Reisen außerhalb der Zeit: Strategien der Selbstinszenierung im Kino von Manoel de Oliveiraen außerhalb der Zeit - Marc Frei - E-Book

Reisen außerhalb der Zeit: Strategien der Selbstinszenierung im Kino von Manoel de Oliveiraen außerhalb der Zeit E-Book

Marc Frei

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Beschreibung

„[W]hat I am and always have been is a man of cinema.” Visita ou Memórias e Confissões Manoel de Oliveira hat das portugiesische Kino von der ausklingenden Stummfilmzeit bis ins digitale Zeitalter geprägt. Seine Aussage, ‘was ich bin und immer schon war, ist ein Mann des Kinos’, überrascht vor diesem Hintergrund in keiner Weise. Tragweite, Fragilität und Intimität dieses Bekenntnisses zur eigenen Kunst werden jedoch erst im historischen Kontext fassbar. Es handelt sich dabei keineswegs um die retrospektive Selbsteinschätzung eines gefeierten Regisseurs, ganz im Gegenteil: Als der zweiundsiebzigjährige Oliveira diesen Satz 1981 in die Kamera spricht, hatte er alles verloren. Portugal stand nach der Revolution vor einem Scherbenhaufen der kolonialen Befreiungskriege; Oliveira sah sich mit dem scheinbaren Ende einer durch die Diktatur ausgebremsten Regiekarriere konfrontiert. Marc Freis innovative Studie widmet sich den Strategien der Selbstinszenierung in den autobiografischen Filmen Visita ou Memórias e Confissões (1982) und dem rund zwanzig Jahre später gedrehten Porto da Minha Infância, die in Oliveiras Werk bisher wenig Beachtung gefunden haben: Es sind Filme des Umbruchs, die an der Schwelle zwischen Altem und Neuem, Selbst und Welt, Realität und Fiktion – im Dazwischen – nicht nur ein Leben für den Film, sondern ein ganzes Œuvre, das Schicksal einer Nation im Wandel und die poetischen Möglichkeiten des Mediums neu perspektiveren. In seiner präzisen Analyse ergründet Frei die zwielichtigen Schattenwelten, die hinter den filmischen Bildern lauern, blickt ins Kabinett verspiegelter subjektiver Präsenzen, stellt den Gespenstern nach, die bis heute die portugiesische Gegenwart heimsuchen, und begibt sich schließlich auf eine Reise – „fora do tempo“ – außerhalb der Zeit, um einem Zeitreisenden auf die Spur zu kommen.

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Manoel de Oliveira – Versuch einer Annäherung

Visita ou Memórias e Confissões (1982/2015) – Ein filmischer Nachlass

Porto da Minha Infância (2001) – Eine nostalgische Liebeserklärung

Fragestellung

Theoretische Grundlagen

Die beiden Filme – ein kurzer Forschungsüberblick

Die Autobiographie – das Problem des Mediums

Das Selbstporträt und der Essay

Text, Kontext und die Rolle der Zuschauer*innen

Thesen

Porto da Minha Infância

Vorspann – der Name, ein Epigraph und der Atlantik

Hierarchien und Grenzgänge – Film und Fotografie

Begegnungsräume – Film und Theater

Ein Gang durch die Geschichte – Kunst und Nation

Ein gemeinsamer Gang durch Porto – Film und Literatur

Anfänge und Enden: Ich, das Kino und Portugal

Visita ou Memórias e Confissões

Vorgeschichten – zwischen privatem Verlust und nationaler Selbstfindung

Vorspann – Der Name, das Haus und ein Gespenst

A haunted house – Visita

Autobiographische Projektionen/gespenstische Figur – Memórias e Confissões

Visita/Non – eine Geschichte Portugals

Rückblick und Ausblick

Bibliografie

Filmografie

Primäres Korpus

Sekundäres Korpus – Filme von Manoel de Oliveira

Weitere Filme

Bonusmaterial

Abbildungsverzeichnis

Einleitung

Manoel de Oliveira – Versuch einer Annäherung

Wie nähert man sich dem Werk eines Filmemachers, der mit DOURO, FAINA FLUVIAL (PT) in interessanter Anlehnung an Walter Ruttmanns BERLIN – DIE SINFONIE DER GROSSSTADT (DE 1927) 1931 seinen ersten Stummfilm drehte und danach noch bis ins heutige digitale Zeitalter Filme gemacht hat? Manoel de Oliveiras Schaffensphase umfasst eine Zeitspanne von über achtzig Jahren und hat zahlreiche kinematographische Revolutionen miterlebt. Als ältester noch aktiver Regisseur wurde er nach der Jahrtausendwende weltberühmt; gleichzeitig hat wahrscheinlich niemand das portugiesische Kino so geprägt wie der 1908 geborene Mann aus Porto. In mehreren Interviews seit den 1980er Jahren sorgte er unter anderem mit dem Ausspruch „Das Kino existiert nicht“ für Aufsehen, was für mich einen schönen Ausgangspunkt bildet, um mich dem Filmemacher und seinem Werk anzunähern (Oliveira zit. n. Biette/Tesson 1988: 16). In diesem kleinen Satz klingen nämlich still und leise bereits einige zentrale Themenkomplexe an, denen man in seinen Filmen – einmal an der Oberfläche, ein andermal unterschwellig – stets wiederbegegnet: Die Fragen nach der Beziehung zwischen Realität und Repräsentation, Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Film und Welt sowie die Suche nach den Eigenarten und der Poesie des Mediums Film im Verhältnis zu den anderen Künsten sind in seinem Werk allgegenwärtig. So philosophiert Carla Gago am Ende ihres Aufsatzes zur Theatralität in Oliveiras Filmen: „Dass das Kino nicht existiere, hatte er genauso gut behaupten können, wie dass das Leben nicht existiere. Was laut Oliveira tatsächlich existiert, ist das Theater, die Repräsentation“ (Gago 2009: 103). Daran anschließend lässt sich mit Thomas Brandlmeier eine weitere Deutung von Oliveiras kryptischen Worten anfügen: Es sei im Grunde nur eine zugespitzte Formulierung, „die für alle Formen gilt, die nur in der Zeit, also eigentlich gar nicht existieren, wie Performance, Literatur, Musik, Theater oder Film […]. Und listig setzt Oliveira hinzu, dass das auch für das Leben gilt“ (Brandlmeier 2010: 161).

Manoel de Oliveira, sein Name sowie sein – der Zeit trotzender – Körper stehen stellvertretend für das portugiesische Kino und umgekehrt; spricht man vom portugiesischen Kino oder der Geschichte des portugiesischen Films, führt kein Weg an seiner Person vorbei. Wenn ich in der Folge den obskuren Arten und Weisen der filmischen (Selbst-)Inszenierung seiner Person oder gar nur den Markierungen (s)einer Präsenz in seinen Werken auf den Grund gehen möchte, werde ich mir nach obigem Zitat also auch stets die Frage nach den Möglichkeiten des Mediums Film stellen müssen. Entgegen aller Logik kommt man nämlich manchmal nicht umhin, bei seinen Filmen schmunzelnd mit dem Gedanken zu spielen, ob es der alte Mann aus Porto nicht doch irgendwie geschafft hat, der Physik sowie der Zeit zumindest mittels Poesie ein Schnippchen zu schlagen. Manoel de Oliveira verstarb während der Vorbereitung weiterer Filmprojekte 2015 im Alter von 106 Jahren. In den letzten Zeilen eines in Die Zeit erschienenen Nachrufes heißt es: „‚Im Leben bedeutet ein Verlust immer auch einen Neubeginn‘, sagte der Regisseur. ‚Die Kunst ist darin nicht mehr als die Musik der verschwundenen Dinge‘“ (Lenssen 2015: 2). Was mich an diesem Artikel fasziniert, ist die Tatsache, dass der Tod von Oliveira weder im Titel noch im Fließtext, der sich seinem filmischen Werk widmet, Erwähnung findet, sondern erst als letzter Satz in einem eigenen Absatz – ganz so, als wäre er nicht gestorben, sondern transzendent ganz einfach zum Kino selbst geworden.

Mit diesem Mythos um den Portugiesen sah sich in den frühen 1990er Jahren sicherlich auch der deutsche Kultregisseur Wim Wenders bei den Dreharbeiten zu LISBON STORY (DE/PT 1994) konfrontiert. Wenders Film ist sowohl eine Liebeserklärung an die Stadt Lissabon und ihren Dichter Fernando Pessoa als auch eine postmodern verzerrte, doch stets auch nostalgische Rückbesinnung an die Anfänge des Kinos. Die Geschichte handelt vom deutschen Tontechniker Phillip Winter, der dem Hilferuf seines Regiekollegen Friedrich Munro folgend quer durch Europa nach Lissabon fährt, um diesem bei der Vollendung eines Films zu helfen. Sinnbildlich werden beide – der eine filmend, der andere mit seinem Aufnahmegerät – gleich dem Hilfsbuchhalter Bernardo Soares aus Pessoas Buch der Unruhe zu melancholischen Stadtwanderern. Ähnlich der Referenz auf den portugiesischen Dichter steht im Zentrum des selbstreflexiven Diskurses über das Medium ein kurzer Auftritt des damals vierundachtzigjährigen Manoel de Oliveira. Weder eingeleitet noch mit Namen vorgestellt oder mit irgendeiner Figur innerhalb der Diegese interagierend, philosophiert er in einem Tonstudio über das Medium Film:

[E]verything has already passed. But who can be sure that what we think happened, really happened? Who should we ask? Therefore, this world, this supposition, is an illusion. The only real thing is memory. But memory is an invention. Deep down, memory is … I mean, in the cinema the camera can capture a moment. But that moment has already passed. What cinema does, is draw a shadow of that moment. We are no longer sure if the moment ever existed outside the film. Or is the film proof that the moment existed? I don’t know. I know less and less about that. (1:10:07–1:11:18)1

Dem Tonstudio folgt bei anhaltendem Monolog eine Szene in Schwarzweiß, in der Oliveira mit beiden Händen eine Einstellung kadriert (Abb. 2–3) und anschließend eine Slapstick-Einlage im Stile Chaplins zum Besten gibt (Abb. 4). Zwar blickt Oliveira unmittelbar davor mit dem Satz „Who should we ask?“ direkt in die Kamera (Abb. 1), diese ist jedoch nicht Teil der Diegese – sondern die Frage ist an uns Zuschauer*innen gerichtet, wodurch seiner Figur urplötzlich ein anderer Status innerhalb der filmischen Erzählung zukommt. Die Bilder beginnen seiner Stimme zu folgen und verfangen sich zwischen Realität, Film und Film im Film in den poetischen Widersprüchen ihrer eigenen Existenz. Oliveira ist dabei mehr als eine reale Person auf Film und eine Figur innerhalb der filmischen Erzählung, denn seine audiovisuelle Erscheinung – das repräsentierte Subjekt, von dem wir hier ein kleines filmisches Porträt erhalten – gerinnt für einen kurzen Moment zu einer obskuren Präsenz zwischen fingiert personalisierter Erzählinstanz und, in der Referenz auf Chaplin, einer Personifikation des Kinos selbst. Dieses Segment aus LISBON STORY ist einerseits sicherlich Teil eines filmischen Metadiskurses. Andererseits lässt sich dieser Ausschnitt aber eben auch als ein subtiles, essayistisches Porträt des Portugiesen lesen; und dies ganz in demselben Stil, wie sich Oliveiras nur schwer fassbare Omnipräsenz in seine eigenen Filme einzuschreiben pflegte – stets als eine Präsenz in einem Dazwischen.

Abb. 1–4: Screenshots aus LISBON STORY (1:10:15; 1:1:10:29; 1:10:42; 1:11:07)2

Mit den verschiedenen Spielarten der filmischen Selbstinszenierung bei Oliveira möchte ich mich in der Folge vertieft beschäftigen. Ins Zentrum stelle ich zwei Filme, die aufgrund ihres besonderen autobiographischen Bezugs aus dem Werk des Portugiesen herausstechen: Man kann VISITA OU MEMÓRIAS E CONFISSÕES (PT 1982/2015) und PORTO DA MINHA INFÂNCIA (PT 2001) durchaus als Dokumentarfilme bezeichnen, es wäre jedoch nach dem bereits Gesagten nicht angebracht, bei dieser Kategorisierung zu bleiben. Die Filme sind auf der einen Seite essayistische Abhandlungen über den Film als Medium der Erinnerung, und jeder ist auf seine Weise eine Annäherung an den sich erinnernden Regisseur und sein Werk. Auf der anderen Seite sind die persönlichen Lebensgeschichten nie losgelöst von Reflexionen über die historische Entwicklung und die Eigenarten des kleinen Landes am Rande Europas, über den Ort, an dem Oliveira aufwuchs, sowie über die Geschichte des Kinos. Die Geschichte, das Schicksal Portugals und die Poesie des filmischen Bildes sind Themenkomplexe, die Oliveira durch sein ganzes Werk hindurch und nicht lediglich in diesen beiden Filmen beschäftigt haben. Sowohl in der Annäherung an ein filmisches Ich als auch in der Art und Weise, wie diese Ich-Entwürfe als Reflexion über eine nationale Identität Portugals lesbar werden, sind in den beiden Filmen wiederum unterschiedliche Formen der Selbstinszenierung zu beobachten. Und die Frage nach diesen Unterschieden rückt schließlich den historischen Kontext beider Filme und die politische Dimension der Selbstinszenierung in den Fokus. Dem Blick einer Ich-Figur des Regisseurs nach außen auf seine Heimatstadt und auf die darin heimische literarische Tradition Portugals in PORTO DA MINHA INFÂNCIA stellt sich im posthum veröffentlichten VISITA OU MEMÓRIAS E CONFISSÕES ein letzter mysteriöser Gang durch ein verlorenes Eigenheim, eine urprivate Familiengeschichte und letztlich der existenzielle Entwurf eines künstlerischen Selbstverständnisses entgegen. Ohne den Anspruch, in dieser Studie ein ganzes filmisches Werk erschließen zu wollen, werde ich im historischen Dunstkreis der beiden Filme dennoch auf weitere Filme von Oliveira eingehen. Vorab seien hier nun aber lediglich diese beiden Filme vorgestellt, die in der Folge im Zentrum meiner Aufmerksamkeit stehen.

VISITA OU MEMÓRIAS E CONFISSÕES (1982/2015) – Ein filmischer Nachlass

Dass der Zeitlichkeit, dem Verhältnis zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft in den Filmen von Manoel de Oliveira große Bedeutung zukommt, offenbart sich bereits bei der ganz einfachen Frage danach, mit welchem Film man an dieser Stelle die Vorstellungsrunde beginnen möchte. Der Versuch, sich an eine chronologische Abfolge seines Werks zu halten, ist vorab zum Scheitern verurteilt. Entstand und erschien PORTO DA MINHA INFÂNCIA im Jahr 2001, liegen zwischen der Fertigstellung und der ersten öffentlichen Vorführung von VISITA OU MEMÓRIAS E CONFISSÕES im Jahr 2015 unmittelbar nach Oliveiras Tod dreiunddreißig Jahre. Der Film entstand nicht nur an einem ganz persönlichen Wendepunkt für den damals dreiundsiebzigjährigen Manoel de Oliveira und dessen Familie, sondern beschäftigt sich auch eindringlich mit dem Schicksal und der Zukunft eines ganzen Landes, das sich nach der Nelkenrevolution 1974 zu einem Neuanfang gezwungen sah. Wie der Titel VISITA OU MEMÓRIAS E CONFISSÕES verheißungsvoll postuliert, ist es sowohl ein Film über Abschiede als auch über Neuanfänge – über Erinnerungen, Geständnisse und einen letzten Besuch am scheinbaren Ende einer Regiekarriere in einem Land voll von jahrhundertealten plötzlich zerbrechenden Träumen und Hoffnungen.

Die drei existierenden 35 mm-Kopien des Films wurden nach Drehschluss der Cinemateca Portuguesa in Lissabon, der Fondation Gublenkian und der Cineteca Nazionale in Rom übergeben, und Oliveira verfügte, dass sie – sozusagen als ein Abschiedsbrief bereits zur Entstehungszeit des Films – erst nach seinem Tod der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die einzige Ausnahme stellte ein Screening am 15. Oktober 1993 in der Cinemathek in Lissabon für Crew, befreundete Filmemacher*innen und Familienangehörige Oliveiras dar (vgl. Parsi 2015: 26f.). Die Tatsache, dass Oliveira danach jedoch noch bis ins Jahr 2015 Filme machen wird, ja gar erst nach diesem Film seine produktivste Schaffensphase beginnen sollte, entzieht diesen filmischen Nachlass jeglicher zeitlichen Dimension: VISITA OU MEMÓRIAS E CONFISSÕES ist in gewissem Sinne mumifiziert und gleichzeitig wortwörtlich aus der Zeit gefallen, als hätte er diese menschliche Messgröße in irgendeiner unbeschreiblichen Weise überwunden.

Im Zentrum des knapp über sechzig Minuten langen Films steht Oliveiras Familienanwesen an der Rua da Vilarinha in Porto. Oliveira wohnte mit seiner Familie während über vierzig Jahren in der sogenannten „Casa Vilarinha“, die vom modernistischen Architekten José Porto entworfen und im Jahr 1942 fertiggestellt wurde (vgl. Preto 2019: 20). Neben seiner Regietätigkeit führte Oliveira während der Diktatur eine Textilfabrik in Familienbesitz und baute unter anderem Portwein an (vgl. Parsi 2015: 27f.). Sein filmisches Schaffen wurde bis zur Revolution von der Zensur ausgebremst. In der Zeitspanne zwischen 1931 und 1974 drehte Oliveira nur drei Langspielfilme: Die avant la lettre neorealistische Kindergeschichte ANIKI BÓBÓ (PT 1942), das subversive Reenactment der Passionsgeschichte ACTO DA PRIMAVERA (PT 1963) und schließlich, wiederum einen neuen Weg einschlagend, den – „gegen alle Regeln der Darstellungscodes verstoßende[n]“– ersten Teil der „Tetralogie der frustrierten Liebe“, O PASSADO E O PRESENTE (PT 1972) (Bénard da Costa 1997: 145). Die Nelkenrevolution bedeutete für Oliveira jedoch nicht nur die lang ersehnte künstlerische Befreiung, sondern ihre Folgen trieben ihn auch in den finanziellen Ruin. Die Textilfabrik wurde besetzt und geplündert, woraufhin seine Familie auf den Schulden, die kurz zuvor durch den Kauf neuer Maschinen entstanden waren, sitzen blieb (vgl. Parsi 2015: 28f.; Preto 2019: 28). Oliveira und seine Frau wurden dazu gezwungen, die Casa Vilarinha zu verkaufen. Seine ausführlich dokumentierten Versuche, das Haus der öffentlichen Hand zukommen zu lassen und als Zeitdokument modernistischer Architektur zu erhalten, scheiterten allesamt (vgl. Preto 2019: 24–27). Der Film stellt nun den subjektiven Erinnerungen an ein familiäres Leben den Gang zweier unsichtbarer Stimmen durch die gespenstisch leere Casa Vilarinha gegenüber. Wie dabei die scheinbar manifeste Gestalt des Regisseurs im Kontext der posthumen Veröffentlichung des Films einerseits zu einer gespenstischen Schattengestalt und das verlorene Haus zu einer Metapher für den Film und das Kino werden, ist nur ein Teil meiner weiterführenden Untersuchungen. Denn andererseits wird der Film vor dem turbulenten historischen Hintergrund der gefallenen Diktatur und der verheißungsvollen Nelkenrevolution auch als politischer Selbstentwurf eines Regisseurs lesbar, der im Blick auf sich selbst die Frage nach der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Portugals aufwirft.

PORTO DA MINHA INFÂNCIA (2001) – Eine nostalgische Liebeserklärung

Kann man VISITA OU MEMÓRIAS E CONFISSÕES als politischen Selbstentwurf und enigmatischen Abschiedsbrief eines Mannes lesen, der alles verloren hatte, steht diesem PORTO DA MINHA INFÂNCIA – anlässlich der Wahl der Stadt Porto zur Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2001 gedreht – beinahe als Auftragsarbeit gegenüber. Genau wie Wim Wenders’ LISBON STORY bei der Wahl Lissabons zur Kulturhauptstadt Europas im Jahr 1994 wurde der Film von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mitfinanziert (vgl. Liz 2018: 120f.) und zeichnet – wie der Titel „Das Porto meiner Kindheit“ bereits andeutet – ein äußerst nostalgisches Porträt der Stadt am Douro. Sowohl die Ausgangsituation für Manoel de Oliveira als auch Portugals Stellung innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft hatten sich seit VISITA OU MEMÓRIAS E CONFISSÕES drastisch geändert. Auch wenn Letztereracht Jahre nach der Nelkenrevolution und nach dem Zerfall der portugiesischen Kolonialbesitztümer in Angola und Mozambique gedreht wurde, kann man ihn als eine persönliche Reflexion oder gar als Verarbeitung dieser historischen Ereignisse und der politischen Wirren danach betrachten. Demgegenüber feiert bereits die Produktionsgeschichte von PORTO DA MINHA INFÂNCIA Portugalals Teil eines zwanzig Jahre zuvor noch so fernen neuen Europas.

Ähnlich wie Wim Wenders LISBON STORY ist PORTO DA MINHA INFÂNCIA jedoch alles andere als ein Marketingspot für ein geeintes Europa. Verkörpert der melancholische Stadtwanderer Phillip Winter in LISBON STORY, trotz der zahlreichen Metaebenen des Films, einen eher romantisch-touristischen Blick von außen auf die Stadt Lissabon, nähert sich Oliveiras Film der Stadt seiner Kindheit durch die ganz persönlichen Erinnerungen des Regisseurs an. Im Zentrum stehen dabei die Veränderungen, die Porto im 20. Jahrhundert widerfahren sind. Vorangetrieben von einem erinnernden Voice-over von Manoel de Oliveira stellt der Film der blassen Gegenwart eine von Archivbildern und Reenactments getragene Vergangenheit gegenüber. Hier lässt sich eine weitere Parallele zu Wenders Film ziehen: Auch wenn der Blick auf die Stadt ein anderer sein mag, sind die Fragen nach dem Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart und nach der Beziehung von Portugal zu Europa in beiden Filmen miteinander verbunden. Wie Mariana Liz in ihrem Aufsatz „Cinema and the City in European Portugal“ beobachtet, zeichnen beide das Bild eines Landes, das einerseits seine periphere Stellung erkennt, sich andererseits aber gleichzeitig von Europa angezogen fühlt, ohne sich ihm angleichen zu wollen (vgl. 2018: 132). So meint Liz weiter:

LISBON STORY seems to distance Lisbon from the rest of Europe, by showing how different Portugal was to, for instance, France and Germany. PORTO DA MINHA INFÂNCIA dismisses contemporary Europe as a cultural project that aims for unification, and instead locates Porto’s more valuable transnational feel in the past. […] Lisbon emerges as both quaint and in construction; Porto used to be a city of leisure and culture and is now being changed into a post-modern space for consumption. (ebd.)

In einem subjektiven Gang durch die Gegenwart und die Vergangenheit der Stadt am Douro rückt bei Oliveira jedoch nicht nur die Beziehung zwischen Portugal und Europa in den Fokus, vielmehr lenkt der Blick auf die literarische Tradition Portugals die Aufmerksamkeit wiederum auf den Entwurf der Ich-Figur des erzählenden Filmemachers und seine Position innerhalb des narrativen Dispositivs. Einerseits evoziert der Stadtraum die Erinnerungen an ein früheres Leben dieser erinnernden Ich-Figur und ermöglicht ihr wortwörtlich eine Begegnung mit der eigenen Vergangenheit. Andererseits stellen sich der Stimme des Regisseurs im Stadtraum die Spuren der Geschichte Portugals und die Werke anderer portugiesischer Künstler*innen gegenüber. In dieser Konfrontation mit anderen Werken und Medien werden auch das Medium des Films, seine Geschichte und seine poetischen Möglichkeiten in einen Dialog überführt. Mit den Arten und Weisen der Selbstinszenierung im Medium des Films rückt schließlich auch die Frage nach einer nationalen Identität und nach der Beziehung von Subjekt und Nation in den Fokus.

Fragestellung

Wie dies in den historisch sowie narrativ komplexen Anlagen der beiden kurz vorgestellten Filme bereits anklingt, möchte ich mich in der Folge fragen, mit welchen filmischen Mitteln und auf welchen Ebenen der audiovisuellen Erzählung Manoel de Oliveira, sozusagen in der autobiographischen Rolle seiner selbst – zwischen Figur(en), personifizierter Erzählinstanz, lediglich als fragmentarisches Puzzle aus Bild- und Tonsegmenten oder als Präsenz im Off hinter der Kamera – ein filmisches Zeugnis von sich entwirft. Das Verhältnis zwischen Figur, Erzähler*in und Filmemacher*in sowie die raumzeitliche Struktur der Erzählung gehören zu den zentralen Distinktionsmerkmalen subjektiver literarischer Ausdrucksformen, allen voran der Autobiographie, die folglich einen Ausgangspunkt meiner theoretischen Annäherung darstellen soll. Ungleich der Unmittelbarkeit der geschriebenen Sprache als persönlichem Ausdruck einer kreativen hervorbringenden Instanz, ist die mediale Distanz zwischen Autor*in und Werk beim Film größer und bleibt ambivalenter: Denn weder kann ein Film als Produkt nur einer Person verstanden werden, noch sind die filmischen Ausdrucksmittel mit der grammatikalischen Möglichkeit der Sprache, ‚Ich‘ zu sagen, vergleichbar. Um als persönliche Rede oder Sicht einer realen Person gelesen zu werden, muss sich das Medium Film also mit anderen Konfigurationen behelfen. Mich interessieren nun ebendiese Konstruktionsweisen der filmischen Selbstinszenierung (s)einer Autorfigur.

Auch wenn der Blick auf die persönliche Produktionsgeschichte und auf den nationalen historischen Kontext aufschlussreiche Deutungen des filmischen Texts freilegen, möchte ich an dieser Stelle festhalten, dass es in meiner Untersuchung nicht darum geht, aus der ästhetischen Anlage der Filme auf psychologische Muster eines Subjekts zu schließen. Auf einer semiotischen und ästhetischen Textanalyse der beiden Filme aufbauend, werde ich mein Augenmerk vor allem auf die Kippmomente, Brüche und Grenzüberschreitungen innerhalb des narrativen Kontinuums und der Figurenkonstitution respektive -gestaltung richten, um diese als Teil eines poetischen Prinzips der beiden Filme zu untersuchen. Wie ich zeigen möchte, liegt die Poetik dieser beiden Filme und die Art und Weise, wie Oliveira sich selbst, sein Haus und seine Heimatstadt Porto inszeniert, gerade in einem Spiel zwischen den Polen hier und dort, Gegenwart und Vergangenheit, An- und Abwesenheit, Eigenem und Anderem sowie Subjekt und Nation und damit in den Gegensätzen und Leerstellen, die die Faszination des Mediums Film, das Enigma einer theoretischen Konzeptualisierung dieser subjektiven Erzählformen, aber schließlich auch das eigen- und einzigartige Selbstverhältnis eines einst weltmächtigen Landes am Rande Europas ausmachen.

1 Leider hatte ich bei keinem der analysierten Filme Zugang zu einem portugiesischen Transkript der Dialoge oder zu einer DVD-Fassung mit portugiesischen Untertiteln. Meine Kenntnisse der portugiesischen Grammatik reichen nicht aus, um die Dialoge zu transkribieren. Aus diesem Grund werde ich mit den englischen Untertiteln arbeiten und bei Unklarheiten oder falschen bzw. mangelhaften Übersetzungen das portugiesische Wort in eckigen Klammern ergänzen. Dafür reichen meine Sprachkenntnisse aus. Weitere Angaben zur verwendeten DVD-Fassung (Label) finden sich in der Filmografie am Ende des Buches.

2 Die Abbildungen sind immer einer szenischen Einheit entnommen. Sollte dies bei einer späteren Bildfolge nicht der Fall sein, so wird es in der Analyse und im Verweis auf die Bilder im Text deutlich gemacht.

Theoretische Grundlagen

Die beiden Filme – ein kurzer Forschungsüberblick

Nach dieser ersten Annäherung möchte ich meiner Analyse auf der Grundlage klassischer und neuerer Studien zu Selbstdarstellungen in Literatur und Film einige Begrifflichkeiten und Konzeptualisierungsansätze sowie einen groben Abriss über die bisherige Forschung zu den beiden Filmen voranstellen.

Wissenschaftliche Beiträge zu VISITA OU MEMÓRIAS E CONFISSÕES beschränken sichim Rahmen von größeren Werkschauen aus dem portugiesischen, französischen und englischen Sprachraum mehrheitlich auf deskriptive Zusammenfassungen. Natürlich fehlt in keiner dieser Arbeiten der Verweis auf die außergewöhnliche, in der Filmgeschichte wohl einzigartige Anlage des Projekts. Eine weiterführende filmhistorische oder ästhetische Studie sucht man jedoch meist vergebens. Dies lässt sich sicherlich damit erklären, dass der Film erst im Jahr 2015 einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde und sich durch seine Anlage und Erzählweise gegen eine einfache Lektüre sowie in gewissem Sinne gegen eine Auseinandersetzung im Rahmen einer klassischen Filmkritik stellt – soll heißen, dieser filmische Monolith verlangt nach einer ausführlichen Verortung sowohl im Œuvre von Oliveira als auch innerhalb der literarischen und politischen Geschichte Portugals.

Hervorheben möchte ich an dieser Stelle aber einige wenige Ausnahmen, die sich intensiver mit Oliveiras Werk und in diesem Rahmen nach 2015 mit dem Film beschäftigt haben: Erstens setzte sich der französische Filmwissenschaftler Guillaume Bourgois in seiner Doktorarbeit sowie in zwei neueren Aufsätzen mit der Nähe von Oliveiras Werk zu den Erzählstrategien und Subjektkonstruktionen im Werk von Fernando Pessoa auseinander. Sowohl VISITA OU MEMÓRIAS E CONFISSÕES als auch PORTO DA MINHA INFÂNCIA sind Teil dieser Untersuchungen, die mich noch weiter beschäftigen werden. Bourgois sieht vor allem in Oliveiras Verwirrspiel verschiedenster (Erzähl-)Stimmen und Figuren als obskure Spiegelungen des Selbst eine Parallele zu Fernando Pessoas Vervielfältigungsstrategien. Auch wenn der zum universalen Portugiesen stilisierte Fernando Pessoa in meiner Annäherung an das eigenwillige Selbstverhältnis und Selbstverständnis Portugals noch eine Rolle spielen wird, möchte ich diesbezüglich einen anderen Weg einschlagen und Bourgois’ These hinterfragen.

Zweitens veröffentlichte das angesehene moderne Kunstmuseum Serralves in Porto anlässlich der Eröffnung der Casa do cinema im Sommer 2019 eine Aufsatzsammlung mit dem Titel Manoel de Oliveira. A Casa. Die in diesem Band versammelten Aufsätze nähern sich dem Werk ausgehend von Oliveiras posthum veröffentlichten Film mit spezifischem Augenmerk auf die politische, soziale, poetische oder auch die ganz private Bedeutung des Hauses. Dieser Fokus auf das Haus als Ding/Objekt – ganz allgemein als Gegenüber/Anderes, als Projektionsfläche, Spiegel und schließlich als Motiv –, das ausgehend von VISITA OU MEMÓRIAS E CONFISSÕES weite Kreise durch Oliveiras Werk zieht, eröffnet noch einmal eine andere erfrischende Perspektive auf mögliche Arten und Weisen der Selbstinszenierung.

Schließlich schlägt auch der von Jacques Parsi anlässlich von Oliveiras Tod veröffentlichte Aufsatz „Film posthume“ einen ähnlichen Weg ein und diskutiert sowohl die Stellung des Hauses in Oliveiras Werk als auch die multiplen subjektiven Ausdrucksformen vor dem Hintergrund der politischen Neuorientierung, mit der sich Portugal nach der Revolution konfrontiert sah. Wenn er dann jedoch schreibt: „Filmer sa maison, c’est faire en quelque sorte son autoportrait“ (2015: 31), schwingen da zwar zahlreiche filmästhetische und narratologische Fragestellungen mit, werden indes nicht weiter vertieft.1

Momente der Selbstinszenierung werden in allen hier hervorgehobenen Studien diskutiert, stehen aber meist nicht im Zentrum der Analysen. Auch wenn ich diese Schriften heranziehen werde, hebt sich meine Untersuchung sowohl durch den primären Fokus auf die narrativen Arten und Weisen der Selbstinszenierung als auch durch den Versuch, diese Inszenierungsformen oder gar -strategien im politischen und literaturgeschichtlichen Kontext Portugals zu verorten, von den erwähnten Arbeiten ab. Schwingt in allen Deutungsversuchen von VISITA OU MEMÓRIAS E CONFISSÕES verständlicherweise stets das Ziel mit, den Film in das filmische Lebenswerk eines Mannes einzuordnen, um dieses im Umkehrschluss auch zu ergründen, bildete in meinem Falle ein Screening von VISITA OU MEMÓRIAS E CONFISSÕES im Jahr 2015 die erste Begegnung mit Manoel de Oliveira. Viel eher als ein Abschluss war dieser Film für mich also ein Anfang.

Entgegen der eher bescheidenen Anzahl an wissenschaftlichen Abhandlungen zu VISITA OU MEMÓRIAS E CONFISSÕES findet PORTO DA MINHA INFÂNCIA durchaus Eingang in neuere englische und deutsche Studien zur filmischen Selbstinszenierung. Da sich der Film jedoch klaren Kategorisierungen entzieht, geschieht dies allerdings meist nur am Rande. Trotzdem lohnt es sich, zum Einstieg einen Blick auf einige Kategorisierungsversuche des Films zu werfen, um die Problematik weiter einzukreisen: Laura Rascaroli widmet PORTO DA MINHA INFÂNCIA in ihrer Monographie The Personal Camera – Subjective Cinema and the Essay Film einen Abschnitt in dem abschließenden Kapitel zum Selbstporträt und bezeichnet den Film als „autobiographical account, [which] could, however, also be read as a self-portrait of the artist [or] a documentary on the city of Porto“ (2009: 175). Mariana Liz beschreibt den Film in ihrem Aufsatz zu verschiedenen Stadtdarstellungen dementgegen als Mischung zwischen Avantgarde- und Dokumentarfilm und ordnet ihn dann der Kategorie „essay film“ zu (2018: 126). Ivan Alvarez schließlich entscheidet sich in seiner Monographie Documenting Cityscapesin Anlehnung an Serge Doubrovskyfür die Bezeichnung „self fiction“ als Subkategorie des Selbstporträts (2008: 161). Erstens droht man, sich hier schnell in der Unschärfe von Gattungs- und Genrebezeichnungen zu verlieren. Zweitens verbergen sich hinter den Begrifflichkeiten der Autobiographie, des Selbstporträts sowie des Essays Konzepte, die ursprünglich nicht aus der Filmwissenschaft stammen. Sind die Autobiographie und der Essay eher in einer literarischen Tradition zu verorten, wird das Selbstporträt hingegen meist mit visuellen Ausdrucksformen wie der Malerei und der Fotografie in Verbindung gebracht. Doch die Grenzen sind fließend: Wie die angeführten Positionen zu PORTO DA MINHA INFÂNCIA und VISITA OU MEMÓRIAS E CONFISSÕES bereits andeuten, diskutieren viele interdisziplinäre Forschungsansätze zu Selbstinszenierungspraktiken im audiovisuellen Medium des Films die Konzepte vergleichend und überlappend.

Für meine Untersuchung gilt es also, auf einer theoriegeschichtlichen Ebene vorerst folgende Fragen zu klären: Wie stehen diese drei Begriffe konzeptuell zueinander? Bezeichnen sie unterschiedliche Arten der Selbstinszenierung beziehungsweise verschiedene Zugänge des (filmenden/dargestellten) Subjekts zu sich selbst? Welche Rolle spielt der Film als audiovisuelles Medium dabei, und mit welchen konzeptionellen Problemen sind die Begriffe überhaupt auf den Film übertragbar? Schließlich: Wie lassen sich VISITA OU MEMÓRIAS E CONFISSÕES und PORTO DA MINHA INFÂNCIA in diese theoretischen und filmischen Diskurse eingliedern und produktiv beschreiben, ohne den portugiesischen Kontext auszublenden? Oder rückt gar erst fernab solcher Kategorisierungsversuche ein nationaler Kontext und Subtext in den Fokus, der ansonsten im Dunkeln geblieben wäre?

Die Autobiographie – das Problem des Mediums

Einen Grundstein der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der literarischen Form der Autobiographie bildet Philippe Lejeunes semio-pragmatisch angelegte Monographie Der autobiographische Pakt. Lejeune definiert die Autobiographie gleich zu Beginn als eine „[r]ückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt“ (1994: 14). Dabei unterscheidet er vier Ebenen der Kategorisierung: Erstens die sprachliche Form der rückblickenden Erzählung, zweitens das behandelte Thema des individuellen Lebens und die Geschichte einer Persönlichkeit, drittens die Identität zwischen Autor*in und Erzähler*in und viertens die Erzählperspektive, die eine Identität zwischen Figur und Erzähler*in suggeriert. Gesteht Lejeune der sprachlichen und thematischen Ebene einen Ermessensspielraum zu, muss als unabdingliches Kriterium hingegen eine „Identität zwischen dem Autor, dem Erzähler und dem Protagonisten bestehen“ (ebd.: 15). Den „autobiographischen Pakt“, als Lektürepakt zwischen Werk und Lesenden, definiert er in der Folge als die „Behauptung dieser Identität im Text“ (ebd.: 27); diese setzt die Nennung des Eigennamens auf allen drei Ebenen voraus. Ebendieses Kriterium unterscheidet die Autobiographie vom autobiographischen Roman, der lediglich auf einer Vermutung dieser Identität aufbaut. Die Autobiographie ist nach Lejeune kein „Rätselraten“, vielmehr sei das genaue Gegenteil der Fall (ebd.: 27). In einer weiteren angeführten Unterscheidung proklamierten zwar sowohl die Autobiographie als auch die Biographie als referentielle Texte den Anspruch, Informationen über „eine außerhalb des Textes liegende Realität“ zu liefern, was Lejeune als „Referenzpakt“ bezeichnet. Dennoch etabliert nur Erstere eine Identität zwischen Autor*in, Erzähler*in und Figur (ebd.: 39f.). Schließlich gesteht er der Autobiographie – als Zusammenspiel zwischen einer „Leseweise“ und einer „Schreibweise“ – aber einen „historisch schwankende[n] Vertragseffekt“ zu (ebd.: 50).

Gilt gemäß der Kunsthistorikerin Alma-Elisa Kittner in der bildenden Kunst das Selbstporträt als klassisches Genre der Selbstdarstellung, bezeichnet die Autobiographie in Abgrenzung davon eine Darstellung von entscheidenden biographischen Ereignissen in „einer zeitlichen Struktur, die einen Lebenslauf suggerieren und in deren Mittelpunkt eine – vorgeblich gleichbleibende – Protagonistin steht, die gleichzeitig die Erzählerin dieser Lebensgeschichte zu sein scheint“ (2009: 24). Neben Lejeunes Einheit des Namens spielen also auch die Art und Weise der Erzählung und folglich der Zugang zum Selbst eine entscheidende Rolle bei der Unterscheidung der beiden Konzepte. Widmet sich Kittner in ihrer Studie der Theorie und Poetik visueller Autobiographien, zieht Lejeune ein Pendant der literarischen Autobiographie auf visueller Ebene nicht in Betracht (vgl. ebd.: 24). Die Frage nach der Möglichkeit einer Autobiographie im narrativen und visuellen Medium des Films drängt sich an dieser Stelle auf.

Aufbauend auf die Argumentation von Lejeune beschreibt Elisabeth Bruss in ihrem ebenfalls breit zitierten Werk Eye for I