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Verfolgt von den Hexenjägern flieht Akaya aus dem Menschendorf und kommt in den Salyillin, den heiligen Wald. Dort gelingt es ihr mit Hilfe der Waldgeister ihre Fähigkeiten im Aufspüren von Dingen und Lebewesen weiter zu trainieren. Als es die böse Zauberin Erena jedoch schafft, sie mittels eines Köders aus dem Wald herauszulocken, geht ihre Flucht weiter. Sie versucht bei dem väterlichen Freund und Lehrer von Thynlar Hilfe zu bekommen - und bekommt sie auch, aber ganz anders, als sie sich das vorgestellt hat. Ihre Flucht endet schließlich bei dem Elfenvolk Indellyin. Wo aber ist Thynlar? Und warum verhalten sich die Indellyin so seltsam? Dieses Buch ist Band 2 der AnWel Trilogie, bei der es um gute und böse Zauberer geht, um Elfen und Zwerge, Druiden und Heiler, Waldgeister und Monster. Es geht um Liebe und Angst, um politische Entscheidungen und um eine wandernde Insel. Und schließlich geht es um die Rettung der Magie in AnWel.
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Seitenzahl: 472
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Für meine Familie! Für meine Eltern, die mir ganz früh schon viele magische Geschichten erzählt haben, für Noa und Jona, die zauberhafte Elfenkinder sind.
Für Erika, die wortgewandte, die alles hinterfragt und geprüft hat.
Ach ja: und für Dieter, mit dem dieses Geschichte vor viele Jahren ihren Anfang nahm, an einem regnerischen Tag in einem Studentenwohnheim in Hildesheim. Ob er sie wohl dieses Mal lesen wird? :-)
Karte von AnwelGrenzziehung vor der Besetzung von Valnoch
VORWORT
PROLOG
VERRAT UND FLUCHT
SALYILLIN UND THYNLAR
VERLIEREN UND FINDEN
HEILEN UND SUCHEN
A LLES begann an einem regnerischen Tag in einem Studentenwohnheim in Hildesheim. Wir langweilten uns sichtlich und lauschten dem leisen Klopfen des Regens an die Scheiben. „Mir ist langweilig“, sagte mein Freund. „Komm, erzähl mir eine Geschichte. Du hast es neulich im Wald versprochen!“
Ich dachte nach und erinnerte mich.
In der Nähe lag unser berüchtigter Badesee, die Tonkuhle, an dem wir einige Zeit vorher gerade einen wunderbaren Rollenspielnachmittag mit unserer damaligen ’Gang’ verbracht hatten. Seltsame Dinge trugen sich damals zu. Durch die eigenartige Anwesenheit einer Person, die offenbar und für wenige auch augenscheinlich dem Geschlecht der Elfen angehörte, geschah es, dass sich die Gruppe nach dem versehentlichen Durchqueren eines Kastanienportals in einem Wald wiederfand, den sie noch nie vorher gesehen hatten. Und wäre nicht besagte Elfe gewesen, dann hätten sie sich vermutlich fürchterlich und unrettbar verlaufen. Eben jenes Kastanienportal in der Nähe der Tonkuhle wurde zum Eingangstor einer Geschichte, die zwar mit einem Weltenwechsel beginnt, aber nicht mit einem solchen endet. Vermutlich nicht. Aber wer weiß schon, was in den parallelen Welten so alles geschieht, während man eifrig andere Pläne macht?
Ach ja, die besagte Elfe war damals der Meinung, unbedingt Informatik studieren zu müssen. Was soll ich sagen, sie schaffte es sogar, ihre Herkunft so lange zu verdrängen, dass sie bis zur Professorin aufstieg. Dann allerdings verschafften sich ihre elfenhaften Eigenschaften mit Gewalt Raum und ließen ihr keinen Ausweg mehr. Sie musste diesen Roman schreiben – ebenso wie den den folgenden und den folgenden und so weiter. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann schreibt sie noch immer um ihr Leben. Und wenn sie gestorben ist? Nun, dann schreibt sie vermutlich einfach im nächsten Leben weiter. In AnWel oder in Etharell? Als Elfe oder als Mensch? Wer weiß das schon so genau?
Obacht, das zweite Kastanienportal befindet sich übrigens in Itzum. Wer weiß, wohin es führt? :-)
Was bisher geschah: Thynlar, ein Elf aus dem Geschlecht der Indellyin, und Sörelan, ein Weltenwechsler, wurden ausgeschickt, um Kay, eine junge Frau, aus Etharell zurück nach AnWel zu holen. Seltsamer Weise wechselt Kay alleine nach AnWel und das Chaos beginnt. Thynlar, der Kay begleiten soll, verliert sie in einem Kampf mit Yandrogs und Drogays. Er selbst wird auf das Schloss einer sagenumwobenen Zauberin entführt, die allerdings nur ein Ziel zu haben scheint: den jungen Elfenmann zu verführen. Kay, die leider bei dem Weltenwechsel ihr Gedächtnis verloren hat, landet derweil in einem Menschendorf. Dort wird sie mit unterschiedlichen Gefühlen empfangen - Rowal der alte Druide erweist sich als ihr Freund und als Thorill auftaucht, scheint endlich alles gut zu werden. Doch Rowal vermag weiter zu sehen und erkennt, dass das Ende der Zeit der Druiden naht. Im Land der Menschen herrscht Krieg, Magie ist verboten und die Häscher des Königs machen Jagd auf die letzten Lebenden des Druidenordens. An Elfen glaubt niemand mehr - denn es gibt sie ja nicht. Oder vielleicht doch? Kay, deren wahrer Name Akaya ist, muss erkennen, dass sie offenbar selbst einem Elfengeschlecht entstammt. Immer wieder, vor allem bei Vollmond, wird sie von seltsamen Träumen heimgesucht - deren Botschaft sie nicht zu entschlüsseln vermag. Nach dem Tod von Rowal und Thorill, als die vermeintlich heilte Welt im Dorf zusammenbricht, flieht sie verwirrt in den Wald.
H ELLES Lachen gleich dem Klingeln von Glöckchen war das Erste, was Akaya hörte, als sie erwachte. Neugierig öffnete sie die Augen ein kleines bisschen. Sie nahm ein Lichtwesen wahr, einem Sonnenstrahl ähnlich, das auf ihrem Knie hockte und mit einem alten Herbstblatt spielte. Sie blinzelte geblendet, öffnete die Augen ganz und beobachtete es fasziniert. Seine Bewegungen waren flink und wurden von zartem Blitzen begleitet. Es warf das Blatt in die Luft, beobachtete, wie es im Luftzug taumelte, fing es sacht wieder auf und betrachtete es eingehend von allen Seiten. Das kleine Lichtwesen hatte fast kein Gewicht, obwohl es etwa die Größe eines dreijährigen Kindes hatte. Seine Augen waren pechschwarz und hoben sich merkwürdig von seiner hellen Gestalt ab. Das Blatt ging in Flammen auf und Asche krümelte auf sie herab. Das Wesen kicherte und sprang von Akayas Knie. Wo es gesessen hatte, blieb ein kleiner Brandfleck auf ihrer Hose. Das Lichtwesen tat so, als wolle es den Fleck fortwischen, zuckte dann entschuldigend mit seinen zarten Schultern und lächelte sie an. Dann wandte es sich um und verschwand gleich einem Blitz. Wäre nicht der verkohlte Fleck auf ihrer Hose gewesen, so hätte Akaya geschworen, dass sie eine Halluzination gehabt hatte. Sie schloss die Augen wieder und gab der unendlichen Müdigkeit nach, die ihre Gedanken zu lähmen schien, doch die Ruhe, die sie sich erhofft hatte, trat nicht ein.
„Siehst du, diesmal hat es doch Recht gehabt“, sagte eine dunkle erdige Stimme.
Akaya weigerte sich, die Augen wieder zu öffnen. Sie wartete ab. Jemand trat an sie heran und beugte sich nieder, um ihr ins Gesicht zu schauen. Jemand pustete sie sanft an. Sie roch Atem, der dem Geruch von nassem Laub und feuchtem Moos glich. Nicht unangenehm, aber fremdartig.
„Ja, schon gut. Aber du musst zugeben, dass es so oft Geschichten erfindet, dass es schwer ist, ihm zu glauben!“ Die weiche Frauenstimme kam näher. „Immerhin hat es inzwischen gelernt, seine Kraft zu beherrschen“, ergänzte sie und Akaya spürte, wie etwas sie am Knie berührte.
„Ich habe dir gesagt, dass es reifer geworden ist.“ Das Wesen, das ihr ins Gesicht gepustet hatte, stand auf. Es raschelte leise, als würde ein sehr kleines Tier über Laub huschen.
„Schon, aber es ist doch noch so jung!“
Akaya hielt es nicht mehr aus. Sie öffnete die Augen. Die Luft flirrte einen Moment und sie blinzelte wieder. Vor ihr standen ein Mann und eine Frau, gleichsam Miniaturausgaben von Menschen, die zu lange im Wald gelebt hatten. Sie hatten beide braune Haare, die im Sonnenlicht grün schimmerten und kleine schwarze Augen, die Tieraugen ähnlicher waren als Menschenaugen. Nur bei sehr genauem Hinsehen war eine Pupille zu erkennen, kein Weiß säumte die Iris. Ihre Haut war von dem gleichen Braun wie das Laub, das im Herbst von den Bäumen fällt und ihre Nasen waren auffallend groß. Beide trugen Hose und Wams aus einer nicht eindeutig definierbaren Farbe, die aus einer Unmenge Braun- und Grüntönen gemischt waren und sich permanent änderten, so wie das Licht im Wald an einem wolkendurchzogenen Tag. Beide waren ungefähr einen Meter groß.
„Hallo“, sagte Akaya und richtete sich mühsam auf. Ihre Muskeln schmerzten und sie meinte, jeden Knochen im Körper spüren zu können.
„Hallo? Was heißt hier ’Hallo’?“ Der kleine Mann stützte beide Arme in die Seite und zog seine buschigen Augenbrauen zusammen. Er sah nicht besonders freundlich aus. „So bin ich noch nie von einer Elfe begrüßt worden, seit ich denken kann!“ Er stampfte mit einem Fuß auf und blickte erwartungsvoll zu seiner Frau, von der er ebenfalls Empörung erwartete. Diese musterte Akaya eingehend und zuckte dann mit den Schultern. Akaya hatte den Ausbruch schweigend hingenommen. Ihr Gesicht verriet nichts als Müdigkeit und Resignation.
Die Frau betrachtete sie voller Mitgefühl. „Lieber, ich glaube nicht, dass es sich lohnt, wenn du dich aufregst. Das arme Mädchen ist vollkommen durcheinander und ich denke, dass sie ihre Höflichkeit wiederfinden wird, wenn sie sich etwas erholt hat.“
„Aber ’Hallo’? Was soll das schon heißen? ’Hallo, mir geht es gut’ oder
’Hallo haut bloß ab’ oder was? Kann ja wohl nicht wahr sein... ’Hallo’...“ Kopfschüttelnd wandte er sich um und ließ seine Frau und Akaya allein. Leise fluchte und schimpfte er dabei vor sich hin.
„Entschuldigung, ich wollte niemanden beleidigen“, sagte Akaya leise.
„Schon gut. Er ist etwas pingelig, wenn es um Form geht.“ Erwartungsvoll zog die Frau beide Augenbrauen in die Höhe und sah Akaya an.
Diese seufzte innerlich, stand umständlich auf, machte eine Verbeugung und sagte: „Seid gegrüßt, mein Name ist Akaya. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich scheine mich verlaufen zu haben.“
Die Waldfrau spitzte die Lippen und legte die Stirn in Falten: „Schon nicht ganz schlecht für den Anfang, aber man fragt sich, wo du wohl herkommen magst. Bist du lange unter Zwergen gewesen? Fehlt nur noch, dass du ’stets zu Diensten’ sagst. Nun denn, ich glaube, du brauchst Hilfe!“ Sie machte eine elegante Geste mit der linken Hand, wobei sie erst ihre linke Schulter, dann ihre Stirn und ihre rechte Schulter leicht berührte, dann eine Verbeugung andeutete und lächelnd sagte: „Seid gegrüßt Reisende. Ihr könnt mich Treidel nennen, mein Gatte nennt sich Hobard. Möge Friede auf eurem Weg sein. Seid willkommen im Salyillin, in unserem Wald. Ich...“
„Der Salyillin, sagtet ihr?“, platzte Akaya unhöflich hervor. Sie konnte ihre Überraschung nicht verbergen.
Treidel sah sie verwundert an. „Ja, was glaubt ihr denn, wo ihr hier seid?“
„Ich hatte wirklich keine Ahnung“, seufzte Akaya.
„Und wo wolltet ihr hin?“, erkundigte sich Treidel interessiert.
„Ich wollte“, Akaya unterbrach sich und kratze sich am Kopf. „Ich wollte in den Salyillin“, murmelte sie und schluckte, weil sie an Rowal dachte. ’Du wirst zunächst in den Salyillin gehen’, hatte er ihr gesagt. Kurz bevor er starb.
Treidel zupfte sie am Ärmel: „Hei, beruhig dich! Es ist alles gut, du bist im Salyillin angekommen! Es ist alles in Ordnung.“
Akaya wischte sich hastig die Augen und versuchte ein freundliches Lächeln, was ihr einigermaßen gelang.
Die Waldfrau setzte die Begrüßungsformel, bei der sie unterbrochen worden war, fort: „Willst du mit mir kommen? Mein Wald ist auch dein Wald und ich wäre entzückt, dir etwas zu Essen anbieten zu dürfen.“ Dass sie jetzt auf die ehrfürchtige Anrede verzichtete, war ein Zeichen der Sympathie, die sie spontan für die junge Elfe empfand. Auch wenn sie fest davon ausging, dass diese Nuance Akaya vollkommen entgangen war.
Akaya ihrerseits musste erkennen, dass es sich eigentlich nicht um eine Frage gehandelt hatte, denn die kleine Frau ergriff ihre Hand und zog sie, keinen Widerspruch duldend, mit sich. Glücklicher Weise ließ die kleine Waldfrau ihre Hand nach ein paar Schritten los, denn Akaya stolperte mehr, als dass sie lief. Treidel huschte so geschwind durch den Wald davon, dass Akaya Schwierigkeiten hatte, ihr zu folgen. Während die kleine Frau überhaupt kein Problem damit hatte, sich ihren Weg durch das dichte Unterholz zu bahnen, und es ihr auf beinah magische Weise gelang, niedrig hängenden Ästen und Gestrüpp auszuweichen, verfing sich Akaya immer wieder in allen möglichen Dingen, angefangen von Brombeeren über Efeu, das plötzlich vor ihr auftauchte, bis hin zu einigen Schlingpflanzen, die von einem abgestorbenen Baum herab unschuldig in der Abendsonne hingen. Sehr unfein verhedderte Akaya sich in ein paar langen Ranken, fluchte ein wenig vor sich hin und versuchte dabei, Treidel möglichst nicht aus den Augen zu verlieren. Das erwies sich als gar nicht so einfach, da die Waldfrau sich der Umgebung des Waldes augenblicklich anzupassen schien. Wenn Treidel einige Schritte vorausgeeilt war und nicht gleich mitbekommen hatte, dass Akaya wieder irgendwo hängen geblieben war, konnte Akaya sie nicht mehr sehen. Anfangs war Akaya darüber verzweifelt, doch Treidel kehrte jedes Mal nach kurzer Zeit wieder zurück und half ihr.
„Du scheinst dich tatsächlich nicht so recht im Wald auszukennen. Du rennst gegen den Wald an, statt hindurch“, murmelte Treidel verwundert, als sie Akaya dabei half, sich aus einer Schlingpflanze zu befreien, deren eigentlicher Job gewesen war, einen Baum innig zu umschlingen und die irritiert darüber war, sich plötzlich in Umwindung einer Elfe zu finden. Das verwirrte Gemurmel blieb noch einige Zeit im Raunen der Bäume vernehmbar.
Hinter Akayas Stirn ertönte zunehmend mehr belustigtes Gelächter, das zuweilen ein bisschen höhnisch klang. Sie ärgerte sich stumm. Auch Treidel beließ es bei dem einen Kommentar und eilte wieder davon, blieb aber alle paar Schritte stehen, um zu sehen, ob die Elfe noch hinter ihr war. Mit einem resignierten Seufzer folgte Akaya ihr. Nach einer Weile erreichten sie endlich eine Behausung, die halb hinter einem großen Baum und sehr viel Gestrüpp verborgen lag. Die Wohnstatt selbst lag versteckt in einer natürlich gewachsenen Höhle am Rand einer steil aufragenden Klippe mitten im Wald. Akaya wäre vermutlich einfach vorbei gelaufen, ohne auch nur eine Ahnung von der Höhle zu haben, die sich hier verbarg. Treidel führte sie durch einen Eingang – und Akaya staunte. In der Höhle war es dämmrig, doch eigentlich hatte Akaya erwartet, es stockdunkel vorzufinden, da keine Fenster zu sehen waren und auch kein Feuer entzündet zu sein schien. An der rückseitigen Wand, die aus nacktem Felsen bestand und offenbar das hintere Ende der Höhle darstellte, entsprang eine kleine Quelle, die in einem schmalen Rinnsal gleich wieder hinter einer Seitenwand verschwand. Von dieser Quelle schien das schwache Leuchten auszugehen. An den Wänden erkannte Akaya lange Regalreihen, über und über angefüllt mit verschiedensten Fläschchen aus feinem Glas, mit Dosen aus Holz und Metall, mit Schachteln und mit Stapeln von losen Blättern. Sie ging staunend an den Regalen entlang, sah aber weder eine Aufschrift noch irgendeine andere Art von Bezeichnung, anhand derer sie hätte herausfinden können, was in den Gefäßen war. Sie sah sich weiter um. In dem vorderen Teil der Höhle befand sich ein Tisch, auf dem allerlei Gerümpel lag, und eine Feuerstelle, die mit einem steinernen Kamin ausgestattet war. Auf der gleichen Seite erkannte sie einen schweren Vorhang, der aus Schlingpflanzen und Efeu gewebt zu sein schien. Sie vermutete dahinter die Schlafplätze. Ganz in ihre Betrachtungen versunken hatte sie nicht bemerkt, dass Treidel die Höhle wieder verlassen hatte. Erst als sie sich nun umblickte, bemerkte sie, dass sie allein war. Sie hörte Wortfetzen von der Tür her.
„...findet sich nicht im Wald zurecht und bewegt sich fast wie ein Mensch! Stell dir vor, sie rennt in die Ranken! Einfach mitten hinein! Der halbe Wald hat sie ausgelacht, aber sie hat einfach weitergemacht: über Wurzeln stolpern, an Äste stoßen, in Dornen hängen bleiben. Glücklicherweise wurde kein Baum verletzt. Ich habe noch nie eine Elfe gesehen, die so uneins mit der Natur ist! Nicht, dass sie keinen Respekt hat, daran scheint es ihr nicht zu mangeln. Aber irgendwie ist das komisch. Sie ist eindeutig nicht menschlich. Aber es ist, als könnte sie ihren Körper nicht fühlen. Als hätte sie keinen Zugriff auf ihre wahre Essenz. Ich kann die Magie bei ihr spüren, wie bei jeder Elfe. Aber irgendwie gedämpft. Als würde sie etwas blockieren.
Die Bäume berichteten Seltsames. Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Ich fürchte, es wird ein langer Weg, ihre wahren Anlagen aus ihr herauszulocken“, schloss Treidel ihren Wortschwall.
„Ich weiß nicht. Was ist mit den Indellyin? Wollen wir sie nicht informieren, dass eine der ihren bei uns ist? Vielleicht wird sie vermisst?“, fragte Hobard.
„Aber du weißt doch, was die Bäume gesagt haben. Sie kommt nicht von dort. Die Indellyin hätten längst bei uns angefragt, wenn sie jemanden vermissen würden“, warf Treidel ein.
„Meinst du, sie ist überhaupt vom Volke der Indellyin?“, grübelte Hobard.
Treidel dachte einen Moment nach. Dann sagte sie: „Ich weiß es nicht.“ Nach einer Weile ergänzte sie: „Da sie davon ausgeht, belassen wir es vorerst dabei.“
„Wenn sie keine Indellyin ist, dann kann sie nur von jenseits der Berge kommen!“, rief Hobard aufgeregt.
„Nicht so laut!“, ermahnte Treidel ihn. „Es spielt im Moment keine Rolle“, ergänzte sie leise.
„Ich wäre dafür, sie wieder fortzuschicken, nachdem sie sich ein wenig erholt hat“, brummelte Hobard.
„Nein, nein, so denke ich gar nicht! Horch doch mal in dich hinein.
Ich glaube nicht, dass du das überhören kannst. Ich denke in ihr steckt viel mehr, als sie weiß. Ich würde sogar sagen, ich bin mir dessen sehr sicher!“
„Ja“, murmelte Hobard, „ich habe es auch gespürt. Sie selbst ist arglos, wie ein Kind. Was aber, wenn sie etwas...“, er zögerte, „etwas gefährliches mit sich bringt? Oder anlockt?“, seine Stimme war kaum mehr ein Flüstern
„Das würden wir merken“, wandte Treidel ein. „Die Bäume hätten uns gewarnt.“
Die Stimmen kamen näher und Akaya trat ein paar Schritte von der Tür zurück – und zuckte zusammen, als etwas Warmes sie von hinten berührte.
„Das ist aber gar nicht fein, zu lauschen“, hörte sie ein zartes Stimmchen, das stark an das Klingeln von Glöckchen gepaart mit dem Knistern von Flammen erinnerte.
Akaya drehte sich um und blickte genau in die kohlrabenschwarzen Augen des kleinen Flammenwesens, das hinter ihr auf einem Regalbord saß und mit den Beinen baumelte.
„Ich...“, begann Akaya sich zu verteidigen.
„...wollte gar nicht lauschen“, beendete das Wesen Akayas Satz mit exakt der gleichen Stimme und Tonlage.
Verwirrt öffnete sie ihren Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn erneut und setzte zu sprechen an, als Treidel und Hobard den Raum betraten.
„Es hat...“, versuchte Akaya es noch mal in Richtung der Eintretenden und deutete mit dem Daumen auf das Wesen.
„...mit meiner Stimme gesprochen“, wurde auch dieser Satz vom Regal her beendet, noch bevor sie weiter reden konnte. Das kleine Wesen kicherte.
„Flicker, ich möchte nicht, dass du Akaya ärgerst“, sagte Treidel und drohte mit erhobenem Zeigefinger.
„Habt ihr euch noch nicht bekannt gemacht?“, fragte Hobard, woraufhin Akaya nur stumm den Kopf schüttelte.
„Wie unhöflich von dir!“, rügte Treidel das kleine Wesen.
Es stellte sich in dem Regal aufrecht hin, wobei ein bisschen schrumpfte, um nicht gegen das obere Regalbrett zu stoßen, deutete eine Verbeugung an und vollzog die gleiche Geste mit den Händen, die Akaya schon bei der kleinen Frau gesehen hatte. „Ich werde Flicker genannt, doch ich habe keinen Namen. Willkommen in unserer Behausung. Möge Frieden dich umhüllen wie eine schützende Flamme.“ Der schwarze Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln, fast schon ein zahnloses Grinsen, und das leise Knistern heller Flammen ertönte kurz etwas lauter. War das ein Lachen?
Treidel drohte noch mal mit dem Finger in Richtung Regal. Dann sagte sie: „Flicker, dies ist Akaya, sie hat sich im Wald... äh, sagen wir verlaufen, und wird einige Zeit bei uns wohnen.“
„Eine Elfe, die...“, platzte Flicker heraus, verstummte doch auf einen Blick von Hobard hin.
„...sich im Wald verläuft?“, setzte Akaya den Satz fort und versuchte dabei die Stimme des Flammenwesens zu imitieren.
Flicker grinste sie an: „Ich glaube, ich werde dich mögen!“ Dann flackerte es kurz auf und verschwand mit den Worten: „Bin bald zurück.“
„Mach keinen Unsinn!“, rief Treidel in die Leere hinterher.
Hobard rügte sie: „Kannst du es dir nicht langsam mal abgewöhnen, ich denke, es ist alt genug.“
„Ach“, Treidel stieß einen Seufzer aus, „ich fühle mich immer verantwortlich dafür, wenn es Unfug macht. Weißt du, Akaya, als es erst kurz bei uns war, setzte es immer alle möglichen Dinge in Brand, es hatte sich einfach selbst nicht im Griff. Zum Glück war es klein genug, um nicht völlig außer Kontrolle zu geraten. Ich hoffe, dass unsere Erziehung dazu geführt hat, sein Benehmen zu verbessern. Sonst stehen wir eines Tages alle in Flammen“, erklärte sie, nachsichtig lächelnd.
„Aber was ist es?“, erlaubte Akaya sich zu fragen, obwohl sie das Gefühl hatte, eine dumme Frage zu stellen.
„Ein Flammendämon natürlich“, sagte Treidel und verbarg nur schlecht ihre Verwunderung. Dann ergänzte sie ihre Erklärung. „Hobard hat ihn vor einiger Zeit beschworen. Flammendämonen sind ziemlich mächtig.
Ich meine, sie können es werden...“
Hobard räusperte sich vernehmlich.
Treidel warf ihm einen Blick zu und unterbrach sich. „Erzähl du bitte weiter, Lieber“, sagte sie und lächelte wissend.
„Nun ja“, brummelte Hobard. „Ich habe mal eine Weile mit Flammengeistern experimentiert. Dabei habe ich ein Mal – aber nur ein einziges Mal! – versehentlich einen Dämon geschaffen statt einen Geist zu beschwören. Ich hatte Glück im Unglück, denn es war ein guter Dämon und ich habe es geschafft, als er sich entwickelte, ihn gewissermaßen im Babyalter – falls man bei Dämonen von so etwas reden kann – materialisieren zu lassen.“ Mit hochgezogener Augenbraue nahm er Akayas skeptisches Gesicht zur Kenntnis: „So konnten wir ihn erziehen!“, ergänzte er hastig und Akaya hatte den Eindruck, dass der kleine Waldmann ein schlechtes Gewissen hatte.
Treidel unterbrach ihn ungeduldig um die Geschichte abzukürzen:
„Jedenfalls ist er bei uns aufgewachsen und wird so lange bei uns bleiben, wie es ihm gefällt. Er hat viel Liebe erfahren und wird daher hier nie Schaden anrichten, wenn man ihn nicht reizt. Vielleicht kehrt er dann eines Tages zurück in die Welt der Dämonen.“ Sie seufzte theatralisch.
„Jedenfalls werde ich uns erst einmal etwas zum Essen bereiten und dann wirst du schlafen!“, ordnete sie an.
Akaya, die bei diesen Worten die bleierne Müdigkeit förmlich ihre Knochen hinauf kriechen fühlte, nickte schläfrig und quälte sich ein: „Oh, gerne, danke!“, heraus, was bei Treidel ein erfreutes Lächeln hervorrief.
Nach einem fremdartigen aber ausgiebigen und ausgesprochen guten Mahl führte Treidel Akaya in den abgetrennten Raum, in dem sich ein Bett und eine Waschschüssel befanden. Treidel erklärte, dass sich ihr eigenes Schlafgemach in einem anderen Zimmer befinden würde, dass Hobard und sie aber selten zu schlafen pflegten. Akaya war zu müde, um noch länger darüber nachzudenken, wo in dieser eigenartig geschnittenen Höhle noch weitere Zimmer sein mochten. Kaum dass sie sich entkleidet und den gröbsten Schmutz von ihrem Körper entfernt hatte, legte sie sich in das angenehm weiche Bett und fiel in tiefen Schlaf.
Akaya erwachte in der Dunkelheit. Es roch nach Lavendel, mit einer zarten Note von Zedernholz und erloschenem Holzfeuer. Sie öffnete die Augen, schloss sie wieder und öffnete sie erneut. Es war so dunkel, dass sie nicht wusste, ob sie überhaupt noch sehen konnte. Ihre Hand tastete nach der Unterlage und der Decke. Zartes Material, das leicht raschelte. Als wäre es aus Pflanzen gemacht. Der Geruch von getrocknetem Laub mischte sich in die anderen Gerüche. Es war, als würde ihr Geruchssinn doppelt so gut arbeiten wie bisher - vielleicht weil sie nicht sehen konnte. Doch wo war sie? Einen Moment lang war sie orientierungslos. Fast erwartete sie, den Indellyin und die Zauberin zu sehen, als würde sie wieder träumen. Vorsichtig drehte sie sich auf eine Seite und spähte angestrengt in die Dunkelheit. Da war ein zarter Lichtschimmer. Immerhin war sie nicht blind. Sie brauchte einige weitere Augenblicke, um sich zu orientieren und um sich daran zu erinnern, wo sie sich eigentlich befand. Nach und nach fielen ihr die Einzelheiten wieder ein und sie fragte sich, wie lange sie geschlafen haben mochte. Sie versuchte sich aufzurichten und ein Stöhnen entfuhr ihr. Alles tat ihr weh, so als hätte sie einen Zusammenstoß mit etwas großem Schweren gehabt. Sie fiel auf das Bett zurück, blieb einen Moment ruhig liegen und beobachtete, wie ihre Muskeln sich wieder entspannten. Es beruhigte sie, ihren Körper auf diese Weise zu spüren, denn nun war sie sehr sicher, wach zu sein. Mit dem Fuß konnte sie einen Vorhang erreichen und als es ihr gelang, den ein Stückchen zur Seite zu schieben, war endlich auch wieder dämmriges Licht in dem Teil der Höhle, in dem sie geschlafen hatte. Sie legte sich zurück und schaute an die dunkle Höhlendecke, die vom schwachen Leuchten fast nicht erreicht wurde. Ihre Hand tat weh und sie hob sie vor ihr Gesicht um nachzuschauen. Nachdenklich betrachtete sie den Schnitt auf ihrem Handrücken und die Erinnerung holte sie ein. Sie fühlte eine merkwürdige Taubheit anstelle des Entsetzens, das sie als natürliche Reaktion erwartet hatte. Sie dachte an Rowal und Thorill, doch auch diese Erinnerung schien ihr fern und dumpf. Irgendetwas schien in ihr gestorben zu sein. Sie war zugleich erleichtert und erschrocken darüber.
„Thynlar“, flüsterte sie nachdenklich in die Dunkelheit hinein und dachte an den Indellyin, den sie im Traum gesehen hatte. Die Spur einer Erinnerung schien durch ihren Geist zu ziehen, doch war sie zu weit entfernt, um greifbar zu sein. Müdigkeit überfiel Akaya wieder. Sie schloss die Augen und genoss die friedliche Stille der Felsenhöhle.
Als Akaya das nächste Mal erwachte, war der Raum nicht mehr so dunkel, sondern von einem schwachen Glimmen erleuchtet. Es schien von dem Moos auszugehen, das auf einigen der umher liegenden Steine wuchs. Treidel saß neben ihrem Bett und beobachtete sie aufmerksam. Akaya beruhigte es, in das Gesicht der Waldfrau zu blicken, denn es war von Frieden und Harmonie erfüllt und schien beides gleichsam auf sie selbst zu übertragen. Sie lächelte und Treidel lächelte zurück.
„Du solltest langsam anfangen, wieder richtig wach zu werden. Du hast lange geschlafen. Ich habe dir einen erfrischenden Trank bereitet, der dich etwas in Schwung bringen wird, und deine Kleider sind gereinigt und geflickt. Außerdem“, fügte sie höflich lächelnd hinzu, „wird es Zeit, dass du ein richtiges Bad nimmst.“
Akaya lächelte verlegen und spürte, wie eine leichte Röte ihr Gesicht überzog. Ihr fiel selber auf, dass sie nicht gerade angenehm duftete. Nach ihrer Katzenwäsche waren noch hinreichend viele Reste des Waldes an ihren Armen, Beinen und vermutlich auch in ihren Haaren haften geblieben. Dankbar nahm sie das Getränk an, das Treidel ihr in einer Holzschale reichte, schnupperte daran und trank es dann in einem Zug aus. Es schmeckte angenehm und erfrischte sie beinah augenblicklich. Nur wenige Momente später ging es ihr viel besser und sie stand auf. Treidel führte sie aus der Höhle hinaus zu einem kleinen Fluss, der von der Quelle in der Höhle gespeist wurde. Sie reichte ihr ein Beutelchen mit Seifenkraut. Akaya musste an Rowal denken und schluckte kurz trocken, bevor sie sich bei Treidel bedankte. Treidel sah ihr tief in die Augen und zog die Augenbrauen wissend in die Höhe.
Akaya stieg in das kalte Wasser, das ihr an der tiefsten Stelle kaum bis zu den Knien reichte. Sie dachte an Thorill. Dann zog ein anderer Gedanke durch ihren Kopf, der gemeinsam mit dem eiskalten Wasser ihre Müdigkeit endgültig vertrieb. Sie konnte sich nicht erklären, wie sie hier her gekommen war oder in welche Richtung sie aus dem Dorf geflohen war. Treidel hatte sie im Salyillin willkommen geheißen. Doch nach ihrer Erinnerung an die Karte, die Rowal ihr gezeichnet hatte, lag der heilige Wald der Indellyin viel weiter vom Dorf entfernt, als sie laufender Weise in so kurzer Zeit hätte zurücklegen können. Dann fiel ihr auf, dass sie keine Vorstellung davon hatte, wie lange sie gelaufen war. Oder wie lange sie geschlafen hatte. Misstrauen überfiel sie. Woher konnte sie wissen, wo sie wirklich war. Was würde passieren, wenn die beiden Waldwesen für Erena arbeiteten? Entsetzen durchfuhr sie heiß. Dann lauschte sie auf das leise Murmeln in ihrem Geist und erinnerte sich daran, dass sie die Bäume selbst befragten konnte. Die Antworten, die sie in stummer Zwiesprache erhielt, beruhigten sie zutiefst. Sie befand sich tatsächlich im heiligen Wald, in der Obhut der Waldgeister. Niemals würde die Zauberin sie hier finden. Vorerst war sie in Sicherheit.
Nachdem Akaya sich gewaschen und wieder angezogen hatte, ging sie zu der Hütte zurück und wurde von Hobard mit einer Schale dampfender Suppe empfangen, die er ihr wortlos in die Hand drückte, um sofort wieder in der Hütte zu verschwinden. Akaya war ein wenig ratlos, bis Hobard mit einer weiteren Schüssel, zwei Holzlöffeln und einem breiten Grinsen auf dem Gesicht zurück kam.
„Vielleicht mag es dich in Erstaunen versetzen, aber der Küchenchef hier bin ich“, sagte er und setzte sich auf den Boden vor der Höhle, überkreuzte die Beine und wünschte Akaya guten Appetit. Akaya zuckte nur mit den Schultern, setzte sich neben ihn, ergriff einen Löffel und wünschte ebenfalls guten Appetit. Die Suppe war vorzüglich und als sie sich lobend äußerte, strahlte Hobard stolz. Nach kurzer Zeit gesellte sich Treidel zu ihnen.
„Ich dachte, du wolltest nicht mehr so viel essen“, neckte sie Hobard, der
nur abfällig grunzte. „Er ist so angetan von seinen eigenen Gerichten, dass er immer mitessen muss. Eines Tages wird er noch platzen“, stellte sie fest und piekte mit spitzem Zeigefinger in den kugelrunden Bauch, der sich unter Hobards Weste wölbte. Beide lachten und erleichtert stimmte Akaya mit ein.
Nachdem die Mahlzeit beendet war, lehnte sich Hobard gemütlich zurück und zündete sich eine Pfeife an, die er aus einer kleinen Innentasche seiner Weste zog und mit einem scharf würzig riechenden Kraut stopfte. Nach kurzer Zeit stiegen Rauchwölkchen auf. Akaya stand auf und machte Anstalten, die Schüsseln zusammenzuräumen, doch Hobard unterbrach ihre Aktion: „Wie bereits gesagt bin ich hier der Küchenchef und wann abgeräumt wird, bestimme immer ich. Jetzt wird jedenfalls noch nicht abgeräumt. Aber wenn du uns eine Freude machen willst, so erzähle uns doch bitte deine Geschichte. Wir zerbrechen uns seit nunmehr drei Tagen und Nächten nach deiner Zeitrechnung die Köpfe, wer du bist, wo du herkommst und so fort.“ Er nahm einen tiefen Zug und paffte einige Rauchwölkchen in ihre Richtung. Dabei sah er sie erwartungsvoll an.
„Ich weiß nicht, ob ich eure Erwartungen erfüllen kann“, seufzte Akaya. „Was meinst du, Kind?“, fragte Treidel, als sie merkte, dass Akaya zögerte. „Nun, ich habe beinahe keine Erinnerung mehr an die Zeit, bevor ich in das Dorf von...“, sie schluckte, „in das Dorf von Rowal gekommen bin. Ich kann nicht genau sagen, wie lange das her ist – wenn ich mich richtig erinnere, war gerade der vierte Mondwechsel seit ich... als ich...“ Treidel merkte, wie die junge Frau um ihre Beherrschung kämpfte und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. Dann stand die Waldfrau auf und ging in die Hütte. Wenige Augenblicke später kam sie mit drei Bechern und einem Krug zurück. Sie stellte die Becher auf den Tisch und schenkte eine klare Flüssigkeit ein. Akaya hatte sich in der Zwischenzeit wieder einigermaßen gefangen und begann mit der Erzählung über ihre Ankunft im Dorf bei Rowal und die Zeit, die sie dort verbrachte, von ihrem Abenteuer mit dem Zwerg und von Thorill. Sie berichtete von Orlech und den Häschern des Königs, von dem Tod ihrer Freunde und ihrer eigenen Flucht. Sie war selber darüber erstaunt, dass sie die Fassung nicht erneut verlor, doch sie hatte den Eindruck, dass der intensiv würzige und leicht vanillige Geruch von Hobards Pfeifenkräutern sie beruhigte. Hobard und Treidel sahen sich kurz an und schienen im Stillen eine Vereinbarung zu treffen.
Dann sprach Treidel: „Akaya, Liebes, wir sind hier um dir zu helfen. Dies tun wir einerseits im Auftrag der Bäume, andererseits hätten wir es vermutlich auch so getan, denn du bist vom Volk der Elfen, mit dem wir von jeher freundschaftlich verkehren.“ Sie machte eine Pause und Akaya lächelte sie dankbar an. „Es ist kein Zufall, dass du bei uns bist“, fuhr Treidel dann fort. „Du musst absolut ehrlich zu uns sein, sonst können wir dir nicht helfen, selbst wenn wir wollen! Du nimmst die Welt etwas anders wahr als wir und so sind wir darauf angewiesen, dass du uns alles erzählst. Verstehst du, was ich meine?“ Sie blicke Akaya fragend in die Augen und sagte eindringlich: „Um noch etwas deutlicher zu werden: Wir sind Waldgeister. Wir sind magische Wesen. Freunde der Elfen.“
Akaya seufzte. Dann überwand sie ihre Scheu: „Ihr habt Recht, wenn ihr meint, dass ich euch noch nicht alles erzählt habe. Ich schäme mich, weil ich nicht weiß, was es zu bedeuten hat und ob es überhaupt etwas bedeutet. Rowal konnte mir auch nicht weiterhelfen.“ Sie berichtete den beiden Waldwesen von ihren Träumen und von dem, was sie noch immer als Baummagie bezeichnete, weil es ihr nicht gelang, es als ihr eigenes Vermögen zu sehen. „Könnt ihr mir wirklich helfen?“ fragte sie hoffnungsvoll, nachdem sie geendet hatte.
Hobard und Treidel sahen sich schon seit einiger Zeit nachdenklich an und schienen durch Akayas Frage aufgeschreckt worden zu sein.
„Was hast du gefühlt, als das geschah, was du Baummagie nennst?“, frage Hobard.
Akaya dachte einen Moment nach und suchte nach der richtigen Formulierung. „Es war, als wenn etwas zerplatzt“, versuchte sie zu beschreiben. „Als wenn sich Druck ganz lange aufbaut und sich schließlich etwas gewaltsam Raum schafft.“
Hobard sah Treidel an. Diese nickte nur und sagte: „Das war eine sehr treffende Formulierung, denke ich.“
„Was fühlst du im Bezug auf Thynlar?“, fragte Treidel nach einer Weile.
Akaya fühlte, wie sich eine warme Röte über ihr Gesicht ausbreitete.
„Ich kenne ihn doch gar nicht“, stotterte sie.
„Das tut nichts zur Sache – und ist außerdem noch gar nicht klar“, fiel ihr Hobard ins Wort.
„Ich weiß es wirklich nicht!“, beharrte sie ein wenig trotzig.
„Ich denke, du weißt es. Aber egal. Ich kann dir natürlich helfen, wenn du das willst. Das meine ich wörtlich: wenn du willst! Ich denke, wir werden ein paar erstaunliche Dinge über dich herausfinden aber schließlich musst du damit leben können.“ Treidel sah sie noch immer nachdenklich an.
„Was kannst du machen?“, fragte Akaya verunsichert.
„Wir, Hobard und ich, können es zusammen schaffen, dass du lernst, dich im Wald besser zu bewegen und dich dahin bringen, dass du nicht nur wie eine Elfe aussiehst, sondern dich auch wie eine verhältst. Wenn ich Elfe sage, dann meine ich zunächst erstmal Indellyin, die Kinder des Waldes. Das schließt natürlich einen Teil des Umgangs mit deinem magischen Potential mit ein.“
„Und wie könnt ihr das machen?“, fragte sie vorsichtig.
„Mit Baummagie“, sagte Hobard und machte ein Gesicht, als habe sie etwas sehr Dummes gefragt. „Zumindest den magischen Teil. Der Rest ist Training“, fügte er zuversichtlich hinzu.
Stille trat ein und seltsamer Weise passierte eine gefühlte Ewigkeit lang gar nichts. Erena dachte, sie hatte die Wachen gerufen, doch niemand kam. Einen kurzen Moment starrte sie fassungslos auf die Tür, unfähig, einen klaren Gedanken zu formulieren. Hatte sie überhaupt laut gerufen? Thynlar spürte, dass Kay ihn verlassen hatte. Akaya, korrigierte er sich in Gedanken. Akaya. Ein neuer Name? Akaya. Irgendwie passt es. Besser als Kay. War dies ihr eigentlich er Name? Er hatte sie aus Etharell entführt und sie nach AnWel gebracht, nicht ganz uneigennützig, aber im Auftrag seines Meisters und Lehrers Okawis. Damit sie hier ihren eigentlichen Namen erfuhr... Er schauderte, als die Bedeutung dessen im klar wurde. Akaya, die aussah, wie eine Indellyin. Wie konnte das nur möglich sein? Ein Mysterium, doch wenn sie einen Namen hatte, der aus AnWel stammt, dann müsste sie... Sein Geist schreckte vor dieser Idee zurück. Sie war eindeutig ein Wesen aus dem Geschlecht der Elfen. Warum war ihm das nicht schon vorher aufgefallen? War das Teil des Zaubers gewesen, der sie in Etharell gehalten hatte? War sie getarnt gewesen? Warum war sie überhaupt in Etharell gewesen? Es war seltsam. Er erinnerte sich daran, dass sie ohne seine direkte Hilfe nach AnWel gewechselt war. Logisch, wenn sie eigentlich von hier war. Doch wie war sie nach Etharell gekommen? Hatte sie magische Begabung und es in Etharell einfach nicht gewusst? Andererseits waren ihm selbst in Etharell einige Fertigkeiten erhalten geblieben. Erst seit er sich im Bannkreis des Schlosses befand, hatte er, auch ohne Erenas Drogen, nahezu all seine magischen Fähigkeiten verloren. Zum ersten Mal in seinem Leben war er sich bewusst, wie es sich anfühlen müsste, menschlich zu sein – ohne die Fähigkeit, Gedanken lesen zu können oder Magie zu gebrauchen. Es war irritierend und noch nach so vielen Tagen außerordentlich beunruhigend. Bislang war er zum Glück keinem von Erenas Annäherungsversuchen oder Tricks zum Opfer gefallen. Mit Kays Hilfe. Akayas Hilfe, korrigierte er sich und seufzte.
Thynlar schüttelte sich, als würde dies helfen, Klarheit in seine Gedanken zu bekommen. Auch Erena löste sich endlich aus einer Starre.
Energisch raffte sie den seidenen Umhang um ihre Schultern zusammen und schickte dem jungen Mann vor ihr einen tiefbösen Blick. „Als wenn ich für dich meine Wachen brauche...“, murmelte sie abfällig.
„Was willst du eigentlich von mir?“, fragte er ehrlich ratlos, einem Impuls folgend.
Erena setzte sich auf und griff zu dem Weinkrug, der neben dem Bett stand. Ihr langes Haar fiel unordentlich über die dunkelblaue Seide. Mit einer unwirschen Geste ordnete sie die blonden Locken. Sie ignorierte die goldenen Becher, setzte den Krug direkt an ihre kirschroten Lippen und nahm einen tiefen Schluck. Leichtes Zucken begleitete die Schluckbewegung entlang ihres weißen anmutigen Halses und eine zarte Gänsehaut bildete sich ob der Bitterkeit des Getränks bis zum Ansatz ihrer Brüste. Erena sah unglaublich anziehend aus – das zuzugestehen fiel dem Indellyin nicht schwer. Mit einer lässigen Geste warf sie den Krug nach ihm, nicht in der ernsthaften Absicht, ihn zu treffen. Er wich mit Leichtigkeit aus. Der Krug prallte mit einem lauten Scheppern an die Wand hinter ihm. Dunkelroter Wein, der im Licht der vielen Kerzen fast schwarz aussah, lief in mehreren kleinen Rinnsalen den groben Stein herab und sammelte sich in einer Pfütze auf dem Boden. Es sah aus wie Blut. Thynlar schauderte und wehrte
sich energisch gegen die Vision, die versuchte, sich ihm aufzudrängen. Er war sicher, dass sie von Erena kam. Erena seufzte, strich sich die Haare aus dem Gesicht und sah ihn mit neuem Interesse an, als habe er eben erst den Raum betreten.
„Was ich von dir will, solltest du wohl inzwischen verstanden haben, denke ich“, sagte sie sarkastisch. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte in seine Gedanken einzudringen. Mit einer letzten Willensanstrengung schaffte er es, ihr diesen Zugang zu verwehren.
„Ist das alles? Dafür dieser ganze Aufwand? Ich verstehe nicht“, erwiderte er und beobachtete sie aufmerksam, die Augenbrauen fragend in die Höhe gezogen.
„Unsterblichkeit kann so schrecklich langweilig sein. Ich lebe nun schon seit ziemlich langer Zeit als Frau und habe inzwischen einen recht ausgeprägten Männergeschmack entwickelt. Mir kann keiner widerstehen – nicht lange jedenfalls.“ Sie lachte gehässig, zog mit ihrem langen weißen Zeigefinger die Linie ihres Schlüsselbeines nach, unterbrach die Bewegung dann abrupt, fast zornig, und ergänzte: „Fast keiner.“ Sie spielte mit einer Strähne ihres Haares und der Umhang rutschte wieder ein interessantes Stückchen weiter ihre weißen Schultern hinab. „Ich kannte mal jemanden, der dir sehr ähnlich war. Ja, man könnte sagen, du bist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.“ Sie lachte, wurde aber sofort wieder ernst. „Lassen wir das. Das ist ein anderes Thema.“ Der Blick, mit dem sie ihn betrachtete, erinnerte ihn an ein Kind, das ein Spielzeug anschaut, das es gleich zertreten wird. „Wenn ich dich erst einmal gehabt hätte, wärst du Mein gewesen. Einiges wäre leichter geworden.“ Sie seufzte wieder und zog den Umhang ein Stückchen nach oben, gerade genug, damit er vorne ein entscheidendes Stück tiefer rutschte, den Spalt zwischen ihren üppigen Brüsten beinahe unverschämt drapierte und das kalte Weiß ihrer makellosen Haut noch deutlicher betonte. Dabei beobachtete sie ihn aufmerksam. Seine Augen folgten der Bewegung der Seide und blieben schließlich in ihrem Ausschnitt hängen. Dann hob er den Blick und sah sie kalt an.
„Ist das wieder ein Versuch?“, fragte er.
„Schon gut.“ Sie gähnte demonstrativ gelangweilt. „Weißt du eigentlich, wer dein Elfenliebchen ist, an dem du so hängst, dass du dich all meinen Annäherungsversuchen widersetzt?“
„Ich weiß es nicht“, sagte er knapp und wandte sich ab.
„Du lügst“, stellte sie fest.
„Das ist möglich“, murmelte er. „Aber ich weiß wirklich viel zu wenig.“
Er sah sie kurz an. „Ich gehe davon aus, dass du bei deinen Attacken genug in meinen Gedanken gelesen hast, um dir dein eigenes Bild zu machen, oder?“ Er straffte die Schultern und wandte sich ihr wieder zu:
„Dies ist offenbar nur eine Sache zwischen dir und mir, wenn ich dich richtig verstehe. Lass sie aus dem Spiel.“
„Spiel! Du hast wahrlich Humor. Und verstehen tust du überhaupt gar nichts.“ Sie lachte und beugte sich interessiert etwas näher zu ihm heran. Mit zartem Finger strich sie seine Kinnlinie nach und hauchte: „Dies hier, mein Lieber, ist kein Spiel, sondern Ernst. Tödlicher Ernst.“
„Ich kann einfach nicht glauben, dass es nur darum geht, mich zu verführen!“ Ärgerlich wischte er ihre Hand zur Seite.
Zu seiner Überraschung ließ sie es geschehen. Sie setzte sich im Schneidersitz auf das Bett und spielte mit einer Kette, die um ihren Hals hing.
„Nein, dass du so blöd bist, brauche ich wirklich nicht anzunehmen.“ Sie betrachtete ihn durch ihre langen Locken von unten herauf. Ihr Gesicht bekam einen mädchenhaften Zug. „Ein tatsächlicher Gegner. Wenigstens fast. Wie schade. Die Zeit hat nicht gereicht“, murmelte sie gedankenverloren.
„Wozu nicht gereicht?“, fragte er.
Sie stützte sich ab und sah ihn aus halb liegender Position an: „Dich richtig auszubilden. Du hättest auch ein guter Partner sein können. Nun, wir werden sehen.“
„Okawis hat mich ausgebildet. Gut ausgebildet!“, erklärte Thynlar energisch, doch da er sich umdrehte und wieder zum Fenster ging, konnte er nicht sehen, dass Erena lautlos lachte und den Kopf schüttelte.
„Ich weiß“, sagte sie zu seinem Rücken. Eine Weile hüllte sie sich in Schweigen, während er sie vom Fenster aus beobachtete und zu ergründen versuchte, was in ihr vorgehen mochte. Er verfluchte die Tatsache, dass er nicht in der Lage war, ihre Gedanken zu lesen. Schließlich sah sie ihn an. Die plötzliche Offenheit in ihrem Blick überraschte ihn. Sie sah auf diese Weise beinah anziehend aus. „Du bist ausgebildeter Magier und Zauberer. Du solltest eigentlich wissen, was passiert, wenn du dich mir freiwillig hingibst. Oder hat man dich so wenig gelehrt?“
„Was meinst du?“, fragte er statt zu antworten.
„Hat Okawis dich nicht gelehrt, dass es Mächte gibt, die über deine hinausgehen?“, fragte sie gelassen weiter.
„Kennst du Okawis?“ Wieder antwortete er nicht auf ihre rhetorische Frage.
Lachend ließ sie sich rückwärts auf das Bett fallen: „Ob ich Okawis kenne. Meine Güte bist du naiv! Aber sag, sind dir die Grundlehren der Magie unbekannt? Hast du so wenig aufgepasst?“ Sie stützte die Arme auf und sah neugierig zu ihm auf.
„Okawis hat mich mehr gelehrt, als du weißt“, erklärte der Indellyin und wollte sich wieder abwenden.
„Das wage ich ernsthaft zu bezweifeln.“ Sie lachte laut auf und befahl:
„Du kommst gefälligst her und schaust mich an, wenn ich mit dir rede!“
Er gehorchte mit einem leichten Achselzucken.
„Hast du noch nie von Erena gehört?“, fragte sie weiter.
„Natürlich habe ich von dir gehört. Aber ich konnte mir bisher nicht vorstellen, dass meine Fähigkeiten so weit reichen, dass du ein Interesse an mir haben könntest.“ Er blieb vor dem Bett stehen und betrachtete sie mit betont gleichgültigem Gesichtsausdruck.
„Bei allen Göttern, du bist wirklich naiv! Jetzt erzähl mir noch, dass du glaubst, du seist hässlich.“ Sie lachte wieder und schien sich köstlich zu amüsieren, fuhr dann aber fort: „Mein Lieber, ich bin gerade dabei, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Nimm es als Zeichen meiner Genialität. Ich hätte dich verführt und du hättest freiwillig deine magischen Kräfte mit meinen vereinigt. Das wäre ein sehr leichter Weg gewesen. Ich verstehe nicht, warum du dich weigerst, denn du hast keine Chance: Du wirst deine magischen Fähigkeiten nicht wieder erhalten. Wenn du dich weigerst, dich mit mir zusammen zu tun, werde ich dich so langsam sterben lassen, wie es in meiner Macht steht, in einer Umgebung, die sicherstellt, dass dein magisches Potenzial in dir brach liegt. Also hast du ohnehin schon verloren. Du kannst mir nicht entkommen, nicht in AnWel und in keiner anderen Welt. Du hast noch wenige Augenblicke Zeit, es dir zu überlegen.“ Sie räkelte sich ein wenig. „Nun gut, Erena. Die erste der zwei Fliegen, die du erwähnst, sehe ich. Oder sollte ich lieber sagen: Die erste Fliege bin ich. Aber wo ist die zweite?“
Sie setzte sich wieder auf: „Durch dein Band mit Akaya werde ich sie
innerhalb kürzester Zeit wiederfinden und in meinen Besitz nehmen. Genauer gesagt weiß ich bereits, wo sie ist. Ich muss sie nur noch holen. Sie kennt sich sehr wenig hier aus, wie ich gesehen habe, und sie ist derartig schlecht ausgebildet, dass sie keine Chance hat. Dies ist der zweite Grund, warum du nicht gleich sterben darfst.“ Sie lächelte ihn breit an. „Du hast gewissermaßen das Verderben über sie gebracht. Oder besser gesagt, du hast sie in das Verderben gebracht. Oder soll ich lieber sagen: wieder zurück gebracht...“ Sie lachte hell auf und warf dabei ihren Kopf in den Nacken. „Ich liebe Wortspiele! Du bist ein Verderbensbringer.“
Er sah ihren zarten weißen Hals und der Hass, den er verspürte, wuchs so stark, dass er wünschte, er hätte die Zeit, sich auf sie zu stürzen und sie zu erwürgen. Sie sprang auf und stellte sich vor ihn. Der Seidenumhang fiel zu Boden. Der Kerzenschein zauberte magische goldene Reflexe auf ihren nackten Körper. Die Kette um ihren Hals funkelte. Er wich ein Stück zurück.
„Du scheinst Gefallen daran zu finden, Frauen zu töten“, zischte sie und ein Schwall von Bildern brach über ihn herein. Ein junges Mädchen, wild und von elfenhafter Schönheit, auf einem großen starken Pferd, nur wenige Meter vor ihm. Ein Pfeil, aus dem Hinterhalt abgefeuert. Er sah ihn heranfliegen und der Schrei erstarb in seiner Kehle. Der Pfeil traf sie und er konnte sehen, wie ihr ganzer Körper der Wucht des Aufpralls nachgab und der Bewegung ein Stück folgte, bevor sie zu Boden fiel und sich nicht mehr rührte. Ihr Blut ergoss sich in einer schnell wachsenden Lache auf dem weichen Waldboden. Er wollte zu ihr, sie retten, sehen, ob noch Leben in ihr war, doch er wurde zurückgehalten. Er versuchte, ihr auf Gedankenebene Heilung zu schicken, lenkte alle verfügbare Energie zu ihr. Doch es war zu spät. Tränen strömten aus seinen Augen und liefen sein Gesicht hinab um sich an seinem Kinn zu sammeln. Ein Schluchzer entrang sich seiner Brust und unendliche Qual nahm ihm den Atem. Die Illusion endete und energisch wischte er die nassen Spuren aus seinem Gesicht.
„Oh, noch immer so berührt? Ihr Indellyin seid zu sentimental“, sagte sie hämisch.
„Ich hoffe, du schaffst es auf diese Weise die Befriedigung zu erreichen, die dir anders versagt bleibt“, stieß er zornig hervor.
„Und immer noch so bissig. Aber warte, ich bin noch nicht am Ende mit dir.“ Sie lachte leise und ging um das Bett herum. Als sie einige Meter Abstand zu ihm hatte, verharrte sie und wandte sich ihm nochmals zu. Sie ließ ihren Blick über seinen schlanken muskulösen Körper wandern und seufzte theatralisch. „Schade eigentlich. Wir hätten viel Spaß haben können, bevor du völlig geistlos geworden wärst. Nun muss ich diesen Prozess wohl ein wenig abkürzen.“ Sie klatschte einmal kurz in die Hände.
„Was planst du nun zu tun?“, fragte er. Ein eisiger Klumpen hatte sich in seinem Magen zusammengeballt.
„Du hast tatsächlich Angst? Schön, wenigstens etwas. Ich werde dich zerstören.“ Sie lächelte.
„Und warum?“
„Weil ich niemanden einfach so normal leben lassen kann, der mich verschmäht hat. Es könnte sich ja herumsprechen. Aber wie ich schon gesagt habe, ich werde dich nicht töten. Du sollst lange leiden. Ich habe mir sagen lassen, dass Indellyin sehr lange leben.“ Sie lachte. „Wirklich schade, aber meine Minen brauchen immer starke geistlose Männer. Die Finsternis und Abgeschlossenheit werden auch deine Schönheit nach und nach zerstören, während dein Geist sich in den fürchterlichsten Alpträumen windet. In der Zwischenzeit werde ich Akaya finden.“
„Man wird nach mir suchen. Okawis erwartet mich“, wandte er lahm ein.
Sie lachte und machte eine abfällige Handbewegung: „So, wie man dich auch schon in den vergangenen drei Monden gesucht hat? Mir ist jedenfalls keine besondere Aktivität aufgefallen. Könnte auch sein, dass ich irgendwann das Bedürfnis verspüre, das eine oder andere Gerücht zu verbreiten, so ganz nebenbei. Mal sehen, was meine Phantasie mir so eingeben wird. Der Indellyin, der verstoßen wurde. Vor Gram ist er gestorben... oder er hat weiter gemordet... und wurde dabei irgendwann getötet... oder... “, sie ließ das letzte Wort im Raum hängen und beobachtete ihn.
„Woher...“
„Liebster Thynlar DaLethyn....“, ergänzte sie und beobachtete mit Freude, dass er sichtlich zusammenzuckte.
Niemand kannte seinen vollständigen Namen, nicht einmal Okawis. So dachte er wenigstens. Schlagartig wurde ihm die ganze Tragweite der Situation klar, in der er sich befand. Sein Magen krampfte sich zusammen. Nackte Angst.
„Ach Thynlar, wie konntest du nur denken, dass niemand weiß, wer du bist. Und dass du noch lebst.“ Affektiert schüttelte sie den Kopf und schnalzte mit der Zunge. „Deine Vergangenheit ist nicht ohne den einen oder anderen recht schwarzen Fleck. Man könnte sogar sagen, dass du einige Leichen im Keller hast, wenn du verstehst, was ich meine.“ Sie kicherte. Als er zu einer Erwiderung ansetzte, unterbrach sie ihn sofort wieder. Ihr schönes Gesicht verzog sich zu einer grausamen Grimasse: „Genug geredet. Ich weiß, wer du bist und was du bist, mein kleiner Zauberprinz. Oh ja, meine Wahl war wahrlich exklusiv. Du hättest schon vor langer langer Zeit dein Leben beenden sollen.“ Sie sah ihn einen kurzen Moment nachdenklich an: „Wenn ich mir das so überlege, könnten es sogar drei Fliegen sein, die ich mit dieser Klappe schlage. Ich kann endlich auch das Volk der Indellyin ihrer Bestimmung zuführen und die Oberfläche dieser Erde von ihrer elenden Anwesenheit befreien. Das wäre dann allerdings eine sehr dicke Fliege. Wir werden sehen, wir werden sehen. Ich muss vermutlich zugeben, dass ich die Hartnäckigkeit deines Volkes ein wenig unterschätzt habe. Und seine Ignoranz.“ Sie zuckte kurz mit den Achseln und hob dann eine Hand. „Und jetzt werde ich mich von dir verabschieden. Lebewohl zu sagen, wäre wohl etwas zu anmaßend.“ Das Letzte, was er wahrnahm, war ihr Lachen.
Als sich die Tür wenige Augenblicke später öffnete, deute Erena mit einer fahrigen Geste auf den am Boden liegenden Indellyin. Sein Blick war leer und ein dünner Speichelfaden floss aus seinem Mundwinkel. Sein Körper war verrenkt wie nach einem heftigen Krampf und würden seine Augen nicht hin und wieder zucken und sich seine Brust unter heftigen Atembewegungen heben und senken, so hätte man ihn für tot gehalten.
„Bringt ihn in den Keller. Dort kann er ein paar Tage warten. Sorgt dafür, dass er nicht stirbt! Wenn ich euch bescheid sage, bringt ihn zu den Minen nach Gworromon!“, ordnete sie an. „Wählt den Weg dorthin, der an den Grenzen des Salyillin vorbei führt.“ Sie warf den Yandrogs einen strengen Blick zu und betonte: “Er muss auf jeden Fall am Leben bleiben!“
Die Yandrogs ergriffen den schlaffen Körper und zerrten ihn hinter sich her.
„Du musst wissen, dass die Zeit bei uns anders fortschreitet als bei euch“, erklärte Hobard, während er mit Akaya durch die schlanken hohen Bäume wanderte.
„Wie meinst du das?“, fragte sie.
„Nun, während du hier bist und lernst, scheint es dir so, als seien ein paar Tage vergangen. Wie viele Tage glaubst du schon bei uns zu sein?“, fragte er sie. Sie zuckte die Achseln. Der Indellyinbogen, der neu gespannt über ihrer Schulter hing, schlug ihr gegen das Bein. Er fühlte sich ungewohnt an und verunsicherte sie. „Ich weiß nicht genau. Vielleicht zehn Tage?“, riet sie.
„Siehst du, das ist deine Wahrnehmung. In deiner Wirklichkeit ist aber erst ein Tag vergangen seit dem Tag, an dem du zu uns gekommen bist.“ Er schmunzelte über ihr verdutztes Gesicht. „Dies ist wieder etwas, was du als Indellyin eigentlich hättest wissen müssen. Aber ich vergebe dir.“ „Wie großzügig“, kommentierte sie und deutete eine Verbeugung an.
Hobard lachte laut. „Immerhin darf ich verzeichnen, dass du dich nach und nach ein wenig verhältst wie eine Indellyin. Außerdem ist der Verlauf der Zeit deinem Volke ziemlich gleichgültig, da sie sich gewissermaßen außerhalb der Zeit befinden.“
„Ah...“ Sie sah ihn aufmerksam von der Seite an und wich gleichzeitig einigen Ästen aus, die ihr im Weg hingen.
„Und außerdem“, ergänzte er, „ist das mit der Zeit ohnehin ein ganz eigenartig Ding. Man sagt, es gäbe nicht nur unterschiedliche Zeitbereiche, wie den deinen und den meinen, sondern auch noch parallele Zeiten. Es gibt selten unter Zauberkundigen so genannte Weltwechsler, die zwischen den parallelen Zeiten hin und her wechseln können – ganz wie der Name schon sagt.“ Er lachte und schüttelte den Kopf, als er fortfuhr: „Das kann zuweilen recht lustig sein, weil sie natürlich nicht über die Sitten und Gebräuche in den anderen Welten Bescheid wissen.“ Ernster schloss er: „Aber es gibt auch Welten, in die man nie wechseln darf. Bislang ist noch kein Wesen lebend aus einer solchen Welt zurückgekehrt.“
„Kennst du Weltenwechsler?“, frage Akaya.
„Ich kenne nur einen. Er ist ein sympathischer junger Druide, der stets behauptet, nichts zu wissen und nichts zu können.“ Hobard kicherte bei der Erinnerung. „Auch dass ich ihn als Druide bezeichne, würde er vehement ablehnen. Er ist teils menschlich, teils elfischer Abstammung. Und er ist auch sonst ein wenig anders.“
„Wie, anders?“, hakte sie nach.
„Nun, er liebt Männer.“ Er grinste.
„Ich kannte auch mal einen Mann, der sich in Männer verliebte, Sören heißt er. Ich kannte ihn nur kurz, aber er war ein richtig guter Freund... Oh!“ Sie blieb verdutzt stehen.
„Was ist, war das ein Stückchen deiner Erinnerung, das sich zurückgemeldet hat?“ Erfreut sah Hobard zu der hochgewachsenen Frau an seiner Seite auf.
Sie schüttelte irritiert den Kopf, antwortete aber: „Es sieht ganz so aus. Aber so überraschend? Ein Gesicht und ein Name. Er hatte kurze blonde Haare, die immer irgendwie strubbelig waren, und sah gut aus. An seiner rechten Augenbraue hatte er eine Narbe. Darüber hatte er mir mal eine Geschichte erzählt. Aber an die Geschichte oder an mehr kann ich mich nicht erinnern. Es ist zum wahnsinnig werden!“ Sie seufzte.
„Sören, soso...“, murmelte Hobard und sah sie nachdenklich an: „Nicht vielleicht Sörelan? Aber gut, meinetwegen auch Sören.“ Die Bäume rauschten, ohne dass ein Wind aufgekommen war. Akaya erwiderte Hobards fragend, doch er lauschte einen Moment, räusperte sich, atmete tief ein und zog die Augenbrauen zusammen: „Genug Gerede für heute, wir haben schließlich eine Menge vor. Stell dir vor, du hast eine blutende Fleischwunde, was tust du?“
Sie schmunzelte über den kleinen dunklen Mann und rezitierte, was er ihr in den letzten Tagen beigebracht hatte. Er fragte sie mehrfach täglich über verschiedene Kräuter ab und sie musste ihm Nutzen und Wachstumsort nennen, wenn möglich sie sogar aufstöbern und in Zwiesprache mit dem dazugehörigen Pflanzengeist gehen. So viel hatte sie gelernt – und gleichzeitig zu wenig! Sie staunte selbst immer wieder darüber. Nachdem sie die Lektion zu seiner Zufriedenheit wiederholt hatte, zeigte er ihr, wie sie mit dem Indellyinbogen umzugehen hatte. Der Bogen war beinah genauso groß wie der kleine Waldmann. Er gab ein ulkiges Bild ab, als er den Bogen auf den Boden aufsetzte und seinen Stand prüfte. Akaya verkniff sich höflich das Lachen und reichte ihm einen der Pfeile, die sie hergestellt hatte. Es war mehr als mühsam gewesen, das zu lernen. Die Identifizierung von Heilpflanzen gefiel ihr da schon wesentlich besser.
„Schau mir bitte genau zu.“ Hobard demonstrierte ihr die Handhabung des Bogens ganz langsam, so dass sie jede seiner Bewegungen genau beobachten konnte. Trotz der falschen Größenverhältnisse gelang Hobard der Schuss sehr gut. Er hatte auf einen Tannenzapfen gezielt und ihn fachgerecht vom Baum geschossen. Der Pfeil fiel mit dem Zapfen zu Boden. Hobard nickte zufrieden und fuhr fort: „Alles nur eine Übungsfrage, denke ich. Es ist eigentlich kein Bogen für den Waldgebrauch, sondern ein echter Kriegsbogen.“ Hobard reichte ihr die Waffe und zeigte ihr, wie sie die Arme richtig zu halten hatte. Die ersten Pfeile surrten ziellos ein unbefriedigend kurzes Stück durch den Wald und fielen in das Laub.
Akaya lachte über ihre Ungeschicklichkeit: „Wenigstens ist nun klar, dass ich noch nie mit einem Bogen geschossen habe. Dümmer kann man sich ja wirklich nicht anstellen.“
„Ich würde dir nicht vehement widersprechen“, grinste Hobard.
„Aber es macht Spaß“, gestand sie schließlich ein, was dem Waldmann ein zufriedenes Lächeln auf das Gesicht zauberte. „Auch wenn ich fürchte, dass ich schrecklichen Muskelkater in den Schultern bekommen werde.“
„Übe einfach fleißig weiter“, gab er zurück.
„Würde ich ja gerne, aber ich fürchte, ich werde noch einige Pfeile herstellen müssen, bevor ich weitermachen kann.“ Sie deutete auf die leere Pfeiltasche, nachdem sie den letzten ihrer zehn Pfeile verschossen hatte.
„Ah, nein. Kommen wir zu einem weiteren Teil der Übungen. Gut, dass ich gerade daran denke. Was weißt du über deine magischen Fähigkeiten?“
„Nun, nicht mehr als ich dir berichtet hatte.“ Unbehaglich zog sie die Schultern hoch. Die Erinnerung an Thorill und Rowal brannte immer noch als ein verzweifeltes Feuer in ihr und ließ ihr immer wieder Tränen in die Augen treten. Energisch räusperte sie sich, als sie Hobards mitleidigen Blick von der Seite bemerkte.
„Es wird schon besser werden im Laufe der Zeit“, tröstete er sie.
„Ich weiß. Aber es tut noch so weh!“ Sie seufzte. „Das einzige, an das ich
mich erinnere sind die Wurzeln und dass ich mit Bäumen reden kann, aber du hast mir ja erklärt, dass das nichts Besonderes für Indellyin ist. Sonst nichts. Ich kann auch nicht sagen, wie das mit den Wurzeln funktioniert hat. Ich hatte das erst gar nicht auf meine Fähigkeiten bezogen.“ Sie zögerte.
„Nun ja, es gibt mehr, viel mehr. Auch viel mehr als das, was du in den letzten Tagen von Treidel über Gedankenlesen und Denken auf verborgenen Ebenen gelernt hast“, erwiderte der Waldmann. Er ließ sich auf dem weichen Waldboden nieder und klopfte mit der flachen Hand neben sich: „Setz dich, wir kommen zum zweiten Teil der heutigen Übungen.“