ein Interview mit einem slowakischen, in der Tschechoslowakei geborenen und seit 1993 in der Slowakei lebenden früheren Arbeitshäftling und eins mit einem polnischen, in der Tschechoslowakei geborenen und lebenden ehemaligen zivilen Zwangsarbeitenden, während die anderen Interviewten alle tschechischer Nationalität sind. Alle Interviews sind aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzt worden.

Ukraine: Auch das ukrainische Sample entstammt komplett dem IFLDP. Hier ist eine regionale Aufteilung zwischen zwei Interviewteams vorgenommen worden, einem für den westlichen und einem für den östlichen Landesteil der heutigen Ukraine, wodurch die wechselnden Besatzungssituationen und Staats- und Volkszugehörigkeiten auf ukrainischem Territorium berücksichtigt wurden. Auch dieses Sample setzt sich gleichermaßen aus ehemaligen zivilen Zwangsarbeitenden und Arbeitshäftlingen zusammen. Alle Interviews liegen in deutscher Übersetzung aus dem Ukrainischen oder Russischen vor.

1.5Samplebildung und Rahmenbedingungen der Interviewführung und -auswertung in einem Sechs-Länder-Vergleich

Es gibt gute Gründe, bei der Zusammenstellung von Forschungssamples strenge Regeln einzuhalten. Das so genannte “theoretical sampling“ (Strauss/Corbin) ist ein verlässlicher Ausgangspunkt in dieser Hinsicht, der seine weitere Ausarbeitung in der Idee der „theoretischen Sättigung“ (Herrmanns) erfahren hat. Diese kann – abhängig von verschiedenen Lehrmeinungen und vom jeweiligen Autor sowie vom verfolgten Untersuchungsinteresse – innerhalb einer Größenordnung von zwölf bis 40 Interviews erreicht werden. So ambitioniert und aufrichtig der dahinter stehende Gedanke sein mag – so viele „Fälle“ in Betracht zu ziehen, wie nötig sind, um jedes theoretische Konzept zu repräsentieren, das für ein angemessenes Bild des gewählten Ausschnitts der Realität von Bedeutung ist40 – so wenig lässt sich das Eintreten eines Sättigungspunkts theoretisch vorherbestimmen, wie Niethammer argumentiert hat: „… er [der Sättigungspunkt, CT] hängt von der Komplexität des Sachverhalts, der Distanz zum Gegenstand etc. ab und bemißt (sic!) sich nach Erfahrung oder Konvention.“41

Zusätzlich besteht bei sehr kleinen Samples die Gefahr, dass durch den Versuch, möglichst viele besondere Erfahrungen abzubilden, um die Breite des Forschungsfeldes darzustellen, eher ein Kuriositätenkabinett entsteht als ein theoretisch gesättigtes Sample. Die für diese Arbeit zusammengestellten Interviews erhalten vor diesem Hintergrund vor allem als Ensemble Bedeutung. Sie dokumentieren eine länderübergreifende Verdichtung von Erfahrungen der Zwangsarbeit für das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Sie können für die einzelnen vertretenen Länder zwar im strengen Sinne keine Repräsentativität in Anspruch nehmen, belegen jedoch jeweils die Tendenzen des Zusammenwirkens von individueller und kollektiver Erinnerung sowie wesentliche Wege der Erinnerung und Verarbeitung der NS-Zwangsarbeit insgesamt.42

Ein wesentlicher Aspekt der Samplebildung, der auch in der Oral History seit geraumer Zeit an Bedeutung gewonnen hat, ist die Verteilung des Samples in geschlechtsspezifischer Hinsicht, also nach dem Anteil von Männern und Frauen als Interviewten.43 Unter den 86 Interviewten sind 21 Frauen, d. h. ein Anteil von etwas weniger als 25 % am Gesamtsample. Dies liegt zwar unter dem Anteil von ungefähr 33 %, den sie an den NS-Zwangsarbeitenden während des Zweiten Weltkriegs insgesamt ungefähr hatten. Diese Abweichung liegt aber im Zuschnitt des Samples begründet, da sich unter den britischen Arbeitskriegsgefangenen nur männliche Angehörige der kämpfenden Truppen befanden und der französische Service du Travail Obligatoire nur Männer erfasste. Wenn man diese Faktoren einberechnet, spiegelt das Gesamtsample die historische Geschlechterverteilung annähernd exakt wieder. Der damit einbezogene Genderaspekt der Verarbeitung und Deutung der NS-Zwangsarbeit wird so an verschiedenen Stellen der Untersuchung, besonders aber im ukrainischen Sample sichtbar, da dort der Frauenanteil – auch wieder in annähernder Entsprechung zu den historischen Verhältnissen – sogar etwas über 50 % beträgt.

Abgesehen von der generellen Herangehensweise an die Samplebildung gibt es zudem in gegenwärtigen Forschungen Verschiebungen hinsichtlich der Prioritätensetzungen und Bewertungen, was die bevorzugte Konstellation von Interviews und deren Aussagefähigkeit angeht. Es zeichnet sich eine stetige Zunahme familien- oder gruppenorientierter Untersuchungen ab, bei denen in intergenerationeller Perspektive Erinnerungsbildungen und deren Wechselwirkungen untersucht werden. Dies wird wahrscheinlich das potenzielle Ausmaß und die Reichweite zukünftiger interview-basierter Studien beeinflussen, kann aber an dieser Stelle nicht vertieft werden. Stattdessen sollen Aspekte des Forschungsprozesses selbst betrachtet werden, die sich teilweise als direkte oder indirekte Konsequenzen aus der Samplebildung herleiten lassen, aber darüber hinaus die Bedingungen von Forschungsprojekten insgesamt in den Blick nehmen.

Die Soziologin Nina Baur hat unlängst die Frage nach den Grenzen qualitativer Längsschnittanalysen aufgeworfen, wobei sie vor allem vier Aspekte herausgestellt hat: die Bedingungen der Generierung von Hypothesen, den unvermeidbaren Wandel der Basispopulation einer Untersuchung, die Verzerrung, die die Produktion und Auswahl der Daten begleitet, und schließlich die Probleme bei der Datensammlung und -bearbeitung.44 Diese Interferenzen sind grundsätzlich auch für die Auswertung lebensgeschichtlicher Interviews zu beachten, dies umso mehr, wenn die Untersuchung auf eine historisch-dynamische Interpretation von Erfahrungsbildungen abhebt, also eine zeitliche Längsschnittperspektive verfolgt. Schon dieser Anspruch könnte Widerrede hervorrufen, wenn man sich die Skepsis vor allem unter psychobiologisch oder sozialpsychologisch informierten Forschenden vor Augen führt, was die tatsächliche Verbindung biographischer Erzählungen zu der in ihnen angesprochenen Vergangenheit angeht, die eine Vorbedingung ist, wenn ein Längsschnitt als Perspektive verfolgt wird. In dieser Arbeit wird an der Validität dieser Ausgangsbedingung festgehalten.

Der Prozess der Hypothesenbildung innerhalb des IFLDP basierte in erster Linie auf der Extrapolation des vorhandenen Kenntnisstands der historischen Forschung zur Zwangsarbeit für Deutschland während des Zweiten Weltkrieges in den Bereich der individuellen Erfahrung hinein. Weitere Anhaltspunkte waren die Erkenntnisse vorher bereits durchgeführter, thematisch ähnlich gelagerter, auf die Verwendung biographischer Quellen ausgerichteter Forschungsprojekte sowie die unmittelbaren gesellschaftlichen und politischen Begleitumstände der Hagener Untersuchung. Das führte zur Entstehung zweier Grundannahmen. Erstens, dass in der gegenwärtigen Situation der jüngst erfolgten Kompensationsleistungen für ehemalige Zwangsarbeitende Deutschland und die Deutschen in den Interviews in einem günstigeren Licht erscheinen würden als dies vor zehn oder fünfzig Jahren der Fall gewesen wäre. Zweitens, dass der Umstand, Zwangsarbeiter Deutschlands gewesen zu sein, eine wichtige Rolle bei der narrativen Erzeugung der Biographie der Interviewten spielen würde. Während es für die erste Hypothese zahlreiche Belege gibt, sind für die zweite einige Einschränkungen zu machen. Generell sind für beide Vorannahmen zusätzlich bemerkenswerte Ausnahmen festzustellen und qualifizierte Modifikationen vorzunehmen, die unter anderem von den persönlichen Hintergründen der Interviewten sowie ihren sozialen und politischen Lebensumständen hergeleitet werden können. Das verweist gleichzeitig auf die Notwendigkeit, bei der Hypothesenbildung immer die jeweils relevanten Kontexte mitzudenken.

Verzerrungen bei der Produktion und Auswahl von Daten begannen bereits bei der Samplebildung und resultierten nicht zuletzt aus politischen Ansprüchen, unterschiedlichen Forschungsinteressen von Projektbeteiligten und verfügbaren Forschungsgeldern. Diese Einflüsse konnten durch begleitende wissenschaftliche Beobachtung zumindest einigermaßen aufgefangen oder ausgeglichen werden. Forschende sind allerdings nur selten in der Position, die Reichweite und Zusammensetzung ihrer Samples völlig autonom zu bestimmen. Das beginnt beim Schreiben erfolgreicher Forschungsanträge als erstem Schritt, der bereits davon abhängt, ob die Untersuchung der avisierten Zielgruppe von Institutionen der Wissenschaftsförderung, die als mögliche Geldgeber in Betracht kommen, für nötig und wichtig erachtet wird. Wenn ein solcher Geldgeber zusätzlich noch selbst Rücksicht auf politische Interessen nehmen muss oder solche sogar aktiv vertritt, wie im Fall der Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, erzeugt das zusätzlich insofern beeinträchtigende Nebeneffekte, als dadurch ein öffentlich wahrnehmbarer äußerer Bezugspunkt des wissenschaftlichen Unternehmens geschaffen wird, der wiederum von potenziellen Interviewpartnern auch als politische Positionierung ihnen gegenüber verstanden wird. Dadurch entstand für manche Interviewende die Situation, sich affirmativ oder abgrenzend zu Vorgehen und Programmatik der Stiftung verhalten zu müssen.

Wenn die Reichweite einer Studie entweder auf eine interdisziplinäre oder internationale Ebene ausgeweitet wird, sind Kohärenz und Homogenität des Unternehmens nicht länger Selbstverständlichkeiten. Stattdessen werden spezifische Einflüsse, wie die gerade angedeuteten, eher noch vervielfältigt, da alle Mitwirkenden auch selbst wiederum in ähnliche, Beeinträchtigungen hervorrufende Zusammenhänge eingebunden sind. Und, selbst wenn die Grundlinien einer gemeinsamen Projektarbeit vereinbart worden sind, werden das genaue Verständnis der Ziele und die Anwendung der dementsprechenden Methoden der Datenerhebung und -auswertung höchstwahrscheinlich lokalen Interessen und Erfordernissen angepasst. Alle diese Einflussfaktoren spielen eine Rolle, wenn es darum geht, wie groß Samples sein können und wie sie zusammengesetzt sind. Das schließt zwar die Vergleichbarkeit der Einzeluntersuchungen nicht grundsätzlich aus, schafft aber Begrenzungen für die Reichweite und mögliche Aussagefähigkeit vergleichender Auswertungsbemühungen wie der vorliegenden.

Zu den möglichen Interferenzen tritt die Frage der Herstellung von Repräsentativität hinzu, die – obwohl kaum umfassend einlösbar – über allen biographischen Forschungsansätzen als Erwartung schwebt. Dabei ist die so genannte Basispopulation der Personen, die von dem infrage stehenden historischen Phänomen betroffen waren oder sind, ihr Bezugspunkt. Im Fall des IFLDP standen für die Feststellung der Basispopulation Einschätzungen zur Verfügung, die von Forschern entweder als fachliche Beiträge zu den oder als publizierte Reaktion auf die jüngsten deutschen Kompensationsanstrengungen um das Jahr 2000 herum, die zum ersten Mal NS-Zwangsarbeitende ausdrücklich einschlossen, entstanden sind. Ungeachtet ihres Entstehungszusammenhangs sind die Zahlen der über die gesamte Dauer des Zweiten Weltkriegs von NS-Zwangsarbeit innerhalb des Deutschen Reiches betroffenen Menschen – zwischen ca. zwölf und vierzehn Millionen angesiedelt45 – bis heute nicht unumstritten. Dies liegt vor allem an dem unklaren Anteil an Doppelregistrierungen in der zeitgenössischen Statistik durch geflohene, später an anderer Stelle wieder eingesetzte Zwangsarbeitende und durch Statusänderungen von Kriegsgefangenen, die später zu zivilen Zwangsarbeitenden erklärt wurden, sowie der Anzahl „freiwilliger“ Arbeitender, die also nach Art und Umständen ihrer Arbeitsleistung nicht oder nur eingeschränkt als Zwangsarbeitende angesprochen werden können.

Das betrifft die Einschätzung solcher Fälle, in denen jemand, der ursprünglich ohne unmittelbaren Zwang eine Arbeitsstelle im Deutschen Reich angetreten hat, zum Zwangsarbeitenden wurde, weil er oder sie zu einem späteren Zeitpunkt die Arbeitsstelle nicht mehr verlassen durfte und den Vertrag nicht beenden konnte. Hinzu kommen Kontroversen darüber, unter welchen Umständen Kriegsgefangene als Zwangsarbeitende angesehen werden können bzw. müssen und ob umgekehrt alle Lager- und Ghettoinsassen automatisch als Zwangsarbeitende zu gelten haben, da irgendeine Form von Arbeit im Verlauf des Krieges nahezu unausweichlich zu ihrem Alltag gehörte, da dies aus deutscher Sicht zu ihrer einzigen zugebilligten Existenzberechtigung und damit Überlebenschance innerhalb des nationalsozialistischen Machtbereichs wurde. Abhängig von der jeweiligen Antwort auf diese Fragen verändert sich die Basispopulation der Untersuchung um mehrere hunderttausend oder sogar Millionen Menschen. Und insgesamt lebten von den Menschen, die im Zweiten Weltkrieg für Deutschland Zwangsarbeit geleistet haben, zum Zeitpunkt des Interviewprojekts nur noch ca. zwei bis drei Millionen. All dies sollte bedacht werden, wenn man versucht, praktische Konsequenzen aus Baurs Betonung der Wichtigkeit der Auswahl von Interviewpartnern für die Gültigkeit der Resultate mit Blick auf die verfügbare Basispopulation zu ziehen.46

Die Datensammlung und -bearbeitung war wegen des internationalen Charakters des IFLDP auf Einheitlichkeit als Hauptziel ausgerichtet. Es gibt sicherlich noch andere Kriterien, die zu erfüllen sind, aber für eine anschließende Auswertung ist die Kohärenz der Datenbasis von höchster Bedeutung. Eine vollkommen identische Herangehensweise aller Beiträger war dabei – wie oben bereits erwähnt – nicht zu erzielen. Solche Abweichungen wurden bei der Auswertung berücksichtigt, denn die Beitragenden hatten zu erläutern, warum deren Durchsetzung bedeutsamer war als die Erfüllung der Vorgaben des Gesamtprojekts und, wie die Vergleichbarkeit dennoch gewährleistet bleibt. Im einzelnen umfasste die Datensammlung und -bearbeitung im Rahmen des Projekts das Interview, das als narratives, lebensgeschichtliches Interview in eine freie Erzählphase der Interviewten und eine von den Interviewenden anhand eines Fragebogens angeleitete Nachfragephase unterteilt war.47 Diese Nachfragephase konnte zudem durch eine offene Fragephase der Interviewenden zur Erläuterung unklarer Gesprächsinhalte sowie eine abschließende offene Aussprache zwischen Interviewenden und Interviewten über im Verlauf des Interviews zutage getretene, offensichtlich stark konflikthaft einander gegenüberstehende Anschauungen, die wichtig für das Verständnis des Interviews sein könnten, ergänzt werden. Die Interviews wurden auf Audio- und/oder Videokassette aufgezeichnet und anschließend transkribiert und ggf. übersetzt. Daneben wurden auch ein Protokoll des Gesamtverlaufs der Begegnung zwischen Interviewenden und Interviewten, eine Kurzbiographie der Interviewten (beides jeweils in deutscher oder englischer Sprache), Fotos der Beteiligten und des Interviewortes und eine fotografische Sicherung von Dokumenten samt schriftlicher Erläuterung von den Interviewteams angefertigt.48

Ebenso sollte aber auch der Eigenlogik der erhobenen Daten Aufmerksamkeit entgegengebracht werden, d. h., Forschende sollten offen dafür sein, welche theoretischen Konzeptionalisierungen die verfügbaren Daten selbst nahelegen, mit denen sie selbst im Vorhinein nicht gerechnet haben. Das kann einen so genannten „Enttypisierungsschock“ (Lutz Niethammer) auslösen, der anzeigt, dass die Notwendigkeit besteht, die forschungsleitenden Hypothesen oder sogar die Richtung der gesamten Untersuchung zu modifizieren. Dabei kann nicht zuletzt sogar das Verständnis des Interviewers von diesem besonderen Forschungsvorhaben oder, möglicherweise, von Forschungsprozessen generell im Verlauf eines Forschungsprojekts in Frage gestellt werden. Ein verwandtes Phänomen hat Passerini aufgezeigt, wonach Daten zwar durchaus Antworten zu einem historischen Thema bereithalten, dies aber auf anderen Wegen tun, als unmittelbar auf entsprechend gestellte Fragen der Interviewenden zu antworten. Stattdessen können sich Erkenntnisse eher implizit ergeben, wenn Interviewte vordergründig von ganz anderen Dingen sprechen.49

Der Übergang vom lebensgeschichtlichen Interview, seiner Audio- oder audiovisuellen Aufnahme bis zur Transkription oder gar Übersetzung wirft die Frage der Quellenautorität auf, d. h. welches der entstandenen Dokumente als das maßgebliche anzusehen ist. Während dem Gespräch selbst die größte Autorität zukommt, sind alle davon abgeleiteten Formen der Aufnahme und Dokumentation letztlich nur Hilfsmittel zu dessen Wiedergabe, die gegenüber dem tatsächlichen Interview Teile der Interaktion zwischen den Beteiligten nur begrenzt oder gar nicht wiedergeben und daher am besten in einer Zusammenschau verwendet werden sollten. Während die Audioquelle zwangsläufig alles Nicht-Verbale aus der Überlieferung ausschließt, schafft eine Videoaufnahme eine stärker performative Ausrichtung des Interviewsettings, die die Interviewten leicht in die Situation eines Bühnenauftritts oder einer panoptischen Kontrollsituation versetzen kann. Die Transkription verwandelt einen mündlichen Gesprächsverlauf dann in einen schriftlichen Text, was ebenso bereits interpretative Elemente einbringt wie eine anschließende Übersetzung.50

Rahmenbedingungen der Interviewführung und -auswertung

Yvonne Küsters51 hat im Zusammenhang mit internationalen Projekten weitere wichtige Problemstellungen aufgeworfen. Erstens fragt sie nach dem Einfluss, den Übersetzungen auf die Interpretation von Forschungsdaten haben und weist zweitens darauf hin, dass narrative Interviews, so wie sie in Mitteleuropa praktiziert werden, kulturspezifisch sind, was bei internationalen Vergleichen berücksichtigt werden muss. Verschiedene Sprachen sind zweifellos eine Hürde, so weit sie nicht allen Interviewenden und Auswertenden in gleicher, umfassender Weise zugänglich sind. Übersetzungen sind dafür eine probate, aber ambivalente Hilfskonstruktion. Sie sind sehr kostspielig und erbringen dennoch bisweilen nur mäßige Resultate. Die Übersetzer müssten idealerweise Ausgangs- und Zielsprache quasimuttersprachlich beherrschen und sich auch in der jeweiligen Kultur und Geschichte der betroffenen Gesellschaften auskennen, um die Interviews ohne Bedeutungsverfälschung oder -verlust übertragen zu können. Dies hat sich auch im Fall des IFLDP als Begrenzung erwiesen, was hauptsächlich an der sehr schwierigen Erfüllbarkeit dieser höchst anspruchsvollen Tätigkeit unter engen zeitlichen, räumlichen und finanziellen Vorgaben, aber auch an unterschiedlichen Standards zwischen den Projektteams lag.

Dazu kommt die weitere Anforderung, „ungeordnete“ mündliche Rede zu übersetzen, d. h. die Überführung oraler Aussagen in Schriftform, was bereits innerhalb derselben Sprache Probleme aufwirft, zwischen zwei Sprachen jedoch erhebliche Schwierigkeiten der Übertragbarkeit bereitet. Portelli hat auf die Schwierigkeiten verwiesen, die sich stellen, selbst wenn sich Projektbeteiligte theoretisch auf ein gemeinsames Vorgehen in dieser Hinsicht verständigen können: „‘Accuracy’ is recognized unanimously as the aim of all transcribing and editing, but the term is not easy to define univocally: a transcript so minutely faithful to sounds that it turns a beautiful speech into an unreadable page can hardly be described as ‘accurate’.“52

Insgesamt gesehen sind die Reibungsverluste möglicherweise geringer, wenn Interviews von den Projekttragenden selbst mit Dolmetscher durchgeführt werden, so dass Verständnisschwierigkeiten und unterschiedliche Deutungen oder Situationseinschätzungen gleich im Verlauf des Gesprächs geklärt werden können. In dieser Konstellation hätten die, die später die Daten auswerten, zumindest unmittelbaren Kontakt zu den Interviewpartnern, zu Dolmetschern und zur nonverbalen Kommunikation, die in der Interviewsituation stattfindet. Das ist allerdings in internationalen Projekten aus Zeit- und Kostengründen quasi unrealisierbar. Als Hilfsmittel sollten Forscher, die über Kenntnisse der Interviewsprache verfügen, jedoch zumindest die Transkription des Interviews unbedingt einsehen, um den Ursprung uneindeutiger Elemente der Übersetzung nachvollziehen zu können und Zugang zu Wortwahl, Sprachregister etc. des Erzählenden zu erhalten. Dies war bei den Quellen der vorliegenden Arbeit aufgrund der fehlenden Hebräisch-, Tschechisch- und Ukrainischsowie begrenzter Russisch-Kenntnisse des Verfassers nur eingeschränkt einlösbar.

Die vorstehenden Empfehlungen bedeuten einige Extraarbeit; allerdings ist der potenzielle Verlust an Inhalt und Bedeutung durch Übersetzungen möglicherweise so hoch, dass machbare Verbesserungen berücksichtigt werden sollten. Der österreichische Sozialpsychologe Karl Fallend beschreibt aus seiner eigenen Interviewarbeit mit ukrainischen ehemaligen Zwangsarbeitenden die Sprachbarriere im Interviewprozess als „grundlegendes Fremdheitserlebnis“, das nicht nur in praktischer, sondern auch in kultureller Hinsicht auf die soziale Konstellation des Interviews Einfluss nimmt. Daneben beschreibt er eindringlich, wie der schwierige Alltag seiner heute hoch betagten Interviewpartner die „Energie ins Präsens fixiert“ und damit die Konfrontation mit der Vergangenheit ebenso beeinflusst wie dies die seinerzeitige Debatte um die Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeitender um das Jahr 2000 herum getan hat.53

Damit sind schon zwei der wesentlichen sozialen und psychologischen Einflussfaktoren angesprochen, die in den Interviews des IFLDP ebenfalls zur Geltung kamen, die jedoch in ihrer Reichweite für die inhaltliche Darstellung allgemein überschätzt werden. Dennoch bleibt festzuhalten, dass diese Einflüsse – wie marginal auch immer – sich in der einen oder anderen Weise in den Interviews abgebildet haben. Auch die sozialen Bezüge der Interviewgebenden selbst schaffen für ihre biographischen Präsentationen verschiedenerlei Voraussetzungen. So haben sich – mit Blick auf andere historisch relevante Geschehnisse und die von ihnen Betroffenen – in den Erinnerungsprozessen ehemaliger Zwangsarbeitender über die Jahrzehnte manche Ausblendungen und Einseitigkeiten gegenüber anderem kriegsbedingten Leiden eingestellt und verfestigt, was sich vor allem auf andere Opfergruppen in der eigenen Bevölkerung erstreckt.54 Das zeigt sich auch, wenn durch an der eigenen Nation orientierte Erinnerungen die oft beschworene internationale Einheit und Solidarität der Opfergruppen im Gedenken an die NS-Vergangenheit unterminiert wird.55

Generell ist festzuhalten, dass die Struktur von Erinnerungen und Erzählungen ein Indikator für die Stabilität der Identität der Interviewten ist.56 Deren Struktur wird aber zudem von einer ganzen Reihe psychischer Mechanismen wie den so genannten „reminiscence bump“, also die Nachhaltigkeit von Erinnerungen des Jugend- und jungen Erwachsenenalters, so genannte Blitzlichterinnerungen, das „Erinnerungstal“ des vierten und fünften Lebensjahrzehnts sowie die Reaktivierung von Jugenderinnerungen im Alter beeinflusst.57 In diesem Zusammenhang gilt es, das an anderer Stelle von Historikern erhobene Postulat der „zentrale(n) Bedeutung“ der Zwangsarbeit für die Betroffenen „über das unmittelbare Erleben hinaus“, also in ihren Auswirkungen auf den heutigen Alltag und das gegenwärtige Selbstverständnis zu überprüfen.58

Die Befragten sind durch das IFLDP gleich zweifach mit der Identifizierung als ehemalige NS-Zwangsarbeitende konfrontiert worden: Zum einen aufgrund des Verfahrens der parallel dazu stattfindenden Entschädigungszahlungen für ehemalige NS-Zwangsarbeitende, in das die meisten entweder als Antragsteller aktiv involviert waren oder von dem sie zumindest als seinerzeit von NS-Zwangsarbeit Betroffene Kenntnis erlangt hatten; zum anderen hatte das Dokumentationsprojekt die Zielrichtung, die Lebenserinnerungen dieser Personen zu sichern, und gab dabei den Interviewgebenden die Zwangsarbeitserfahrung als hauptsächlichen Orientierungspunkt vor. Umgekehrt bringen aber auch Interviewende und Interviewte ihre eigenen Agenden in das Gespräch mit ein. Während dies bei den Interviewenden vor allem deren wissenschaftliche Erkenntnisinteressen sind, kommen bei den Interviewten Anliegen wie eine deutende biographische Schließung bestimmter Erfahrungsinhalte, die Weitergabe von Erfahrungen an folgende Generationen oder ein Vermächtnis, das man der Familie hinterlassen möchte, hinzu.59

Sechs Länder als Räume der Erinnerung und Verarbeitung

Im internationalen Vergleich lassen sich verschiedene Formen der individuellen wie kollektiven Erinnerung und Verarbeitung von Zwangsarbeitserfahrungen unterscheiden. Um diese Perspektive einerseits überschaubar und andererseits aussagekräftig zu gestalten, wurden aus dem Gesamtbestand des IFLDP sechs Länder als Vergleichsgrößen ausgewählt. Dabei sollte der Vergleich zwischen West- und Osteuropa beide gleichermaßen berücksichtigen; daher wurden je zwei westliche (England, Frankreich) sowie zwei östliche Länder (Tschechien, Ukraine) ausgewählt, die jeweils auch die drei maßgeblichen Untersuchungsgruppen für die Zeit während des Krieges (zivile Zwangsarbeitende, Arbeitskriegsgefangene, Arbeitshäftlinge) sowie zwei der relevanten Untersuchungsgruppen für die Nachkriegszeit umfassen (in ihre Herkunftsländer Zurückgekehrte, in Drittländer Ausgewanderte). Die dritte der für die Nachkriegszeit untersuchten Gruppen, die dauerhaft in Deutschland Verbliebenen, wurde durch die Einbeziehung Deutschlands abgedeckt. Israel wurde hinzugenommen, weil sich dort durch den hohen Anteil nach dem Krieg eingewanderter überlebender Arbeitshäftlinge der für das Verständnis des Gesamtzusammenhangs NS-Zwangsarbeit notwendige Kontext von Vernichtung und Arbeit nachhaltig als individuelle und kollektive Erinnerung abgebildet hat.

Während in Osteuropa die Emanzipation von einer jahrzehntelang staatlich dominierten, stark restriktiven Erinnerungspolitik andauert, werden in Israel jegliche Verarbeitungen von Zwangsarbeitserfahrungen von der Shoah als überragendem Deutungskontext nationalsozialistischer Verfolgung überlagert. In Deutschland folgt das Erinnern an NS-Zwangsarbeit wieder einer anderen Logik, insofern sich täter- und zuschauerzentrierte Erinnerungen hier stärker etabliert haben bzw. als Referenzhorizont für Opfererinnerungen sehr präsent waren und sind. In den Ländern Westeuropas scheint dagegen die Konkurrenz der NS-Opfer untereinander am wahrnehmbarsten ausgeprägt zu sein, wobei auch hier die ehemaligen Zwangsarbeitenden einen schwierigen Stand hatten und haben. Entlang der Erinnerungen innerhalb der nationalen Kollektive sowie anhand der Verbindungslinien, die sich zwischen ihnen ziehen lassen, werden die am Ende dieses Kapitels zu erläuternden Vergleichsebenen und Kategorisierungen empirisch ausbuchstabiert.

Im Sinne der Eindeutigkeit des Geschichtsbildes eines nationalen Kollektivs scheint die Ukraine vordergründig ein „klarer Fall“ zu sein. Dort war während der sowjetischen Periode der Kanon der Erinnerung so sehr von ideologischen Vorgaben durchsetzt, dass die Imagination einer uniformen Sowjetgeschichte andere Versionen von Vergangenheit überlagern konnte.60 In der sowjetischen Zeit wurden aber gleichzeitig – durch starke Traditionen auch militärischen nationalen Widerstands in der Ukraine gegen die Moskauer Zentralregierung bedingt – Gegenerinnerungen bewahrt und tradiert, die allerdings vor 1991 fast nur im privaten Bereich kommuniziert wurden. Insbesondere bei der einschneidenden, in aller Regel negativen Sanktionierung zurückkehrender ehemaliger Zwangsarbeitender, die in der Sowjetunion üblich war, kam der Ukraine zusätzlich insofern eine exponierte Stellung zu, als sich dort die von der Sowjetregierung betriebene Bekämpfung der nationalen Aufstandsbewegung und der Kollaborationsverdacht gegen die Repatriierten aus Deutschland wechselseitig verstärkten. Die damit korrespondierenden Erinnerungen haben sich erst im Zuge des Wandels ukrainischer Geschichtsbilder nach 1991 in unterschiedlicher Weise als durchsetzungsfähig erwiesen.

Während die Rahmenbedingungen der Entwicklung einer Erinnerungskultur insgesamt für Tschechien bis 1989 ähnlich wie in der ehemaligen Ukrainischen Sowjetrepublik aussahen, waren die staatlichen und gesellschaftlichen Reaktionen auf ehemalige Zwangsarbeitende in der ehemaligen CSSR und deren Erinnerungen an ihre Kriegserfahrungen dennoch anders gelagert. Der Staat verzichtete auf eine systematische politische Sanktionierung ehemaliger Zwangsarbeitender, allerdings nahm die gesellschaftliche Missbilligung ehemaliger NS-Zwangsarbeitender Formen an, die sich als soziale Diskriminierung und Ausgrenzung äußerten. Dies war in gleicher Weise auch in westeuropäischen Ländern, und dort teilweise noch stärker, antreffbar. Die aus dem Umstand der NS-Zwangsarbeit den Betroffenen später in der CSSR erwachsenen Benachteiligungen und Zurückweisungen sind daher nicht so eindeutig fixierbar oder formulierbar wie in den ukrainischen Interviews, aber dennoch wahrnehmbar.

Deutschland als Hauptinitiator und -organisator des europaweiten Zwangsarbeitssystems während des Zweiten Weltkriegs vermied auf staatlicher wie auf gesellschaftlicher Ebene lange Zeit eine Auseinandersetzung mit dem Thema und seinen Konsequenzen. Zusätzliche Brisanz resultierte hier daraus, dass auch eigene Staatsangehörige unter den Opfern waren und von den ausländischen Betroffenen nach 1945 immer noch Zehntausende im Land waren. In der deutschen Bevölkerung wurde Zwangsarbeit lange Zeit als gewöhnliche Begleiterscheinung von Kriegen verbucht, und einflussreiche Vertreter der deutschen Wirtschaft konnten nach dem Krieg erfolgreich die Legende ihrer Rolle als bloßes „Instrument des Regimes“ beim Zwangsarbeitereinsatz etablieren. In der „Schuldsumme“ der Verbrechen der NS-Führung schien die Zwangsarbeit nur einen eher unbedeutenden Teil auszumachen. Die sozialen Erinnerungen in der deutschen Gesellschaft kaprizierten sich bald dichotomisch entweder allgemein auf den Krieg als Teil der von der Regierung zu verantwortenden NS-Verbrechen oder auf die militärische Niederlage als hinreichende Bestrafung Deutschlands, die zudem durch die großflächigen Zerstörungen und die anschließende Flucht und Vertreibung von Deutschen aus Osteuropa ermöglichte, dass sich die deutsche Bevölkerung schnell ihrer selbst nur noch als Opfer des Krieges erinnerte.61 Durch den einsetzenden Kalten Krieg wurde zudem der größte Teil der NS-Opfer ausgeblendet, da sie sich im nunmehr sowjetisch dominierten Osteuropa befanden, dem gegenüber kein eigenes Schuldbewusstsein (mehr) existierte.

Es bedurfte unter anderem der Initiative von den Rändern des akademischen Betriebs seit den späten 1970er Jahren, um hier einen entscheidenden Orientierungswechsel einzuleiten. Unter den Schrittmachern waren dabei auch Historiker,62 die einen Zugang zum Thema mit Hilfe der Oral History einschlugen, um die Geschichte des Nationalsozialismus und der Zwangsarbeit zu untersuchen. Der Beginn der Alltagsgeschichte in Deutschland in den 1980er Jahren, die sich vor allem der Erforschung der NS-Zeit widmete und dabei dem während des Zweiten Weltkriegs omnipräsenten Phänomen der Zwangsarbeit gewissermaßen nicht ausweichen konnte, sowie das erneute Einsetzen von Verhandlungen über deutsche Kriegsfolgenentschädigung im Kontext des sog. Zwei-Plus-Vier-Vertrages zu Anfang der 1990er Jahre haben dann um das Jahr 2000 herum einen wahren Boom an lokalen, regionalen und nationalen Initiativen und Untersuchungen zur Zwangsarbeit bewirkt, so dass sich beinahe der Eindruck einer Überkompensation aufdrängen konnte. Die konkreten individuellen Lebensverläufe der ehemaligen Zwangsarbeitenden nach dem Krieg sind dabei aber dennoch eher ein Unterkapitel geblieben.

In Israel dagegen ist die Geschichte der NS-Zwangsarbeit bis heute generell schwierig zu thematisieren. Unmittelbar nach dem Krieg setzte zunächst ein Beschweigen der Shoah und der damit zusammenhängenden Lager- und Verfolgungserfahrungen ein, da das Leiden der Diaspora im zionistischen Gründungsmythos Israels eine irritierende Rolle spielte, und es daher als Folie der Abgrenzung begriffen wurde. Dem wurde auch die Erinnerung an die NS-Zwangsarbeit untergeordnet. In den 1960er Jahren begann sich dies besonders unter dem Eindruck des Prozesses gegen Adolf Eichmann zu wandeln. In der historischen Forschung wird diesem Prozess inzwischen hinsichtlich seiner Bedeutung und Folgewirkungen ein fast ikonenhafter Status zugesprochen. Er konnte aber sicherlich nur im Kontext der zunehmenden sozialen Wahrnehmung der Opfer in der israelischen Gesellschaft eine solche Wirkung entfalten. Die Erinnerung an die NS-Zeit wurde danach bis heute von der Wahrung des Gedenkens an die Millionen Todesopfer der Shoah dominiert. Die Häftlingsarbeit, die eine minimale Aussicht bot, der Vernichtung zu entgehen, war lange mit dem Vorwurf unmoralischen Verhaltens verknüpft und ist bis heute eng mit der so genannten „Schuld der Überlebenden“ verbunden, die diese vielfach noch immer gegenüber den Ermordeten empfinden, weil sie selbst in der Regel nur durch Zufall, Glück oder Willkür der Täter dem Tod entgingen.