Reisegefährten der Liebe - Monika H. Sommerland - E-Book

Reisegefährten der Liebe E-Book

Monika H. Sommerland

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Beschreibung

Mitten in den schottischen Highlands rettet Ron Liliane. Sie bleiben als "Reisegefährten" zusammen. Schließlich führt sie ihr Weg nach London. Dort, inmitten der Freunde, findet Liane endlich neuen Lebensmut. Aber Rons und Lianes junge Liebe muss noch einige Bewährungsproben bestehen, bis sie endgültig zueinander finden. "Ein weiterer Roman von Monika H. Sommerland, der einen sofort in den Bann zieht und nicht mehr loslässt."

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Monika H. Sommerland

Reisegefährten der Liebe

Roman

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Die Personen und die Handlung sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor.

Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 by Monika H. Sommerland

Copyright © 2024 by:

Everweard Media & Publishing

Frédéric R. Bürthel

Friedrich-Naumann-Allee 29, 19288 Ludwigslust

www.everweard-publishing.com

Everweard Publishing ist ein Imprint

von

Everweard Media & Publishing

Umschlaggestaltung: FRB

Umschlagabbildung iStock (premsrirut)

ISBN 978-3-911352-03-1 (E-Book)

Der See war regungslos. Steile Felswände und eine dunkelgraue Wolkendecke hielt er gefangen wie ein Foto hinter Glas. Es ging kein Windhauch. Es sangen keine Vögel.

Das Boot rührte sich nicht. Ohne Ruder sah es aus wie ein Leichnam, der im Wasser trieb.

Im Boot lag eine junge Frau, die Arme ausgestreckt, als wäre sie ein Engel, der vom Himmel gefallen war und jetzt gelähmt auf dem Rücken lag. Sie war nackt. Sie war bleich. Ihre Augen waren offen, sahen aber nichts. In ihnen waren die endlose Leere des Himmels und die lähmende Angst, dem Lockruf des Sees zu folgen.

Sie konnte sich nicht rühren.

Sie konnte nicht weinen.

Sie konnte nicht schreien.

Ihre Seele trieb zusammengekauert wie ein Fötus im Leib einer Toten.

Ron saß an dem Lagerfeuer, das er mit dürren Zweigen fütterte. Ein Kreis verwitterter Steine schützte die Glut. Die Flammen warfen flackernde Reflexe auf das rote Biwakzelt. Es war nicht viel Feuer. Der Wind fehlte, es in Gang zu halten. Als das Wasser im Aluminiumbehälter einigermaßen warm war, goss er es in eine Tasse. Er rührte löslichen Kaffee hinein und trank widerstrebend das bittere Gebräu.

Er hatte die Einsamkeit gesucht hier im Schottischen Hochland. Das milde Wetter hatte gehalten. Es gab nur Sonnenschein, kein einziges Mal Regen. Seine Augen konnten sich nicht satt sehen an den grünen Hängen, den steilen Hügeln mit ihren Felsgipfeln und den Bächen, die in gewundenen Pfaden an den Wanderpfaden vorbeiplätscherten. Der Himmel war so blau und so heiter – bis heute.

Am späten Nachmittag hatte er einen Hügel überschritten und vor ihm lag Loch Cailleach, dunkel wie ein verwunschener See. Sehr schnell waren Wolken aufgezogen. Mit ihnen verschwand die Wärme der Sonne. Am liebsten wäre er gleich weitergegangen, weg von diesem Gewässer. Aber es war schon spät. So hatte er sein Zelt aufgeschlagen, auch aus Trotz. Er wollte sich nicht so einfach vertreiben lassen.

Das bisschen Kaffee war schnell getrunken. Ron stand auf und blickte hinunter auf den See. Ein leichter Windstoß riss kurz einen Spalt in die Wolkendecke. Dann sah er es: ein ruderloses Boot mitten auf dem See. Darin lag ein Körper, regungslos.

Auf dem See gab es kein weiteres Boot, am Ufer keinen Menschen. Es gab niemanden außer ihm.

Ron zog seine Kleider aus, bis auf seine Boxershorts. Bevor die Kälte seine Entschlusskraft lähmen konnte, sprang er in das Wasser. Ein einziger Schmerz ging durch seinen Körper bis in die Zahnspitzen. Mit gleichmäßigen Bewegungen schwamm er in Richtung des Bootes, ohne dass ihm wärmer wurde.

Das Boot war weit draußen, viel weiter, als es vom Ufer aus schien. Die fortwährende Kälte in allen Gliedern, die Stille ringsumher und das allmähliche Verblassen des Tageslichtes begannen, seine Sinne abzustumpfen. Er ertappte sich dabei, wie er an Schlaf dachte, an einen Schlaf, der ihn in seine Arme nahm, um ihn zu wärmen. Da hob er seinen Kopf aus dem Wasser und schrie, so laut er konnte:

“Nein!”

Es gab kein Echo. Der Schrei wurde geschluckt, als hätte es ihn nicht gegeben. Aber Rons Geist wurde befreit. Er sah, dass er jetzt genau vor dem Boot war.

Er hielt sich ein paar Minuten daran fest. Dann zog er sich mit verbissener Anstrengung über den Rand in das Boot.

Auf dem Boden des Kahns lag eine junge Frau. Sie war nackt. Ihre Arme waren weit ausgestreckt. Ihre Haut war gleichmäßig weiß, unterlegt mit einem fein verzweigten Wurzelwerk blauer Äderchen. Ihre Augen waren geschlossen.

Ron fühlte ihren Puls. Sie lebte. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Das schmale blasse Gesicht strahlte Frieden aus wie in einer tiefen Meditation.

Im Boot lag eine Decke, eine Handtasche und ein Rucksack. Die Ruder fehlten. Ron nahm die Decke und legte sie über die junge Frau.

“Hallo, wachen Sie auf!”, schüttelte er die junge Frau.

Sie reagierte nicht.

Er schöpfte Wasser mit der hohlen Hand und tröpfelte es auf ihr Gesicht. Sie reagierte nicht. Er nahm sie an den Schultern und rüttelte und rüttelte. Der Körper bewegte sich wie eine Stoffpuppe.

Sie ist in einer Art Koma oder steht unter schwerem Schock, dachte Ron. Soll ich hier bei ihr bleiben bis zum Morgen, in der Hoffnung, dass irgendeine Hilfe kommt? Wird sie bis dahin überleben?

Er wickelte die junge Frau fest in die Decke ein.

Auf dem See lag eine Stille, die von den Felshängen herunterzudrücken schien. Darüber spannte sich eine geschlossen graue Wolkendecke. Das Ufer, der Strand, der steile Aufstieg, das spärliche Gras, die wenigen Sträucher und moosbewachsenen Steinblöcke hatten ihre Farbe verloren. Wie fahle Schemen warteten sie darauf, in der Nacht zu verschwinden.

Ron öffnete die Handtasche der jungen Frau: Lippenstift, Kosmetikset, Geldbörse, eine Packung Kaugummi, Tampons, eine zusammengeknüllte Strumpfhose, ein Notizblock, ein Mont Blanc Füllhalter, ein Adressbuch und ein Reisepass.

Sie hieß Liliane Brennoven und war 18 Jahre alt, wohnhaft in Frankfurt am Main, Deutschland.

“Liliane! Wach auf! Liliane, sei ein gutes Mädchen, mach’s mir nicht so schwer!”

Liliane blieb versteckt in diesem weißen Körper. Ron schaute sie an. Sie ist ein Engel, der sich verirrt hat. Nichts sagte sie, kein Zeichen gab sie ihm, dennoch ergriff sie sein Herz. Es setzte einen Moment schmerzhaft aus. Er fühlte, dass er sein Schicksal gefunden hatte.

In einer Kiste fand er ein Seil. Er verknotete es fest mit dem Seil, das am Bug des Bodes befestigt war. Das andere Ende band er sich um den Oberkörper.

Er ließ sich ins Wasser gleiten. Diesmal war er auf die Kälte vorbereitet. Er schwamm sofort los. Mit einem leichten Ruck begann sich das Boot zu bewegen. Langsam kam er vorwärts. Jeden Zentimeter musste er dem See abtrotzen; nur widerwillig gab er seine Beute frei.

Obwohl alle seine Glieder schmerzten und das Atmen immer schwerer fiel, erschien ihm alles unwirklich. Es war, als befände er sich in einem Traum, aus dem er vergeblich versuchte aufzuwachen. Vergeblich, weil der Traum die Erinnerung an eine andere Wirklichkeit ausgelöscht hatte. Diese geheimnisvollen, geschlossenen Augen, wie haben sie ihn gefunden über alle Hindernisse, über alle Jahre hinweg? Er war in ihrem Traum gefangen. Erst, wenn sie aufwachte, konnte er frei sein.

Plötzlich spürte er Sand unter den Füßen. Das Ufer war erreicht. Er zog das Boot an Land. Das Seil band er um einen Felsblock. Dann ging er zurück, nahm Liliane auf den Arm und trug sie hinauf zu seinem kleinen Lager.

Er setzte sie gegen einen großen Stein. Er machte Feuer, erwärmte Wasser und braute schwarzen Kaffee. Zuerst trank er selbst eine Tasse.

“Liliane, dieser Kaffee wird dich wieder zu den Lebenden bringen!”

Sie machte den Mund nicht auf, die Brühe floss ihr das Kinn hinunter. Ron hielt ihr die Nase zu. Diesmal klappte es. Einige Schluck Kaffee liefen ihre Kehle hinunter, bis sie anfing zu husten, eine Reflexreaktion.

Ron trug Liliane in sein Einmannzelt. Er holte eine seiner Boxer-Shorts, ein T-Shirt, dicke Socken, eine Trainingshose und eine Daunenjacke und zog alles Liliane an. Anschließend zog er seine alten Sachen an. Dann steckte er Liliane in den Schlafsack.

Er ging hinunter zum Boot und holte Lilianes Handtasche und Rucksack. Das Feuer war erloschen, als er zurückkam. Er kroch in das Zelt und verschloss es.

Sachte schlüpfte er zu Liliane in den Schlafsack.

Wie kalt sie war!

Er drückte sie fest an sich, um sie zu wärmen. Ihr Herz pochte gegen das seine - ein fernes Pochen, es war noch weit, weit weg.

* * *

Jemand schrie.

Jemand schrie in seinem Kopf.

Ein wilder, animalischer Schrei, ein verzweifeltes Schreien.

Erschrocken riss er die Augen auf. Ein heftiger Sturm peitschte Regen gegen das Zelt. Blitze zuckten. Donner auf Donner rollte den Talkessel entlang. Zwei Augen starrten ihn an. Sie sahen ihn nicht, sie sahen etwas in weiter, weiter Ferne oder etwas tief im Innern. Dort war auch die Verzweiflung, die sie festhielt.

Ron öffnete den Reißverschluss des Schlafsacks. Er klemmte ein wenig. Langsam schlüpfte er hinaus. Er zog den Reißverschluss wieder zu. Da drinnen war sicher der trockenste Ort in diesem Unwetter.

“Liliane!”

Sie hatte aufgehört zu schreien.

“Liliane! Hab keine Angst! Alles wird gut!”

So spricht man mit Kindern. Man verspricht Dinge, deren Erfüllung nicht in unserer Macht steht.

Sie schaute ihn an, ohne ihn anzusehen.

“Liliane! Komm zu dir! Lass dich nicht gehen!”

Er öffnete einen Spalt breit das Zelt.

Der See war zornig. Wellen schlugen gegen das Ufer und versuchten, den Strand hochzuklettern. Der Wind heulte von Felsen zu Felsen. Blitze machten für kurze Augenblicke eine Wasserfläche sichtbar, die alles Licht in ihre schwarze Tiefe zog.

Das Boot hatte sich vom Strand gelöst und verschwand hinter einer Regenwand.

Ron schloss wieder das Zelt. Er kauerte sich neben Liliane.

Der Rucksack war wie ein Kokon. Wann wird der Schmetterling herausschlüpfen und seine bunten Flügel ausbreiten?

Der Regen prasselte auf das Zelt. Der Wind rüttelte an den Wänden. Ihre Augen hatten ihn entdeckt. Sie sahen ihn an, als sähen sie ihn nicht, sondern müssten ihn erschaffen.

“Wir waren drei Brüder”, erzählte Ron. “Alexander war ein Jahr jünger als ich, Markus drei Jahre jünger. Ich war der älteste, worauf ich immer besonders stolz war, so als wäre es mein Verdienst. Mein Name ist übrigens Ron. In meinem Pass steht Ronald Freitag und da ist auch ein winziges Foto von mir. Ich weiß nicht, wann ich je in meinem Leben so ausgesehen habe wie auf diesem Passfoto. Du kannst es dir ruhig einmal anschauen, Liliane!”

Er holte seinen Rucksack. Aus einer Innentasche zog er den Pass hervor. Den schlug er auf und hielt ihn Liliane vor das Gesicht. Sie schaute aber nicht auf den Pass. Ihre Blicke wichen nicht von ihm.

“Wir wohnten am Rande der Stadt, in einer etwas heruntergekommenen Villa mit einem großen Garten. Ringsherum gab es eine Mauer mit Gitterpfählen, die mit Heckenrosen überwuchert war. Der Garten war verwildert. In den Blumenbeeten gediehen ganz prächtig der Löwenzahn und die Disteln. Morsche Äste und eine dicke Schicht verwelkter Blätter lagen unter den Bäumen. Fallobst lag auf dem Boden und faulte langsam vor sich hin. Und Hasso scheuchte die Hühner ums Haus und die Tauben und alles, was sich bewegen konnte, uns drei eingeschlossen. Hasso war eine Mischlingshündin, die uns Tante Veronika an einem Ostersonntag gebracht hatte, in einem Korb mit einer rotblau karierten flauschigen Decke. Meine Mutter wollte keinen Hund. Der kommt mir nicht ins Haus, hatte sie immer gesagt. Jetzt lag der Welpe da in seinem Körbchen und schaute nur sie an. Ein kleines struppiges hässliches Etwas ... an einem Ostersonntag! Er war ja so hilflos. Da musste ein Mutterherz weich werden.”

Lilianes Augen hingen an seinen Lippen. Sie waren nicht mehr starr, vielleicht verfolgten sie einen Hund, der im Garten tobte, oder betrachteten ein Weidekörbchen.

“Stell dir jetzt vor: drei Brüder. Der eine, fangen wir mit mir an, ein Bücherwurm, saß am liebsten auf einer Bank, neben sich einen Krug Limonade und eine dicke Scheibe Brot, in der Hand ein Buch, immer ein Schmöker mit mutigen Forschern, wilden Stämmen, giftigen Spinnen, Tigern, Löwen, Panther und Elefanten. Es konnten auch säbelschwingende Sarazenen, blutrünstige Mongolen oder Indianer auf dem Kriegspfad sein. Wie du siehst, wollte dieser Bursche nicht hinter einem Buch sitzen, sondern in die Welt hinausziehen und viele Abenteuer erleben.”

Der Regen prasselte unvermindert auf das Zelt.

“Der zweite, Alexander, der wollte nicht lesen. 'Alles Zeitverschwendung', sagte er, wo es doch so viel zu erleben gibt. Mit seinen abstehenden Ohren, seinen Sommersprossen und seinen stets ungekämmten Haaren versetzte er alle Tantchen und Onkelchen in größte Aufgeregtheit und moralische Entrüstung. Was stellt er jetzt wieder an? Da wurden zum Beispiel Gänse befreit oder Katzen ein Glöckchen an den Schwanz gebunden oder Käfer eingesammelt und beim Sonntagsbraten vorgeführt. Dieser Junge wollte, dass man von ihm spricht und ihn bewundert. Ja, so war er, Alexander. Kein bisschen hat er sich verändert. Du wirst ihn ja noch kennen lernen, Liliane!”

Liliane schaute ihn an, als wollte sie sagen, dass dies bestimmt nicht ihr Wunsch sei.

Ron öffnete seinen Rucksack. Ah, ja, das hätte ich beinahe vergessen! Eine metallene Flasche im Lederetui. Die Verschlussklappe war zugleich ein Becher. Er füllte ihn mit dem Whisky, den ihn dieser Münzen sammelnde Wirt verkauft hatte. Vorsichtig setzte er ihn an Lilianes Lippen. Tropfen für Tropfen trank sie den Becher leer. Beinahe hätte er geweint vor Freude.

“Ron und Alexander, die kennst du jetzt. Kommen wir zum dritten, Markus. Warum er diesen biblischen Namen bekam, weiß ich nicht. Keiner meiner Eltern war fromm. In die Kirche gingen wir nur an besonderen Feiertagen oder wenn Oma zu Besuch war. Aber Markus war trotzdem der richtige Name für ihn. Er war ein ernstes Kind. Er weinte, wenn Alexander mit Steinen nach den Hühnern warf. Er verstand es nicht, wenn wir ihn neckten, stumm und vorwurfsvoll sah er uns dann an. Am liebsten saß er in der Küche und half Mutter beim Kartoffelschälen oder Geschirrspülen und solchen Sachen. Kurzum, wir konnten nichts mit ihm anfangen. Was will man mit so einem Bruder? Er hatte aber einen Schutzengel. Das war Hasso, der ihn immer im Auge behielt und sofort zu seiner Verteidigung bereit stand. Deshalb konnten wir ihn nicht einmal so ärgern, wie wir das gern gemacht hätten. Das waren die drei Freitagsbrüder. Jetzt kannst du sie dir vorstellen.”

Liliane nickte kaum wahrnehmbar mit dem Kopf.

“Es war ein kleines Paradies. Allerdings mit einer Mauer drumherum. Die Straße hinunter, hinter einem kleinen Hügel, da begann der Wald, der endlose, geheimnisvolle Wald. Da mussten wir hin, den mussten wir erforschen, erobern. Es war nämlich so: Es war uns verboten worden, dort allein hinzugehen. Man konnte sich leicht darin verirren. Es gab böse Menschen, die nur darauf lauerten, kleine Buben mit Haut und Haaren zu fressen. Dann waren da noch Wildschweine, Hornissen, tollwütige Füchse und natürlich der Große Böse Wolf. Wenn das nicht ein Abenteuer versprach!”

Ein kleines Funkeln strahlte in Lilianes Augen.

“Alexander und ich, wir machten Schlachtpläne. Wenn es galt, etwas Verbotenes zu tun, dann waren wir uns immer einig. Sonst gingen wir uns aus dem Weg. Aber was war mit Markus? Der musste schon deshalb mit, damit er uns nicht verraten konnte. An einem Samstagnachmittag kam unsere Chance. Mutter wollte plötzlich die ganze Wäsche waschen, die sich im Laufe der Zeit angehäuft hatte. Sie hasste diese Arbeit und schob sie immer wieder hinaus. Auf jeden Fall waren wir im Weg. Damit wir auch nicht gleich alles wieder schmutzig machten, wurden wir zu Tante Veronika geschickt. Lederhosen, feste Schuhe, die wir selbst putzen mussten, wollene Kniestrümpfe, die juckten, und Hemden mit langem Ärmel, obwohl es Sommer war – so wurden wir losgeschickt und ermahnt, schön brav zu sein und ihr keine Schande zu machen. Wir trotteten also brav die Straße hinunter, bis wir außer Sichtweite waren. Mit einem kleinen Kopfnicken packten wir Markus und rannten den Hügel hinauf und hinunter zum Wald. Da war ein Bach, nicht tief, aber so breit, dass wir nicht drüberspringen konnten. Das erste Abenteuer! Markus fing an zu weinen.”

Liliane bewegte sich. Ron bückte sich und half ihr, sich aufzurichten. Ihre Augen waren dunkelgrün.

“Jetzt half mir meine Lektüre. Wir suchten große Steine. Die warfen wir in den Bach. So konnten wir bequem den gefährlichen Amazonas überqueren. Krokodile und Pirañas hielten sich versteckt. Der Wald war schon etwas unheimlich. Bäume, Sträucher, der Boden bedeckt mit Laub und Gestrüpp, Farne und umgestürzte Baumstämme – man fühlte sich plötzlich ungeschützt. Hinter jedem Schatten konnte eine Gefahr lauern. Dazu kamen die ungewohnten Geräusche: der Wind in den Baumwipfeln, das Klopfen eines Spechts, die Rufe von Vögeln und ein merkwürdiges Rascheln, von dem man nicht wusste, aus welcher Richtung es kam. Markus weinte immer noch. Da mussten Alexander und ich beweisen, dass wir keine Angst hatten. Wir suchten uns herabgefallene Äste und brachen die kleinen Äste und Zweige ab. Jetzt hatten wir Stöcke. Sie wurden unser Schwert, unsere Lanze oder unser Knüppel. Markus bekam auch einen in die Hand gedrückt. Er umklammerte ihn, als könne er ihn vor dem Ertrinken retten. Weiter ging’s!”