Reingewaschen - Claus Wechselmann - E-Book

Reingewaschen E-Book

Claus Wechselmann

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Beschreibung

Berlin 1984. Sebastian findet den Nachlass seines Großvaters aus einer anderen Zeit: zehn Briefe, geschrieben von einem ehemaligen Häftling während des Zweiten Weltkrieges. Er setzt alles in Bewegung, um das Geheimnis um den Gefangenen zu entschlüsseln - Brief für Brief rekonstruiert er das Geschehene. Wäre da nicht Sebastians Vater, der die Nachforschungen verhindern will. Wer war sein Großvater wirklich? Die Suche nach Antworten führt Sebastian in eine geheime Abteilung der deutschen Verwaltung, deren Spuren fast vollständig verwischt wurden.

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Claus Wechselmann

Reingewaschen

Roman

Zum Buch

Pflicht und SchuldBerlin 1984. Sebastian findet den Nachlass seines Großvaters aus der Nazi-Zeit: zehn Briefe, geschrieben von einem Häftling während des Zweiten Weltkrieges. Im Zuge seiner Nachforschungen kommt ein besonderer Fall der Verwaltung zutage, in den sein verstorbener Großvater offenbar involviert war. All das rückt die Beziehung zu seinem eigenen Vater in ein anderes Licht und es wird klar, dass ein furchtbarer Schatten über der Familie liegt. Welche Rolle spielte sein Großvater in einer Zeit, die von Dunkelheit und Machtmissbrauch geprägt war? Und weshalb versucht Sebastians Vater, ihn von der Wahrheit fernzuhalten? Er beschließt, das Rätsel um die Briefe zu lösen, und spürt dabei Mosaiksteine seiner eigenen Vergangenheit auf. Seine Suche führt Sebastian in die nazi-deutsche Verwaltung und schon bald stößt er neben Antworten auch auf menschliche Abgründe, die die Zeit überdauert haben …

Claus Wechselmann, 1963 in Berlin geboren, studierte dort Linguistik und Kommunikationswissenschaften und startete danach beruflich in der Welt der großen Konzerne. So arbeitete er für Siemens und IBM, ehe es ihn in eine Berliner Beratungsfirma zog. Seit 2015 macht er aus seinen Erfahrungen und Gedanken spannende Geschichten und schafft mit seinem Erstlingswerk „Reingewaschen“ einen Roman, der Spannung und Anspruch in selten gelungener Balance hält. Claus Wechselmann ist Vater von zwei Töchtern, die nicht nur mit ihrer Inspiration seine Bücher bereichern, sondern gleichzeitig kritisches Publikum sind.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Teresa Storkenmaier

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Denazification-street.jpg

ISBN 978-3-8392-6366-2

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Als ich als Jugendlicher zehn Briefe eher zufällig im Schreibtisch meines Großvaters fand, brachten mich diese dazu, eine Suche nach einem Täter der Vergangenheit zu beginnen. Insgesamt nicht so bedeutsam, wäre es nicht um den Vater meines Vaters gegangen. Alles, was mich ausmacht, erklärt sich aus meiner Herkunft, aus meiner Vergangenheit und aus den Schatten, die die eigene Herkunft bis ins Heute wirft. Was wir tun, erscheint uns notwendig, dabei ist es in Wirklichkeit das, wozu wir eher geneigt sind; sozusagen eine Auswahl aus einem gut gefüllten Regal. Dabei steht das Regal für die Pflicht, von der wir glauben, dass diese über der Freiheit des Einzelnen stünde.

Beide, meinen Vater und meinen Großvater, hatte das Leben mit Macht ausgestattet, und beide missbrauchten diese; jedoch aus ganz unterschiedlichen Motiven. Daraus ist eine Geschichte entstanden, mit der sich nicht angeben lässt oder die gar dazu taugte, ein gutes Beispiel zu sein. Der Mensch ist anpassungsfähig und sucht seinen Vorteil; die Möglichkeiten seines Verhaltens, seiner Entscheidungen und Handlungen sind über lange Zeit stets ähnlich gewesen. Den Unterschied macht die innere Unabhängigkeit. Wer in Balance lebt, ist nicht käuflich und vermag, Eigennutz und Gemeinwohl für sich in Einklang zu bringen. Doch allzu verführerisch sind die Systeme, die durch die Zeit hinweg robust bestehen bleiben und in immer neuem Gewand erscheinen.

Deshalb erzähle ich, so genau es eben geht, was sich von dem Tag an, an dem meine Erinnerungen einsetzen, zugetragen hat, und überlasse es dem Leser zu urteilen.

1

Wenn ich an meinen Vater denke und daran, was sich mir am stärksten eingeprägt hat, dann ist es seine Disziplin. Die Art, wie er morgens immer zum gleichen Zeitpunkt die Wohnung verließ und es schaffte, jeden Tag um 17 Uhr zum Abendbrot wieder zu Hause zu sein. Dazwischen war er im Büro. Er arbeitete für die öffentliche Verwaltung, als Angestellter im gehobenen Dienst. Je weiter mein kindliches Bewusstsein sich entwickelte und eigene Reflexionen in mir entstanden, desto mehr sah ich ihn als einen Mann, an dem die Verwaltung haftete wie ein Geruch, der sich über die Zeit verstärkte und den er nicht mehr loswurde. Wie er mit mir sprach, wie er die Dinge anging, all das wirkte auf mich nüchtern, pragmatisch, als hätte er nicht seinen eigenen Sohn, sondern einen Kollegen vor sich.

Mein Vater war mein Held und ich zweifelte keine Sekunde daran, dass er im Amt sehr wichtigen Aufgaben nachging; ein bedeutender Mann, von dem die Verwaltung wusste, dass sie ihn brauchte. Als er mich das erste Mal mitnahm, ich ging gerade erst in die Vorschule, beeindruckte mich einfach alles. Die Büros mit den großen Schreibtischen, die Flure, von denen die vielen kleinen Zimmer abgingen und in denen die Schritte beim Gehen unnatürlich laut hallten. Das Gebäude, das von außen mächtig wirkte und nicht jedem Einlass gewährte, imponierte mir sehr. Mein Vater war Teil dieses machtvollen Gebildes, konnte hinein- und hinausgehen, wann er wollte, und ich durfte an seiner Seite mit, was während meiner Kindheit einige Male vorkam.

Im Büro trug er jeden Tag einen Anzug und ein einfarbiges Hemd, nie ohne Krawatte. In seinem Schrank hingen unzählige davon, doch er wechselte nur zwischen ein paar wenigen, die ich bald alle kannte. Seine Oberhemden waren immer weiß oder hellblau, eng anliegend, und manche mit Achselklappen – so chic in meinen kindlichen Augen, dass ich mir auch solche wünschte. Mein Vater war mein Held und diesen Status behielt er sehr lange. Erst viel später sollte sich das ändern, als ich fast ein Erwachsener war und vieles anders sah als aus der wunderbar naiven Perspektive eines Kindes.

Bei uns zu Hause erzählte er manchmal von seiner Arbeit, nie davon, was er dort tat, womit er sich beschäftigte, sondern mit einer gewissen Regelmäßigkeit von Kolleginnen und Kollegen, deren Namen so oft genannt wurden, dass ich diese gut kannte und bildliche Vorstellungen von Gesichtern und Körpern entwickelte. Allen voran sein Chef, dessen Name am häufigsten fiel. Herr Dr. Stubbe, mit dem ich eine gefühlte Epoche lang ausschließlich die Unterwürfigkeit und Ehrerbietung meines Vaters verband. Dieser Herr Dr. Stubbe war eine Instanz für meinen Vater, einer, der noch viel mächtiger zu sein schien als er selbst. Wie das sein konnte, erschloss sich mir damals überhaupt nicht, denn wozu brauchte mein Vater, der für mich über allem stand, jemanden, der ihn führte? Wenn mein Vater erzählte, wurde Herr Dr. Stubbe als eine Autorität dargestellt, zu der er, und jeder andere, gerufen wurde und die in einem Zimmer saß, in das man nicht einfach so eintreten durfte. Mit einer machtvollen Mystik konnte dieser Herr Dr. Stubbe die Gedanken aller anderen dahin lenken, wo sich seine eigenen längst befanden, und so wurde seine Meinung zu der aller anderen. Manchmal hielt meine Mutter dagegen – was vor uns Kindern nur selten vorkam – und erklärte engagiert, dass meinem Vater durch Herrn Dr. Stubbe manche Ungerechtigkeit widerfahren sei. Damit rüttelte sie mächtig an dessen Sockel. Dann reagierte mein Vater ungewöhnlich heftig und verteidigte nicht nur seinen Chef, sondern machte sich selbst für das Geschehene verantwortlich. Außerdem betonte er ziemlich oft, dass es unmöglich für meine Mutter sei, die Zusammenhänge bei ihm im Büro richtig einzuschätzen. In meinen kindlichen Augen war Herr Dr. Stubbe unerreichbar. Das Band, das zwischen meinem Vater und ihm bestand, verstand ich nicht, aber damit konnte ich gut leben. Es gab eben immer einen Menschen, der wichtiger war. Weil er nicht darüber sprach, verstand ich nichts von den Aufgaben, mit denen mein Vater im Büro betraut wurde. Fragte ich ihn danach, antwortete er in der Regel, er würde es mir später einmal erklären; wenn ich älter wäre. Dadurch wurde seine Arbeit für mich noch größer, noch fantastischer, denn ich nahm an, dass nur Erwachsene verstehen könnten, was er dort machte.

Neben Stubbe sprach er oft von einer Kollegin, Frau Münstermann. Sie schien mit meinem Vater auf einer Stufe zu stehen. Er klagte oft darüber, wie häufig Frau Münstermann fehlte und dass sie sich gerade dann krankmeldete, wenn besonders viel und schwierige Arbeit anfiel. Er, der stolz darauf war, in seinem gesamten Beamtenleben bis dahin erst fünf Tage wegen Krankheit gefehlt zu haben, musste es dann ausbaden. Er sprach oft abfällig über sie, darüber, dass sie keine Gelegenheit ausließ, um an einer der vielen Festivitäten in der Behörde teilzunehmen, einer Urlaubsrunde, einem Geburtstag, einem Ausstand oder Jubiläum. In einem großen Haus gäbe es nahezu immer etwas zu feiern. Mein Vater selbst ging nur auf sehr wenige dieser Anlässe und machte sich durch sein Fernbleiben bei seinen Kollegen nicht wirklich beliebt. Frau Münstermann war etwas jünger als er und so, wie er sie beschrieb, musste sie eine gut aussehende Frau gewesen sein. Meine Mutter mochte es nicht, wenn er über das Aussehen seiner Kollegin sprach. Dabei wollte er nur herausstellen, dass sie die kurzen Röcke und offenherzigen Blusen für sich einzusetzen wusste. In meiner jungenhaften Vorstellung entstand Frau Münstermann als eine wunderschöne Erscheinung, die ich zu gern einmal getroffen hätte. Irgendwann wurde sie befördert; im Gegensatz zu meinem Vater, der dies als große Ungerechtigkeit empfand. Dieser Vorfall veränderte ihn. Es entstand ein Riss in der Fassade der Unantastbarkeit seiner Berufswelt.

Natürlich war da noch Herr Strober, ein Kollege, den mein Vater manchmal als Freund bezeichnete. Herr Strober arbeitete in einem anderen Bereich. Er schien über fast alles Bescheid zu wissen und teilte meinem Vater einiges davon mit. Heute weiß ich, dass es sich um Gerüchte gehandelt haben musste, doch damals beeindruckte mich das sehr. Dabei verstand ich nicht, warum es so wichtig war, etwas früher als die anderen zu wissen, und wie jemand an diese Informationen kommen konnte. Manchmal schien es, als wenn mein Vater Herrn Strober bat, etwas für ihn persönlich zu tun, weil dieser vielleicht mehr Einfluss hatte. Bestand die Freundschaft daraus, dass mein Vater sich etwas von ihm erhoffte? Für mich als seinen Sohn fühlte es sich komisch an, wenn er von einem Kollegen sprach, den er zu brauchen und auf dessen Bereitschaft dazu er zu hoffen schien.

An die anderen Namen, die bisweilen fielen, erinnere ich mich nicht mehr, doch diese drei, über die ich im Laufe der Zeit viel gehört hatte, mussten die wichtigsten für ihn gewesen sein. Menschen, denen mein Vater in seiner Arbeitswelt täglich begegnete, die für ihn auf ihre Art eine Bedeutung hatten, auf eine andere Weise als wir, seine Familie, oder ich, sein Sohn. In mir lebte schon sehr früh der Wunsch, dass ich auch so werden wollte. Ich wollte auch in schicken Anzügen morgens das Haus verlassen und in einem großen unzugänglichen Gebäude, einem Amt, arbeiten. Einer wichtigen Tätigkeit nachgehen und etwas bedeuten. Wenn ich später in der Schule gefragt wurde, was ich werden wollte, dann musste ich nicht lange überlegen; und wenn wir als Kinder Berufe spielten, dann spielte ich den Beamten am Schreibtisch, der eilig Dinge aufschrieb oder mit flüsternder Stimme am Telefon ausschließlich Wichtiges austauschte. Das Vorbild meines Vaters hatte sich zu meinem Bild von mir selbst entwickelt, einem Bild, das sich in mir konkretisierte und in meinen Träumen dazu führte, dass ich mich in der Zukunft ebenso als ein Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung sah.

2

»Wie geht es Ihnen heute? Ich habe gehört, dass Sie nachts einige Male gestört worden sind. Ich werde mich darum kümmern, dass das aufhört und Sie wenigstens ordentlich schlafen können.«

Ihm saß ein freundlicher Mann mittleren Alters gegenüber, vielleicht um die 40, zu dem man ihn schon viele Male gebracht hatte, um ihn zu vernehmen. Er saß in Untersuchungshaft, weil es Hinweise dafür gab, dass er gegen die Regierung, gegen den Krieg und gegen den Glauben am Endsieg »öffentliche Äußerungen« gemacht hatte. Seit die Polizei ihn hierhergebracht hatte, waren viele Wochen vergangen, und wie an diesem Ort mit seiner Zeit umgegangen wurde, folgte keinem Beispiel, das er bis dahin kannte. Ohne die geringste Ahnung über die Tragweite, keine Informationen darüber, wie lange er bleiben müsste, keine Gelegenheit, ein Recht in eigener Sache geltend zu machen. Die Verhöre fanden immer ohne Ankündigung und zu unregelmäßigen Zeiten statt. Die große Aufregung, das Gemisch aus Wut und starken Worten, die voller Ohnmacht von ihm hervorgebracht worden waren, waren einer Stille und einer immer größer werdenden Angst gewichen; einer Angst, die ihn nicht mehr verließ und verhinderte, dass er auch nur einen Augenblick des Friedens erlebte. Alle hier, ausnahmslos Offizielle, standen ihm mit größter Distanz gegenüber; in ihm wuchs eine Mischung aus Respekt, Furcht und Verachtung. Nur bei dem Beamten, der ihn verhörte, vermischte sich dies mit einer gewissen Zuversicht, denn dieser näherte sich ihm bisweilen als Mensch, der ihn in seiner Not berührte, ihn hoffen ließ; etwas, worauf er bauen wollte. Die Unverbindlichkeit, die er sonst ausmachte, die Kälte und die von ihm so empfundene systematische Willkür machten alles unerträglich, schrieben direkt in das ungeschützt offenliegende Buch seiner Seele, nicht sanft mit Tinte, sondern brutal ritzend, wie mit einem Griffel. Er konnte kaum begreifen, in was er geraten war, und unmöglich beschreiben, was die Totalität dieser Situation ausmachte. Einerseits gab es auch dort doch ausschließlich Menschen wie ihn selbst, und andererseits waren da Funktionen, Macht und Gewalt, die vollkommen unberechenbar und mit einer ungezügelten Freiheit direkt auf ihn einwirkten, wie auch immer es ihnen beliebte.

»Warum sind Sie so schweigsam? Wollen Sie nicht, dass ich mich für Sie einsetze?«

Er hatte bisher nicht bemerkt, dass der, der in verhörte, ihm eine Frage gestellt hatte. Jetzt sollte er eine Antwort geben; die Frage musste rhetorischer Natur gewesen sein, wer würde in seiner Situation keine Vorteile, und seien sie noch so gering, wollen? Er schwieg, denn die bereits durchgeführten Verhöre hatten ihn gelehrt, dass es mehr als ratsam war, defensiv und zurückhaltend zu agieren, sich in keinem Fall vorschnell zu äußern. Der andere hatte ein fast unnatürliches Gespür dafür, wann sich jemand mit Unüberlegtem oder Halbwahrheiten auf dünnes Eis begab. Er widerlegte das Gesagte in einer Geschwindigkeit und mit einer Präzision, die Angst machte und einschüchterte. Stille blieb die einzige Form der Entfaltung eigener Bestimmtheit, von der er noch einen Rest hatte, doch er wusste, dass das nur so lange funktionierte, wie der andere sich darauf einließe. Er rang danach, seinem Gegenüber auf Augenhöhe zu begegnen, trotz all der Erniedrigungen, die nicht mehr rückgängig zu machen waren, die seinen Selbstwert bereits auf ein unerträgliches Minimum verkleinert hatten.

Er wollte etwas erwidern, die Frage des anderen beantworten, doch der Versuch misslang. Seine Stimme gehorchte ihm nicht. Den anderen schien sein Schweigen nicht zu irritieren. Wer wusste, was der schon alles in solchen Verhören erlebt hatte? Der Beamte klappte die schlanke Aktenmappe auf und nahm einige Blätter heraus. Nachdem er sie studiert hatte, blickte er wieder auf und mit seinen warmen, freundlichen Augen zu dem Gefangenen. »Kommen wir noch einmal zu Ihrer Aussage, dass Sie ›keine Bedenken‹ gegen die Partei haben und sich nicht erinnern können, jemals despektierlich über die NSDAP und deren Führungsmannschaft gesprochen zu haben. Was genau meinen Sie mit ›keine Bedenken‹?«

Hatte er sich wirklich so geäußert?

»Meine Erinnerung verschwimmt. Habe ich das wirklich gesagt?« Keine Antwort vom Gegenüber. Schweigen, immer dieses Stakkato aus Fragen und Vorwürfen. »Und außerdem hatten Sie mir versprochen, mir zu sagen, wie es meiner Familie geht. Weiß meine Frau, wo ich bin?«

»Herr Müller, Sie wissen doch, wer die Fragen stellt und wer zu antworten hat. Wenn ich ganz ehrlich mit Ihnen sein darf, hatte ich gehofft, dass wir schon weiter wären. Wieso zeigen Sie nicht einfach Reue und bringen damit die Sache hier schnell hinter sich? Mehr, als Ihnen Brücken zu bauen und Angebote zu machen, kann ich nicht tun. Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass ich hier meine Pflicht als deutscher Beamter erfülle.« Er stand auf, ging zur Tür, rief einen der auf dem Gang stehenden jungen Soldaten in den Raum und befahl diesem, Herrn Müller zurück in seine Zelle zu bringen.

Als der Beamte sich wieder allein im Raum befand, ging er kurz zum Fenster seines ausladenden Büros und blickte in den sonnigen Vormittag. Das Ministerium, in dem er arbeitete, lag mitten in der Stadt, und der Blick aus dem Fenster erfüllte ihn immer wieder mit einem wohligen Gefühl. Seinen Stolz darüber, an diesem Ort der Macht jemand mit Befugnissen zu sein und dazuzugehören, empfand er bereits als Entlohnung für seine Arbeit. Außerdem gefiel es ihm, ein Teil der Stadt und ihres Treibens zu sein; beides gehörte untrennbar zusammen. Seine Gedanken beschäftigten sich noch mit Herrn Müller, der nicht mehr lange Widerstand leisten würde. Seiner Erfahrung nach handelte es sich um einen armen Tropf, der zum falschen Zeitpunkt und am falschen Ort – vielleicht unter dem Einfluss von Alkohol – den Mund einfach zu voll genommen hatte. Aber seine Einschätzung änderte nichts daran, was zu geschehen hätte. Das Gesetz musste angewendet werden; und er war ein wichtiges Teil in diesem Konstrukt, das nicht notwendigerweise auf Güte basierte, sondern auf Verlässlichkeit, Recht und Ordnung. Herr Müller würde bald zugeben, dass er sich despektierlich und volksverhetzend geäußert hatte, und kurz danach würde sich eine Strafkammer routiniert mit ihm beschäftigen. Das Urteil würde hart ausfallen, aller Voraussicht nach, endgültig. Vorgänge wie dieser stellten seit einiger Zeit etwas Alltägliches dar, und wenn es notwendig wäre, bliebe es so. Über diesen letzten Gedanken vergaß er den Mann, der eben noch bei ihm gesessen hatte und auf dessen Akte lediglich »Müller« stand. Ein Fall von vielen, der erst später wieder in sein Bewusstsein zurückkehren würde. Mit Blick auf seine Armbanduhr, die er von seinem Vater zum bestandenen juristischen Examen geschenkt bekommen hatte, wog er für sich ab, ob er sich noch einen dieser Fälle vor der Mittagspause vornehmen sollte. Er kam zu dem Schluss, dass die 30 Minuten, bis es zwölf wäre, nicht ausreichten, und setzte sich auf seinen Bürostuhl, lehnte sich bequem nach hinten und sah sich versonnen im Raum um. 1941; mit seinen 37 Jahren hatte er eine steile Karriere als Beamter hingelegt. Angefangen als Referent im Finanzministerium, hatte er bereits die Position eines Unterabteilungsleiters erreicht. In dieses Haus hatte er es aufgrund seiner rhetorischen Fähigkeiten geschafft und wegen seiner emphatischen Veranlagung, sodass er sich hier, umgeben von ausgebildeten Polizisten, als Quereinsteiger eine Führungsposition verdient hatte. Seine Tätigkeit hatte inhaltlich nichts mit der zu tun, der im Finanzministerium nachgegangen wurde, lediglich die Strukturen des Apparats, die Abläufe und Hierarchien, glichen einander.

Am Anfang noch, nachdem er schon eine Zeit lang hier gearbeitet hatte, verfolgten ihn manche Fälle bis in den Schlaf. Im Traum verzerrten sie sich so sehr, dass er sich schuldig fühlte und von den schlimmen Folgen träumte, die sich unweigerlich für die Gefangenen und deren zumeist unschuldige Familien ergaben. Doch lange hielt das nicht an. Bald hatte er in sich den Schwachpunkt lokalisiert und schüttelte alles ab, was ihn zuvor schwer gemacht hatte, verlor die Skrupel, hörte auf, etwas dabei zu empfinden, Gegner des Reiches ihrem Schicksal zu übergeben. Er konzentrierte sich darauf, die modernen Methoden der Verhörkunst immer besser anzuwenden, um bei jedem seiner Fälle schließlich einen weiteren, möglichst schnellen Erfolg vermelden zu können.

Es klopfte an der Tür, wodurch er abrupt aus seinen Überlegungen ins Jetzt zurückgeholt wurde. »Herein«, rief er mechanisch.

Vor ihm stand eine Mitarbeiterin aus dem Bereich, den er verantwortete. Sie fragte ihn, ob er sich einer kleinen Gruppe anschließen wolle, die sich verabredet hatte, ausnahmsweise in ein Gartenlokal zur Mittagspause zu gehen. Nichts Besonderes, außer, dass eigentlich hätte bekannt sein sollen, dass er normalerweise nicht mit seinen Mitarbeitern zum Essen ging. Es musste der Zauber des Moments gewesen sein oder die Stimmung, in der er sich befand, jedenfalls machte er eine Ausnahme. Diese bestand darin, der jungen Frau, die auf eine Antwort wartete, ganz einfach zuzunicken.

3

Wir saßen zusammen am Tisch, um wie jeden Tag gegen 17 Uhr das Abendbrot gemeinsam einzunehmen. Eigentlich handelte es sich um kein richtiges Abendbrot, denn meine Mutter kochte abends für meinen Vater und tagsüber aß er die Stullen, die er sich morgens liebevoll zubereitet und mitgenommen hatte. Unser Esstisch befand sich im Wohnzimmer und jeder von uns saß dort immer auf demselben Platz, demselben Stuhl, egal ob wir dort am Wochenende frühstückten oder eben abends zu »Mittag« aßen. Der schwere Tisch, den ich kaum anheben konnte, war rund und die schmalen Stühle passten zu ihm in Form und Farbe. Alles bestand aus Holz. Meine Eltern hatten diese Sitzgruppe vor längerer Zeit gekauft, um sich etwas Besonderes, etwas ganz nach ihrem Geschmack zu leisten. Wir wohnten in einer Dreizimmerwohnung im Norden Berlins und meine Eltern sprachen oft darüber, dass sie sich gern ein Reihenhaus kaufen würden. Doch die hohen Zinsen machten einen solchen Kauf, wenn man nicht über ausreichend gespartes Eigengeld verfügte, schnell zu einem Abenteuer. Ich hatte viele dieser Gespräche zwischen ihnen gehört und kannte irgendwann alle Details, alle Argumente, die sie für wichtig hielten. Sie hatten vor einiger Zeit einen Bausparvertrag abgeschlossen, der, käme es zu einer Auszahlung, vielleicht den Unterschied machte; »das Zünglein an der Waage«, wie mein Vater gern sagte. Es gehörte zu seiner Persönlichkeit, ein vorsichtiger Mensch zu sein, der mit großer Überzeugung sparsam war und nie mehr Geld ausgab, als zur Verfügung stand, um sich vor unvorhergesehenen Ereignissen, so gut es eben ging, zu schützen. Durch Vorsorge, Versicherungen oder einen umsichtigen Lebenswandel. All dies predigte er mir immer und immer wieder, seine Werte, die unbedingt von seinem Sohn übernommen werden sollten. Als ich beispielsweise Taschengeld bekam, verabredeten wir, dass ich immer einen Teil des Geldes zurücklegte, um mir vom Ersparten Dinge kaufen zu können, die ich mir sonst nicht leisten könnte. Er war dabei so eindringlich, dass er es schaffte, mich dazu zu bringen, es ihm schließlich zu versprechen. Es wollte mir von Anfang an nicht gelingen, das Versprechen zu halten. Kaum bekam ich am Anfang eines Monats mein Taschengeld in die Hände gedrückt, wollte ich es gegen alles Mögliche eintauschen, was ich auch zielstrebig tat. Wenn ich merkte, dass ich das Geld schon wieder vollständig ausgegeben hatte, fühlte ich mich schlecht und schuldig. Nicht weil ich 29 Tage darauf warten musste, bis es das nächste Taschengeld gäbe, sondern weil ich Angst davor hatte, dass mein Vater bemerken könnte, wie schwach ich war, wie unfähig, unseren kleinen Vertrag einzuhalten. Ich wusste, dass der Tag käme, an dem er mich fragen würde, wo mein gespartes Geld wäre und was ich damit wohl vorhätte. Denn er liebte diese Gespräche, bei denen wir in unserer Fantasie einkaufen gingen und unser Erspartes für die Dinge gedanklich einsetzten, die wir gerade noch bezahlen konnten. Ein Apparat, neu auf dem Markt, der seine Musikanlage komplettieren könnte, ein Tonbandgerät, das in Stereo Musik wiedergab; einer seiner Träume. Oder gar ein Auto, wir gehörten zu denen, die das Geld dafür vielleicht nicht hatten, ich wusste es nicht. Oder ein Farbfernseher, oder, oder. Die Dinge, die er besaß, pflegte er. Aber er träumte von mehr. Fraglos hatte ich auch kleine Wünsche, aber keiner hatte die Macht, mich derart zu erfüllen. Wenn wir darüber sprachen, veränderte sich die Stimmung meines Vaters, drehte sich seine Laune in die Richtung eines herrlichen Optimismus, so als wären wir stundenlang gewandert und hätten das erste Mal einen direkten Blick auf die Bergspitze, unser Ziel, das dadurch erst real wurde. Rückbetrachtet kreierte mein Vater diese Momente, die auch für mich als Kind etwas ganz Besonderes sein konnten, weil er mich in seine Gedankenwelt einlud und mich an seinen Leidenschaften teilhaben ließ. Auf unserer gemeinsamen Reise gab es nur ihn und mich. Wir sprachen unsere eigene Sprache mit ihren einzigartigen Begriffen und lachten über Witze, die niemand anders komisch gefunden hätte. Tatsächlich kauften wir am Ende nahezu nichts von dem, was wir uns vorgestellt hatten, aber das war auch nebensächlich.

Trotz dieser innigen Verbindung, die er zu mir dabei einging, war er mir sonst eher fern, wusste ich wenig über seine Gedanken. Merkte er, dass ich mich nicht an seine Regeln hielt, reagierte er ohne Ausnahme streng. Dieses Verhalten entfernte mich von ihm, machte ihn für mich zu einer Gefahr, zu jemandem, vor dem ich Angst haben musste, weil seine Art für mich schmerzlich sein konnte.

Es verging ziemlich genau ein halbes Jahr, bis mich mein Vater auf mein gespartes Taschengeld ansprach. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn bis dahin jemals angelogen zu haben, denn die Lüge galt bei uns zu Hause als ein schlimmes Vergehen. Die schlimmste Verfehlung, die niemals geschehen durfte und die auf harte Weise bestraft würde. Trotz meiner Angst vor all dem log ich. Ich log meinen Vater an und bemerkte gleichzeitig, wie mein ganzer Körper begann, auf ungewohnte Weise zu reagieren. Dass ich rot im Gesicht wurde, spürte ich direkt, ohne mich sehen zu können. Außerdem schlug mein Herz schneller und meine Stimme wurde schwach und piepsig. Wie erlöst war ich, als meine Mutter ihn von mir ablenkte.

»Wie ist es heute im Büro gewesen, Schatz?«, fragte sie meinen Vater, der darauf wie programmiert mit einem »wie immer« antwortete. Damit war dieses kurze Gespräch, das in niemandem eine Spur hinterließ, schon wieder beendet. Leider tauschten wir uns auf diesem oberflächlichen Niveau regelmäßig aus. Aber immerhin waren wir hier zusammen und nahmen unsere Hauptmahlzeit des Tages gemeinsam ein. Als Familie und vom Leben durchaus verwöhnt, wenn man daran dachte, wie es anderen Menschen auf der Erde ging. Eine dieser Weisheiten, die zur Erziehung meines Vaters gehörten und an denen ich mich orientieren sollte.

»Hast du irgendetwas anders gemacht?« Auch so eine Frage meines Vaters, dem es womöglich nicht so schmeckte, wie er es sich vorgestellt hatte.

»Eigentlich nicht. Was meinst du genau? Schmeckt es dir heute nicht, Paul?«

»Doch, doch.« Er hielt inne, wollte offensichtlich noch etwas sagen, schwieg aber und aß stoisch weiter. Obwohl ich noch ein kleiner Junge war, spürte ich, dass etwas nicht stimmte.

»Nun sag schon«, insistierte meine Mutter.

»Darf ich nicht einmal eine harmlose Frage stellen, ohne dass ich mich kompliziert erklären muss? Meine Güte, da ist nichts. Lassen wir es doch einfach darauf beruhen.« Die Stimmung kippte, wie so oft, wenn einer von ihnen oder gar beide schlechte Laune hatten. Dann führte nie das Was, sondern das Wie dazu, dass es am Tisch explodierte, ausgelöst durch eine kleine Erschütterung, wie bei einem Fläschlein Nitroglycerin, so hatte ich es in einem spannenden Film im Fernsehen gesehen. Aus dem Nichts und ohne Wert entstanden Zerstörung und Zerrüttung. Beide begannen einander mit Schweigen zu strafen und ich fühlte mich schuldig und ausgegrenzt. Erst viel später habe ich aufgehört, mich dafür verantwortlich zu machen. Dennoch belastete mich diese immer häufiger auftretende Sprachlosigkeit in unserer Familie. Nachdem mein Vater aufgegessen hatte, stand er still auf und setzte sich auf die Couch. Er hatte seinen Teller nicht abgeräumt, sondern einfach an seinem Platz auf dem Tisch stehen lassen. Auf der Couch sitzend, begann er in einem Prospekt zu blättern und informierte sich mit sichtbarer Neugier über die Produkteigenschaften unterschiedlichster Gegenstände. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass das alles war, was ihn interessierte. War das Leben der Erwachsenen so schwierig, dass sich diese dahin flüchteten, wo Sinn und Sinnlosigkeit miteinander verschwommen? Schlechte Laune hatte den Familienfrieden verdrängt und die einzige Antwort meiner Eltern darauf war Sprachlosigkeit und Ablenkung.

4

Es war ein herrlicher Sommertag, und auch wenn es seinen Prinzipien widersprach, hatte er sich der Gruppe angeschlossen, um das Mittagessen im nahe gelegenen Gartenlokal mit den anderen einzunehmen. Man traf sich unten vor dem Ministerium und insgesamt sieben würden sich gemeinsam auf den kurzen Fußweg machen. Er kannte jeden, und wenn es nach der Hierarchie innerhalb des Hauses ginge, war er der Ranghöchste; alles Referenten bis auf einen Referatsleiter und die junge Frau aus einem der Vorzimmer, die Susanne Keller hieß. Sie, die, wenn er ehrlich zu sich selbst wäre, der eigentliche Grund für ihn gewesen war mitzugehen, lief unmittelbar vor ihm und unterhielt sich angeregt mit einer Kollegin. 28 Jahre alt, sah sie in seinen Augen aber jünger, fast mädchenhaft aus. An diesem Sommertag trug sie ein eng geschnittenes Sommerkleid, das ihren Körper dezent betonte. Das Kleid, beigefarben und oben geknöpft, als trüge sie ein enges Sakko über dem Rock, empfand er als unwiderstehlich an ihr. Die Absätze ihrer Schuhe, die ihm gefielen, konnten weder als hoch noch als flach bezeichnet werden, sondern hatten eine Höhe, die einen optimalen Kompromiss aus Pragmatik und Chic darstellte. Er erwischte sich dabei, wie seine Augen an ihrem Po und dessen Bewegungen klebten, immer wieder da hingucken mussten. Sie gefiel ihm und die Reize, die von ihr ausgingen und die er genussvoll intensiv wahrnahm, lösten in ihm den Wunsch aus, in ihrer Nähe zu sein. Keiner aus der Gruppe traute sich, mit ihm ins Gespräch zu kommen, sodass er sich dennoch fühlte, als wäre er allein unterwegs, nur mit sich. Vielleicht deshalb kehrte er seinen Blick nach innen und achtete für einige Momente nicht auf die städtische Umgebung, die an einigen Stellen in künstlich angelegte Natur überging. Plötzlich ging ihm das letzte Verhör von Herrn Müller durch den Kopf, ohne dass er gezielt versucht hatte, sich daran zu erinnern. Er spürte etwas, was ihm bekannt vorkam, dem er sich aber normalerweise verweigerte. Herr Müller tat ihm leid, machte ihn traurig. Das konnte eigentlich nicht sein, denn seine Aufgabe war es, Leute wie Herrn Müller aus der fortschrittlichen Gesellschaft auszugrenzen, einen Anteil daran zu haben, dass es keine kleine Menge Sauerteig gäbe, die den restlichen, viel größeren Teil des guten Teiges verdarb. Der Staat hatte nicht nur das Recht, sondern die Pflicht sein Volk zu schützen, auch ideologisch, oder gerade, wenn es um Einstellung und Gesinnung ging. Seine Kinder sollten in einem Deutschland groß werden und leben, das aufgrund seiner Überlegenheit und Konsequenz aufblühte.

Sein kleiner Sohn, Paul, kam ihm unmittelbar in den Sinn. Er war jetzt sechs Jahre alt und bereits wunderbar ernsthaft und fleißig. Ein junger Mensch, der einmal ein wertvoller Erwachsener würde, jemand, der vielleicht eine bedeutende Position im Reich einnehmen könnte. Dafür mussten die Grundlagen gelegt werden, von Menschen wie ihm, die in der Lage und willens waren, mit der notwendigen Entschiedenheit und Härte mit solchen umzugehen, die weder an das Große glaubten noch in der notwendigen Weise mitmachen wollten. Damit wurden sie automatisch zu Gegnern, wenn auch zu solchen, die sich leicht ausschalten ließen.

Sie überquerten eine spärlich befahrene Straße und standen nach wenigen Schritten vor einem Torbogen, der in den zur Straße gelegenen Gartenbereich des Lokals führte. Von den vielen bunt eingedeckten Tischen waren nahezu alle bereits besetzt. Der Lärm, den die zahlreichen Gäste machten, übertönte bei Weitem die Geräusche, die von der Straße kamen. Insbesondere fielen ihm die hellen Töne auf, die durch das Aufeinandertreffen des Bestecks mit den Porzellantellern entstanden. Jemand hatte für die Gruppe einen Tisch reserviert. Er wollte der jungen Mitarbeiterin, die ihn so sehr anzog, gegenübersitzen, doch war dafür nicht schnell genug. Nach einigem Hin und Her landete er an der Stirnseite und zwischen ihm und ihr saßen jetzt zwei andere aus der Gruppe. Diese kleine Entwicklung frustrierte ihn und er merkte, wie sich seine Laune schlagartig verschlechterte. Mit dem Blick in die Speisekarte wollte er sich ablenken und schnell vergessen, dass er eigentlich umsonst hierhergekommen war, denn es ging nur am Rande darum, seinen Hunger zu stillen. Kaum hatte er sie unten am Gebäude gesehen, wollte er, so dicht es eben ginge, an sie heranrücken, mit der Idee, sie womöglich riechen oder sogar flüchtig berühren zu können. In der Karte gab es ein Mittagsangebot, das eine Auswahl aus drei Hauptspeisen anbot; schnell entschied er sich für eine Bockwurst mit hausgemachtem Kartoffelsalat. Trinken würde er dazu eine Zitronenlimonade. Kaum hatte er ausgewählt, stand auch schon der Kellner am Tisch, um die Bestellungen aufzunehmen. Es gefiel ihm, dass der Service offensichtlich auf Zack war und sie wahrscheinlich noch innerhalb einer vertretbaren Zeit zurück im Büro wären. Alle am Tisch wählten etwas aus den drei Mittagsangeboten aus, keiner nahm etwas aus dem Standardangebot des Lokals, wahrscheinlich weil eine unausgesprochene Übereinkunft zwischen ihnen bestand, dass es schnell gehen musste. Die junge Frau hatte sich ein ungarisches Gulasch ausgesucht. Es interessierte ihn, was sie tat, mit wem sie sprach und wie sie sich bewegte. Das Essen kam schnell und trotz eines angeregten Gesprächs am Tisch, an dem er nahezu nicht teilnahm, wurden alle fast zeitgleich fertig, wie sieben Individuen, die in der Lage waren, sich so zu koordinieren, dass sie in bestimmten Situationen wie ein Organismus funktionierten. Kurz vor dem Aufbruch blickte er noch einmal zu den anderen Tischen im Gartenlokal, so als wollte er sich die Frage beantworten, mit wem er den Ort an diesem Sommertag im Jahre 1941 geteilt hatte. Erst jetzt bemerkte er mehrere Soldaten in Uniform, die an den Tischen saßen. Junge Männer, einfache Soldaten und Offiziere, die, wie es schien, mit jungen Frauen ein zwangloses Miteinander erlebten. Unglaublich ausgelassen wirkten die Paare auf ihn. Er selbst tat seinen Dienst im Ministerium, anders als diese Männer, die ihn mit einem diffusen Stolz erfüllten; sie dienten unter Einsatz ihres Lebens an einer ganz anderen Stelle. Sie erkämpften Lebensraum und sicherten dem Reich die Ansprüche, die endlich durchgesetzt wurden. Da, wo sich keine Einsicht einstellte, mit der notwendigen Gewalt. Die Deutschen hatten viel zu lange immer und immer wieder nachgegeben. Oft hatte er sich gefragt, ob er nicht auch ein Teil der siegreichen Armee sein wollte, um diese einmalige Chance des Schicksals nicht an sich vorbeiziehen zu lassen. Er könnte als Offizier einen Anteil an der Umsetzung seiner Ideale haben, den Schweiß eines Helden schmecken und Geschichten erleben, die das Leben nur jetzt zu erzählen hatte. Aber jedes Mal dauerte es nicht lange, bis ihm klar wurde, dass es sich bei der Verwaltung, in der er diente, und der Truppe um zwei perfekt ineinanderpassende Zahnräder handelte, die sich gegenseitig brauchten und die füreinander da sein mussten. Auf keines dieser Zahnräder konnte verzichtet werden, sonst bliebe die Präzisionsuhr stehen und nichts würde sich weiter nach vorn entwickeln. Diese jungen Männer dienten in der stärksten Armee, die es jemals gegeben hatte, um ein tausendjähriges Reich zu erstreiten. Und er gehörte zu der herausragenden Verwaltung dieses Landes, der staatlichen Ordnung, die es so in keinem anderen Land gab; ein uneingeschränkter Ausdruck der Überlegenheit des deutschen Volkes. Sozusagen dessen Rückgrat. Den Unterschied machten die Menschen in der Verwaltung selbst, ihre Qualifikation, ihre Identifikation mit den gemeinsamen Zielen, ihr Fleiß und ihre bedingungslose Einlassung für Recht und Ordnung.

All diese Gedanken erfüllten ihn, als er mechanisch aufstand, um zu der kleinen Gruppe aufzuschließen, die bereits am Ausgang des Gartenlokals stand und auf ihn wartete, um den Rückweg ins Büro anzutreten. Jetzt begann er sich mit einem Fall gedanklich zu beschäftigen, den er sich unmittelbar nach seiner Rückkehr vornehmen würde. Dieser gestaltete sich viel eindeutiger als der von Herrn Müller, und es ging schon längst nicht mehr nur um die Schuld des in Verwahrung Genommenen, sondern darum, dass dieser möglichst viele Gleichgesinnte denunzierte. Die Mittel, die dafür zur Anwendung kommen müssten, galt es jetzt – nachdem es ausreichend viele Verhöre gegeben hatte – festzulegen. Er würde darauf einen nicht unerheblichen Einfluss haben.

Unvermittelt warf Frau Keller ihm einen Blick zu. Kurz und unerwartet, ein Blick, der ihm unmissverständlich etwas mitteilte. Für einen Moment hatten beide eine Verbindung zueinander geknüpft. Präziser gesagt, hatte sie eine Tür geöffnet und ihn eingeladen hindurchzublicken, um möglicherweise entschlossen einzutreten. Nur der Hauch eines Ereignisses, denkbar kurz, und doch ließ er keinen Zweifel daran, dass er sich ihr gefahrlos etwas nähern dürfte. Wenn er es wollte. In seiner Brust spürte er einen beschleunigten Herzschlag, vielleicht sogar Freude über diese kleine Zuwendung einer fremden Frau, die ihm gefiel. Unstrukturiert schossen Fragen durch seinen Kopf. Er war verheiratet, hatte Kinder und hatte sich eine hohe Stellung erarbeitet. Wenn überhaupt, konnte es mit Susanne Keller nur um ein bisschen Spaß gehen, nichts von dem, was er hatte, würde er dafür aufs Spiel setzen wollen. Nichts.

5

Zwischen beiden herrschte eine neue und bisher nie da gewesene Atmosphäre der Anspannung. Keiner sprach und doch erklärte die unheilvolle Stille, dass etwas passierte, was die Welt, wie sie bisher bestanden hatte, verändern würde. Ein kleiner Junge und sein Vater, ein Kind und sein Held in einem aus Sicht des Kleinen unauflösbaren Konflikt. Entschied er sich, alles zuzugeben, wäre sein Vater furchtbar enttäuscht und würde ihn drastisch bestrafen. Versuchte er, sich mit weiteren Lügen über Wasser zu halten, kämpfte er gegen seine eigenen Werte, und darüber hinaus war es alles andere als wahrscheinlich, dass dies überhaupt helfen würde. Er entschied sich, die Wahrheit zu sagen. In ihm lebte eine große Liebe zu seinem Vater und trotz aller Angst auch ein großes Vertrauen in dessen Schutz und Beistand. Bis dahin hatte es nie eine Situation gegeben, die sein Vater nicht hätte lösen können, egal wie aussichtslos sie ihm auch erschien.

»Ich habe gar kein Geld gespart, so, wie wir es verabredet hatten, Papa. Ich habe alles ausgegeben, aber ab jetzt will ich mich an unsere Abmachung halten.«

Sein Vater blickte ungläubig zu ihm. Sein Gesichtsausdruck wechselte zwischen Unverständnis und Ärger. Der Anblick des Vaters machte dem Jungen Angst; plötzlich hätte er alles dafür getan, doch nichts zugegeben zu haben. Das Chaos im Vater, der viel erfahrener mit Schuld und Sühne war, drängte ihn dazu, es seinem Sohn schwer zu machen. Der erste Teil der notwendigen Strafe. Der kleine Sebastian wusste und verstand nicht, was geschah, was mit ihm passierte und wie weitreichend die Folgen sein würden. Tränen schossen aus seinen Augen und rannen die Wange hinab. Er wollte nicht weinen und schämte sich dafür, denn sein Vater hatte mit ihm bereits viele Male besprochen, dass Männer zu ihren Taten standen und deshalb gar nicht weinen müssten. Anders als Mädchen oder Frauen. Mit einer durch das Schluchzen gebrochenen Stimme beteuerte er seine Reue und gelobte in kindlicher Art ein weiteres Mal, es jetzt anders machen zu wollen. Der Vater ließ das Gesagte unbeantwortet und erhob sich langsam, fast bedächtig, beide hatten gemeinsam auf dem Bett des Jungen gesessen. So wie viele Male zuvor, wenn sie miteinander etwas spielten oder sich neckten.

»Sebastian, ich will überhaupt nicht glauben, was du eben gesagt hast. Ich bin unglaublich enttäuscht von dir. Wenn ich dir in einer so kleinen Sache nicht trauen kann, dann frag ich mich, wie das werden soll, wenn du erwachsen bist.« Sebastian begann jetzt fast hysterisch zu weinen und laut zu schluchzen, sodass er unregelmäßig nach Luft schnappte. Der Vater verließ den Raum mit dem strengen Hinweis, dass der Junge sitzen bleiben sollte. Für Sebastian, der vollkommen die Fassung verloren hatte, begann eine unerträgliche Wartezeit, die ihn ahnen ließ, dass ihn eine unangenehme Strafe träfe. Diese Aussicht ließ die Traurigkeit, die Angst und die Aufgeregtheit außer Kontrolle geraten. Vollkommen neue Gefühle breiteten sich in dem kleinen Gemüt des Kindes aus und längst war die Ursache für all das weit in den Hintergrund getreten. Wo blieb sein Vater bloß und was würde jetzt geschehen? War das feste Band zwischen den beiden beschädigt, vielleicht für immer verletzt worden?

Sebastian musste schon seit Längerem auf die Toilette und verspürte diesen Drang nun unerträglich stark; wie so oft zuvor hatte er gezaudert und das Volumen seiner kleinen Blase nahezu ausgereizt. Jetzt traute er sich nicht aufzustehen, und mit jedem Moment, der verging, verstärkte sich die Notwendigkeit zu urinieren. Ginge er nicht schnell zur Toilette, würde er sich unweigerlich in die Hosen machen.

Als sein Vater schließlich zurückkam, hielt dieser eine alte Fotografie in den Händen. Sein Gesicht wirkte ernst, fast starr und ließ nicht hoffen, dass sich die Situation entspannen würde. Genau in diesem Moment begann Sebastian sich zu erleichtern, er entlud seine Blase heftig und schnell.

Als sein Vater bemerkte, was geschah, wirkte dieser zunächst schockiert und kurz darauf impulsiv wütend. »Was soll das? Los, guck auf dieses Foto. Hier siehst du meinen Vater mit mir, als ich etwa so alt war wie du jetzt. Weißt du, er konnte stolz auf mich sein, weil ich mich an die Versprechen, die wir uns gaben, immer gehalten habe. Es wäre mir nie, nie in den Sinn gekommen, ihn zu belügen oder gar hinter seinem Rücken anders zu handeln. Schäm dich. Du bekommst für die nächsten sechs Monate kein Taschengeld und ich hoffe, dass das eine Lehre für dich sein wird.« Dann stand er auf, rief seiner Frau zu, dass der Junge eingepuscht hätte, und bat diese, sich zu kümmern.