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"Ich muss nach Nara!" Akaya ist fest überzeugt und auch ihre Freunde können sie nicht davon abbringen. Also machen sie sich gemeinsam auf den Weg, AnWel zu durchqueren um zur mystischen wandernden Insel zu kommen. Auch Erena ist dorthin unterwegs - und nicht alleine. Derweil ist der König dabei, eine Hinrichtung auf Insirion zu planen. Werden die Scheiterhaufen wieder brennen? Oder hat die Magie in AnWel doch eine Chance? Dieses Buch ist Band 3 der AnWel Trilogie, bei der es um gute und böse Zauberer geht, um Elfen und Zwerge, Druiden und Heiler, Waldgeister und Monster. Es geht um Liebe und Angst, um politische Entscheidungen und um eine wandernde Insel. Und schließlich geht es um die Rettung der Magie in AnWel.
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Seitenzahl: 423
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Für meine Familie! Für meine Eltern, die mir ganz früh schon viele magische Geschichten erzählt haben, für Noa und Jona, die zauberhafte Elfenkinder sind.
Für Erika, die wortgewandte, die alles hinterfragt und geprüft hat.
Ach ja: und für Dieter, mit dem dieses Geschichte vor viele Jahren ihren Anfang nahm, an einem regnerischen Tag in einem Studentenwohnheim in Hildesheim. Ob er sie wohl dieses Mal lesen wird? :-)
Karte von Anwel
Grenzziehung vor der Besetzung von Valnoch
VORWORT
PROLOG
ERKENNEN UND ENTRÄTSELN
WANDERN UND WANDELN
FREUNDE UND FEINDE
INNEN UND AUSSEN
ALLES begann an einem regnerischen Tag in einem Studentenwohnheim in Hildesheim. Wir langweilten uns sichtlich und lauschten dem leisen Klopfen des Regens an die Scheiben. „Mir ist langweilig“, sagte mein Freund. „Komm, erzähl mir eine Geschichte.
Du hast es neulich im Wald versprochen!“
Ich dachte nach und erinnerte mich.
In der Nähe lag unser berüchtigter Badesee, die Tonkuhle, an dem wir einige Zeit vorher gerade einen wunderbaren Rollenspielnachmittag mit unserer damaligen ’Gang’ verbracht hatten. Seltsame Dinge trugen sich damals zu. Durch die eigenartige Anwesenheit einer Person, die offenbar und für wenige auch augenscheinlich dem Geschlecht der Elfen angehörte, geschah es, dass sich die Gruppe nach dem versehentlichen Durchqueren eines Kastanienportals in einem Wald wiederfand, den sie noch nie vorher gesehen hatten. Und wäre nicht besagte Elfe gewesen, dann hätten sie sich vermutlich fürchterlich und unrettbar verlaufen. Eben jenes Kastanienportal in der Nähe der Tonkuhle wurde zum Eingangstor einer Geschichte, die zwar mit einem Weltenwechsel beginnt, aber nicht mit einem solchen endet. Vermutlich nicht. Aber wer weiß schon, was in den parallelen Welten so alles geschieht, während man eifrig andere Pläne macht?
Ach ja, die besagte Elfe war damals der Meinung, unbedingt Informatik studieren zu müssen. Was soll ich sagen, sie schaffte es sogar, ihre Herkunft so lange zu verdrängen, dass sie bis zur Professorin aufstieg. Dann allerdings verschafften sich ihre elfenhaften Eigenschaften mit Gewalt Raum und ließen ihr keinen Ausweg mehr. Sie musste diesen Roman schreiben – ebenso wie den den folgenden und den folgenden und so weiter. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann schreibt sie noch immer um ihr Leben. Und wenn sie gestorben ist? Nun, dann schreibt sie vermutlich einfach im nächsten Leben weiter. In AnWel oder in Etharell?
Als Elfe oder als Mensch? Wer weiß das schon so genau?
Obacht, das zweite Kastanienportal befindet sich übrigens in Itzum. Wer weiß, wohin es führt? :-)
Band 1: Nach AnWel
Was bisher geschah: Thynlar, ein Elf aus dem Geschlecht der Indellyin, und Sörelan, ein Weltenwechsler, wurden ausgeschickt, um Kay, eine junge Frau, aus Etharell zurück nach AnWel zu holen. Seltsamer Weise wechselt Kay alleine nach AnWel und das Chaos beginnt. Thynlar, der Kay begleiten soll, verliert sie in einem Kampf mit Yandrogs und Drogays. Er selbst wird auf das Schloss einer sagenumwobenen Zauberin entführt, die allerdings nur ein Ziel zu haben scheint: den jungen Elfenmann zu verführen. Kay, die leider bei dem Weltenwechsel ihr Gedächtnis verloren hat, landet derweil in einem Menschendorf.
Dort wird sie mit unterschiedlichen Gefühlen empfangen - Rowal der alte Druide erweist sich als ihr Freund und als Thorill auftaucht, scheint endlich alles gut zu werden. Doch Rowal vermag weiter zu sehen und erkennt, dass das Ende der Zeit der Druiden naht. Im Land der Menschen herrscht Krieg, Magie ist verboten und die Häscher des Königs machen Jagd auf die letzten Lebenden des Druidenordens. An Elfen glaubt niemand mehr - denn es gibt sie ja nicht. Oder vielleicht doch? Kay, deren wahrer Name Akaya ist, muss erkennen, dass sie offenbar selbst einem Elfengeschlecht entstammt. Immer wieder, vor allem bei Vollmond, wird sie von seltsamen Träumen heimgesucht - deren Botschaft sie nicht zu entschlüsseln vermag. Nach dem Tod von Rowal und Thorill, als die vermeintlich heilte Welt im Dorf zusammenbricht, flieht sie verwirrt in den Wald.
Band 2: Zu den Indellyin
Akaya landet nach einigen Wirren im Salyillin und wird dort warm empfangen. Sie schafft es, Thynlar zu befreien und beide fliehen zu Okawis, der alte Magier und Lehrer von Thynlar. Allerdings scheint Thynlar krank zu sein. Akaya trifft Okawis schließlich, findet aber sein Verhalten sehr merkwürdig. Trotzdem hat sie keine Wahl und begibt sich mit ihm und Thynlar in den Wald. Dort betäubt Okawis Akaya systematisch, so dass sie schließlich das Gefühl hat, dass sie das Haus nicht mehr verlassen kann – Angst macht ihr jede Handlung unmöglich. In diesem Zustand findet Sörelan sie und beide schaffen es, von Okawis zu fliehen. Von Thynlar fehlt jede Spurt. Sörelan und Akaya erreichen die Indellyin und treffen dort auf Gastfreundschaft und Ablehnung gleichermaßen. In der Bibliothek schafft Akaya es mit Hilfe der Chronistin und Bibliothekarin Lillina, altes Wissen auszugraben.
Die Freunde lernen, dass Erena und Okawis die selbe Person sind. Ein fürchterlicher Verdacht keimt in Akaya und nach einer Weile bestätigt sich ihre Vermutung: Thynlar ist wieder in Gewalt von Erena. Dass Sörelan bei den Indellyin die Liebe seines Lebens trifft, macht ihren Aufenthalt nicht einfacher.
AUCH Erenas Schloss hatte einen Lieferanteneingang. An eben dieser Tür klopfte es seit einiger Zeit leise, aber doch eindringlich. Der stumme Diener, der Thynlar in sein Zimmer gebracht hatte, war der Einzige, der an diesem Abend zufällig an dieser Tür vorüber ging. Verwundert nahm er das Geräusch wahr. Durch diese Tür kamen nur Lebensmittel, und diese auch nur nach vorheriger Ankündigung. Er beschloss nachzusehen und öffnete. Draußen stand, in Lumpen eingehüllt, ein magerer, älterer Zwerg. Die Kleidungsfetzen, die er trug, und die erbärmlich stanken, waren an der Schulter von Blut durchtränkt. Der Zwerg war barfuss, seine Zehen sahen blaugefroren aus. Es war noch immer sehr kalt im Hügelland. Der alte Diener zögerte nicht einen Moment. Er schaute sich um, und als er sicher war, dass niemand in der Nähe war, der ihn beobachtete, deutete er dem Zwerg, ihm zu folgen. Er nahm den Zwerg, der müde hinter ihm her tappte, mit in sein Zimmer, bereitete ihm ein warmes Bad und Essen. Der Zwerg beobachtete ihn aufmerksam und legte augenscheinlich nach kurzer Zeit sein Misstrauen ab. Dem Diener gelang es nach längerer Suche, Kleidung zu finden, die dem Zwerg passte. Er versorgte die hässliche Schnittwunde und nachdem mehrere großzügige Portionen einer Mahlzeit vertilgt waren, legte sich der Zwerg nieder und schlief lange.
Als der Zwerg erwachte, war Nacht. Er hatte bis dahin kein Wort geredet.
Der Diener schlief neben ihm auf der Bank – er hatte dem Verletzten das Bett überlassen. Taldor gähnte herzhaft und reckte sich. Er bedachte den Diener mit einem langen Blick, von dem dieser schließlich erwachte.
„Habt Dank für eure Hilfe. Mein Name ist Taldor Wiesengrün, ehemals Dunkelloch, doch dieser Name weckt zu viele Erinnerungen. Ich habe einen Freund, der hierher gebracht wurde. Auf den muss ich aufpassen.
Es ist ein Indellyin“, stellte er sich vor. Er verzichtete darauf aufzustehen, denn er fühlte sich noch ziemlich wackelig.
Der Diener sprang überrascht von seinem Lager auf. Er nickte, als Taldor den Indellyin erwähnte und deutete nach oben. Taldor runzelte die Stirn.
„Willst du nicht mit mir reden oder kannst du nicht?“, fragte er.
Der Diener deutete auf seine Zunge und machte eine Geste mit der Hand, die alles Mögliche bedeuten konnte.
„Erkältung?“
Der Diener schüttelte den Kopf.
„Schweigegelübte?“
Er schüttelte genervt den Kopf. Wieder gestikulierte er, diesmal energisch. Er formte Brüste, wedelte mit den Händen und deutete auf seinen Hals.
„Deine Frau bringt dich um, wenn du sprichst?“, fragte Taldor grinsend und machte eine Bewegung mit den Händen, die der des Diener ähnelte.
„Erena verdammt!“, krächzte es, und der Diener schlug überrascht und entsetzt die Hände über dem Mund zusammen.
„Oh, das hättest du doch gleich sagen können.“ Taldor grinste noch breiter. Es tat sehr gut, aus den Verliesen heraus zu sein. Er schnippte mit dem Finger und entzündete auf diese Weise eine Kerze. Vorsichtig stand er auf und ging mit weichen Knien zum Tisch, um dort einen Becher Wasser einzuschenken. Diesen reichte er dem fassungslosen Diener, der mitten im Raum stand und krächzende Laute von sich gab.
„Trink das, dann geht es dir besser“, sagte er.
Der Diener trank das Wasser so hastig, dass er sich die Hälfte über die Brust laufen ließ. Taldor schüttelte missbilligend den Kopf: „Gierhals.“
„Meister!“, sagte der Diener, nun schon mit viel deutlicherer, wenn auch noch leiser Stimme.
Taldor runzelte die Stirn. „Meister? Ein komischer Name. Nun, meiner lautet Taldor Wiesengrün, wie ich bereits sagte.“ Mit einer energischen Geste hinderte er den Diener daran, auf die Knie zu sinken. „Aber mal ehrlich. Es würde helfen, wenn du mir auch deinen Namen verrätst!“
„Mein Name ist Tom, Meister“, sagte der Diener ehrfürchtig.
„Nun, Tom Meister. Erena hat euch also verzaubert.“ Taldor setzte sich wieder auf das Bett und lehnte sich zurück. „Sagt mir, lieber Tom Meister, warum denn?“
Tom sah den Zwerg irritiert an. „Ich heiße Tom.“
„Ihr sagtet es bereits. Tom Meister. Also, erzählt mir!“
„Erena hat meinen Herrn gefangen, vor mehr als fünf Jahren. Er war ein junger Adeliger...“, Tom schniefte. Taldor sah ihn fragend an. „Sie hat ihn vor zwei Nächten umgebracht. Sie brach ihm die Arme. Dann tötete sie ihn. Langsam. Sie ist die Grausamkeit in Person. Ich habe ihn gestern begraben. Ich habe seinen Körper gesehen. Es war fürchterlich...“, er schluchzte und Tränen liefen über seine grauen Bartstoppeln.
„Warum, Tom Meister, seid ihr denn hier?“, fragte der Zwerg, nachdem er eine Weile gewartet hatte, bis Tom sich wieder etwas beruhigt hatte.
Tom zog geräuschvoll die Nase hoch. „Ich habe meinem Herrn ewige Treue geschworen, schon als er ein Baby war. Ich war dabei, als Erena uns überfallen hat. Der Herr ritt über Land, er war auf dem Weg nach Girtingheim, wollte sich dem Heer des Königs anschließen. Ich sollte ihn begleiten.“
„Ah. Na, dann wäre er wohl jetzt auch schon tot“, sagte Taldor nüchtern.
„Erena hat ihn hierher gebracht. Mich nahm sie mit. Sie sagte, ihr sei ein Diener gestorben, dessen Platz ich einnehmen sollte. Ich habe geschimpft und protestiert. Und sie hat diese Bewegung mit der Hand gemacht und ich konnte keinen Mucks mehr herausbringen und habe seit mehr als fünf Jahren nicht mehr gesprochen und dann klopft es an der Tür und da steht ein Zwerg draußen nachdem die Viecher vorher den Elfen gebracht haben, ich meine, den Indellyin, und noch nie habe ich einen Indellyin hier gesehen und diesen hier schon zum zweiten Mal komisch dass er überlebt hat...“, hektisch wedelte er mit den Händen.
Taldor sah ihn mit großen Augen an. „Tom Meister!“, fiel er ihm ins Wort. „Du hast zwar fünf Jahre geschwiegen, aber du musst das jetzt nicht alles in den nächsten Augenblicken nachholen!“
Tom setzte sich und holte tief Luft. „Ich glaube, das ist alles zu viel für mein armes Herz. Erst stirbt der junge Herr, dann kommt der Indellyin, dann ein Zwerg und ich kann wieder sprechen.“
„Ach Quatsch!“, erklärte Taldor. „Ich bin viel älter als du. Hab ich etwa Probleme mit meinem Herz? Auf meinen nackten Füßen bin ich aus den Verliesen bis hier her gelaufen. Waren einfach nicht genug Lumpen da. Und keine Schuhe zu finden. Geschweige denn etwas zu essen!“
„Wer seid ihr?“, fragte Tom.
Taldor verzog den Mund und glättete missmutig seinen Bart. „Ich glaube, das habe ich bereits zwei Mal gesagt, oder?“
„Ja Meister.“
„Oh verfluchte Axt! Hört gefälligst auf, hier alles und jeden Meister zu nennen. Ich bin Taldor. Wiesengrün. Oder sagte ich Wiesenkraut? Na, egal. Jedenfalls nicht mehr Dunkelloch, damit das klar ist.“
„Ja M... Taldor“, sagte Tom und deutete eine Verbeugung an.
Taldor seufzte tief und schicksalsergeben. „Tom Meister, trauert nicht mehr um euren Herrn. Er ist jetzt in einer besseren Welt.“
„Ja, M... Taldor“, erwiderte Tom mit traurigem Blick und schniefte wieder.
„Vielleicht sollte ich mich umbenennen lassen?“, grübelte der Zwerg laut. „Aber MTaldor Wiesengrün klingt so seltsam. Ich kann ja nicht dauernd alle Namen wechseln.“
Tom grinste etwas verlegen. „Ich werde versuchen, es mir zu merken.“ Er wischte seine Nase an seinem Jackenärmel ab und fügte hinzu. „Taldor.“
„Siehst du, der erste Versuch hat schonmal geklappt. Gut so. Ich bleibe eine Weile hier im Schloss. Aber die Zauberin darf auf gar keinen Fall wissen, dass ich hier bin. Ist das klar, Tom Meister?“
Tom nickte ehrfürchtig.
„Und damit dir und mir nichts passiert, darfst du auf keinen Fall sprechen, wenn jemand anders als ich in der Nähe ist. Ist das klar, Tom Meister?“
Tom nickte wieder, die Hände unter dem Kinn gefaltet. „Ich schwöre es, bei meinem Leben.“
„Das könnte sich als erstaunlich kurz erweisen“, murmelte Taldor. „Also, pass auf. Ich werde mich in den nächsten Tagen im Schloss ein wenig umsehen.“
„Aber Erena...“, warf Tom ein.
„Ich bin für Erena unsichtbar. Sie rechnet nicht mit mir. Sie hat noch nie mit mir gerechnet. Das ist ein Fehler in ihrer Rechnung. Nicht der Einzige, aber ein guter.“ Taldor lächelte geheimnisvoll. „Habt ihr Zugang zu Erenas Bibliotheken?“
Tom nickte.
„Gut. Da will ich morgen hin. Ich muss etwas recherchieren“, erklärte Taldor und zog sich die Decke bis unter das Kinn.
„Seid ihr ein mächtiger Magier?“, fragte Tom ehrfürchtig.
„Magier? Hm, nein, so würde ich das nicht nennen. Ich bin Taldor.
Wiesenachwasweißich, du weißt schon.“ Taldor grinste breit. „Aber wenn du mit Erena sprichst, oder mit irgend jemandem überhaupt sonst hier in diesem Schloss, Thynlar, den Indellyin, eingeschlossen, dann verwandele ich dich in eine Nacktschnecke.“
Tom verzog den Mund angewidert. „Ihr könnt euch auf mich verlassen M...“, er grinste, als der Zwerg die Augen verdrehte. „Taldor Wiesenachwasweißich“, korrigierte er sich.
„Ich glaube, wir werden gut miteinander auskommen, Tom Meister“, erwiderte Taldor lachend.
„Was meinst du damit?“, fuhr Erena den Dämon an, der in leicht gebückter Haltung in dem magischen Kreis stand. „Du hast herausgefunden, dass ein Flammendämon namens Flicker den Anhänger hergestellt hat, dass er mit einer Zauberin verbunden ist, die die Macht hat, ihm zu befehlen und dass er im Salyillin lebt.“ Sie schnaubte abfällig.
„Hab vielen Dank für deine Mühen! Das Einzige, was daran neu ist, ist der Name des Herstellers. Der stand leider nicht direkt auf dem Objekt“, schimpfte sie.
Der Dämon versuchte, sich noch etwas kleiner zu machen. „Macht macht Verbindungen, deren Nutzen zu nutzen gewusst werden will. Was geschaffen wurde im heiligen Wald kann schaffen ihn zu vernichten“, murmelte er leise, die Zauberin aus scheelen, gelben Augen anblickend.
„Wiederhol das noch mal lauter“, sagte sie und kam ein Stück näher an den magischen Kreis heran. Der Dämon wiederholte seine Worte. Erena sah ihn einen Moment nachdenklich an und entließ ihn. Erleichtert machte sich der Dämon von dannen. Den heiligen Wald vernichten. Das war ein ganz neuer Aspekt. Der Dämon hatte ihr nicht geholfen, den Anhänger zu enträtseln, aber er hatte ihr eine Idee eingegeben, die nicht einmal ihr bisher in den Sinn gekommen war. Dies war ein weiterer Weg, die Indellyin zu ärgern. Und um sie aus ihrer Abgeschiedenheit herauszulocken. Den Salyillin abbrennen mittels Flammen, die dämonischen Ursprungs sind. Und dann Yandrogs und Drogays auf alles hetzen, was zur Rettung des Waldes auftauchte. Ein leises Lachen perlte aus ihrem Bauch empor. Sie musste dringend nach Nara, um zu sehen, wie weit ihre Truppen waren. Aber ein wenig Zündeln könnte man gewiss vorher schon. Diese Idee musste sie unbedingt ausprobieren. Sie schmunzelte. Das war eine gute Idee. Eine sehr gute Idee. Nun musste sie nur noch herausfinden, was der erste Teil des Spruches bedeutete, den der Dämon aufgesagt hatte. Und wie dieser verfluchte Anhänger funktionierte.
Sie begab sich in den Turm zu Thynlar. Er war seit einigen Tagen wieder im Schloss und sie hatte bislang darauf verzichtet, ihn zu besuchen.
Lediglich überwacht hatte sie ihn. Er erholte sich langsam. Schmal war er geworden in ihren Verliesen. Doch nach und nach kam er wieder zu Kräften, wie sie mit Freude feststellte.
„Erena!“, begrüßte er sie. Es klang beinah freundlich.
Erena sah ihn verwundert an. Er sah seinem Vater wahrhaft ähnlich.
Die Szene mit Syncjareth aus ihrem Traum quälte sie. Ihre gute Laune verflog schlagartig. „Fehlt nur noch, dass du sagst ’schön dich zu sehen’“, sagte sie grob und musterte ihn abfällig. „Du brauchst dich nicht einzuschmeicheln. Mir ist gerade nicht danach.“
Der junge Mann ließ sich auf einem der beiden Stühle nieder. „Ich schmeichle nicht. Aber da ich dich nicht los werde, muss ich mich wohl mit dir abfinden.“
„Interessante Hypothese“, sagte sie und setzte sich ihm gegenüber. Sie schaute ihm tief in die Augen und er erwiderte ihren Blick ruhig ohne auszuweichen. „Du hast dich verändert“, stellte sie fest. „Du bist ruhiger geworden. Wie kommt das?“
„Du kannst dich gerne für einige Mondwechsel in deine Verliese setzen, wenn du es lernen willst“, gab Thynlar freundlich lächelnd zurück.
Erena sah ihn an, Misstrauen stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Immerhin hast du deine Ironie noch nicht verloren.“
„Wenn ich mich gegen dich wehre, bringst du mich fast um. Wenn ich mich nicht gegen dich wehre, traust du mir nicht. Du solltest dich entscheiden, was du willst. Es könnte die Dinge vereinfachen.“ Er stützte seinen Kopf auf eine Hand und sah sie offen an. „Nachdem du ja weißt, wo Akaya ist, frage ich mich, welche Rolle ich eigentlich spiele.“
Erena stutzte einen Moment und schüttelte dann lachend den Kopf.
„Nur weil Syncjareth es geschafft hat, dir vorzumachen, dass alles gut wird, heißt das noch lange nicht, dass du die Situation im Griff hast.
Und nur weil Akaya es geschafft hat, sich mit dir in Verbindung zu setzen, heißt das nicht, dass du Macht über mich hast. Überschätze dich nicht.“
Thynlar betrachtete sie aufmerksam. „Ich überschätze mich überhaupt nicht. Ich weiß, dass ich hier nicht raus komme, ich habe in diesem Turmzimmer keine magischen Fähigkeiten. In das Essen sind magisch behandelte Drogen gemischt. Hungern ist keine Alternative, weil die Drogen zwar die Wirkung verstärken, aber durch Verzicht auf sie meine Kraft an diesem Ort nicht zurückkommt. Also hab ich keine Wahl, wie bereits gesagt. Du hast sogar den Zauber verstärkt, der mich am Gedankenlesen hindert. Allerdings kannst du meine Gedanken jetzt auch nicht lesen. Schade, Erena.“ Er lächelte unverschämt, als er sah, dass ein überraschter Ausdruck kurz über ihr Gesicht huschte, bevor sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Dann wurde er wieder ernst: „Ich habe in den letzten Mondwechseln erkannt, dass ich nichts gegen dich tun kann.“
„Du hast gemeinsam mit dem Zwerg beschlossen, dass du mich verführen willst“, stellte Erena klar.
„Du hast uns belauscht.“
„Natürlich“, bestätigte Erena die rhetorische Frage.
„Wir haben den Plan nicht weiter verfolgt. Und du hast Taldor umgebracht“, sagte er traurig. „Keine Sorge, ich unterschätze dich nicht. Du hast mir ja am eigenen Leib zu spüren gegeben, welche Macht du hast.
Dass mein Vater dich geliebt hat, habe ich auch gesehen und gehört.
Das könnte meine Einstellung zu dir geändert haben, oder Erena?“ Er schickte ihr einen tiefen Blick aus grauen Augen. Eine blonde Strähne fiel ihm ins Gesicht. „Aber ich bin nicht er. Ich weiß auch nicht, was er darunter versteht, wenn er sagt, dass alles gut wird. Vielleicht meinte er ja, dass ich in seine Fußstapfen treten soll.“ Er lächelte sie an.
Erena lachte aus vollem Hals. „Ach Thynlar, du bist kühn. Und du bist schön. Du bist deinem Vater in vielem ähnlich.“ Sie stand auf und holte einen Gegenstand aus einer Börse, die sie am Gürtel ihres Kleides befestigt hatte. „Weißt du, was das ist?“, fragte sie ihn und hielt ihm ein Lederband vor die Augen. Etwas Unsichtbares zog das Band in der Mitte nach unten. Ein nicht sichtbarer Anhänger.
Thynlar betrachtete das Band einen Augenblick und sah Erena dann ratlos an.
„Sieh genau hin. Aber berühre es nicht!“, forderte Erena ihn auf.
Thynlar betrachtete das zart geflochtene Band. Plötzlich kam ihm eine Erinnerung. Das Band aus dem Salyillin. Das Geschenk... jeden weiteren Gedanken verbot er sich. Sein Magen zog sich zusammen. „Ich weiß nicht, was das ist“, log er.
„Das ist nicht wahr“, stellte Erena nüchtern fest und verstaute den Gegenstand wieder in ihrem Beutel. „Dieses Band mit dem Anhänger gehörte Akaya. Ich habe es ihr abgenommen.“
„Als du Okawis warst?“, fragte Thynlar mit zynischer Stimme.
Erena sah ihn überrascht an. „Oh, du hast es also herausgefunden.“
Sie konzentrierte sich einen Moment und nach wenigen Sekunden stand Okawis vor Thynlar. „Ja, mein Sohn. Ich bin Erena.“ Er lachte dunkel und verwandelte sich wieder in Erena zurück. „Ich bin nicht nur Gestaltenwandler, sondern auch noch ein sehr guter!“, erklärte sie selbstzufrieden.
„Immerhin hast du als Okawis nicht versucht, mich zu verführen“, stellte Thynlar ironisch fest. „Was hast du mit Akaya gemacht?“
„Du verlierst ja doch deine Ruhe! Wie schön, das zu sehen. Ich dachte schon, du hättest keine Angst mehr.“ Sie lächelte. „Ich habe viel zu wenig mit ihr gemacht. Sie ist jetzt bei deinen Indellyin. Aber nicht mehr lange, dafür werde ich schon sorgen.“ Mit diesen Worten wandte sie sich zur Tür und verließ den Raum.
Tag um Tag hatte Akaya in den Bibliotheken verbracht, mehr oder weniger alles um sich herum ignorierend. Die Wochen zogen ins Land. Sogar Lillina hatte ihr inzwischen ein paar Mal vorgeschlagen, spazieren zu gehen oder irgendetwas anderes zu machen, als zu lesen, doch Akaya wühlte sich wie eine Besessene durch Bücher und Aufzeichnungen. Sie suchte nach Berichten von den Inseln, fand jedoch keine, die ihr wirklich weitergeholfen hätten. In einer abgelegenen Ecke der geheimen Bibliothek, zu der sie inzwischen einen eigenen Schlüssel besaß, fand sie eines Abends eine mehrbändige Abhandlung über Magie und Zauberei. Sie zog sich damit in einen Winkel zurück und studierte Seite um Seite. Als sie das Buch durchgelesen hatte, fing sie vorsichtig an, Dinge auszuprobieren und sich Beschwörungen und Formeln einzuprägen.
Auch Lillina war nicht untätig gewesen. Sie hatte den Bestand gesichtet und festgestellt, dass tatsächlich in etlichen Büchern der öffentlichen Bibliothek Veränderungen vorgenommen worden waren. Einige der Bücher schienen nicht mehr zu retten zu sein. Statt die Inhalte von den Seiten zu kratzen oder zu überschreiben, waren die Texte offenbar unter Verwendung von Magie verändert worden. Viel Schaden war entstanden in dem Jahr, in dem sie versucht hatte, sich von ihrer Verletzung und von dem Schock zu erholen. Die Bibliothekarin sorgte dafür, dass die Bücher in Verwahrung kamen. Sie brachte es einfach nicht über sich, Bücher absichtsvoll zu vernichten. Aber sie ließ Vermerke über die Änderungen vervielfältigen und jedem der Bücher zufügen. Nicht nur Bücher über die Inseln waren geändert worden. Auch Bücher, die die Geschichte der Indellyin zu Zeiten der allgemeinen Verbreitung von Zauberkunst angingen, waren betroffen. Einige Bücher, die sie selbst noch katalogisiert hatte, waren vollständig verschwunden. Lillina staunte über das Chaos in ihrer Bibliothek und schalt sich selbst, dass es ihr nicht früher aufgefallen war. Ihr schien es, als seien Veränderungen insbesondere in den Büchern vorgenommen worden, die bestimmt gewesen waren, Akaya in die Finger zu fallen. Ein eiskalter Schauer rann ihr über den Rücken bei dieser Vorstellung. Wie lange schon war Akayas Ankunft hier geplant gewesen? Ob all diese Änderungen zu Erenas Zeit gemacht worden waren? Oder war doch in der Zwischenzeit jemand hier gewesen, ohne dass sie es mitbekommen hatte? Die verschollenen Bücher waren Bände über die Vorfahren und die Historie der Indellyin.
Ein schrecklicher Verlust. Was wäre nur gewesen, wenn jemand anders als sie die Bibliotheken geleitet hätte? Wäre Lillina bei dem Überfall ums Leben gekommen, dann hätte sie all ihr Wissen mit in ihr Grab genommen, da sie keine Zeit gehabt hatte, einen Nachfolger auszubilden.
Sie fasste den festen Entschluss, sich alsbald jemanden zu suchen, den sie in die Geheimnisse der Bibliotheken von Yellalyn und die Arbeit als Chronist einführen konnte. Der Gedanke gefiel ihr allerdings gar nicht und sie schob ihn zunächst zur Seite. Sie suchte weiter nach alten Aufzeichnungen über die Insel der Zauberer. Schließlich wurde sie fündig. Durch einen dummen Zufall waren die Bücher nicht wieder in die Bibliothek einsortiert worden. Sie las mehrere Abende lang und was sie herausfand, erschreckte sie zutiefst. Die Magie der Insel ging auf eine mystische Verstrickung bei den Drachenvölkern zurück, war also uralt. Die Magie hatte quasi die Insel durchdrungen. Später war durch die Zauberlehrer unwissentlich viel Schaden angerichtet worden, bei dem Versuch, Lebensenergie auf der Insel zu speichern. Es sah fast so aus, als wenn die Insel eine eigene Kraft entwickelt hatte. Es war eine komplizierte und sehr komplexe Situation, die leider die ihr zur Verfügung stehenden Werke auch nur anrissen. Es schien Lillina so, als habe Syncjareth diese Bücher aussortiert um mit ihnen zu arbeiten.
Jedoch war er vermutlich nicht mehr dazu gekommen. Was hatte er nur geahnt? Sie fragte sich, ob er vorgehabt hätte, Konsequenzen aus dieser Information zu ziehen – und welche dies gewesen sein könnten.
Ein ums andere Mal verfluchte sie die Tatsache, dass der König so früh gestorben war.
Oft wurde Lillina in diesen Tagen zu den Sitzungen des Rates gerufen, der in Anbetracht der besonderen Umstände beschlossen hatte, den Winter in Yellalyn zu verbringen. Ilorn hatte dem Rat von den Problemen in Girtion und Insirion berichtet, und eine kurze Zusammenfassung der Geschichte von Akaya und Sörelan in Verbindung mit der Zauberin Erena gegeben. Thynlar hatte er bei diesem Bericht in Absprache mit Lillina ausgespart. Das Problem des verlorenen Königssohnes wollte er derzeit nicht mit dem Rat diskutieren. Seine Schwester hatte ihm zu dieser Haltung geraten, auch wenn er nicht wirklich von der Idee überzeugt war, dem Rat Information vorzuenthalten. Im Gegenzug forderte Ilorn ihre Begleitung zu den Sitzungen.
Lillina musste ihre Arbeit im Stich lassen und ihre Dienste als Beraterin aufnehmen.
Zudem war es wieder zu Problemen mit Sörelan und Rythall gekommen.
Fylath hatte es geschafft, einige Leute aus der Wachtruppe um sich zu versammeln und gegen das Paar aufzubringen. Eines Abends hatten Mitglieder dieser Gruppe Sörelan und Rythall aufgelauert und es war zu einer sehr ungleichen Schlägerei gekommen. Durch eine glückliche Fügung waren weniger konservativ gesinnte Mitglieder des Rates dazu gestoßen und hatten Schlimmeres verhindern können. Allerdings war auf diese Weise der Rat unmittelbar informiert worden. Heiße Diskussionen waren entbrannt, die sich zum Teil auch gegen die Anwesenheit der Zauberin, wie Akaya von Einigen genannt wurden, richteten. Ilorn hatte es verstanden, die Stimmung recht schnell wieder zu regulieren. Bis Sörelan sich erbat, beim Rat vorsprechen zu dürfen.
In einer flammenden Rede hatte er von Insirion berichtet, von der Arbeit der Rebellen und von den letzten Überfällen von König Zyprius II. Sein Bericht von den Schlachtfeldern und den neuartigen Waffen, die Zyprius zur Verfügung hatte, schockierten alle Anwesenden. Sörelan erzählte, die Rebellen hätten ihrerseits begonnen, sich zu organisieren und hätten einen Rat ins Leben gerufen. Er selbst habe die Entscheidung nach den Indellyin zu suchen, um sie aufzufordern, in der Situation Position zu beziehen, gegen den Willen des Rates getroffen. Sörelan gab zu bedenken, dass Insirion ehemals gemeinsames Gebiet von Indellyin und Menschen gewesen war, ein Ort des Friedens zwischen Völkern und ein Ort der Eintracht. Zudem führte er an, würden Menschen wie Zyprius daran arbeiten, Magie und Traditionen der Weitergabe von Wissen gezielt zu vernichten. Der junge Druide wies darauf hin, dass der König der Menschen offenbar von einer mächtigen Zauberin unterstützt würde, die dabei sei, ihr eigenes Heer aufzustellen. „Mit diesem Heer von geschaffenen Wesen, die ihren Ursprung in Nara haben, wird sie auch euch vernichten, wenn ihr weiter hier in eurem Reich bleibt.“ Mit diesen Worten schloss Sörelan seine Rede, verneigte sich tief und verließ den Raum, ohne entlassen worden zu sein.
Seine Rede und sein Abgang waren beeindruckend und hinterließ den Rat sprachlos. Lillina, die als Beraterin auch an dieser geschlossenen Sitzung teilnehmen durfte, fiel auf, dass Sörelan ein begnadeter Redner war. Er würde sicherlich eines Tages ein charismatischer Druide werden, sollte er jemals diesen Status akzpetieren können. Sie hoffte es, denn sie hatte den jungen Mann gern. Dass Sörelan vollkommen darauf verzichtet hatte, die Ereignisse mit Fylath zu erwähnen, machte seine Rede noch eindringlicher. Er hinterließ ein Chaos. Der Rat war in mehrere Lager gespalten. Einige der Edlen vertraten energisch die Position, sich aus derartigen Menschenproblemen herauszuhalten. Ein paar gingen sogar so weit, zu fordern, Sörelan des Landes zu verweisen, handele es sich doch augenscheinlich um einen Unruhestifter, dessen Erzählungen mehr als fragwürdig seien. Einige andere waren vorsichtiger mit ihrer Beurteilung und fragten Lillina nach genauen historischen Hintergründen, insbesondere nach der Rolle der Indellyin auf Insirion.
Ilorn selbst war hin- und hergerissen. Er wollte sich nicht in einen Krieg der Menschen einmischen. Aber er sah auch die Gefahr, die auf die Indellyin zukam. Heimlich wünschte er sich Syncjareths Rat in dieser Situation und die starke Hand eines Königspaares, dem man getrost die Verantwortung für eine derartig weit reichende Entscheidung überlassen konnte. Einer der Ratsmitglieder kam gar auf die Idee, die Berge zu überqueren und sich auf der anderen Seite niederzulassen. Er wurde jedoch schnell überstimmt. Keiner der Anwesenden war letztlich von der Idee überzeugt, in den Krieg zu ziehen. Die Indellyin hatten ihre Kriege geführt, einige gewonnen, viele verloren und vor langer Zeit daraus gelernt. Sie hatten jedoch nicht gelernt, wie sie mit einer Situation, die eine noch wenig konkrete und nach Meinung vieler sehr hypothetische Bedrohung darstellte, umgehen sollten. Es sei, so wurde argumentiert, nach dem Verlassen des Inselreiches das Heraushalten aus dem Krieg möglich gewesen, der die Menschen seit fast dreihundert Jahren beschäftigte. Aber zu welchem Preis, gaben andere zu bedenken.
Auf diese Weise die meisten Tage abgelenkt und abends mit ihren eigenen Studien beschäftigt, hatte Lillina länger keine Gelegenheit, sich mit Akaya zu treffen. Zumindest schob sie diese Begründung vor.
Tatsächlich hatte sie einfach nur Angst, dass sich ein Verdacht bestätigen könnte, der seit einiger Zeit in ihr gärte.
An einem Abend kam die Bibliothekarin müde von einer der Versammlungen zurück. Sie war frustriert, weil die konservativen unter den Indellyin wieder unsägliche Argumente für das Beibehalten der Abgeschiedenheit vorgebracht hatten. Lillina rollte über den Flur und beschloss, einen kurzen Ausflug in die geheimen Bibliotheken zu machen, wo sie erwartete, Akaya zu treffen. Sie sah einen schwachen Lichtschimmer unter der Tür hervorblitzen, klopfte, um Akaya nicht zu erschrecken, und öffnete gleichzeitig. Mit einem leisen Aufschrei sprang ein junger Mann auf und sah sie mit großen Augen an. Verblüfft blieb Lillina in der Tür stehen.
„Was tut ihr hier? Wo ist Akaya?“, fragte sie, nachdem sie eine Schrecksekunde überwunden hatte. Sie wusste, dass sie mit dem Rollstuhl viel zu langsam war, um dem Eindringling zu entkommen.
„Lillina, entschuldige bitte“, sagte der Mann mit Akayas Stimme. „Warte einen Moment, ich bin noch nicht so gut darin.“
Lillina glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Langsam, als wenn man über ein Gemälde Flüssigkeit schüttet und eine Schicht Farbe wegwischt, veränderten sich die Konturen, und Akaya stand wieder vor ihr.
„Illusionszauber“, erklärte die junge Frau, und deutete auf die Bücher.
„Wusstest du, dass ich auch Gestaltenwandlerin bin?“
Lillina versuchte eine Antwort zu geben, aber ihr hatte es die Sprache verschlagen. Sie schüttelte ungläubig den Kopf und fing sich schließlich.
„Liebste Akaya, ich bin zwar davon ausgegangen, dass deine Fähigkeiten über die bei uns noch bekannten Dinge hinausgehen, aber Gestaltenwandel... Erena ist die einzige lebende Gestaltenwandlerin!“
„Das sehe ich anders“, gab Akaya zurück und lächelte.
„Trotzdem kann ich es nicht glauben, dass du meine Bibliotheken benutzt, um heimlich Zauberkunst zu trainieren!“, protestierte Lillina empört.
Akaya war irritiert. „Ich hatte das bislang so verstanden, dass Indellyin alle magiebegabt sind.“
„Magiebegabt ja, aber die Ausbildung der Zauberkunst wird bei uns schon lange nicht mehr praktiziert. Seit es keine Ella mehr gibt! Zu viel Schlechtes kann durch den Missbrauch der Macht geschehen“, erklärte sie energisch. „Das weiß doch jedes Kind!“
Akaya schüttelte sich. „Ich verstehe nicht, was du meinst. Ich bin sehr überrascht über deinen Zorn! Diese Bücher stehen hier.“ Sie deutete auf die Regale.
„Das wusste ich. Das Königspaar hat die Aufgabe, über die Verwahrung zu wachen. Sie haben dafür zu sorgen, dass kein Missbrauch geschieht.
Missbrauch bedeutet, dass jemand verbotener Weise in ihnen liest. Oder gar Dinge einfach ausprobiert. Ich hätte dich nie hier hereinlassen sollen“, schimpfte Lillina.
„Lillina, verzeih mir, wenn ich etwas falsch gemacht habe. Aber auch Thynlar hat sich in Zauberkunst ausbilden lassen und...“
„Von Okawis, oder sollte ich besser Erena sagen?“, unterbrach Lillina sie aufgebracht.
„Meine ersten Lektionen habe ich im Salyillin erhalten, von zwei Waldwesen, die du als Waldgeister bezeichnen würdest. Wie kann das schlecht sein?“ Akaya war zu der älteren Frau gegangen und hatte ihre Hand ergriffen.
Lillina hatte noch immer den Mund zu einem schmalen Strich verzogen und antwortete nicht, zog aber auch die Hand nicht zurück. „Gestaltenwandel ist Zauberei der Erena“, sagte sie fast trotzig.
„Aber doch nicht nur! Lillina, was ist mit dir?“, bohrte Akaya nach.
„Oh verflucht sei das alte Wissen“, murmelte die Bibliothekarin leise und atmete tief durch. Dann fasste sie einen Entschluss. Sie musste endlich mitteilen, was sie herausgefunden hatte, bevor noch mehr Schaden angerichtet wurde. „Akaya. Ich vermute, dass du bislang keine Bücher über Eldaran gefunden hast, oder?“, fragte sie.
„Ich habe mich schon gewundert...“, fing Akaya an, wurde aber gleich wieder unterbrochen.
„Ich hatte das vergessen. Es ist mir vor ein paar Tagen erst wieder eingefallen, als ich die Bücher selbst gesucht habe. Syncjareth war, nachdem er auf Erenas Geheimnisse gestoßen war, eine Zeitlang intensiv mit Geschichtsforschung beschäftigt. Er hat viele Aufzeichnungen mit sich genommen, um sie abends in seinen Gemächern in Ruhe studieren zu können. Ich bin heilfroh, dass Syncjareth sie mitgenommen hatte – auf diese Weise konnte Erena keine Veränderungen daran vornehmen.“
„Es gibt also noch mehr Bücher“, murmelte Akaya resigniert.
„Noch viel mehr. Aber keine Sorge, du musst sie nicht lesen. Ich habe die Bücher nach dem Tod des Königspaares wieder in die Bibliotheken schaffen lassen und vergessen, sie wieder in die Regale zu sortieren.
Sie liegen in einem meiner Arbeitszimmer, gemeinsam mit den Aufzeichnungen von Syncjareth. Lass uns gehen und einen Blick darauf werfen. Ich habe sie nur überflogen, aber ich glaube, danach weißt du, warum ich so entsetzt bin“, sie lächelte nachsichtig und korrigierte sich: „Entsetzt war.“
„Was meinst du?“, fragte Akaya neugierig, und erleichtert, dass Lillina offenbar nicht ernsthaft böse war. Sie lief neben der Indellyin her.
„Du hattest vor einiger Zeit, als wir uns das erste Mal über Nara unterhalten haben, irgendetwas von Arewan und Erwan erwähnt. Ich weiß nicht mehr, was das war. Aber ich habe etwas gefunden, was mich sehr verunsichert hat. Lass es mich dir zeigen.“
Sie durchquerten mehrere Flure. Aufgrund der fast organisch anmutenden Anatomie der Gebäude, die sich gleich Pflanzen ausbreiteten und an überraschenden Stellen Bäume und Büsche integrierten, war Akaya meist nach kurzer Zeit orientierungslos. Sie hatte auch den Eindruck, dass sie je nach Tagezeit die Struktur der Räume leicht änderte. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt und bislang hatte die Regel auch funktioniert, nach der sie einfach immer so lange weiter ging, bis sie ein Fenster fand, um sich durch einen Blick nach draußen zu orientieren, oder bis sie an eine Tür kam, die ins Freie führte. Die Bibliothek war allerdings eines der größten Gebäude in der Stadt und Akaya erkannte zum wiederholten Male, dass sie von den Ausmaßen des Hauses keine Vorstellung hatte. Auch schien es ihr, als wenn das Haus innen größer war, als es außen schien. Die öffentlichen Räume waren bereits riesig und auch die private Bibliothek der Könige war wirklich nicht klein. Hinzu kamen Lillinas Privaträume und, für Akaya neu, ihre Arbeitszimmer. Die Bibliothekarin und ihre Begleiterin kamen an einen Durchgang und betraten einen Raum in dem ein breiter Schreibtisch stand, der über und über mit Büchern, Kladden und beschrifteten Papieren bedeckt war. Bücher und Papier stapelten sich auch auf dem Fußboden. Einige der papiernen Türme hielten offenbar nur, weil sie sich gegenseitig stützten.
Lillina deutete auf einen dieser Stapel und lächelte: „Damit hätte ich dann wohl doch alle Vorurteile, die du über meinen Ordnungssinn hattest, zerstört, oder?“
Akaya stimmte erleichtert in das Lachen mit ein: „Falls es dich tröstet: Mein Schreibtisch sah auch immer so aus.“
„Verzeih mir mein Verhalten vorhin. Ich denke, wenn du das gelesen hast, verstehst du, was ich meine. Was ich als Idee hatte, ist etwas seltsam. Als wir uns vor einiger Zeit unterhielten, in einem unserer ersten Gespräche, ist mir eingefallen, dass vor sehr langer Zeit einmal ein Kind aus dieser Welt verschwunden ist. Es wurde durch seine Eltern mit einem Schutzzauber belegt, der dazu führte, dass...“
„Dass es in eine andere Welt versetzt wurde, statt zu sterben?“, fragte Akaya. Schlagartig war alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen.
Lillina nickte und blätterte in einem Papierstapel.
„Erwan und Arewan“, murmelte Akaya und setzte sich auf einen Bücherstapel.
Lillina nahm das mit einer kritisierend hochgezogenen Augenbraue zur Kenntnis, sagte aber nichts. Sie suchte weiter. Als sie die Seiten gefunden hatte, reichte sie diese Akaya mit der Aufforderung zu lesen.
Akaya überflog die Seite. Sie hatte inzwischen so viel Routine im Entziffern von Syncjareths Handschrift, dass es ihr keine Probleme bereitete. Hier stand es, mit schwarzen, gleichmäßigen Buchstaben geschrieben: ’Überlegungen zu den Nachfahren der Ella: Es steht zu vermuten, dass die Tochter von Arewan und seiner Frau, deren Name nicht überliefert ist, durch eine Potenzierung von magischem Wirken in eine andere Welt geschickt wurde. Entstanden ist diese Potenzierung durch einen Schutzzauber und einen Vernichtungszauber, die, nach meiner laienhaften Interpretation, gleichzeitig auf das Kind eingewirkt haben. Dies ist nicht weiter nachprüfbar, aber die Quellen deuten darauf hin. Unklar ist, ob das Kind diesen Weltenwechsel überlebt hat. Selbst war sie wohl keine Weltenwechselerin, denn sonst hätte es diesen Aufwand nicht gebraucht. Das Mädchen war damals etwas über zehn Jahre alt. Wenn die Welt, in der es gelandet ist, so ist wie unsere, dann wird es vermutlich binnen kurzer Zeit gestorben sein. Der Verquickung derartig vieler günstiger Umstände würde es bedürfen, um zu ermöglichen, dass das Kind überlebt hätte – man kann die Möglichkeit geradezu ausschließen. Ich sehe dies als Beleg für die Annahme, dass es keine Nachfahren der Ella gibt. Zumindest nicht auf dieser Welt. Ungeklärt bleibt die Herkunft von Erena. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass Erena mit den letzten Zauberern verwandt ist. Ist Erena vielleicht identisch mit Erwan? Aber die Quellen berichten von Zwillingen. Nachprüfen!’
Die Seiten, im Gegensatz zu den Blättern, die sie vorher von Syncjareth in den Händen gehabt hatte, waren offenbar nur Notizen und Gedankensammlungen. Und sie waren datiert. Akaya konnte mit dem Datum nichts anfangen, aber Lillina bestätigte, dass das Datum nur kurze Zeit vor dem Tod Syncjareths und Synyellas lag.
Akaya gab Lillina das Blatt zurück und sah sie nachdenklich an. „Was meinst du?“, fragte die junge Frau.
Lillina erwiderte den Blick. „Akaya, wenn ich nicht total falsch liege, haben wir deinen Vater gefunden.“
„Das sind aber mehrere hundert Jahre!“
Lillina nickte. „Du weißt ja, wie das mit den unterschiedlichen Zeiten beim Weltenwechsel ist.“
„Ich war zehn Jahre alt, so stellte man zumindest in der anderen Welt mein biologisches Alter fest. Ungefähr zehn Jahre“, überlegte Akaya vorsichtig.
„Die Tochter von Arewan war zwölf oder dreizehn, als die letzte Begegnung der Zauberer stattfand, so berichten zumindest die Schriften.
Syncjareth hat es an anderer Stelle notiert.“ Sie deutete auf einen der Stapel loser Blätter.
„Hei, dann bin ich ja älter als ich denke“, erwiderte Akaya ironisch.
„Ich freue mich, dass du nicht hysterisch wirst“, sagte Lillina.
„Liebste Lillina. Stell dir vor, du gehst durch einen Wald mit einem netten Typen, den du am Badesee getroffen hast, verlierst kurzzeitig das Gedächtnis, stellst beim Aufwachen fest, dass du in einer Welt bist, die du nicht kennst, spitze Ohren hast und dass du gerade ein paar Monster umgebracht hast, weil du nämlich Magie ausüben kannst.“ Akaya lachte hilflos. „Wenn dir dann jemand erzählt, dass dein Vater ein Zauberer war, der vor etlichen hundert Jahren durch seinen Zwillingsbruder getötet wurde, dann haut dich nicht mehr wirklich um, dass du zwei Jahre älter bist, als du gedacht hast.“ Sie schüttelte den Kopf und ließ ihn in die Hände sinken.
Lillina rollte zu ihr und legte ihr einen Arm um die Schultern.
Akaya sah zu ihr auf. „Lillina. Ich glaube nicht, dass Arewan mein Vater ist.“
„Aber...“
„Überleg mal. Ich war mindestens zehn Jahre alt. Der Name löst bei mir nichts aus. Wenn er mein Vater wäre, dann müsste sich doch eigentlich wenigstens eine Erinnerung regen, oder?“, fragte sie und konnte die Hoffnung, dass vielleicht doch alles anders war, nicht verbergen.
Lillina schüttelte den Kopf. „Bislang ist dein Gedächtnisverlust ja auch nicht durch Namen behoben worden.“
Akaya ließ den Kopf wieder in die Hände sinken und fuhr sich durch die Haare. „Oh bei allen Bäumen“, murmelte sie leise.
„Woher kommt eigentlich deine Tätowierung?“, fragte Lillina.
Akaya sah wieder auf, von dem Themenwechsel überrascht. „Wie kommst du denn darauf? Und woher weißt du, dass ich eine Tätowierung habe?“
„Ilorn hat mir davon erzählt. Damals, als du zu uns kamst, hat die Frau, die dich gewaschen, behandelt und geheilt hat, es ihm berichtet.“
Akaya schob das Hemd, das sie trug, so weit zur Seite, dass Lillina die schwarzen, rankenden Muster sehen konnte, die sich in einer zarten Linie fast von ihrem Nacken bis über ihre Schulter erstreckten.
Lillina ließ einen Finger darüber gleiten. „Fremd, aber schön“, sagte sie.
„Ich habe das Muster selbst entworfen und mir in Etharell vor ein paar Jahren tätowieren lassen. War da so eine Mode. Warum interessiert dich das?“
„Es gab bei den Ella eine Tradition, gleich einem Initiationsritus: ein Magier, der einen gewissen Stand an Kenntnis erreicht hatte, ließ sich als Symbol seiner Reife eine Tätowierung machen.“ Sie rollte zu einem anderen Stapel Bücher und nahm eines der oberen herunter. Sein Titel lautete ’Simbolick’ und war in einer sehr alt aussehenden Schrift geschrieben. Lillina reichte es Akaya, die es öffnete und darin blätterte.
Auf jeder Seite war ein Symbol mit der zugehörigen Erklärung und fremdartigen Namen verzeichnet.
„Kannst du die Texte lesen?“, fragte Lillina.
Akaya nickte bestätigend. „Freilich. Die Sprache ist nicht sehr verschieden von der, die wir sprechen.“
Lillina stimmte ihr zu, erklärte dann aber: „Trotzdem handelt es sich um eine alte Sprache, die nicht mehr gesprochen wird. Sie ist mehrere hundert Jahre alt. Niemand, der diese Sprache zum ersten Mal sieht, kann sie so einfach lesen, wie du es gerade getan hast.“
Akaya zog eine Grimasse.
„Schau nicht so, du weißt, was ich damit sagen will.“ Sie deutete auf die Zeichen. „Der Herkunftsort dieses Buches ist Insirion. Dieses Buch enthält viele der Muster, die sich berühmte Schüler der Ella haben machen lassen“, erläuterte sie. „Ein Indellyin, der lange auf der Insel lebte, hat das Buch nach seiner Rückkehr nach Yellalyn mitgebracht, daher ist es noch in unserem Besitz.“
Akaya blätterte sprachlos weiter. Etliche der Muster waren mehr als ähnlich zu dem, was ihre Schulter zierte. Nach einer Weile murmelte sie: „Das ist beängstigend“, und klappte das Buch zu.
Lillina nickte, beschwichtigte dann aber Akayas Befürchtungen: „Mach dir keine Sorge. Auch wenn die Symbole deinem sehr ähnlich sehen: Deins ist dort nicht verzeichnet. Wovon wir aber ausgehen können ist, dass da wohl eine Erinnerung von dir an die Oberfläche gespült worden ist. Du warst alt genug, dich an die Symbole zu erinnern. Ich finde es sehr interessant, dass du diesem Brauch auf deine Weise gefolgt bist.“
Akaya lachte hilflos. „Verdammt.“
Lillina hob entschuldigend die Schultern. „Entschuldige bitte, wenn ich dich noch mehr in Verwirrung gestürzt habe. Das war nicht meine Absicht.“
„Ist schon gut. Immerhin weiß ich nun, wer mein Vater sein könnte.
Das ist mehr, als ich in meinem bisherigen Leben gewusst habe.“ Sie korrigierte sich gleich: „Zumindest, was die letzten zwei Jahrzehnte angeht.“ Dann sprang sie mit einem plötzlichen Entsetzensschrei von dem Bücherstapel hoch, so dass dieser nach hinten umkippte.
Lillina sah sie aufmerksam an und schien von ihrer Reaktion keineswegs überrascht zu sein. „Ist es dir also auch aufgefallen“, bemerkte sie nüchtern.
„Nein. Lillina! Bitte sag, dass das nicht wahr ist“, rief sie.
Die Indellyin nickte aber nur. „Doch, Akaya. Wenn das so ist, dass Arewan dein Vater ist, dann bist du vermutlich mit Erena verwandt.“
„Kann es nicht sein, dass Erena doch nicht Erwan ist? Ich meine, wir hatten ja nur diesen Verdacht! Bislang hat sich das nicht bestätigt.
Vielleicht...“ Akaya sammelte fahrig die Bücher wieder zusammen und stapelte sie.
„Akaya. Ich habe mehrere Abende bis spät in die Nacht gelesen. Erena und Erwan sind ein und dieselbe Person, die Wahrscheinlichkeit dafür ist sehr groß. Syncjareth hat gute Arbeit geleistet. Er hat offenbar fast alle Quellen durchforstet auf der Suche nach Erenas Geschichte. Er hat herausgefunden, dass einige Dinge in den Quellen, die wir hier haben, unklar und zweideutig formuliert sind. Durch Übertragungen in den letzten hundert Jahren haben sich vielleicht auch Fehler eingeschlichen.
Syncjareth hat notiert, dass es im Zwergenreich noch ältere Aufzeichnungen gäbe, aber er hat es in seinem kurzen Leben nicht geschafft, dorthin zu reisen.“ Traurig schüttelte Lillina den Kopf. „Was er wohl noch alles herausgefunden hätte. Er hat einfach nicht lange genug gelebt.
Ein wahrer Freund der Bücher.“ Sie seufzte. „Was ihm bei seiner Arbeit aufgefallen war, ist beispielsweise Folgendes: es stand nirgendwo, dass es sich bei Erwan und Arewan um Zwillingsbrüder handelt! Es kann sich durchaus auch um ein Zwillingspaar gehandelt haben – Arewan der Mann und Erwan die Frau. Oder eben Erena. Sie zog aus und kam nie wieder nach Eldaran zurück. Sie ging nach Nara und lebte anschließend lange Jahre als Erwan am Hof der Könige von Girtion.
Syncjareth begründet diese Annahme damit, dass nur ein Mann es auf diese Position schaffen konnte. Menschen sind so. Aber Syncjareth war so akkurat in seiner Arbeit, dass er darauf hinweist, dass das eine seiner eigenen Vermutungen ist, also nicht aus einer anderen Quelle stammt. Irgendwann war die Zeit für Erwan vielleicht abgelaufen. Sie oder er ging zurück nach Nara. Syncjareth hat nichts herausgefunden, was diese Reise begründen würde. Aber als sie wieder auf das Festland zurückkehrte, blieb sie in ihrer Frauengestalt.“
Akaya stand mit gesenktem Kopf da und hielt noch immer ein Buch in der Hand. Sie schüttelte den Kopf. Der Blick, mit dem sie Lillina schließlich ansah, zeigte tiefe Verzweiflung und Ratlosigkeit. Akaya wandte sich um und legte das Buch sorgsam auf den Stapel.
„Deswegen war ich vorhin so aufgebracht, als ich sah, dass du auf eigene Faust Zauberkunst lernst“, sagte Lillina hinter ihr.
Akaya wandte sich wieder um. „Aber Lillina, es ist viel schlimmer, wenn ich das nicht lerne. Meine...“, sie schluckte. „Meine Tante?“, sagte sie mit abfälliger Stimme und testete den Klang des Wortes. „Meine Tante hat deinen Neffen in ihrer Gewalt.“ Sie lachte laut auf. „Meine Güte, wie das klingt! Wie in einem Kitschroman.“ Sie legte das letzte Buch auf den Stapel, setzte sich wieder darauf und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. „Das ist viel zu schlecht, um wahr zu sein“, murmelte sie. „Erst habe ich gar keine Verwandte, dann habe ich auf einmal zu viele.“ Sie sah wieder auf. Lillina saß mit unbewegter Miene vor ihr und beobachtete sie. „Lillina, was um alles in der Welt soll ich machen?“
„Ich habe ehrlich gesagt überhaupt keine Ahnung“, sagte die Bibliothekarin resigniert. Sie sah sich im Arbeitszimmer um. „Wenn du willst, kannst du hier bleiben und noch weiter lesen.“
Akaya schüttelte den Kopf. „Oh nein. Wenn ich heute noch mehr herausfinde, bringe ich mich um.“ Als sie Lillinas entsetzten Blick sah, lächelte sie. „Keine Sorge. Ich komme schon damit klar. Aber ich glaube, es sind genug Erkenntnisse für heute. Mir brummt der Schädel und mir ist speiübel. Ich glaube, ich brauche eine Pause.“ Sie stand auf. „Eins würde mich aber trotzdem noch brennend interessieren. Falls du dich damit auskennst.“
„Und das wäre?“
„Mein Vater war vermutlich der Gute in dieser Geschichte, seine Schwester ist abgrundtief böse und schlecht. Was bin ich?“, fragte sie.
„Beides, vermutlich.“ Lillina seufzte, als Akaya leise stöhnte. „Ich weiß nicht, ob die beiden tatsächlich so stark polarisiert sind. Akaya, ich habe dich ein bisschen kennen lernen dürfen. Ich glaube fest, dass du keine zweite Erena wirst. Aber du solltest wirklich gut überlegen, was du an Zauberei lernst. Vergiss nicht, dass Erena von Eldaran stammt und dort ausgebildet worden ist. Du wirst nie an ihre Kenntnisse herankommen.
Vielleicht ist es das Beste, wenn du so bleibst, wie du bist“, kam der halbherzige Vorschlag. Akaya schüttelte nur stumm den Kopf. „Willst du noch hier bleiben oder kommst du mit?“, wechselte Lillina das Thema.
„Nein, ich komme mit. Ich werde einen Spaziergang machen, glaube ich.
Außerdem finde ich hier ohne dich nicht mehr raus“, ergänzte Akaya lächelnd und drehte sich fragend um die eigene Achse.
„Ich sorge dafür, dass diese Aufzeichnungen ab morgen wieder in Syncjareths Bibliothek stehen. Dann kannst du darin lesen, so viel du willst. Ich kann verstehen, wenn du mit Sörelan und Rythall über die Geschichte reden willst, aber ich denke, du solltest die Sache für dich behalten.“
„Keine Sorge. Wer sollte diese Geschichte schon glauben“, sagte Akaya leise.
„Sieh die positive Seite davon“, schlug Lillina vor, während sie die Tür hinter sich schloss.
„Und die wäre?“, fragte Akaya.
„Jetzt wissen wir immerhin, warum Erena dich sucht“, stellte Lillina fest.
„Um mich umzubringen?“, wunderte sich Akaya. „Nein, das hätte sie einfacher haben können.“
Nachdenklich sah Lillina sie an. „Eigentlich hast du Recht. Wir wissen immer noch nicht, warum sie dich sucht“, gab sie zu.
„Ist vielleicht auch gut so“, murmelte Akaya.
Mehrere Tage hatte Thynlar seine Ruhe im Turmzimmer. Er langweilte sich erbärmlich. Der Diener hatte ihm einige Bücher zu seiner Unterhaltung gebracht – ein Band mit „Erzählungen über Elfen und Feen“, wie es auf dem Titel vielversprechend hieß, und Abhandlungen über Heilpflanzen. Erstere war lustig zu lesen, mit einem Zug ins Lächerliche. Zweitere glaubte der Indellyin bereits auswendig zu kennen und das Buch verstärkten seine Sehnsucht, sich frei bewegen zu können. Aus lauter Langeweile begann er ein eigentümliches Training: Liegestütze am Bett, Handstand – er versuchte sogar, die steinernen Wände des Turmzimmers empor zu klettern. Da diese aus Steinquadern gefügt waren, schaffte er nach einiger Zeit ein ganzes Stück. Leider konnte er nur die Wand unmittelbar neben dem Bett erreichen, an der