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Thynlar und sein Freund Sörelan sind ausgeschickt worden, um eine junge Frau aus einer anderen Welt zu holen und sie nach AnWel zu bringen. Nach der Ankunft in AnWel geht allerdings alles schief: Thynlar wird von seltsamen Monstern gefangen, die junge Frau verschwindet, eine mächtige Zauberin taucht plötzlich wieder auf. Und woher kommt die mondsüchtige Elfe, die ein alter Druide überraschender Weise in einem Menschendorf trifft? Diese Buch ist Band 1 der AnWel Trilogie, bei der es um gute und böse Zauberer geht, um Menschen, Elfen und Zwerge, Waldgeister und Monster. Es geht um Liebe und Angst, um politische Entscheidungen, Lebensenergie und um eine wandernde Insel. Und schließlich geht es um die Rettung der Magie in AnWel. Die AnWel Trilogie ist eine Fantasyreihe, die in wunderbarer Weise klassische Motive und neue Ideen zu bleibenden Bildern verknüpft und ganz nebenbei einige Klischees bricht.
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Seitenzahl: 442
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Für meine Familie! Für meine Eltern, die mir ganz früh schon viele magische Geschichten erzählt haben, für Noa und Jona, die zauberhafte Elfenkinder sind.
Für Erika, die wortgewandte, die alles hinterfragt und geprüft hat.
Ach ja: und für Dieter, mit dem dieses Geschichte vor viele Jahren ihren Anfang nahm, an einem regnerischen Tag in einem Studentenwohnheim in Hildesheim. Ob er sie wohl dieses Mal lesen wird? :-)
Karte von Anwel
Grenzziehung vor der Besetzung von Valnoch
VORWORT
ROLLENSPIEL UND REALITÄT
WELTENWECHSEL UND ANKUNFT
DORFLEBEN UND BEKANNTSCHAFTEN
VERRAT UND FLUCHT
ALLES begann an einem regnerischen Tag in einem Studentenwohnheim in Hildesheim. Wir langweilten uns sichtlich und lauschten dem leisen Klopfen des Regens an die Scheiben. „Mir ist langweilig“, sagte mein Freund. „Komm, erzähl mir eine Geschichte.
Du hast es neulich im Wald versprochen!“
Ich dachte nach und erinnerte mich.
In der Nähe lag unser berüchtigter Badesee, die Tonkuhle, an dem wir einige Zeit vorher gerade einen wunderbaren Rollenspielnachmittag mit unserer damaligen ’Gang’ verbracht hatten. Seltsame Dinge trugen sich damals zu. Durch die eigenartige Anwesenheit einer Person, die offenbar und für wenige auch augenscheinlich dem Geschlecht der Elfen angehörte, geschah es, dass sich die Gruppe nach dem versehentlichen Durchqueren eines Kastanienportals in einem Wald wiederfand, den sie noch nie vorher gesehen hatten. Und wäre nicht besagte Elfe gewesen, dann hätten sie sich vermutlich fürchterlich und unrettbar verlaufen. Eben jenes Kastanienportal in der Nähe der Tonkuhle wurde zum Eingangstor einer Geschichte, die zwar mit einem Weltenwechsel beginnt, aber nicht mit einem solchen endet. Vermutlich nicht. Aber wer weiß schon, was in den parallelen Welten so alles geschieht, während man eifrig andere Pläne macht?
Ach ja, die besagte Elfe war damals der Meinung, unbedingt Informatik studieren zu müssen. Was soll ich sagen, sie schaffte es sogar, ihre Herkunft so lange zu verdrängen, dass sie bis zur Professorin aufstieg. Dann allerdings verschafften sich ihre elfenhaften Eigenschaften mit Gewalt Raum und ließen ihr keinen Ausweg mehr. Sie musste diesen Roman schreiben – ebenso wie den den folgenden und den folgenden und so weiter. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann schreibt sie noch immer um ihr Leben. Und wenn sie gestorben ist? Nun, dann schreibt sie vermutlich einfach im nächsten Leben weiter. In AnWel oder in Etharell?
Als Elfe oder als Mensch? Wer weiß das schon so genau?
Obacht, das zweite Kastanienportal befindet sich übrigens in Itzum. Wer weiß, wohin es führt? :-)
D IE Dämmerung senkte sich herab. Am Rand der Stadt, dort wo sich der Wald bis weit ins Land erstreckte, trafen sich zwei junge Männer. Sie begrüßten sich mit einer fremdartigen Geste und einer herzlichen Umarmung.
„Möge ein guter Stern über der Stunde unserer Begegnung stehen.“
„Sörelan! Gut, dass du gekommen bist. Ich habe auf dich gewartet.“
Thynlar ignorierte die rituelle Begrüßung und forderte den Freund auf ihn zu begleiten. „Ich bin froh dich endlich allein treffen zu können!“
„Ich konnte nicht früher weg, Thynlar“, sagte Sörelan, ohne eine weitere Erklärung zu geben.
„Ich höre mit Freude, dass es dir gelingt, mich mit meinem richtigen Namen anzusprechen. Bei dem Durcheinander, das du letztes Mal mit den Namen veranstaltet hast, ist das wahrlich eine Weiterentwicklung.“
Er schmunzelte. „Kannst du mir bitte endlich erklären, warum du auf diese absurde Idee gekommen bist, mich zu einem Fanto... wie hieß die „Veranstaltung?“ Fantasyrollenspiel wird es genannt.“ Sörelan lachte und fuhr sich durch die Haare.
„Fantasy“, murmelte Thynlar, als wolle er sich anstrengen, die Bezeichnung dieses Mal nicht wieder zu vergessen. Er schüttelte den Kopf.
„Nun?“, fragte er und sah Sörelan erwartungsvoll an.
„Als ich es das erste Mal gespielt habe dachte ich es wäre ein schlechter Scherz“, setzte Sörelan zu einer Erklärung an.
„Es ist ein schlechter Scherz!“, unterbrach ihn Thynlar. „Keiner glaubt hier an die Existenz von Elfen oder Zwergen, geschweige denn an das Vorhandensein echter Magie und Zauberei. Und dann treffen sich ein paar Leute und stellen sich allen Ernstes vor, wie es wäre, wenn sie Elfen und Zwerge wären. Sie tun so als ob sie zaubern könnten und spielen Abenteuer mit Monstern und allem was dazu gehört. Sie geben sich ausgedachte Namen. Mehr noch...“, er verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Sie würfeln um ihr Leben. Wenn das nicht der reinste Hohn ist! Nach Ende des Spiels gehen sie wieder nach Hause und sind noch immer davon überzeugt, dass es das alles nicht gibt.“
„Genau. Das war die Erklärung des Wortes Fantasyrollenspiel. Man hätte es auch eleganter beschreiben können, aber du hast es im Wesentlichen korrekt dargestellt“, Sörelan amüsierte sich köstlich. „Und was ist der Unterschied zu dem, was wir hier gerade machen?“
„Wir würfeln nicht“, brummte Thynlar unwirsch.
Sörelan lachte. „Trotzdem denken wir uns Namen aus und tun so, als wären wir etwas, was wir nicht sind.“
„Das mit den Namen ist wirklich absurd!“ Thynlar zog eine Grimasse.
„Julian. Ein netter Name. Passt so gut zu mir wie ein Horn auf der Nase.
Als wenn man damit etwas bewirken könnte.“
„Horn auf der Nase wäre doch ganz nett“, entgegnete Sörelan schmunzelnd und ergänzte: „Das ist nun mal Teil der Tarnung–muss ich dir ja wohl nicht erklären. Schon gar nicht die Bedeutung von Namen, oder?“
Thynlar schnaubte kurz abfällig. „Du hast es gut, Sören klingt so ähnlich wie Sörelan. Hätte es nicht einen Namen gegeben, der so ähnlich klingt wie Thynlar?“
„Thymian?“, fragte Sörelan und lachte laut auf, als Thynlar ihn böse anschaute. „Entschuldige bitte, aber ich bin mit den Namen in dieser Welt einfach überfragt. Julian war der erste Name, der uns begenete.
Mich nannten die anderen einfach Sören. So ist das nun mal bei einem Weltenwechsel. Irgendwas an dir ist bestimmt ein Julian.“
Als Thynlar auch hierauf nicht besonders freundlich reagierte, fuhr Sörelan fort: „Außerdem kannst du den Faden gerne weiter spinnen.
Hältst du es nicht für eine geradezu geniale Idee, einen echten Elfen in das Rollenspiel einzuschleusen?“
„Indellyin“, korrigierte Thynlar.
„Insbesondere einen Elfen“, er betonte das Wort besonders, „der versucht ein Mensch zu sein, damit er nicht auffällt, und sich demzufolge ’Julian’ nennt, der dann im Rollenspiel einen Elfen spielt der Jules heißt und nach fortgeschrittener Stunde weder auf den Namen Julian noch auf den Namen Jules reagiert.“ Sörlan lachte. „Das war wirklich der Hammer! Die anderen dachten, dass du irgendwas geraucht hast, weil man dich immer drei Mal ansprechen musste. Dass du den ganzen Abend ausgehalten hast, ist wirklich bewundernswert. Und das nach deinem ersten Tag hier!“ Thynlar starrte nur auf den Weg und zeigte keinerlei Regung. „Um dein Leben gewürfelt hast du auch, wenn ich mich richtig erinnere“, neckte Sörelan ihn. Thynlar warf ihm einen missmutigen Blick zu. Sörelan versuchte ihn zu beschwichtigen: „Mach dir nichts daraus. Du hast dich gut geschlagen.“
Als Thynlar nicht reagierte und mit verschlossener Miene weiterging, beschloss Sörelan, ihn nicht weiter zu necken. Er ließ seinen Blick über die Landschaft schweifen und strengte sich an, Thynlar zu ignorieren, der sich damit beschäftigte, Steinchen vom Weg in den Acker zu kicken.
Lange hielt Sörelan das Schweigen allerdings nicht aus.
„Thynlar, was ist denn eigentlich los?“, fragte er nach und berührte seinen Freund sacht an der Schulter.
Thynlar hielt an und seufzte schwer. Er sah Sörelan an und sagte dann leise: „Vermutlich hält sie mich für einen Trottel.“
Sörelan schaute einen Moment erstaunt, konnte dann aber ein Lachen nicht unterdrücken. „Ach daher weht der Wind! Kann schon sein, dass sie das denkt. Du hast dich phasenweise nicht besonders gut angestellt“, stichelte Sörelan, lachte und wich geschickt Thynlars Hand aus als dieser ihn knuffen wollte. „Verkneif dir bitte die Schimpfnamen, die dir gerade durch den Kopf gehen!“
Da musste auch Thynlar lachen und die Wolken des Missmuts hoben sich endlich von seinem Gemüt. „Spinner“, sagte er und wählte damit eine vergleichsweise milde Form aus seinem reichen Repertoire an schimpflichen Bezeichnungen.
Der Weg führte in einer weit gezogenen Kurve vom Waldrand weg und verschwand zwischen den Feldern, auf denen gelbe Ähren eine reiche Ernte versprachen. In der Ferne fuhr ein Traktor. Vom Wind getragen drang das Brummen des Motors bis zu ihnen hinüber. Nachdenklich betrachtete Thynlar das Gefährt. „Wie kann man in dieser Welt nur leben?“, wunderte er sich und rümpfte die Nase. Der Wind trug mehr herüber als nur den Lärm.
„Nach einer Weile riechst du es nicht mehr“, sagte Sörelan. „Und an die ewige Geräuschkulisse gewöhnst du dich auch.“ Er zupfte einen langen Halm ab, der in den Weg hineinragte, und steckte ihn in den Mund.
Seine Gedanken weilten noch immer bei dem gestrigen Abend und der ersten Begegnung von Thynlar und Kay. „Sie ist sehr misstrauisch“, sagte er schließlich.
Ein weiterer Stein flog in den Acker, als Thynlar ihn mit dem Fuß fortkickte. „Ich beneide dich darum, dass du sie schon länger kennst.“
„Das ist auch nicht so leicht, wie du denkst. Ich muss die ganze Zeit aufpassen, was ich sage und wie ich mich verhalte. Und dann dauernd diese Versprecher. Menschen, Elfen, Indellyin, das ganze Namenswirrwar, vor allem wenn ich von dir erzähle. Irgendwann verplappere ich mich wirklich. Bislang konnte ich es immer noch irgendwie gerade biegen.
Zu sehen, wer und was sie ist und sie dann hier in Etharell zu erleben...“, er schüttelte traurig den Kopf. „Ich sage dir, das ist überhaupt nicht einfach.“ Thynlar sah ihn fragend an, also erklärte er: „Sie hat Probleme.
Der Wechsel hat bei ihr offenbar eine Amnesie verursacht. Sie kann sich an nichts mehr von früher erinnern, sagt sie. AnWel ist völlig aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Mein Eindruck ist sogar, dass sie gar nicht mehr weiß, dass es mehr als Etharell gibt.“ Thynlars Gesicht zeigte einen überraschten Ausdruck, also fuhr Sörelan fort: „Ist dir nicht aufgefallen, dass die Menschen in dieser Welt denken, dass ihre Welt, Etharell, die einzige ist?“
„Du meinst, hier kennt niemand AnWel?“, wunderte sich Thynlar.
Sörelan nickte bestätigend. „Sie haben zwar einen Namen für diese Welt, aber dass mehrere Welten parallel existieren, wissen sie vermutlich nicht.“ Er dachte einen Moment nach. „Es scheint mir fast so, als hätten sie zwar eine Idee von der räumliche Dimension der Existenz hier in Etharell, aber nur sehr beschränkte Vorstellungen von der zeitlichen.
Ihnen fehlt jede Vorstellung von Energie zwischen Lebenwesen. Und sie machen alles kaputt...“
„Vielleicht hängt das mit ihrem Verlust an Magie zusammen“, rätselte Thynlar. Statt zu antworten, zuckte Sörelan nur ratlos mit den Schultern.
„Nun gut“, räumte Thynlar ein. „Bei uns wissen es auch nur wenige.
Weltenwechsler wie du.“
„Von denen es fast keine mehr gibt“, ergänzte Sörelan, was der Freund wohlweislich unausgesprochen gelassen hatte, und wechselte das Thema. „Ich habe das Gefühl, dass bei ihr manchmal Erinnerungen auftauchen, mit denen sie in dieser Welt nichts anfangen kann. Daher kapselt sie sich zeitweise von den Menschen in ihrer Umgebung ab. Sie hat mir erzählt, das Einzige, was sie dann zur Ruhe bringen könne, sei ein langer Spaziergang im Wald. Allerdings sieht sie dort...“, er suchte einen Moment nach einem passenden Wort. „Sie nannte es ’Dinge’. Ich glaube, es sind Kobolde. Es leben zwar nicht mehr viele in dieser Welt, aber in den Wäldern gibt es noch ein paar. Sie hat Angst davor, ihnen zu begegnen, hält es für unnatürlich, dass sie sie sehen kann.“
„Natürlich, ein Waldspaziergang und Kobolde.“ Thynlar lächelte und sah zu den Bäumen zurück, die den Waldrand bildeten. „Was sonst?“, sagte er leise zu sich selbst.
Sörelan folgte seinem Blick und hob skeptisch eine Augenbraue.
„Etharell“, Thynlar lauschte dem Klang dieses Namens. „Dies ist schon eine sehr eigenartige Welt“, sinnierte Thynlar, als Sörelan keinen Ansatz machte, etwas zu sagen. „Es fühlt sich fast so an, als habe es auch hier einmal Magie und Zauberei gegeben. Als sei das alles irgendwann verschwunden.“
„Kann schon sein.“ Sörelan zuckte mit den Achseln. „Ich weiß über Etharell sehr wenig. Es ist eine von vielen anderen Welten.“ Er machte eine Geste, die resigniert wirkte. „Und ich stelle fest, dass ich langsam genug von dieser Welt habe. Ich möchte wieder nach Hause, nach AnWel.“
„Ich dachte, du würdest hier ein interessantes Verhältnis mit einem – wie nanntest du ihn? Ilater?“
„Italiener. Roberto, der italienische Kellner. Erinnere mich bitte nicht an ihn. Er hat mir eine Szene gemacht, von der ich mich bis heute nicht erholt habe.“ Sörelan machte eine Grimasse. „Eigentlich bist du daran schuld. Das ganze Theater begann, weil ich mit dir gesehen wurde.“ Er imitierte seine verflossene Liebschaft, indem er die eine Hand in die Hüfte stützte und mit der anderen affektiert wedelte: „Isch kann es nischt ertrrragen. Du musst disch entscheiden. Der Blonde oder isch!“
„Danke, dass du dich für mich entschieden hast!“ Thynlar lachte laut.
Sörelan ignorierte ihn. „Er denkt wirklich, wir wären verliebt!“
„Oho! Sag nicht, dass du mich nicht mehr liebst!“, kommentierte Thynlar und verzog theatralisch das Gesicht.
„Das ist nicht witzig“, erwiderte Sörelan gereizt. „Ich betrachte die Geschichte als abgeschlossen und möchte bitte nicht mehr daran erinnert werden.“
„Ach, Sörelan. Du und deine unsäglichen Männergeschichten.“ Thynlar schmunzelte.
„Hör bloß auf, sonst komme ich auf die Idee, dich an deine Frauengeschichten zu erinnern“, drohte Sörelan.
„Einverstanden“, Thynlar winkte ab. „Themenwechsel!“
Sie hatten einen kleinen Hügel erklommen. Zwischen zwei dicht stehenden Kastanien, deren Kronen sich zu einer vereinigten, befand sich ein altes Steinkreuz. Von dem Hügel aus konnten sie auf die Stadt herab blicken, die vor ihnen in einem kleinen Talkessel lag. Hinter der Stadt erhoben sich weitere grüne Hügel, teils mit Feldern, teils mit Wäldern bewachsen.
„Du kannst dir jetzt bestimmt vorstellen, wie seltsam mir einige Sitten und Bräuche in dieser Welt vorkommen.“ Sörelan deutete mit einer weiten Geste, die das ganze Tal einschloss, in Richtung der Häuser.
„Oh ja!“ Thynlar verzog amüsiert den Mund und untersuchte eine alte Inschrift am Sockel des Kreuzes. Dann richtete er sich wieder auf und ließ seinen Blick über das Tal schweifen. Nach einer Weile fuhr er sorgenvoll fort: „Das Problem ist, dass mir nicht viel Zeit bleibt und deine Kraft nicht ausreicht. Zu mir hat sie aber kein Vertrauen.“
Sörelan winkte ab. „Das kriegen wir schon hin. Ich glaube, viel schlimmer wird es für sie. Wie soll sie sich bei uns zurechtfinden? Sie studiert hier, sie lebt hier, sie hat sogar die meiste Zeit ihres Lebens hier verbracht. Sie ist alles das gewohnt, was hier ist.“ Er seufzte tief. „Ich weiß nicht, ob das richtig ist, was wir tun.“
Thynlar zuckte mit den Schultern. „Hör auf, dir den Kopf zu zerbrechen.
Wir haben keine Wahl. Sie ist letztlich zu wichtig für uns!“
„Für uns?“ Sörelan schnaubte abfällig. „Du meinst für Okawis.“ Thynlar erwiderte nichts. „Oder hast du inzwischen eine Ahnung, warum der Alte sie haben will?“
„Was ist dein Problem, Sörelan?“, fragte Thynlar, anstatt auf die Frage einzugehen.
Sörelan trat nach einem Erdklumpen. „Ich mag sie“, gab er schließlich zu. „Verdammt, ich wünschte, ich könnte sicherstellen, dass ihr nichts passiert.“ Thynlar beobachtete ihn aufmerksam. „Meinst du nicht, dass wir sie einfach hier lassen können?“, setzte Sörelan nach und fuhr sich durch die Haare.
Thynlar schüttelte den Kopf. „Sörelan, du weißt, dass sie hier nicht mehr lange leben wird.“
„Das behauptet Okawis“, wandte Sörelan ein. „Sie ist kerngesund!“
„Die Zeit ist reif. Sie muss zurück“, argumentierte Thynlar.
„Das sind Okawis Worte“, bestätigte Sörelan gereizt.
„Keiner von uns kann lange in dieser Welt überleben“, versuchte Thynlar den Freund zu überzeugen.
„Behauptet Okawis!“, beharrte Sörelan trotzig.
„Komm, lass uns aufhören.“ Thynlar zupfte einen Grashalm ab, der seine Hand streifte. „Vielleicht erinnert sie sich auch wieder, wenn sie zurück in AnWel ist. Schließlich heißt es, sie sei erst nach Etharell gekommen, als sie schon zehn Jahre alt war.“
Sörelan bedachte ihn nur mit einem zweifelnden Blick, verkniff sich aber jeden weiteren Kommentar. Die beiden gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, jeder hing seinen Gedanken nach. Bis auf das leise Brummen von Motoren, das in dieser Welt immer in der Luft zu liegen schien, und das Zwitschern einiger Vögel, war es ruhig. Die reifen Felder dufteten spätsommerlich. Vom Wald wehte eine frische Brise herüber.
„Ich verspreche auf sie aufzupassen. Ihr wird nichts geschehen“, sagte Thynlar leise, wie zu sich selbst.
Sörelan betrachtete Thynlar von der Seite. „Du hast Gefühle für sie“, sagte er, einer plötzlichen Eingebung folgend.
Sein Freund erwiderte nichts und starrte auf den Boden.
„Du bist verliebt!“ Sörelan blieb stehen.
Thynlar ging noch ein paar Schritte weiter, den Kopf gesenkt. Dann hielt auch er inne und verschränkte die Arme vor dem Bauch. Er legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Himmel, der von der untergehenden Sonne in goldrote und gelbgrüne Farben getaucht wurde. Schließlich seufzte er und wandte sich wieder Sörelan zu, der ihn nachdenklich mit fragender Miene beobachtete. „Ich verliebe mich grundsätzlich nicht. Das weißt du ja.“
Sörelan legte seine Hand auf Thynlars Arm. „Thynlar“, sagte er eindringlich.
Dieser wehrte die Berührung ab. „Ich fürchte, ich bin zumindest interessiert“, gab er zu und breitete hilflos die Hände aus. „Aber was soll ich denn machen?“
„Das macht das alles noch viel komplizierter für dich“, stellte Sörelan fest.
Thynlar winkte ungeduldig ab. „Lass mich sie erst einmal kennenlernen, vielleicht gibt sich das ja noch.“ Er klang nicht besonders überzeugt.
Sörelan sah den Freund ernst an. „Thynlar, du hast nicht mehr viel Zeit sie kennen zu lernen. Lediglich bis zum nächsten Mondwechsel. Wenn du sie bis dahin nicht zurückgebracht hast, wird sie nicht mehr leben, wenn du das nächste Mal hierher kommen kannst! Die Zeit läuft hier anders, vergiss das nicht.“
„Schon gut“, murmelte Thynlar und wandte sich ab. „Notfalls kann ich sie vielleicht dadurch auf den richtigen Weg bringen, dass ich mich wie ein verliebter Trottel benehme. Was meinst du, romantischer Spaziergang im Wald?“, schlug er halbherzig vor.
Sörelan schüttelte den Kopf. „Komm bloß nicht auf diese Idee. Wenn sie glaubt, du willst was von ihr, würde sie nie freiwillig mit dir in den Wald gehen!“
„Warten wir es ab.“ Thynlar warf den zerknickten Grashalm fort.
„Nein, packen wir es an!“, beharrte Sörelan. „Ich bringe dich zu ihrer Wohnung. Dann sehen wir weiter.“
Feuchtigkeit stieg aus den Feldern und der Himmel wurde langsam dunkel. Sie machten sich auf den Rückweg. Kays Wohnung lag am Stadtrand und nach einer Weile waren sie in ihrer Straße angekommen.
Da sich ihre Wohnung direkt unter dem Dach befand, konnte man von der Straße aus nicht erkennen, ob sie zu Hause war.
„Willst du mitkommen?“, fragte Thynlar hoffnungsvoll.
„Oh nein. Da musst du alleine durch. Bring dich nicht in Schwierigkeiten!“ Sörelan wandte sich zum Gehen, blieb aber noch einmal kurz stehen und sagte schmunzelnd: „Vergiss nicht: Du bist Julian. Ich bin Sören.“
Thynlar lachte. „Das aus deinem Mund! Aber keine Sorge, – das werde ich schon nicht vergessen.“
Nachdem Sörelan gegangen war, stand Thynlar noch eine Weile unentschlossen vor dem Haus und überlegte, wie er am besten vorgehen sollte. Im Treppenhaus ging das Licht an und jemand kam die Treppen hinab. Thynlar verbarg sich hinter einer Tanne im Vorgarten. Kay trat aus der Tür. Leise fluchte Thynlar und verharrte in seinem Versteck.
Kay atmete tief die frische Abendluft ein. Im Dämmerlicht erkannte er, dass sie ein Gerät aus der Tasche ihrer Sommerjacke zog und einschaltete.
Bevor sie den Kopfhörer aufsetzte, sah sie sich um. Thynlar versank tiefer im Schatten des Baumes und hoffte, sie würde ihn nicht entdecken. Sie kniff die Augen zusammen und sah genau in seine Richtung. Schließlich schüttelte sie irritiert den Kopf, setzte den Kopfhörer auf, steckte die Hände in die Taschen ihrer Jeans und ging die Straße hinab. Thynlar atmete erleichtert auf. Er überlegte fieberhaft, was er tun könnte. Noch wollte er den Abend nicht aufgeben. Er lief hinter ihr her und sprach sie an. Verwundert stellt er fest, dass sie nicht reagierte. Sie schien ihn nicht gehört zu haben.Umsie nicht zu erschrecken, überholte er sie, damit sie ihn sehen konnte. Erstaunt blieb sie stehen und setzte den Kopfhörer ab.
„Julian! Was machst du denn hier?“, fragte sie überrascht.
„Ich wollte dich eigentlich besuchen, aber da sah ich dich aus dem Haus kommen. Ich habe gerufen, aber du hast mich wohl nicht gehört“, sagte er und zeigte auf den Kopfhörer, der um ihren Hals hing und verzerrt laute schräge Geräusche von sich gab.
„Nein“, gab sie zu und kramte das Gerät aus ihrer Tasche hervor, um es auszuschalten.
„Was ist das?“, fragte er verwundert und deutete auf das Gerät.
„Dimmu Borgier“, erwiderte sie und reichte ihm die Kopfhörer, aus dem noch immer verzerrtes Scheppern klang.
Vorsichtig hielt Thynlar einen der kleinen Stöpsel an sein Ohr und zuckte zurück. „Donnerwetter!“, stieß er überrascht hervor.
Sie lächelte und missverstand seine Überraschung als Anerkennung.
„Klasse, nicht wahr? Ein Freund hat mir die gerade erst empfohlen – der ist ein echter Spezialist, was Metal angeht.“
Er sah sie ratlos an. „Ist er ein Zwerg?“, fragte er vorsichtig.
Sie sah ihn irritiert an.
Er wechselte sicherheitshalber das Thema: „Machst du einen Spaziergang?“
Sie verzog das Gesicht. „Wie kommst du denn darauf?“, fragte sie ironisch. Dann fuhr sie freundlicher fort: „Aber im Ernst, ich dachte, es ist so schönes Wetter und ich war heute den ganzen Tag noch nicht draußen.“ Sie sah ihn nachdenklich an. „Willst du mitkommen?“, fragte sie schließlich, da er keine Anstalten machte, etwas zu sagen. Sie deutet vage in die Richtung, in die sie gegangen war. Man konnte ihr anhören, dass sie eigentlich hoffte, er würde ablehnen.
„Gerne, wenn ich dich nicht störe“, sagte Thynlar und ignorierte den Unterton in ihrer Stimme.
Sie zögerte einen Moment, gab sich dann aber einen Ruck. „Nein, du störst nicht. Mir fiel gerade zu Hause die Decke auf den Kopf. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, ein wenig Gesellschaft zu haben.“
„Was ist denn los?“, fragte er, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander her gegangen waren.
Ihren eigenen Gedanken nachhängend, sah sie ihn zunächst irritiert an, bevor sie antwortete. „Ach, nichts besonderes. Warum?“
„Du siehst traurig aus“, erwiderte er und betrachtete sie von der Seite.
„Es ist aber wirklich nichts!“ Ihr Gesicht war eine freundliche Fassade.
„Jedenfalls geht es mich nichts an, weil wir uns ja nicht kennen, nicht wahr?“, ergänzte er und lächelte entwaffnend.
„Stimmt.“ Sie seufzte innerlich und entschied, dass die einzige Möglichkeit, ihn von sich abzulenken, Konversation war. Ungefähr das letzte, worauf sie gerade Lust hatte. „Erzähl mir von dir. Was hat dich ausgerechnet nach Deutschland verschlagen?“
Sörelan hatte ihr erzählt, er sei ein Freund, der ein Auslandssemester in Deutschland absolvieren würde. Soviel wusste Thynlar, doch hatte er nicht erwartet, dass sie das Gespräch so schnell auf dieses Thema bringen würde. Er hatte sich keine Geschichte zurecht gelegt und überlegte fieberhaft, wie er ihr ausweichen konnte. Er suchte nach einer geschickten Antwort, die sie nicht misstrauisch machen würde: „Ich wollte wissen, wie das Leben hier so ist und wollte ein wenig in der Welt herum kommen.“ Das klang ziemlich lau. Seine Kreativität ließ ihn im Stich. ’Oh Sörelan, ich wünschte, du wärst hier, ich hätte nicht gedacht, dass ich so schnell Schwierigkeiten bekomme’, dachte er. Kay sah ihn neugierig von der Seite an und schien darauf zu warten, dass er weiter sprach. „Das F...“, er zögerte und fluchte in Gedanken. Der Name war ihm wieder entfallen. „Das Rollenspiel war gut. Machst du das schon länger?“, fragte er schließlich und war glücklich über diesen Einfall.
„Nein, erst seit einem halben Jahr. Aber ich habe schon so viel Fantasyliteratur verschlungen, ich bin eine richtige Leseratte.“
’Fantasy. Da war sie wieder, diese seltsame Bezeichnung’, schoss ihm durch den Kopf. Er sah sie fragend an. „Leseratte? Aha.“
„Ja! Liest du nicht gerne?“, reagierte sie prompt auf seine Verwirrung.
„Doch, sehr gerne. Ich liebe Bibliotheken. Aber das Wort Leseratte kannte ich noch nicht“, gab er zu.
„Du sprichst erstaunlich gut deutsch! Lernst du die Sprache schon länger?“
„Ja“, antwortete er gedehnt und überlegte, wie er das Thema Landessprache vermeiden konnte. Er versuchte es noch mal mit dem Spiel. „Was ist es, was dich an Rollenspielen interessiert?“
„Ich bin ein Eskapist!“, erklärte sie schmunzelnd.
’Ein was?’ Seine Gedanken überschlugen sich. Er setzte eine interessierte Miene auf und fragte: „Warum?“
„Manchmal ziehe ich es vor, nicht hier zu sein. Meistens treibe ich dieses Spiel für mich alleine, in den schützenden vier Wänden meiner Wohnung, aber manchmal macht es einfach Spaß, sich mit diesen liebenswerten Chaoten zusammenzusetzen und zu spielen.“
„Was stellst du dir vor, wenn du allein bist?“ Er betrachtete sie und war gespannt, ob sie auf diese Frage wohl antworten würde.
„Du bist gar nicht neugierig, nicht wahr?“ Sie dachte kurz nach.
„Nun, ganz allgemein gesprochen treibe ich mich in irgendwelchen undurchdringlichen Wäldern herum und ...“ Sie zögerte. „Und jage Elfen“, erklärte sie dann und beobachtete seine Reaktion.
Er hob überrascht beide Augenbrauen.
Sie lächelte und schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich tue ich das nicht.
Aber was ich träume geht dich wirklich nichts an.“ Sie spielte mit dem Kabel des Kopfhörers und vermied es, ihn anzusehen.
Sie erreichten den Waldrand und Kay deutet auf einen Baumstamm, der augenscheinlich schon oft als Sitzgelegenheit hatte herhalten müssen, da seine Oberfläche völlig glatt war. „Einer meiner Lieblingsplätze“,
sagte sie und fragte sich im gleichen Augenblick, warum sie so einen Blödsinn daher redete. Sie setzte sich rittlings auf den Stamm und zeigte auf den Platz vor ihr. „Setz dich! Ich habe keine Lust, um diese Uhrzeit noch in den Wald zu gehen.“
„Hat das einen besonderen Grund?“, fragte er, während er vor ihr Platz nahm und ihr Gesicht im Halbdunkel der mäßigen Wegbeleuchtung musterte. Er sah, dass sie leicht die Schultern hochzog, als wäre ihr kalt, und mit abweisender Mine den Waldrand betrachtete. Doch sie schüttelte nur den Kopf und erwiderte, sie habe lediglich keine Lust.
„Warum hast du eine Elfe als Charakter gewählt?“, forschte er nach.
„Warum nicht? Du spielst ja auch einen Elfen“, gab sie gleichgültig zurück.
„Ja“, sagte er und lachte, „aber das liegt daran, dass Sörela... also Sören meinte, Menschen gäbe es genug in der Gruppe, sonst hätte ich sicherlich mal einen Menschen gespielt.“
„Das ist es aber doch gerade, was den Unterschied ausmacht: Einen Menschen brauche ich nicht zu spielen, das bin ich ja ohnehin.“ Ein Insekt lief über ihre Hand. Sie spielte einen Moment gedankenverloren mit dem Tier, indem sie es von Finger zu Finger krabbeln ließ.
„Wenn du meinst.“ Er beobachtete sie aufmerksam.
Statt einer Antwort zuckte sie nur mit den Achseln. Sie setzte das Insekt wieder auf den Baumstamm und blickte den Weg hinab in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Er betrachtete ihr Gesicht von der Seite. Sie hatte ihre langen dunklen Haare zu einem Zopf im Nacken geflochten und ein paar kleine weiche Kringel bildeten sich an ihrer Stirn. Sie hatte eine sehr helle Hautfarbe, die nur einen leichten Anflug von Sommerbräune zeigte. Er stellte resigniert fest, dass er tatsächlich von ihr bezaubert war. Leise fluchte er in Gedanken. Sein Freund hatte Recht gehabt. Es würde nicht einfach werden. Auch so kam er nicht an sie heran. Er konnte ihr nicht alles erzählen und sie würde ihm vermutlich auch gar nicht glauben. Zunächst nahm er sich vor, sie besser kennen zu lernen.
Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen und überlegte, was er wohl denken mochte. Sie sah ihm in die Augen und er wich ihrem Blick nicht aus.
Die Zeit schien still zu stehen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und gleichzeitig wallte Wut in ihrem Bauch auf. ’So ein unverschämter Kerl’, schoss es ihr durch den Kopf. „Was ist?“, fragte sie aggressiv und kniff die Augen zusammen.
„Nichts.“ Er lächelte sie freundlich an, wandte dann aber den Blick ab, um die Situation nicht zu überreizen. „Du hast wunderschöne Augen“, murmelte er.
„Ich glaube, ich gehe nach Hause“, sagte sie und machte Anstalten aufzustehen.
„Nein!“, rief er überrascht. „Bleib doch noch ein wenig“, bat er und versuchte, ihre Hand zu ergreifen.
Sie wich ihm geschickt aus und blickte stehend auf ihn herab. „Was willst du von mir?“, fragte sie und stützte herausfordernd die Hände in die Hüften.
„Warum bist du so zornig?“, kam als Gegenfrage.
„Weil ich eigentlich nur einen kleinen Spaziergang in der Dämmerung machen wollte und nun sitze ich mit einem wildfremden Mann an einem Waldrand und lasse mir von ihm erzählen, ich hätte schöne Augen. Das sind die Situationen, vor denen meine Mutter mich immer gewarnt hat!“, gab sie zurück.
Er zog die Augenbrauen in die Höhe und sah sie fragend an: „Hat sie das?“
„Oh meine Güte! Bist du einfältig? Du findest die Situation also völlig normal? Vielleicht beantwortest du mir erstmal die Frage, was du von mir willst!“ Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf.
„Ich will fast nichts von dir. Mir hat es gefallen, wie du spielst, ich finde dich interessant und ich hatte heute Abend nichts zu tun. Daher wollte ich dich besuchen. Aber du wolltest einen Spaziergang machen, also sind wir hier. Und nein, ich finde die Situation gar nicht komisch!“
Er hatte sich in Rage geredet und stand nun ebenfalls auf. Ihre Geste nachahmend stützte er seine Hände in die Hüften: „Reicht das zu meiner Verteidigung, oder soll ich mir etwas besseres einfallen lassen?“
Seine Augen blitzten amüsiert und schalten die Wut in seiner Stimme Lügen.
Ihr fiel auf, dass er sie fast um einen Kopf überragte. Hellblonde, lange Haare und dunkelgraue Augen. Eine seltsame Kombination, dachte sie.
„Sag mal, sind deine Augen wirklich grau oder sieht das nur bei diesem Licht so aus?“, fragte sie spontan.
„Was?“, der Themenwechsel hatte ihn total irritiert.
Sie deutete lachend auf sein Gesicht: „Du hast graue Augen und hellblonde Haare! So eine Kombination habe ich noch nie gesehen.
Und so eine Augenfarbe auch nicht“, stellte sie fest.
„Du machst mich echt fertig“, murmelte er. „Erst motzt du mich an und dann kommentierst du meine Augenfarbe.“ Er fuhr sich mit den Händen über den Kopf, fasste seine Haare zu einem Zopf und verknotete ein Band in ihnen. „Graue Augen sind bei uns eher normal.
Gibt es zu jeder Haarfarbe“, beantwortete er dann ihre Frage. „Willst du jetzt damit weitermachen, mich zu beschimpfen oder reden wir ab jetzt normal?“
Sie lächelte ihn an: „Entschuldige bitte. Ich habe schlechte Laune heute.
Du kannst nichts dafür. Ich werde mich ab jetzt zusammenreißen.
Vielleicht bekommen wir ja doch noch ein anständiges Gespräch zustande.“
„Na danke. Können wir uns dann wieder hinsetzen oder möchtest du noch gehen?“, fragte er und deutete auf den Baumstamm.
„Erzähl mir etwas von deiner Familie“, forderte sie ihn auf, während sie sich setzte.
’Oh nein! Geht das schon wieder los? Wer hat der Frau denn Konversationsregeln beigebracht? Das ist ja schlimmer als an jedem Fürstenhof’, dachte er mit stummer Verzweiflung. ’Wir hätten uns weiter streiten sollen, das war einfacher.’ „Magst du Geschichten?“, fragte er nach kurzem Schweigen, statt ihr zu antworten.
„Schon...“, gab sie zurück und er fiel ihr sofort ins Wort.
„Ich erzähle dir lieber eine Geschichte, als über meine Familie zu reden.“
„Meinetwegen. Hast du Heimweh?“, fragte sie irritiert.
„Auch. Was willst du für eine Geschichte hören? Von Elfen, oder Indellyin, wie wir sie nennen, und Räubern?“
„Klingt gut!“, sagte sie, machte es sich gemütlich und sah ihn erwartungsvoll an.
„Es war einmal...“ Er unterbrach sich und schmunzelte. „Fangen bei euch auch alle Geschichten so an? Also: Es war einmal ein junger Indellyin. Er wuchs am Hof eines mächtigen Fürsten auf und lernte allerlei Dinge, die angeblich für sein Leben nützlich sein sollten. Viel Zeit verbrachte er mit den Pferden, die der Fürst züchtete. Es waren wundervolle Geschöpfe, wild und frei, voller Liebe und unbestechlicher Ehrlichkeit. Der Stall beherbergte einen wilden Hengst, dessen Vorfahren von den großen Weiden der Darklande stammten, ein wahrer Fürst der Pferde, edel und nicht zu zähmen. Eines der Fohlen dieses wilden Hengstes war dem Jungen besonders ans Herz gewachsen. Als der kleine Hengst heranwuchs, wurde er seinem Vater ebenbürtig – edel und groß aber auch zornig und wild. Der Junge und der Hengst jedoch waren Freunde und verbrachten viel Zeit miteinander. An dem Hofe lebte auch die Tochter des Fürsten, sein einziges Kind, das er über alles liebte.“
Kay verzog das Gesicht.
„Was ist?“, fragte Thynlar und unterbrach seine Erzählung irritiert.
„... und sie war blond und wunderschön und trug jeden Tag ein anderes Seidenkleid mit Rüschen und Spitzen und schmückte sich mit den Juwelen ihrer Mutter“, rezitierte Kay mit verstellter Stimme. „Danke, aber ich hasse Prinzessinnen. Die sind einfach nur anstrengend. Kennst du nicht eine andere Geschichte?“
Thynlar lachte. „Nein nein, warte es doch erstmal ab. Du urteilst viel zu schnell. Mädchen werden bei uns ebenso wie Jungen in Reitkunst und Kampfkunst ausgebildet.“
Kay hob verwundert eine Augenbraue.
„In dieser Geschichte meine ich“, verbesserte sich Thynlar schnell.
„Dieses Mädchen kämpfte genau so gut wie jeder Junge ihres Alters. Ihre Lieblingswaffewar der Kampfstab, doch wusste sie auch mit dem Bogen und dem Schwert umzugehen. Sie war tatsächlich hübsch anzusehen, sie hatte auch wirklich lange goldblonde Haare, aber das ist Zufall. Da sie die Tochter eines der mächtigsten Fürsten in dieser Gegend war, hatte sie sicherlich auch Kleider und das eine oder andere Schmuckstück, das gehört einfach dazu. Doch habe ich sie nie in einem Kleid gesehen.“ Er bemerkte seinen Versprecher, überging ihn aber einfach und erzählte weiter: „Sie konnte die wildesten Pferde reiten, deshalb bewunderte der Junge sie. Auch war sie recht launisch, wie Mädchen in diesem Alter Jungen immer erscheinen, und ziemlich frech. Das Land, in dem die beiden lebten, war ein wildes Land, in dem seit Jahren Krieg herrscht und die Indellyin in den tiefen Wäldern im Verborgenen lebten. Eines Tages bekam der Junge von dem Fürsten einen Auftrag. Er sollte eine Nachricht an den Fürsten, der derzeit dem Rat aller Indellyin vorstand, überbringen. Dieser lebte mehrere Tagesreisen vom Hofe entfernt. Dem Jungen wurde erlaubt, ein Pferd aus dem Stall auszusuchen. Es war klar, dass seine Wahl auf seinen Freund, den Hengst, fiel. Der Fürst ließ ihn großzügig gewähren, gemahnte ihn aber, gut auf das Pferd aufzupassen, sei es doch das Wertvollste, das er in seinen Ställen beherbergte. Der Junge gab sein Ehrenwort und ritt los, frohen Mutes, stolz über das Vertrauen, das man in ihn setzte, und sich der Gefährlichkeit seines Auftrages bewusst, da er bedrohliche Landstriche zu durchqueren hatte. Was er nicht geahnt hatte war, dass sich die Tochter des Fürsten in ihn verliebt hatte. Da sie von Adel war, hatte er sich keine Chancen bei ihr ausgerechnet und – unter uns – er interessierte sich zu der Zeit auch mehr für Pferde als für Frauen. Jedenfalls war sie ihm heimlich nachgeritten. Nachdem er einen halben Tag unterwegs gewesen war, machte er an einem kleinen Fluss Rast und ließ seinem Hengst freien Lauf, auf dass er sich erfrische. Da holte sie ihn ein. Er badete im kalten Wasser, als sie sich zu erkennen gab. Er erschrak, wusste er doch, dass der Fürst es nie im Leben erlaubt hätte, sie mit ihm gehen zu lassen. Nackt wie er war, stieg er aus dem Wasser und versuchte ihr zu erklären, warum sie ihn unmöglich begleiten konnte. Aber sie hörte nicht auf ihn. Sie sagte, er habe ihr gar nichts zu befehlen, schließlich sei sie als Nachfolgerin ihres Vaters seine zukünftige Fürstin und könne ihre Entscheidungen sehr wohl alleine und in eigener Verantwortung treffen. Und obwohl sie wie Geschwister aufgewachsen waren, wandte sie sich ab und forderte ihn auf, er möge sich bekleiden. Der Junge wurde rot. Er schlüpfte in seine Kleider und grübelte, was er in seiner verzwickten Lage anstellen konnte. Sie ließ sich jedoch nicht beirren, rief ihr Pferd und forderte ihn auf, ihr zu folgen. Bis zum Abend sei es schließlich noch Zeit, einen Teil der Wegstrecke bis zu ihrem Onkel zu bewältigen. Ihr Onkel, das war der Fürst, an den die Botschaft geliefert werden sollte.“ Thynlar unterbrach seine Erzählung und schaute einem Käuzchen hinterher, das gerade noch in der samtig blauen Dunkelheit zu erkennen war. Kay sah ihn erwartungsvoll an.
„Am nächsten Abend machte sie ihn zum Mann. Sie hatten ein Lager aufgeschlagen und nachdem sie von den mitgebrachten Speisen gegessen hatten, hatten sie sich nebeneinander auf die Wiese gelegt und den Sternenhimmel über der Lichtung beobachtet. Ihre Pferde grasten unweit von ihnen und der warme Geruch und ein gelegentliches Schnauben wehten zu ihnen herüber. Doch stärker als der Geruch der Pferde konnte der Junge den unwiderstehlichen Geruch ihrer Haut wahrnehmen. Sie roch nach Sommersonne und frischem Gras.
Nachdem er sich mit dem Schicksal abgefunden hatte, dass er sie nicht mehr loswerden würde und sie darauf bestand, ihn den gesamten Weg zu begleiten, entspannte er sich zusehends. Nach und nach begann er, ihre Nähe zu genießen. Schließlich waren sie viele Jahre fast wie Geschwister aufgewachsen. Aber vielleicht hatte er sich doch in sie verliebt und es sich nicht eingestanden? Er war damals noch ziemlich naiv. Als sie ihn irgendwann in der Nacht küsste, ließ er es willig geschehen und entdeckte zu seiner Überraschung, dass sie weiter entwickelt war, als er sich das vorgestellt hatte. Sie hatte einen wundervollen Körper, sehnig und weich. Auch schien sie bereits Erfahrung zu haben, denn sie wusste ziemlich genau, was sie wollte – und er machte begeistert mit. Es war Hochsommer und eine leichte Abendbrise kühlte ihren Schweiß.
Schließlich schlief sie in seiner Armbeuge an ihn geschmiegt ein und er hoffte, sein Leben möge in diesem Moment für immer stillstehen.
Später wünschte er sich oft, es hätte auch an diesem Punkt geendet.“
Nachdem Thynlar keine Anstalten machte, die Geschichte fortzusetzen und nur gedankenverloren in die Weite des Himmels starrte, fragte Kay ihn schließlich: „Was geschah dann?“
Er blickte sie an: „Bis dahin war die Geschichte schön. Wir könnten jetzt aufhören und sie bleibt schön.“
„Nein“, widersprach sie ihm, „das ist nicht richtig. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende und entweder ist das nun eine Geschichte ohne Ende, dann entwickelt sie sich noch, oder sie hat ein Ende, dann musst du sie auch zu Ende erzählen.“
„Sie hat ein Ende, aber es ist kein schönes Ende“, erwiderte er, doch als er ihr erwartungsvolles Gesicht sah, seufzte er und nahm den Faden seiner Erzählung wieder auf. „Am nächsten Tag ritten sie weiter, nachdem sie sich im taufrischen Gras geliebt und danach ihr Frühstück verschlungen hatten. Lachend saßen sie auf den Rücken ihrer Pferde, die Sonne schien vom strahlend blauen Himmel und der Junge stieß vor Freude am Leben einen Schrei aus. Der Wald schien an ihnen vorbei zu fliegen. Sie mussten ein Gebiet überqueren, das außerhalb der Lande der Indellyin lag, wenn sie nicht einen weiten Umweg machen wollten.
Doch was sollte ihnen schon passieren? Sie überquerten die Grenze.
Es waren nur noch wenige Meilen bis zum Anwesen des Fürsten.“ Er stockte kurz und fuhr fort: „Ein Pfeil, aus dem Hinterhalt abgefeuert, traf das Mädchen tödlich. Sie stürzte mit einem seltsamen Laut, den er nie mehr vergessen würde, vom Pferd. Der Junge sprang sofort von seinem Reittier und eilte zu ihr, doch sie hatte kein Leben mehr in sich. Der Pfeil hatte ihren Hals durchbohrt und ihr Blut versickerte im Boden. Die Luft war plötzlich voll Geschrei. Der stolze Hengst wieherte schrill. Dann brach er zusammen. Pfeile steckten in seinem Körper. Es war schrecklich. Der Junge war waffenlos. Sein Bogen lag unter dem sterbenden Hengst und der kleine Dolch, den er im Gürtel bei sich trug, war gerade mal nützlich, um Früchte zu schälen. Die Räuber brachen über ihn herein, es waren zwanzig Wesen, überwiegend Menschen. Er bekam einen Schlag auf den Kopf und wurde ohnmächtig. Ich vermute, er wünschte, es für immer bleiben zu können.“ Wieder verstummte er.
Kay beobachtete sein Gesicht im Halbdunkel und es schien ihr, als nähme er mehr Anteil als normal an dieser Geschichte. „Was wurde aus ihm?“, fragte sie in die Stille.
Thynlar zog die Augenbrauen in die Höhe und runzelte die Stirn: „Er hatte zu viel Schuld auf sich geladen um weiter zu leben. Er starb.“
„Nein!“, stieß sie empört hervor. „Nein, das glaube ich nicht! Außerdem stimmt es nicht, dass er schuld war! Er konnte doch nichts dafür, dass sie ihn begleitet hat und die Räuber hat er ja auch nicht bestellt“, argumentierte sie energisch.
Er schenkte ihr ein trauriges Lächeln. „Aber er hätte das Mädchen strikt zurückweisen müssen. Alleine wäre er unsichtbar gewesen. Doch auch so hätte er einen anderen, sicheren Weg nehmen müssen. Keiner hätte ihn überfallen können“, wandte er ein.
Sie schüttelte den Kopf: „Sie hätte sich doch gar nicht zurückweisen lassen.“ Dann lachte sie leise, als ihr auffiel, dass seine Geschichte sie derartig in den Bann gezogen hatte, dass sie meinte, seinen Helden verteidigen zu müssen. Sie sah ihn an: „Ich habe dir doch gesagt: Lass die Finger von Prinzessinnen, die machen nichts als Ärger!“
Er erwiderte ihren Blick. Ein Knistern lag in der Luft. Schließlich senkte sie die Augen und schaute auf ihre Hände. Sie zupfte kurz an einem Lederband, das sie am Handgelenk trug, und dachte nach. Dann fragte sie vorsichtig: „Er ist doch nicht wirklich gestorben, oder?“
„Nein, er ist nicht wirklich gestorben. Nur ein Teil von ihm. Seine Naivität und seine Unbeschwertheit.“ Thynlar schmunzelte über ihre Besorgnis.
„Und dann, was geschah mit ihm?“ fragte sie.
„Tja, das ist eine andere Geschichte und die soll zu einem anderen Zeitpunkt und an einem anderen Ort erzählt werden.“ Er hatte seine gute Laune wiedergewonnen und die Traurigkeit war aus seiner Stimme gewichen.
„Oh, du hast die Unendliche Geschichte gelesen?“, sie sah ihn interessiert an.
„Die was?“
„Von Michael Ende, die Unendliche Geschichte. Du hast eben einen Satz daraus zitiert“, erwiderte sie, doch da er sie nur verwundert ansah, beschloss sie, das Thema nicht zu vertiefen. „Jedenfalls war das eine merkwürdige Erzählung. Entweder bist du ein verdammt guter Geschichtenerzähler, oder...“ Der fragende Ausdruck auf seinem Gesicht ließ sie lächeln. Sie stand auf und reckte sich, machte aber keine Anstalten, weiterzureden. Sie drehte ihm den Rücken zu und sah zum Wald hinüber.
„Oder was?“, fragte er und beobachtete sie aufmerksam.
Sie drehte sich wieder zu ihm. „Oder du bist der Junge und hast alles selber erlebt“, ergänzte sie schmunzelnd und sah erstaunt, dass er überrascht aufmerkte.
„Unsinn!“, erwiderte er gedehnt, konnte sich aber ein Lächeln nicht verkneifen. „Nun schuldest du mir jedenfalls eine Geschichte.“ Er stützte die Arme auf den Baumstamm und lehnte sich zurück.
Sie wich aus: „Es wird kalt.“
„Ich gehe nicht ohne meine Geschichte“, beharrte er.
„Dann musst du wohl hier übernachten“, sagte sie schlagfertig. „Ganz allein im tiefen Wald“, raunte sie mit Grabesstimme.
„Das passiert schon mal“, gab er unbeeindruckt zu. Seine dunklen Augen funkelten im Sternenlicht, sein Haar sah fast weiß aus.
’Meine Güte, er sieht wirklich aus wie ein Elf’, schoss es ihr durch den Kopf und ihr Magen zog sich zusammen. Sie unterbrach zum wiederholten Male den Blickkontakt als Erste und starrte auf ihre Schuhe.
Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und schickte ihr einen Gedanken.
’Wir nennen uns Indellyin’, vernahm Kay plötzlich eine Stimme, die nur in ihrem Inneren gesprochen hatte.
Sie riss verwundert den Kopf hoch und starrte ihn an. „Was hast du gesagt?“ Hatte sie sich getäuscht?
„Ich habe nichts gesagt“, antwortete Thynlar, aber er hatte den Eindruck, dass sie ihn sehr gut verstanden hatte.
Ihr Gesicht zeigte abgrundtiefe Verwirrung, als er ihr zuzwinkerte.
’Jetzt geht meine Phantasie mit mir durch. Zeit, nach Hause zu gehen, bevor ich hier noch einen kompletten Realitätsverlust erleide.’ Kay schüttelte sich. „Ich kann gar keine Geschichten erzählen“, sagte sie laut.
„Du kannst mir auch etwas von dir erzählen“, schlug er vor.
„Und was zum Beispiel?“, fragte sie zurück.
„Wie bist du aufgewachsen, was machst du zurzeit und so weiter. Ich möchte dich gerne kennenlernen.“ Er schaute zu ihr auf und deutete mit der Hand auf den Baumstamm vor ihm: „Setzt du dich?“.
Sie sah ihn nachdenklich an. „Heute Abend nicht mehr“, entschied sie dann. „Ich bin müde und muss ins Bett. Ich höre offenbar sogar schon Stimmen!“ Sie schauderte. „Außerdem ist mir kalt. Lass uns gehen.“ Sie warf dem finsteren Waldrand noch einen Blick zu und zögerte einen Moment. Sie schien nach etwas zu lauschen, war einen Augenblick lang irritiert und fuhr sich durch die Haare. Thynlar beobachtete sie interessiert. Sie konnte also auch den Ruf der Bäume vernehmen.
Aber sie wehrte sich dagegen. Als würde sie es als Gefahr wahrnehmen.
Eine zarte Gänsehaut hatte sich an ihren Armen gebildet, die sie jetzt schützend verschränkte. Dann war der Moment vorbei und sie wandte sich ruckartig ab, um in Richtung der Häuser zurückzugehen.
’Nicht mehr lange!’, schickte er in Gedanken den Baumfreunden, deren Ungeduld er fast körperlich spüren konnte. Dann erhob er sich, strecke sich und sah Kay hinterher. Er war inzwischen sicher, dass sie sein vorsichtiges Abtasten ihrer Gefühlswelt nicht bemerken würde, und so spürte er weiter nach und entdeckte viel Angst, Sorge und darunter auch eine brodelnde Wut, die ihn erschreckte.
„Hei, warte auf mich!“, rief er und lief hinter ihr her.
Sie wartete und lächelte ihn kurz an, doch nahm sie den Gesprächsfaden nicht wieder auf. Gedankenversunken und schweigend gingen sie nebeneinander her und kamen sie schließlich bei dem Haus an, in dem Kay wohnte.
„So“, sagte sie und wandte sich ihm zu. „Dann...“, sie verstummte und wusste nicht, was sie sagen sollte. In ihrem Bauch kribbelte es, als sie ihn anschaute und energisch schob sie das Gefühl zur Seite. „Ich...“, wieder scheiterte der Satz. Ihr Blick blieb an den grauen Augen hängen und den hellen Haaren, die im Licht der Straßenbeleuchtung weiß-golden schimmerten. „Du siehst in diesem Licht aus wie ein Vampir!“, stellte sie schließlich fest und tat einen Schritt rückwärts um mehr Abstand von ihm zu haben.
Er öffnete den Mund um seine Zähne zu zeigen. „Ich bin kein Vampir!“, stellte er fest und lächelte. „Dann schon eher ein Elf. Gibt es hier überhaupt Vampire? Bei uns sind die vor vielen Jahren ausgestorben.“
Sie schüttelte sich, als würde das helfen, Distanz zu gewinnen. „Wie kommst du denn auf Elf?“, fragte sie irritiert nach und erntete von ihm ein wissendes Lächeln, das ihr den letzten Nerv raubte. Als hätte er ihre Gedanken erahnt. Energisch stellte sie fest: „Es gibt keine Vampire, genauso wenig wie Elfen! Dann schon ... “ In ihrem Kopf erschien die Frage: ’Bist du sicher?’ Abrupt stoppte sie und sah ihn an. „Hast du was gesagt?“
„Gesagt habe ich nichts...“, stellte er fest und beobachtete ihre Reaktion.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich dachte schon wieder, ich hätte was gehört.
Aber das liegt wohl daran, dass ich übermüdet bin.“
Thynlar setzte an, etwas zu erwidern, doch dieses Mal drehte sich sich energisch weg und ging zur Haustür. Sie suchte den Schlüssel in ihrer Jackentasche, während er ihr etwas ratlos hinterher sah. Als sie den Schlüssel gefunden hatte, sagte sie: „Tschüss, wir sehen uns!“
„Halt, stopp! Nicht so schnell!“, irgendwie müsste es ihm gelingen, sie aufzuhalten. „Wann und wie sehen wir uns?“
Sie schickte ihm einen nachdenklichen Blick. „Ich rufe dich an. Wenn du mir deine Nummer gibst...“
’Was?’, dachte er und verstand nicht, was sie meinen könnte. „Ich bin morgen mit Sören am See verabredet. Kommst du auch?“ Er musste versuchen, sie zu einem weiteren Treffen zu bekommen. Das hatte er Sörelan versprochen.
„Sören kommt auch?“, sie schien erleichtert zu sein. „Mal sehen. Ich habe morgen nicht so viel zu tun.“ Sie steckte den Schlüssel in das Schloss der Haustür. „Warum gibst du mir deine Handynummer nicht?“, fragte sie und schaute ihn über ihre Schulte hinweg kurz an.
Da er keinen blassen Schimmer hatte, was sie damit meinen könnte, zuckte er nur mit den Schultern. „Ich treffe dich lieber“, sagte er ausweichend.
„Wenn du meinst...“, gab sie zurück, und Thynlar konnte spüren, dass sie ihn irgendwie seltsam fand. Er müsste Sörelan unbedingt fragen, was das für eine Nummer sein könnte und wie das Ritual des Anrufens wohl ablaufen könnte.
„Bis morgen also!“, sagte er und machte eine Geste der Verabschiedung.
Sie lächelte über seine seltsame Handbewegung und winkte kurz: „Bis morgen!“ Damit verschwand sie im Hausflur und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.
Thynlar sah ihr nachdenklich hinterher. Nach einer Weile ging er leichten Schrittes im Zwielicht der Straße fort, wieder in Richtung des Waldes.
Kay stand am Fester des dunklen Treppenhauses und sah ihm nach.
Er ging mit katzenhafter Geschmeidigkeit und verschwamm immer mehr mit der Dämmerung. So gar nicht menschlich, irgendwie. ’Wie ein Vampir...’ schoss ihr durch den Kopf, doch dieses Mal was sie sicher, dass es ihre eigenen Gedanken waren. ’Oder ein Elf...’ Wieder zog Gänsehaut ihre Arme empor und energisch unterdrückte sie das Kribbeln in ihrem Bauch. Das Wort ’Indellyin ’ war vorhin plötzlich in ihren Gedanken erschienen. Wie konnte sie Worte denken, die sie gar nicht kannte.
’... und jetzt geht er zum Schlafen in den Wald, wo er hingehört. Zu Uns’, ertönte es wie ein Echo in ihrem Kopf.
Sie schauderte. Da waren die Stimmen wieder. Das Wort ’Wahnvorstellungen’ zog wie eine stumme Drohung durch ihr Bewusstsein. Sie hatte das schon so lange: etwas sprach zu ihr, immer wieder, immer im Wald. Gruselig. Als wenn die Bäume versuchten, ihr etwas mitzuteilen.
Vielleicht sollte sie doch jemanden davon erzählen und sich untersuchen lassen. Oder gab es das doch? Dass man mehr wahrnehmen konnte, als andere Menschen? Energisch schob sie den Gedanken zur Seite. Sie hatte es die letzten Jahre unterdrückt, den Stimmen zu lauschen. Schon als sie klein war, hatten ihre Eltern ihr erzählt, dass es gefährlich sei, wenn man denkt, Bäume würden mit einem reden. Die Leute könnten einen für verrückt halten. Die Leute. Fürsorglich hatten ihre Eltern sie gebeten, es sein zu lassen, es zu unterdrücken. Seltsam genug, dass sie nachts unverständliches murmelte – etwas, was klang als wäre es eine andere Sprache. Ganz gewiss würde sie es schaffen, es weiter im Griff zu behalten. Sie hatte es versprochen. So schlimm wie heute war es lange nicht gewesen. Nein, sie musste es schaffen. Auch ohne Psychiatrie. Das Studium würde ihr dabei helfen. Schließlich gab es nichts pragmatischeres als Informatik mit dem digitalen Deutungsrahmen aus sicherer Null und Eins, an und aus. Vielleicht würde es ja dann irgendwann aufhören.
Dass sie die ganze Nacht von Elfen und tiefen Wäldern träumte, verwunderte sie allerdings nicht. Es war ein sehr unruhiger Schlaf, aus dem sie am nächsten Morgen erwachte.
„Thynlar, du willst mir also erzählen, sie hätte dich abblitzen lassen?“ Sörelan amüsierte sich über seinen geknickten Freund, der neben ihm auf der Wiese am Teich saß.
Eine dicke Hummel flog schwirrend auf ein Gänseblümchen zu und ließ sich darauf fallen. Die Blüte kippte unter dem Gewicht zur Seite.
Plumps – die Hummel lag auf dem Rücken und strampelte mit den Beinchen. Thynlar stippte sie zart mit dem Finger an, und half ihr wieder auf die Füße zu kommen. Das Insekt krabbelte auf seinen Finger, putzte seine Flügel, bedankte sich und brummte davon. Thynlar sah ihr lächelnd hinterher. Dann wurde sein Gesicht wieder ernst. „Wenn ich mich weiter so dumm anstelle, verhindere ich erfolgreich, dass sie sich in mich verliebt, und muss sie bewusstlos schlagen, damit sie mitkommt“, stellte er fest.
„Na, das sind ja brachiale Sitten. Was hast du denn erwartet?“, fragte Sörelan zurück. „Sollte sie dich sehen und sofort vom ersten Moment an in dich verschossen sein?“
„Nein, natürlich nicht“, erwiderte sein Freund frustriert. „So einfach ist es bekanntlich nie.“
Sörelan gähnte, reckte sich ausgiebig und streckte sich behaglich auf der Wiese aus. „Ausserdem gehörte Verlieben nicht zum Plan. Das könnte nach hinten losgehen!“
„Ich Volltrottel habe mich gestern hinreißen lassen, ihr eine Geschichte über die Indellyin zu erzählen“, gestand Thynlar leise und rupfte einen Grashalm aus.
Sörelan richtete sich halb auf, schüttelte den Kopf und sah ihn an: „Ich ahne Schreckliches.“
Thynlar erwiderte seinen Blick: „Die Geschichte von Synyell und mir.“
Sörelan seufzte. „Volltrottel ist eine gute Bezeichnung. Aber mach dir nichts daraus. Sie wird ohnehin nicht denken, dass du von dir erzählt hast.“ Er legte sich wieder hin und schloss die Augen.
„Ich wäre mir da nicht so sicher“, erwiderte Thynlar nachdenklich und wickelte den Halm um einen Finger.
„Vergiss es“, murmelte Sörelan, ohne die Augen zu öffnen.
Es war ein warmer Sommertag, die Schwalben schossen im Tiefflug über das Wasser des Sees dahin. Eine angenehme Brise wehte von dem nahen Wald herüber. Man konnte dumpf das Brummen von Autos auf der nahen Hauptstraße hören. Dezente Gerüche von Algen und Sonnenöl mischten sich mit dem Gestank der Abgase. Thynlar zerrieb einen Grashalm zwischen den Fingern und schnupperte. Der grüne würzig Geruch lenkte ihn ein wenig von dem Geruchschaos ab. Obwohl es schon spät am Nachmittag war herrschte verhältnismäßig wenig Betrieb am See. Ein paar Kinder spielten im flachen Wasser hinter der Uferböschung. Sie quietschten und kreischten lautstark. Nachdem Thynlar dem Treiben eine Weile zugesehen hatte, ließ er sich auf den Rücken fallen. Mit geschlossenen Augen genoss er die Wärme auf seinem Bauch und dachte nach.
„Kay kommt“, sagte er, nachdem etliche Minuten vergangen waren, ohne die Augen geöffnet zu haben.
„Ah“, kommentierte Sörelan desinteressiert und blickte in Richtung des Spazierweges, der von der Straße und dem Parkplatz zum See führte. Es war niemand zu sehen. „Wenn du das sagst.“ Er gähnte und legte sich wieder zurück.
Wenig später erschien Kay, begrüßte Sörelan mit einem Kuss auf die Wange und ließ ihren Blick angenehm berührt über den schlanken muskulösen Körper von Thynlar gleiten. „Hallo! Seid ihr gar nicht überrascht, dass ich schon hier bin?“
„Nein, Thy... Julian hat dich eben bereits angekündigt“, gab ihr Freund zurück und reckte sich.