Reiß dich zusammen - Über die Herausforderungen und Veränderungen, die Mutterschaft mit sich bringt - Ann-Katrin Seibel - E-Book

Reiß dich zusammen - Über die Herausforderungen und Veränderungen, die Mutterschaft mit sich bringt E-Book

Ann-Katrin Seibel

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Beschreibung

Wir tauchen ein in das Leben von 13 Müttern, die alle ganz verschieden sind und doch eines gemeinsam haben: Neben der grenzenlosen Liebe zu ihren Kindern gibt es auch noch einen anderen Teil in ihnen - den Teil, der hadert. Der Sehnsucht hat oder Angst oder ein schlechtes Gewissen, der wütend ist oder tief verunsichert. Der gegen grenzenlose Erschöpfung und 1 Millionen Infekte kämpft. Der versucht, irgendwie die veränderten Beziehungen zu gestalten - zur Freundin, zum Mann, zur eigenen Mutter. Und nicht zuletzt zu sich selbst. Die Geschichten sind so intensiv wie die Gefühle der 13 Mütter und sie zeigen uns, wie herausfordernd es ist, diese kleinen Menschen beim Großwerden zu begleiten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 166

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ann-Katrin Seibel

Reiß dich zusammen

© 2024 Ann-Katrin Seibel

Lektorat von: Christian Bauer

Coverdesign von: ZeroMedia München

Satz & Layout von: Herrn Meyers Buchmacherei

Covergrafik von: ZeroMedia München, Seibel

978-3-384-42048-0 (ISBN Softcover)

978-3-384-42049-7 (ISBN E-Book)

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: Ann-Katrin Seibel, 14197 Berlin, Germany.

Ann-Katrin Seibel

Reiß dich zusammen

Kurzgeschichten übers Muttersein

Für meine Kinder. Ohne Schatten kein Licht. Ihr seid mein Licht.

Und für meinen Mann. Nur dank deiner Unterstützung gibt es dieses Buch. Du bist mein Hafen.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Halbe Titelseite

Urheberrechte

Titelblatt

Widmung

Gute Luft

Von Löwen und Fliegen

Das Tier

Paris

Reiß dich zusammen

Whatever

Elsa und Juli

Ohne Halt

Schwarzer Tee

Herz über Kopf

Noch ein Mal

Gelado

Die Nachbarn

Kurzvita

Reiß dich zusammen

Cover

Urheberrechte

Titelblatt

Widmung

Gute Luft

Kurzvita

Reiß dich zusammen

Cover

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Gute Luft

ICH WEISS es schon kurz vorher. Ich kann es ihr ansehen, die weit aufgerissenen Augen, die kleinen Schweißperlen über der Oberlippe, die bebenden Nasenflügel, die blasse Haut. Und schon kotzt sie in den Zug, auf den Holztisch vor uns, auf das blaue Sitzpolster, ein bisschen auf den hässlich gemusterten Teppich. Auf ihr neues rotes Kleidchen und die weiße Strumpfhose. Die Blicke der anderen. Manche mitleidig, manche angewidert. Eine andere Mutter reicht mir eine Packung Taschentücher, sagt: »Ach, Mensch.« Sagt: »Es wird leichter, irgendwann.« Die Kinder neben ihr sind schon älter, spielen Karten und behalten ihre Körperflüssigkeiten bei sich.

Als wir aus dem Zug aussteigen, rieche ich nach Erbrochenem, das Kind riecht nach Erbrochenem, ich bin nass geschwitzt und habe Rückenschmerzen. Kühle, saubere Luft schlägt uns entgegen, viel sauberer als in der Stadt, ich merke das immer sofort. Ich bilde mir ein, das Salz auf den Lippen zu schmecken. Meine Mutter steht winkend und rauchend am anderen Ende des Bahnsteigs. Sie kommt nie bis zur Zugtür, um mir Gepäck abzunehmen. Sie steht immer da und raucht und wartet, bis wir bei ihr ankommen. Hilde gluckst und jauchzt, rennt die letzten Schritte zur Oma und wirft sich ihr in die Arme. »Hallo, Mädchen«, sagt sie zu mir und drückt mich zu fest und zu lange. Sie stinkt nach Zigaretten, ich kann das nicht leiden. Sie verzieht das Gesicht, »Wonach riechst du denn?«, ich seufze, »Hilde hat sich wieder übergeben im Zug, wie jedes Mal«, aber sie hört schon nicht mehr zu, hat die Kleine auf den Arm genommen, pustet ihr ins Gesicht mit ihrem Zigarettenqualm-Atem, was ich unmöglich finde, und Hilde kreischt und wirft den Kopf zurück und ist glücklich.

In der Wohnung wasche ich als erstes im Waschbecken die Kleider mit etwas Shampoo aus. »Was hat sie denn da an?«, höre ich meine Mutter aus dem Wohnzimmer rufen, während ich das schöne rote Kleid zum Trocknen aufhänge, und dann, zu Hilde gewandt: »Heute kaufen wir dir erstmal was Schönes, ja?« Ich verdrehe die Augen, innerlich, schaue in den Spiegel, atme einmal tief durch. Sehe eine Frau, die müde wirkt. Ungeschminkt, etwas zu blass, Falten um die Augen. Eine Mutter, die sich Mühe gibt. Was ihr halbwegs gelingt. Eine Tochter, die sich Mühe gibt. Die seufzt.

»Kann ich mich kurz hinlegen?«

»Jetzt schon? Ihr seid doch gerade erst angekommen.« Meine Mutter spielt mit Hilde auf dem Boden, ich kann mich nicht erinnern, dass sie das früher mit mir gemacht hat. Umgeben von Kuscheltieren, Tierstimmen nachahmend. »Die Zugfahrt war wirklich anstrengend und die Nächte sind im Moment…« - »Hüüü, macht das Pferdchen.« Meine Mutter schnaubt, Hilde lacht.

Ich drehe mich um und laufe durch die Wohnung. Viel Weiß, viele Pflanzen, die meisten Sukkulenten, überall Bast und Holz. Ich werfe beim Vorübergehen einen Blick in ihr Schlafzimmer, das Bett wie immer ordentlich gemacht, mit einem sandfarbenen Überwurf. Ich hatte noch nie einen Überwurf. Meistens mache ich morgens nicht mal das Bett. Ich sinke im Gästezimmer auf die Matratze, die perfekt ist, nicht zu hart und nicht zu weich, lege meinen Kopf auf das Kissen mit dem grau-blauen Leinenbezug, er duftet dezent nach Lilien. Dieses Gästezimmer ist das Totschlagargument, immer. »Aber hier habt ihr doch euer eigenes Zimmer, und die Luft ist so sauber, das brauchen Kinder! Und hier haben wir genug Platz.« Unsere Wohnung ist tatsächlich klein, 1,5 Zimmer, kein extra Raum für Besuch. Für uns reicht es, außerdem sind die Nachbarn nett und direkt gegenüber ist ein Park mit Spielplatz. Trotzdem fahren wir meistens zu meiner Mutter. Sie wohnt seit 3 Jahren in dieser Kleinstadt an der Ostsee. In einer schicken Neubauwohnung unweit vom Strand. Das Meer, der Wind, die Fischrestaurants. Sie scheint sich hier tatsächlich wohlzufühlen.

Ich höre die Möwen draußen kreischen, noch bevor ich die Augen aufschlage. Ich habe einen faden Geschmack im Mund, mir fällt ein, dass ich viel zu lange nichts getrunken habe. Während ich mich aufsetze, versuche ich abzuschätzen, wie spät es ist. Nach dem Licht zu urteilen schon früher Nachmittag. Ich strecke mich kurz, stehe langsam auf, damit mir nicht schwindelig wird. Schlendere den Flur entlang mit den gerahmten Fotos von blühenden Blumenwiesen und einigen Bildern von Hilde, überwiegend buntes Gekrakel. Ich wundere mich, dass ich nichts höre, nehme mir ein Glas aus dem Küchenschrank und trinke gierig das kalte Leitungswasser. Im selben Moment höre ich ihre Stimmen von draußen. Mit einem Ruck öffne ich die Terrassentür, da sitzen sie auf dem Holzboden und pusten Seifenblasen in die Luft. Der Himmel ist blassblau, die Sonne scheint warm. »Hast du sie eingecremt?«, frage ich etwas zu schrill. Beide blicken auf. »Wir sind erst seit ein paar Minuten draußen«, wiegelt meine Mutter ab. Ich presse die Lippen aufeinander. Drehe mich ruckartig um, hole Sonnencreme und Hut von drinnen. Hilde windet sich und heult, als ich ihr das weiße Zeug auf Gesicht und Arme schmiere. Meine Mutter atmet hörbar aus, ich weiß, was sie denkt, ich weiß immer, was sie denkt. Und meistens sagt sie es auch. »Ist das jetzt wirklich nötig?«, fragt sie gedehnt. »Ja, das ist nötig«, möchte ich gern sagen und sage es nicht, »das ist sogar von Hautärzten so empfohlen. Ich denke mir das nicht aus. Und du weißt auch genau, dass du sie eincremen sollst, dass sie den Sonnenhut aufsetzen soll, das Thema haben wir jedes Mal.« Alles nur Worte in meinem Kopf, wie ein Buch, das nicht aufgeschlagen wird. Ich lasse mich auf einen der Holzstühle nieder und beobachte die beiden. Die Seifenblasen glitzern in der Sonne, Hilde klatscht in die Hände, sobald eine zerplatzt. »Hat sie auch einen Mittagsschlaf gemacht?«, frage ich und ahne schon, wie die Antwort lautet. »Wir haben so schön gespielt«, meint meine Mutter, »es kann doch hier auch mal anders laufen als zu Hause.« Ich merke, wie ich die Zähne zusammenpresse, wie sich mein Magen zusammenzieht, wie eine fleischfressende Pflanze, sobald man sie leicht antippt. Ich denke, dass sie also heute Nachmittag schlafen wird. Dass sie den Mittagsschlaf noch braucht, und wie oft ich das eigentlich schon gesagt habe. Sie wird dann nachmittags müde, und wenn sie so spät schläft, bedeutet das, dass sie abends ewig lange wach ist. Wieso sollten wir das wollen? Wieso verdammt nochmal? Ich sage nichts. Beiße die Zähne aufeinander, mein Kiefer knirscht. Kratze stattdessen mit dem Fingernagel etwas getrockneten Kerzenwachs vom Holztisch. »Bei Oma ist Urlaub«, sagt meine Mutter zu Hilde, ihre Stimme ist wie ein Singsang, obwohl der Inhalt so falsch ist.

Die Sonne glitzert auf dem Wasser, der Wind pustet gefühlt von allen Seiten, immer wieder dieser Wind. Ich fröstele und schließe den Reißverschluss meiner Jacke. Wir waren ständig an der Ostsee, als ich klein war. Als Papa noch da war. Jeden Sommer. Ich erinnere mich an Sandburgen, Muscheln sammeln und an viel Langeweile. Die Zeit dehnte sich früher immer ins Unendliche. Und dann noch dieser Wind, ich habe unablässig gefroren. »Herrlich«, sagt meine Mutter, »wie es einem hier um die Nase pustet. Oder?« Neulich war ich zum ersten Mal mit Hilde in den Bergen. Ich habe eine Freundin besucht, die nach Bayern gezogen ist, mitten rein in ein Tal voller Kühe, deren Glocken um den Hals leise läuten, drumherum lächerlich klare Seen und imposante Berglandschaften. Ich stand mit Hilde an einem See, dessen Wasser eine Farbe hatte, die ich mit Worten nicht mal mehr beschreiben kann. Ich fühlte mich klein und demütig in dieser atemberaubenden Natur und wollte jeden Moment mit all meinen Sinnen aufsaugen. Voller Ehrfurcht fuhr ich wieder nach Hause, irritiert und berauscht von der Erkenntnis, dass es gar nicht das Meer war, das mich berührte, der Ort, wo ich seit meiner Kindheit immer und immer wieder hin fuhr, sondern die Berge.

Hilde schläft im Kinderwagen, natürlich. Wir legen ihr eine Wolldecke über die Beine. An einem Stand mit Deutschland-Fahne kaufen wir zwei Fischbrötchen, die Makrele schmeckt salzig und fettig. Die Möwen kreisen über uns. Ich würde meiner Mutter gerne erzählen, wie es mir geht. Wie die letzten Wochen waren, dass Hilde einen Krupp-Anfall hatte, nachts, was wahnsinnig beängstigend war. Dass sie zur Zeit wieder jede Nacht mehrmals wach wird. Dass ich seit Monaten nicht gemalt habe, obwohl es mir so fehlt, weil ich entweder arbeite oder mit Hilde zusammen bin oder zu erschöpft, um irgendetwas zu machen. Aber meine Mutter erzählt von ihrem Nachbarn, der immer zu unmöglichen Uhrzeiten die Musik aufdreht, und dann etwas von einer Frau aus ihrem Fitnessstudio, die ich nicht kenne, und ich blicke aufs Meer. So viel Wasser. In der Ferne funkelt ein Kreuzfahrtschiff, vielleicht kommt es von weit her?

Vor einem Geschäft mit Kinderkleidung sagt meine Mutter: »Wollen wir Hilde ein schönes neues Kleid kaufen? Sie hatte so komische Sachen an heute, ich würde euch gern eine Freude machen.« Sie ist bereits auf dem Weg in den Laden, hat die Hand schon am silbernen Türknauf, als es hinter meinen Augen explodiert, ich meine den Knall zu hören, irgendetwas passiert in meinem Kopf, wie ein Blitzeinschlag mit sprühenden Funken. Ich öffne meinen Mund, hole tief Luft und rufe »Nein!«, etwas zu laut. Sie hält inne, dreht sich um, verständnislos. »Ich werde doch wohl meiner Enkeltochter etwas Schönes kaufen dürfen«, protestiert sie, und ihr Mund wird schmal. Ich schaue nicht weg, ich gebe nicht nach, damit es verdammt nochmal harmonisch ist, ich sehe ihr direkt in die Augen, und jede Faser meines Körpers schreit »Nein!«. Sie seufzt, zündet sich eine Zigarette an, bläst den Rauch demonstrativ in eine andere Richtung, aber es nützt nichts, sie steht immer so, dass der Wind den stinkenden Zigarettenqualm trotzdem zu uns, zu Hilde weht, dieser verdammte Wind. »Weißt du, die saubere Luft bringt dem Kind gar nichts, bei dem ganzen Zigarettenrauch.« Die Worte purzeln einfach so heraus. »Und man könnte ja meinen, dass du sowieso aufhörst, nach der Sache mit Papa.« Ihr Gesicht wird grau, ehrlich, ich meine, in dem Moment einen grauen Schleier über ihr Gesicht fallen zu sehen. Ich schiebe den Kinderwagen zu einer Bank und setze mich, sie folgt uns langsam. Am Strand versucht ein Junge, einen Drachen steigen zu lassen, er rennt immer wieder los, der Drachen erhebt sich unentschlossen in die Luft, stürzt dann wieder ab. Der Junge macht unermüdlich weiter, versucht es wieder und wieder. Beeindruckend, diese Entschlossenheit.

»Wir werden nach Süddeutschland ziehen.« Ich schaue sie nicht an, nestele stattdessen an der Decke im Buggy rum. Ich habe keine Ahnung, wo das gerade herkam. Aber es fühlt sich gut an. Fühlt es sich richtig an? Ich kann ihren Blick in meinem Nacken spüren. »Bitte was?« Ich richte mich wieder auf. »Wir werden nach Süddeutschland ziehen. Bayern. Die Luft ist da herrlich. Die Berge traumhaft. Berlin ist durch. Ich brauche - wir brauchen etwas Neues. Ich kann ja von überall arbeiten.« Ich ziehe die Nase hoch, bohre die kalten Hände tiefer in die Jackentaschen. Die Möwen kreisen listig über den weißen Strandkörben. »Dann zieht doch hierher. Hier ist die Luft auch herrlich.« Ein gequältes Lachen, leise. »Was sollen wir denn hier?« Es klingt verächtlicher, als es gemeint ist. Ich schaue überall hin, auf meine Schuhspitzen, auf denen noch Spritzer von Hildes Erbrochenem kleben, in den Buggy, hoch zu den Möwen, bis ich schließlich den Kopf drehe und sie anschaue. Sie blickt aufs Meer, sagt nichts. Sie sieht auf einmal richtig alt aus, so einsam, so unendlich müde.

Am Abend bin ich noch lange mit Hilde beschäftigt. Sie ist überdreht, kommt nicht zur Ruhe, ich werde irgendwann barsch, sie weint. Eng an mich gekuschelt schläft sie schließlich ein, die Haare fallen ihr ins gerötete Gesicht. Der kleine Brustkorb hebt und senkt sich beim Atmen. Ich lasse die Tür einen Spalt auf.

Meine Mutter sitzt auf der Terrasse und raucht. Der Mond scheint hell und kalt. Ich nehme mir eine Decke aus dem Wohnzimmer und setze mich neben sie, den Blick in den sternenklaren Himmel gerichtet. »Das mit Süddeutschland steht noch nicht fest«, sage ich nach einer Weile, ohne sie anzusehen. »Weißt du. Ist nur eine Option.« Meine Mutter schweigt. Die Glut leuchtet im Dunkeln rot auf, wenn sie an der Zigarette zieht. Wir sitzen eine Weile so da, stumm, vorwurfsvoll. Etwas flattert hektisch vorbei, vermutlich eine Fledermaus.

Ich räuspere mich. »Zu Hildes Geburtstag nächsten Monat, da werden wir nicht herkommen. Ich möchte mit ihr in Berlin feiern.« Meine Mutter dreht den Kopf, ich sehe ihr Gesicht im Halbdunkel. »Ich reserviere dir gern ein Zimmer im Hotel die Straße runter.« Meine Finger spielen mit den Bommeln der Decke. »Du kannst es dir ja überlegen.«

Wir sitzen noch lange auf der Terrasse. Sitzen dicht nebeneinander, als wenn gar nichts wäre, ich höre sie atmen. Rieche ihren Duft, ein bisschen Zigarettenrauch, und dann ist da dieses eine Parfum, das Papa ihr früher immer geschenkt hat und das mir so vertraut ist. Es riecht nach Rose und Bergamotte, und da ist ein Hauch von Honig. Ich atme tief ein.

Von Löwen und Fliegen

NEBEN MIR der offene Bauch mit seinen Eingeweiden, mit Darm, Magen und der Leber, darunter das Baby mit seiner Nabelschnur, fleischfarben. Ich wippte mit dem Fuß, mir war heiß, meine Achseln waren schweißnass. Mir gegenüber saß eine junge Frau mit einem gewaltigen Bauch, sie kam nur mit Mühe alleine vom Stuhl hoch, als sie aufgerufen wurde. Sie ächzte und stöhnte, kurz hatte ich das Bild einer trächtigen Kegelrobbe im Kopf. Ich schaute aufs Handy, noch keine Nachricht von H.

Eine der Türen öffnete sich, graue Haare, weißer Kittel, ein Kuli in der Brusttasche. Dr. Andersen lächelte freundlich, ich sprang auf, vergaß meine Handtasche, musste nochmal zurück, fühlte mich wie damals vor den mündlichen Abiturprüfungen, nervös und überfordert, am liebsten wäre ich weggerannt.

»Die letzte Vorsorge-Untersuchung ist ja noch gar nicht so lange her«, ein Blick über die randlose Brille auf den Computer-Bildschirm, »was führt Sie her?« Die Stimme warm und tief, an der Wand Bilder mit moderner Kunst, ich bildete mir ein, die Vulva einer Frau darin zu sehen.

Mein Mund war extrem trocken, ich musste mich zwei Mal räuspern. »Ja, also, es könnte sein, dass ich vielleicht schwanger bin.« Die Auflage vom Lederstuhl klebte an meinen nackten Beinen, ich schwitzte aus jeder Pore.

Beim Lächeln vertieften sich die Fältchen um seine gutmütigen Augen. »Na, dann gucken wir doch einfach mal nach.«

Während ich auf dem Untersuchungsstuhl lag wie Vieh auf der Schlachtbank, ausgeliefert, ohnmächtig, versuchte ich ruhig zu atmen. Vier Sekunden einatmen, sieben Sekunden ausatmen. Den Blick starr an die Decke geheftet, die Hände umklammerten krampfig den Stuhl.

»Also«, sagte der Arzt, »wollen Sie mal gucken?«

Ich drehte den Kopf Richtung Bildschirm, ich sah nichts, dann sah ich etwas, dann sah ich wieder nichts.

»Sie haben einen Dottersack.«

Mein Kopf fühlte sich an wie ein luftleerer Raum.

»Es ist noch ganz früh, 6. Woche etwa.«

Als ich mir in der engen Kabine die Unterhose wieder anzog, musste ich mich kurz an der Wand abstützen. Mein Herz hämmerte wie verrückt gegen den Brustkorb, die Hände waren eiskalt. Ein Dottersack. 6. Woche.

»Erst einmal herzlichen Glückwunsch«, meinte Dr. Andersen, als wir uns wieder gegenüber saßen, und tippte etwas in den Computer. »Ist es denn eine Überraschung für Sie oder war es geplant?«

Ich schluckte. Knetete unaufhörlich meine kalten Finger, hatte Angst, dass mir schwindelig werden würde. Bloß nicht vom Stuhl rutschen, das kann der Arzt bestimmt nicht gebrauchen, eine Patientin, die in seinem Behandlungszimmer umkippt. »Das… kommt etwas unerwartet. Ich meine… ich bin ja schon Ende dreißig. Damit hatte ich nicht mehr wirklich gerechnet.«

»Ja, aus Sicht der Natur ist es recht spät. Aber schön, dass es noch geklappt hat. Andere Frauen in Ihrem Alter versuchen es jahrelang und… naja. Gibt es denn einen Vater dazu?«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wollte mit dem Kopf schütteln, wollte nicken. Dann brach ich in Tränen aus.

»Hören Sie«, Dr. Andersen reichte mir eine Packung Taschentücher, »lassen Sie es erstmal sacken.«

»Ich hab doch nicht mal… nicht mal einen richtigen Job«, stammelte ich unter Tränen, »und der… der Vater, ich weiß nicht…«, ich weinte und schnäuzte mir die Nase und weinte und schniefte, ich fühlte mich elend und verloren.

»Haben Sie jemanden, der Sie abholen kann?«

Ich nickte, obwohl ich nicht genau wusste, ob H. meine Nachricht bekommen hatte. Wir machten einen weiteren Termin aus, er sagte noch ein paar tröstende Worte, die mein Gehirn nicht mehr aufnehmen konnte, und dann stand ich draußen, auf der vor Hitze flirrenden Straße mit meinem verheulten Gesicht und der Packung Taschentücher in der Hand. Die Sonne brannte