Reiter der Steppe - Julia Lalena Stöcken - E-Book

Reiter der Steppe E-Book

Julia Lalena Stöcken

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Beschreibung

Im Kampf zwischen den Clans: Was wärst du bereit, für die Liebe zu opfern?
Der bewegende Abenteuerroman für Fans von historischenFantasyromanen

3000 v. Chr. – Die Kupferzeit in Osteuropa: Eigentlich leben die Menschen der Ebene friedlich zusammen, doch in letzter Zeit kommt es zwischen den Clans immer wieder zu blutigen Kämpfen. Bei einem solchen Überfall geraten die junge Ljuba und ihre Schwester in die Gefangenschaft des Schwarzen Fürsten Karan, der mithilfe seines Hauptmanns Cuska und dessen gefürchteten Kriegern die anderen Stämme in Angst und Schrecken versetzt. Um ihre Schwester zu schützen, geht Ljuba notgedrungen einen Handel mit Karan ein. Demütigung und Schmerz erwarten sie daraufhin beim Schwarzen Clan – bis sie plötzlich Hilfe von einem schweigsamen Hauptmann erhält. Doch kann sie ihm vertrauen?

Erste Leserstimmen
„Spannend, fesselnd, romantisch – absolute Leseempfehlung!“
„faszinierende Zeitreise mit tollen Fantasy-Elementen und einer schönen Lovestory“
„Ein Abenteuer-Roman, den man nicht mehr aus der Hand legen möchte.“
„Spannung pur und überraschende Wendungen machen das Buch zu einem Lesegenuss.“
„eine packende Liebesgeschichte inmitten zwei verfeindeter Völker“

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Seitenzahl: 637

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Über dieses E-Book

3000 v. Chr. – Die Kupferzeit in Osteuropa: Eigentlich leben die Menschen der Ebene friedlich zusammen, doch in letzter Zeit kommt es zwischen den Clans immer wieder zu blutigen Kämpfen. Bei einem solchen Überfall geraten die junge Ljuba und ihre Schwester in die Gefangenschaft des Schwarzen Fürsten Karan, der mithilfe seines Hauptmanns Cuska und dessen gefürchteten Kriegern die anderen Stämme in Angst und Schrecken versetzt. Um ihre Schwester zu schützen, geht Ljuba notgedrungen einen Handel mit Karan ein. Demütigung und Schmerz erwarten sie daraufhin beim Schwarzen Clan – bis sie plötzlich Hilfe von dem schweigsamen Hauptmann erhält. Doch kann sie ihm vertrauen?

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe November 2020

Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-413-6 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-414-3

Copyright © 2017, dp Verlag Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2017 bei dp Verlag erschienenen Titels Ljuba und der Reiter der Steppe (ISBN: 978-3-96087-236-8).

Covergestaltung: Vivien Summer unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © gmstockstudio, © ATeam, © Studio77 FX vector, © NAN NAN SOE, © enterlinedesign, © Dmitr1ch Lektorat: Janina Klinck

E-Book-Version 28.09.2022, 11:16:21.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Reiter der Steppe

Für meine Tochter,

die wunderbare Geschichten erzählt.

Prolog

Der kalte Lufthauch, der aus der Höhle wehte, brachte die Flamme der Fackel zum Tanzen. Wilde Schatten zuckten über den rauen, mit gelben Flechten überzogenen Fels.

Erregung rann wie ein einzelner kühler Regentropfen über den schlanken Rücken des Jungen. Augenblicklich stellten sich die feinen Haare in seinem Nacken auf. Die Nacht griff mit schwarzen Klauen nach ihm, aber der Feuerschein bewahrte ihn davor, von ihr gepackt und verschluckt zu werden. Er machte einen Schritt vorwärts und das Laub raschelte unter seinen Füßen, dann stand er wieder still. Es waren nicht die nächtlichen Geräusche des Waldes wie der schauerliche Schrei einer Eule oder das Knacken im Unterholz, die ihn erzittern ließen. Ehrfurcht durchströmte seine Adern. Vor ihm lag Jelens Höhle.

Der Junge war allein. Und er zauderte. Es war das erste Mal, dass er den heiligen Ort des S teppenreitervolks von selbst aufsuchte. Er wusste, dass sein Vater ihn nach seiner Geburt hergebracht hatte, um dem Hirschgott für den gesunden Sohn zu danken und ihm ein Opfer darzubringen. Dieses Ereignis jährte sich in diesem Sommer zum zwölften Mal. Inzwischen war er alt genug, um Jelens Höhle erneut zu betreten. Er hatte alles dafür getan, was notwendig war, damit ihm dieses Privileg zuteilwurde.

Jetzt stand der Junge wie angewurzelt davor und traute sich nicht, hineinzugehen. Er straffte die Schultern, streckte den Arm aus und leuchtete in den Höhleneingang, dann stieg er über eine Felsstufe ins Innere.

Drinnen schlug ihm die Mischung aus feuchtkaltem Muff der unterirdischen Welt und menschlichem Schweiß entgegen, die von dem Höhlenwind hinaufgetragen wurde. Die Männer warteten bereits auf ihn.

Der Junge beschleunigte seine Schritte, die dumpf von den Steinwänden des Tunnels widerhallten und ihn immer tiefer in den Felskamm hineinführten, der inmitten hoher Buchen aus dem Boden ragte. Er lauschte. Teile eines Gesprächs drangen an seine Ohren, aber die weitentfernten Stimmen wurden von den Felsen zerrissen, sodass ihn nur Fetzen erreichten. Der Junge folgte seinem Gehör, achtete für einen kurzen Augenblick nicht auf den Weg und stolperte über einen Stein. Er stürzte und ließ die Fackel fallen, um sich abzustützen, trotzdem schlug er sich das linke Knie auf. Die Fackel rollte über den abschüssigen Boden und blieb an der Felswand liegen. Der Junge biss die Zähne zusammen und rappelte sich wieder auf. Er ging hinüber und wollte sie eben aufheben, als sein Blick auf ein Bild an der Wand fiel.

Hartgeführte, dunkle Striche von der Dicke eines Zeigefingers fügten sich zu einer Gestalt zusammen. Im ersten Moment hielt es der Junge für einen Menschen, dann bemerkte er, dass das Wesen an der Wand zwar aufrecht stand, aber dass aus dem mit wilden Linien gezeichneten Kopfhaar ein schwarzes, weitverzweigtes Geweih und spitze Ohren erwuchsen. Der Rumpf schloss mit einem geschwungenen Tierschwanz ab. Das Gesicht war leer, während der Körper mit rotbrauner Farbe ausgemalt worden war. Es zeigte Jelen, den Hirschgott, das Totem des Steppenreitervolks, seit es aus den Weiten der kargen Tundra im Nordosten gekommen war, um eine gastlichere Heimat in der Ebene zu finden.

Der Junge streckte die Hand aus, um die markante Rückenlinie des Gottes nachzuziehen. Just als seine Fingerkuppen den kalten Fels berührten, zuckte ein Gedanke hell wie ein Blitz durch seinen Schädel. Gestern hatte er im dichten Unterholz des Waldes einen Hirsch gestellt, einen erstaunlich großen Bullen. Gewöhnlich nahmen die scheuen Tiere Reißaus oder verharrten reglos, um mit ihrer Umgebung zu verschmelzen, sobald sie einen Menschen gewahrten. Und der nur mit einem Lendenschurz bekleidete Junge war tatsächlich eine Gefahr, denn er war mit einer Handvoll Pfeilen und einem Bogen aus Eschenholz bewaffnet. Doch der Hirsch zeigte keine Furcht, wandte ihm den Kopf zu und starrte ihn aus dunklen Augen an. Der Junge war wie paralysiert – und senkte den Bogen. Eine Weile hatten sie sich still angesehen, dann hatte sich der große, muskulöse Hirschbulle umgedreht und war mit stolzen Schritten im Dickicht verschwunden.

Jetzt legte der Junge den Kopf schief. „Ob er es war?“

Wieder spülte der Höhlenwind Stimmen aus der Tiefe nach oben und holte ihn aus seiner Versunkenheit. Er bückte sich, sammelte die Fackel auf und eilte weiter durch den Tunnel.

Endlich erreichte er das Ende des Ganges, der in eine breite, flache Höhle mündete. Die Decke war gerade hoch genug, dass die Männer darin nicht den Kopf einziehen mussten. Es waren mehr als zwei Handvoll und sie bildeten einen Halbkreis vor dem Jungen. Alle waren in traditionelle Kleidung gehüllt, die aus einem Lendenschurz, Beinlingen und Stiefeln bestand und mit Perlen, Federn und Zähnen bestickt war. Klimpernde Knochenketten lagen um ihre Hälse. Einige trugen Fackeln, deren kupfernes Licht auf nackte, muskulöse Oberkörper fiel. Sie hatten lange, geflochtene Zöpfe aus hellem Haar und kurzgeschnittene Bärte.

Der Junge blieb im Eingang der Höhle stehen. Wieder breitete sich Gänsehaut auf seinem Körper aus, aber es lag nicht daran, dass auch er nur einen Lendenschurz und weiche Lederschuhe trug. Er fror nicht, im Gegenteil, die Aufregung wälzte das heiße Blut schneller durch seine Adern. Schweiß benetzte seine Handflächen. Im Fackellicht wirkten die grauen Tätowierungen, die Schultern und Brust aller Anwesenden bedeckten, schwarz. Nur einer trug keine Zeichen auf seinen schlanken Gliedern – er selbst.

„Komm her“, sagte der Schamane. Er hatte als einziger einen Umhang angelegt, gefertigt aus rotbraunem Hirschfell, der ihm weit über den hageren Rücken fiel. Die Kapuze, die mit runden Geweihscheiben verziert war, hatte er weit nach hinten über seinen grauen Haaransatz geschoben. Sein Gesicht war mit rotem Ocker bemalt, der im Feuerschein regelrecht glühte. Er lächelte und entblößte schlechte Zähne in einem dunklen Gaumen. „Komm.“

Der Junge trat in den Halbkreis der Jäger. Sein Blick fuhr über die ausdruckslosen Mienen der Männer. Einer, groß und bullig, mit mächtigen Muskeln an den Oberarmen, grinste ihn an. Daneben stand mit angespanntem Ausdruck Labi, sein Vater.

„Hat er alle Prüfungen bestanden?“, fragte er.

„Hat er alle Prüfungen bestanden? Hat er alle Prüfungen bestanden?“, wiederholten die Männer leiser.

Der Junge nickte.

Sein Vater blickte ihn streng an. „Dann soll er antworten.“

„Er hat jede Prüfung, die man ihm auferlegt hat, bestanden.“

Ein heller Funke blitzte in Labis Augen. „Welche waren das?“

„Er hat ein Pferd zugeritten.“

„Was noch?“

„Er hat einen Speer gefertigt.“

„Was noch?“

„Er hat mit diesem Speer gejagt.“

„Was hat er gejagt?“

„Ein Reh.“

„Was war die letzte Prüfung?“

„Er hat einen Mond allein in den Wäldern gelebt.“

Labi verengte seine Augen. „Dann hat er alle Prüfungen bestanden.“

„Er hat alle Prüfungen bestanden“, raunten die Jäger. „Er hat alle Prüfungen bestanden.“

„Schamane!“, rief Labi.

Der Mann mit der Kapuze schlurfte einen Schritt näher.

„Du hast die Geister angerufen?“

„Ja.“

„Was haben sie dir gesagt?“

„Sie haben gesagt, dass der Junge einen Namen haben soll.“

„Welchen Namen?“

„Er ist unter dem Hirschmond geboren“, sagte der Schamane. „Die Geister sagen, er hat eine besondere Verbindung zu Jelen.“ Er sah den Jungen durchdringend an. „Sein Name lautet Cuska – wie die Schlange, die Jelens Gefährtin ist.“

Die Männer brummten zustimmend. Labi trat vor und legte eine Hand auf die Schulter seines Sohnes. Seine Finger fühlten sich kühl auf der fiebrig heißen Haut des Jungen an, und er zuckte leicht unter der Berührung.

„Cuska.“ Labi nickte zufrieden, dann wandte er sich an den Schamanen: „Verleih ihm die Zeichen.“

„Ja“, antwortete der und bedeutete dem Jungen, ihm zu folgen. Er führte ihn zu der rechten Seite der Höhle, wo ein Fellteppich auf dem Boden lag, der Cuska zuvor nicht aufgefallen war. Trommelschläge erklangen und vibrierten in seiner Brust. Er warf einen Blick zurück zu den Jägern. Zwei hatten sich auf den nackten Felsboden gesetzt und schlugen rhythmisch auf kleine ziegenfellbespannte Trommeln, während ein dritter einer kleinen Knochenflöte schrille surrende Töne entlockte. Eine Handvoll Männer begann in der Mitte des Raums zu tanzen.

„Setz dich“, bedeutete ihm der Schamane freundlich.

Der Junge fuhr herum und ließ sich hastig mit überkreuzten Beinen neben dem Zauberer nieder. Die Musik brachte seinen Kopf zum Schwirren.

„Es wird wehtun. Hast du Angst?“ Der Mann nahm eine riesige knöcherne Nadel in die Hand. Sie hatte die Länge eines menschlichen Oberarms.

„Nein.“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Ich vertraue dir.“

Der Schamane lächelte. „Sei vorsichtig, wem du dein Vertrauen schenkst. Du siehst nicht, wer sich hinter der Maske versteckt.“ Er zeigte mit der freien Hand auf sein rotbemaltes Gesicht.

„Dann soll ich mich vor dir fürchten?“

Der Zauberer beugte sich zu Cuskas Schulter vor und schob die Spitze der Nadel unter die weiche, empfindliche Haut.

Der Junge spannte seine Muskeln an. „Nein, aber es gibt auch böse Schamanen.“

1. Kapitel

Ein Jahr später

Der dumpfe Schlag, der von einer großen Faust herrührte, die auf den festgestampften Lehmfußboden niederfuhr, ließ das Mädchen zusammenfahren. Bojana sah von ihrer Näharbeit auf und hinüber zu ihrem Onkel, der auf der anderen Seite der großen Hütte in einem Kreis von Männern saß.

Winzige Staubfedern schwebten um seine Hand und glitzerten im Sonnenlicht, das wie eine schmale Säule durch den Rauchabzug fiel. Sein rötlichbrauner Bart leuchtete wie Feuer, die dunklen Augen wirkten ungewöhnlich hart. „Ich werde es nicht mehr dulden, dass sie unsere Herden überfallen und unsere Pferde stehlen!“, knurrte Ando, der Sippenführer des Graslandclans – und Bojanas Onkel. Die ernsten Gesichter der Ratsmitglieder waren ihm zugewandt, aber niemand sagte etwas.

Ando senkte seinen Blick auf die Glutreste in der Kochstelle vor sich, die dabei waren, unter einer dicken grauen Ascheschicht zu ersticken. Die schmutzigen Tontassen, aus denen die Männer zuvor frischgebrühten Tee getrunken hatten, stapelten sich neben ihm.

Draußen erfüllte der Duft von süßem Frühlingsgras die Luft, aber in der Hütte des Sippenführers roch es nach Schweiß. Es war stickig und warm, aber das lag nicht an der Sonne, die die Außenwände der runden Hütte aufheizte. Lehm besaß die Eigenschaft, die Wärme aufzunehmen, aber nicht weiterzugeben. Deswegen war es in den Behausungen des Graslandclans, die sich dicht an dicht in einer Talsenke der Ebene aneinanderschmiegten, im Sommer angenehm kühl und im Winter warm. Der Lehm war kostbar und nur am Rande der Steppentundra, die sich im Osten an die Ebene anschloss, in den ausgetrockneten Flussläufen zu finden. Die Männer hackten den Lehm heraus und beförderten ihn auf Stangenschleifen zurück zum Lager, wo er erst mit Getreidehalmen gemagert werden musste, bevor er zum Verputzen der Wände oder als Bodenbelag weiterverwendet werden konnte.

Die schlechte Luft rührte von den vielen Menschen in Andos Hütte, die über wichtige Dinge zu sprechen hatten.

Bojana verhielt sich ganz still. Sie hatte nie Schwierigkeiten mit ihrem Onkel gehabt, aber wenn seine Laune so war wie jetzt, dann zog man besser nicht seine Aufmerksamkeit auf sich. Bojana stach die Knochennadel in das feine, geschmeidige Ziegenleder, aus dem sie eine kleine Kappe für das Baby machen wollte, und zog die dünne Sehne hindurch. Ihre Augen waren an das fahle Licht der Hütte gewöhnt, genauso wie ihr Verstand daran gewöhnt war, zuzuhören und nachzudenken, während ihre Finger weiterarbeiteten. Keiner der Männer beachtete sie. Es schien, als hätten sie ganz vergessen, dass sie da war. Und solange das der Fall war, durfte sie bleiben.

„Was hast du vor, Ando?“ Die tiefe, schartige Stimme, die an einen Sägestein erinnerte, der sich in splittriges Holz fraß, klang misstrauisch.

Bojana brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, dass der Schamane des Stammes gesprochen hatte.

„Ich will sie angreifen! Niemand darf so mit dem Graslandclan umgehen“, antwortete ihr Onkel hasserfüllt. „Dusan soll sich hüten, uns zu unterschätzen!“

Auf seine Worte folgte angespanntes Schweigen. Bojanas Herz pochte heftig. Sie wusste genug von den Clanangelegenheiten, um die Tragweite seiner Forderung zu verstehen. Die Männer des Stammes sollten kämpfen. Es würde Verletzte geben, Tote. Unter gesenkten Lidern beobachtete sie die Ratsmitglieder, die sich gegenseitig besorgte Blicke zuwarfen.

„Du willst sie angreifen?“, fragte jemand.

Ando nickte. „Nicht das Hauptlager“, erwiderte er. „Das Sommerlager.“

Der Schamane strich sich mit nachdenklicher Miene über den langen, dünnen Bart. Plötzlich klatschten die Tierhäute, die vor dem Eingang der Hütte hingen, aneinander. Bojana drehte sich ruckartig zu dem Geräusch um und entdeckte ein kleines Mädchen mit wilden dunklen Locken in der Tür. Alle Blicke richteten sich auf Andos Tochter, die die Männer ihrerseits mit riesigen Augen anstarrte und ängstlich auf ihrer Unterlippe kaute, ein geschnitztes Holzpferd unter den Arm geklemmt.

Ando räusperte sich. Die Störung war ihm sichtlich peinlich, aber während er jemand anderes deswegen angebrüllt hätte, wandte er bei seiner Tochter lediglich den Blick ab. „Letztes Jahr haben sich die Steppenreiter Dusan unterworfen“, sagte er in die Runde, und die Ratsmitglieder wandten sich wieder ihrem Sippenführer zu.

Bojana legte die kleine Kappe beiseite und streckte die Hände nach ihrer Base aus, die noch immer zitternd im Eingang stand. Sofort rannte Ljuba zu ihr und warf sich an ihre schmale Brust. Sie zog sie auf ihren Schoß und legte die Arme fest um sie. Vor zwei Jahren waren Bojanas leibliche Eltern an einer furchtbaren Krankheit gestorben. Seitdem lebte das Mädchen bei seiner Tante und deren Familie. Besonders die Kinder hatte Bojana ins Herz geschlossen. Andos Sohn war mit zehn Jahren im selben Alter wie sie, Ljuba war sechs Sommer alt und ihre jüngere Schwester vier. Und ihre Tante war wieder schwanger.

„Noch ein Stamm, der sich Dusan beugt“, hörte sie einen Mann sagen.

„Wie viele sind es jetzt?“, fragte ein anderer.

„Mit den Steppenreitern drei“, antwortete Ando düster.

„Hm“, machte der Schamane. „Der Graslandclan zählt viele Mitglieder, der Schwarze Clan ist nicht einmal halb so groß – warum sollten wir uns von Dusan bedroht fühlen?“

Bojana bemerkte die Besorgnis in den Augen ihres Onkels, die den hübschen Hinterkopf seiner Tochter fixierten. Auch wenn er es nie aussprach, ahnte sie, dass Ljuba sein Liebling war. Sie war ein ruhiges, zurückhaltendes, aber auch sehr furchtsames Kind und das absolute Gegenteil von ihrer jüngeren Schwester Dafina. Das Holzpferd, das Ljuba im Arm hielt, hatte Ando für sie geschnitzt. Bojana konnte sich genau daran erinnern, wie er es Ljuba geschenkt hatte. Ihr helles, glückliches Lachen klang noch in ihren Ohren nach. Andos Augen hatten nie so warm und gütig ausgesehen wie in diesem Moment.

„Im Herbst haben sie zwei Mädchen in der Nähe des Dorfes entführt. Von den geraubten Pferden fange ich gar nicht erst an“, berichtete der Sippenführer. „Und im letzten Mond haben sie zwei Äcker im Norden angesteckt. Ein Großteil des jungen Emmers ist verbrannt. Beim Angriff gab es vier Verletzte, einer ist tot. Wie viele Tote kannst du verschmerzen, Schamane?“

„Genauso haben sie es mit dem Steppenreitervolk gemacht“, murmelte eins der Ratsmitglieder, während der Zauberer augenscheinlich über Andos Worte nachdachte.

Er schob das Kinn vor, zog die Mundwinkel weit nach unten und kratzte sich am Hals. „Es wird mehr Tote geben, wenn du sie angreifst“, erwiderte er.

Ando schnaubte, aber bevor er antworten konnte, kam ihm ein anderer zuvor: „Sie werden uns für schwach halten, wenn wir nicht kämpfen. Und eines Tages werden sie unser Dorf überfallen.“

Der Schamane nickte bedächtig. „Das ist wahr“, gab er zu. „Wann willst du den Schwarzen Clan angreifen, Ando?“

„Sobald sie ins Sommerlager umgesiedelt sind.“

„Wann wird das sein?“

„Beim nächsten vollen Mond.“

Es kam Bojana vor, als hielten alle Anwesenden die Luft an, während der Schamane das Für und Wider abwog. Endlich erklärte er: „Ich bin einverstanden. Wer noch?“

Zögernd schlossen sich vier der sieben Ratsmitglieder an. Nur zwei stimmten gegen Andos Vorschlag. Zum ersten Mal seit die Versammlung begonnen hatte, sah Bojana ihren Onkel lächeln. Sein Grinsen glich dem Zähnefletschen eines Wolfs und sie erschauerte.

„Dann ist es beschlossen“, sagte er. „Lasst uns den Ablauf des Angriffs durchgehen.“

Bojana hörte nicht mehr zu. Sie sah auf den dunklen Haarschopf an ihrer Schulter. Sie spürte Ljubas Herzschlag, der im Einklang mit ihrem eigenen schlug. Ihre Base wirkte so hilflos auf sie, als müsste sie vor allem beschützt werden. Bojana legte ihr Kinn auf den Scheitel des kleinen Mädchens und sog den Geruch der Locken ein. Angst schlich sich wie ein lautloses Raubtier in ihr Herz. Hoffentlich ging bei Andos Plan alles gut. Sie hatte ein schlechtes Gefühl, aber ihrem Onkel davon zu erzählen, wäre unsinnig. Sie war nur ein Mädchen, das Furcht verspürte – mehr nicht. Bojana drückte ihre Lippen auf das weiche Haar ihrer Base. Sie würde sie beschützen, was auch passieren mochte.

 *** 

„Gehst du wirklich mit Vater ins Sommerlager?“, fragte Karan und sah seinen Bruder mit leuchtenden Augen an.

Tarin nickte lächelnd. Er stellte einen Fuß auf den dünnen Holzbalken des Zauns, der die Koppel eingrenzte, hob das Bündel von seiner Schulter und ließ es zu Boden gleiten. Er schnalzte mit der Zunge. Sofort löste sich eine schwarze Stute mit einer weißen Zeichnung auf der Stirn aus der kleinen Herde und trabte auf ihn zu. Der junge Mann streckte die Hand aus und berührte den hellen Streifen, der vom Punkt zwischen den Augen bis hinunter zum Maul verlief. Die Stute wieherte leise. Die Sonne brachte ihr dunkles Fell zum Leuchten und offenbarte das fleckenartige Muster, das bei herkömmlichen Lichtverhältnissen nicht sichtbar war.

In den Bergen, wo der Schwarze Clan sein Lager in einem von hohen Felswänden umschlossenen Tal aufgeschlagen hatte, dauerte der Winter länger als in der Ebene. Doch inzwischen stand die Sonne so hoch, dass ihre Strahlen über die Gipfel reichten und die vereisten Pässe freischmolzen. Es war so warm, dass Tarin auf seine dicke Felljacke verzichtet hatte und nur eine knielange Tunika aus gegerbtem Ziegenleder und passende Beinlinge trug. Seine Winterstiefel hatte er gegen weiche Lederschuhe getauscht.

„Ich möchte auch mitkommen!“, rief sein kleiner Bruder empört.

Tarin grinste. „Du bist zu klein, um Vater eine Hilfe zu sein, Karan“, stichelte er. Er zog ein Zaumzeug, geflochten aus Pferdehaar mit hübsch verzierten Trensenknebeln aus Geweih, aus seinem Reisebündel und duckte sich unter der Querstrebe des Zauns hindurch.

Karan schnaubte.

Während Tarin der schwarzen Stute den Zaum anlegte, sah er mit einem Seitenblick, wie sein Bruder die Fäuste ballte. Er ignorierte Karans Geste und streichelte liebevoll den langen, muskulösen Hals der Stute. Sie gehörte ihm allein. Vater hatte sie ihm geschenkt.

Tarin war einer der Ersten gewesen, der vor einem Jahr zu reiten gelernt hatte. Der Schwarze Clan war nicht beritten gewesen, bis ihm das Steppenreitervolk vier Handvoll rappwindfarbener Pferde für den vereinbarten Frieden überlassen hatte. Die Stuten waren an den Umgang mit Menschen gewöhnt und zum Reiten ausgebildet. Dafür mussten die Männer des Schwarzen Clans erst noch lernen, welchen Preis die Freiheit kostete, auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen. Eine Stute brauchte viel Futter und vier Handvoll Stuten umso mehr. Heu musste in der Ebene geschnitten und für den Winter bevorratet werden. Zudem wollten die Tiere auch dann regelmäßig bewegt werden, wenn ihr Dienst nicht vonnöten war. Im Winter mussten sie sogar trocken gerieben werden, um nicht zu erkranken. Ein Pferd zu besitzen machte viel Arbeit, aber der Schwarze Clan verfügte über genügend Sklaven, die diese Aufgaben übernahmen. Drei Jungen hatte das Steppenreitervolk im letzten Sommer nach den Verhandlungen mit Dusan geschickt, damit sie den Männern alles über die Haltung von Pferden beibrachten. Einer von ihnen, wortkarg und ruhig, sein Name war Cuska, hatte Tarin das Reiten beigebracht. Und er hatte schnell gelernt. Erfüllt von väterlichem Stolz hatte Dusan seinem erstgeborenen Sohn eine der schwarzen Stuten geschenkt.

Tarin führte die Stute am Zaun entlang zu einem Gatter, das nur aus einem schweren Balken bestand, der in einer Halterung lag, sodass man ihn herausheben konnte.

Karan lief außerhalb des Geheges neben ihm her. „Warum kann ich nicht mitkommen?“

„Weil du noch nicht initiiert worden bist“, antwortete Tarin. „Nur die erwachsenen Männer gehen ins Sommerlager.“

„Warum?“, wollte Karan wissen.

Tarin zuckte mit den Achseln. „War schon immer so.“

Karan verzog beleidigt den Mund. „Ich wäre Vater eine große Hilfe!“

Tarin blieb stehen, die Stute tat es ihm gleich, und er sah den Jungen mit den dunklen wuscheligen Haaren nachdenklich an. „Das wärst du, Bruder. Ganz bestimmt.“

Für Tarin war es das erste Mal, dass er ins Sommerlager ging. Es lag außerhalb des Tals und weit hinter den Bergen. Das offene Land der fruchtbaren Ebene war das Zuhause vieler Stämme. Von Zeit zu Zeit wurde Tauschhandel betrieben. Es fanden Treffen statt und manchmal folgte eine Frau einem Mann, um mit ihm bei seinen Leuten zu leben, aber die meiste Zeit blieb jeder Stamm für sich. Der Schwarze Clan hatte sich im Westen am Rande der Ebene in einem Gebirge niedergelassen. Nordöstlich von dort, kurz bevor die Tundra begann, lebte das Steppenreitervolk und im Südosten, wo die Weiden am fruchtbarsten waren, hatte der größte Stamm der Ebene sein Lager: Der Graslandclan. Dahinter erstreckte sich die raue Steppe, wo die großen Rentierherden lebten und Menschen, die eine andere Sprache sprachen als sie. Neben diesen drei Stammesverbänden gab es noch eine Reihe kleinerer, und für alle galt das unausgesprochene Gesetz: untereinander Frieden halten.

Doch das Gesetz war gebrochen worden.

Dusan, der Fürst des Schwarzen Clans hatte Überfälle auf die anderen Stämme befohlen. Tarin war sich nicht sicher, was sein Vater damit bezweckte, aber es hatte ihnen die Pferde eingebracht und neue Sklaven. Und es war nicht an ihm, an seinem Vater zu zweifeln.

Im späten Frühling, sobald die Pässe frei waren, zog ein Großteil der jungen Männer und einige Frauen in das Sommerlager um. Die Berge mochten den Schwarzen Clan vor Feinden schützen, aber sie gaben nicht genug her, um die wachsende Gemeinschaft zu ernähren, und die Abgaben, die die unterworfenen Stämme in Form von Getreide und Vieh leisteten, waren nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Deswegen mussten sie während der warmen Jahreszeit genügend Vorräte für den Winter anlegen. Jedes Jahr schlugen sie ihr Lager an einem Fluss östlich des Gebirges auf, um zu jagen, zu fischen, Korn zu ernten, das wild auf den Wiesen wuchs, und im nahegelegenen Wald Holz für die Herdfeuer und den Bau der großen Langhäuser zu schlagen.

Im letzten Jahr hatte eine Handvoll Jungen und Mädchen die Pferde auf die höher gelegenen Bergweiden getrieben und den Sommer über gehütet. Doch in diesem Jahr hatte der Fürst des Schwarzen Clans beschlossen, die Pferde mit in die Ebene zu nehmen. Vier Tage zuvor war ein Trupp zu Fuß aufgebrochen, um den langen Pass durch die Berge zu nehmen, der zu den üppigen Weiden führte. Sie sollten die Zelte aufbauen und ein Gehege für die Stuten errichten. Heute würden die Übrigen mit den Tieren nachkommen, und Tarin gehörte zu den besten Reitern. Das war der Grund, warum ihn sein Vater dabeihaben wollte, wenn sie die Pferde zum ersten Mal aus dem Tal führten. Zudem war Tarin bei weitem alt genug, um ihn zu begleiten.

„Ich werde ein großer Jäger, Tarin. Und dann werde ich ins Sommerlager gehen!“, rief Karan und schob seinen Kiefer trotzig vor.

Tarin sah die Entschlossenheit in den braunen Augen seines Bruders lodern. Liebe wallte in ihm auf. Er wollte eben etwas erwidern, da machte Karan kehrt und stampfte den sandigen Weg zurück zu den Häusern oberhalb der Anhöhe, kleine Staubschwaden mit den Füßen aufwirbelnd. Tarin sah ihm nach, ehe er sich wieder in Bewegung setzte. „Das wirst du“, murmelte er, „und dann begleite ich dich.“

Er steuerte mit seiner Stute auf das Gatter zu, nahm kurz eine Hand vom Zaum, um den Balken anzuheben, dann führte er das Pferd hinaus. Die drei Stuten, die noch auf der Koppel standen, sollten den Sommer im Tal verbringen. Dusan wollte sofort benachrichtigt werden, falls etwas im Hauptlager passierte.

Eine Sklavin hastete mit einer meckernden Ziege, die sie an einem Strick hinter sich her zerrte, an Tarin und seiner Stute vorbei, als er den kürzesten Weg zum östlichen Pass einschlug. Schweiß glitzerte auf ihrem schmutzigen Gesicht. Sie schnaufte.

Tarin hörte Kinderlachen, dann ein lautes Heulen. Er entdeckte Jungen, die sich gegenseitig jagten. Einer war hingefallen und hatte sich das Knie aufgeschlagen. Die anderen beachteten ihn nicht und tobten weiter.

Das Leben im Dorf ging seinen gewohnten Gang. Keiner bemerkte ihn. Und es ärgerte Tarin, dass niemand Anteil an seinem Glück nahm. Als er an den beiden strohgedeckten Langhäusern vorbeimarschierte, verfinsterte sich sein Gesicht. Ein spitzer Stein bohrte sich in die Sohle seines rechten Schuhs und er starrte verdrießlich zu Boden.

Plötzlich ertönte eine heisere Stimme: „Bist du so weit?“

Tarin hob den Blick, beschattete seine Augen vor der Sonne und sah die großen schwarzen Silhouetten der beiden Reiter und ihrer Pferde. Er konnte ihre Gesichter nicht erkennen, aber seinen Vater hatte er bereits an der markanten Stimme ausgemacht. Der andere war höchstwahrscheinlich sein Vetter Darko. Tarin nickte eifrig. Beim Näherkommen sah er, dass der linke Reiter grinste. Selbst im Schatten leuchteten die kräftigen, hellen Zähne seines Vaters.

„Dann komm.“ Dusan lenkte sein Pferd herum und ritt los. Der zweite Reiter folgte ihm.

Tarin zog sich eilig an der dunklen Mähne seiner Stute auf deren Rücken, presste dem Pferd mit leichtem Druck die Fersen in die Flanken und schnalzte. Sogleich fiel das Tier in einen schnellen Trab. Tarin holte die anderen ein und lenkte seine Stute neben Dusans. Aus den Augenwinkeln beobachtete er seinen Vater.

Dusan war kein großer Mann, nichtsdestotrotz war er eine imposante Erscheinung. Er war muskulös, mit einem sehnigen Hals und tiefen Furchen in seinem kantigen Gesicht. Sein dunkles, schulterlanges Haar war mit schmutziggrauen Strähnen durchsetzt. Der dichte, kurzgeschnittene Bart war vollständig ergraut. Er wirkte älter, als er tatsächlich war.

Der Reiter auf Dusans anderer Seite beugte sich vor und grinste Tarin an. Darko war eine Handvoll Jahre älter als er und schon mehrere Male im Sommerlager gewesen. Er musste die Vorfreude in Tarins Gesicht gesehen haben, denn er zwinkerte ihm zu, und dem Jungen stieg die Hitze in die Wangen. Schnell richtete er den Blick nach vorne.

Sie ritten aus dem Dorf und über eine Wiese mit leichtem Gefälle, die übersät war mit kleinen gelben Blüten, und hielten auf die dunklen Berge zu. Der östliche Pass fraß sich wie eine klaffende Wunde in den Fels und warf einen breiten Streifen Licht in das Tal. Eine Gruppe von Männern wartete im Schatten der Berge auf sie. Alle waren beritten und einige führten zusätzliche Packpferde mit sich. Nur eine einzelne schmale Gestalt war zu Fuß. Sie stand neben einem großen grauen Pferd, das Gesicht in Tarins Richtung gewandt. Als er sie erkannte, zuckte er heftig zusammen. Ruckartig drehte er sich zu seinem Vater um. „Was tut Mutter hier?“

In Dusans Gesicht regte sich kein einziger Muskel. „Auf Wiedersehen sagen“, erklärte er knapp.

Tarin verglühte geradezu vor Scham. Er stierte auf den Widerrist seiner Stute. Wie mochte es auf die anderen Männer wirken, dass seine Mutter ihn verabschieden wollte? Seine Zähne knackten laut. Die drei Reiter erreichten die anderen und hielten an.

Die Frau mit dem dicken dunklen Zopf kam auf Tarin zu. Sie stellte sich neben seine Stute und streichelte ihre Blesse, ohne ihren Sohn anzusehen.

Tarin rutschte unbehaglich mit dem Hinterteil auf dem Rücken des Pferdes hin und her.

„Ich wünsche dir eine gute Reise, mein Sohn“, sagte Rajka. Sie sah immer noch nicht auf. „Komm gesund zurück.“ Dann wandte sie sich ab und ging ohne ein weiteres Wort davon.

Tarin öffnete erstaunt den Mund. Er hatte erwartet, dass sie ihn in den Arm nehmen, ihn küssen wollte. Sein Magen klumpte sich zusammen. Plötzlich wünschte er sich, sie hätte es getan. Er sah ihr nach, wie sie über die Wiese zurück ins Dorf ging und sich immer weiter entfernte. Würde sie sich wenigstens umdrehen? Er hörte den Befehl zum Aufbruch dicht an seinem Ohr und das Klappern der Hufe auf dem felsigen Untergrund, als sich der Trupp in Bewegung setzte, aber er rührte sich nicht.

„Komm, Tarin!“

Widerwillig riss Tarin seinen Blick von der kleiner werdenden Gestalt seiner Mutter und nickte Dusan zu, dann bedeutete er seiner Stute, loszutraben.

 *** 

Feiner Niesel nahm Karan die Sicht. An diesem Morgen war der Himmel in dichtes Grau gehüllt, kein Sonnenstrahl vermochte durch die Wolkenmauer zu brechen, Regentropfen dagegen zuhauf. Das struppige dunkle Haar des Jungen sog sich mit Wasser voll und klebte an seinem Kopf.

Gemächlich schlenderte er in der Siedlung umher, während die anderen Leute durch den Regen hasteten, um nicht allzu nass zu werden. Sein Blick war auf einen kleinen Kiesel gerichtet, den er lustlos vor sich her stieß. Der Sandweg war zu festgetreten, um matschig zu werden, aber der Kies knirschte unter seinen durchnässten Lederschuhen. Der nächste Tritt versenkte den Stein in einer Pfütze, die sich in einer Mulde gebildet hatte. Karan blieb stehen, glotzte in das schmutzige Wasser und zog geräuschvoll die Nase hoch.

Elf Sommer zählte er, aber er fühlte sich nicht mehr wie ein Kind. Er verspürte keine Lust, mit den Gleichaltrigen zu spielen. Er wollte reiten lernen, jagen und kämpfen! Der Steppenreiterjunge war nur ein Jahr älter gewesen als Karan, als er in den Kreis der Jäger seines Stammes aufgenommen worden war. Er hatte ihm selbst erzählt, dass er schon im Alter von acht mit seinem Onkel auf die Jagd gegangen war. Karan war neidisch auf den Sklaven, denn er besaß all das Wissen, was er sich aneignen wollte.

Dusan hatte gesagt, dass die Ausbildung seines zweitgeborenen Sohns frühestes im nächsten Sommer beginnen würde. Und erst wenn er so alt war wie Tarin jetzt, durfte er sich als Mann bezeichnen, und das auch nur, wenn der Stammesrat ihn als solchen anerkannte. Karan knirschte mit den Zähnen. Sein Vater beschwerte sich oft über die alten Männer, die ihn nicht handeln ließen, wie er wollte. Karan fragte sich, warum es einen Rat gab, wenn dieser kluge Ideen nicht verstand. Dumme Ratsmitglieder – sie schafften Gesetze, die keinen Sinn machten.

Am liebsten wäre Karan seinem Vater und Tarin ins Sommerlager gefolgt. Im Kopf hatte er es viele Male durchgespielt. Dann hatte er seine Sachen gepackt, war des Nachts aus der Holzhütte, die er seit drei Handvoll Tagen nur mit seiner Mutter und seinem kleinen Bruder Dajan bewohnte, geschlichen, hatte sich ein Pferd geholt und war den östlichen Pass hinuntergeritten. Doch das waren Tagträume, denn Karan konnte nicht reiten. Noch nicht.

Der Junge nieste. Er wischte sich mit dem Handrücken den Rotz von der Nase. Seine Ledertunika war tropfnass, fühlte sich kalt an auf seiner Haut und scheuerte. Er war schon viel zu lange draußen im Regen. Bestimmt hatte seine Mutter inzwischen das Mittagessen bereitet. Er sah auf und wollte eben kehrtmachen, um zum Haus des Stammesfürsten zurückzutraben, als er eine dunkle Gestalt auf dem Hauptweg bemerkte. Karan blinzelte den Regen fort.

Die Gestalt kam geradewegs auf ihn zu. Es war ein Mann, gehüllt in einen Umhang aus schwarzen Rabenfedern, an denen Myriaden von glänzenden Tropfen hingen. Erregung rieselte wohlig wie ein Sommerschauer sein Rückgrat hinab. Mit Verwunderung stellte Karan fest, dass keiner der wenigen Dorfbewohner den Fremden auf sein Erscheinen ansprach. Wie angewurzelt stand der Junge da und ließ den Mann näherkommen. Er blieb nur eine Speerlänge von Karan entfernt stehen. Ein schiefes Lächeln lag auf den schwarzbemalten Lippen inmitten eines hageren Gesichts. Ein Tropfen zitterte an der Spitze der langen Nase. Die Augen waren unter der Kapuze verborgen und Karan reckte unwillkürlich den Hals, um darunter zu spähen. Das Grinsen des Fremden vertiefte sich.

„Wer bist du?“, fragte der Junge misstrauisch.

„Man nennt mich Vater der Krähen. Ich möchte mit Dusan sprechen.“

Die Stimme des Mannes war klangvoll und erstaunlich klar und drang in Karans Brust, wo sein Herzmuskel in kräftigen Stößen das Blut in seine Adern drückte.

„Mein Vater ist nicht da“, antwortete er zögerlich.

„Dusan ist dein Vater? Wo ist er?“

„Im Sommerlager.“

„Ah“, machte der Fremde und lächelte wieder.

„Meine Mutter ist da“, murmelte Karan.

„Bringst du mich zu ihr?“

Der Junge nickte, wirbelte herum und lief durch den Regen. Mit patschenden Schritten erreichte er das Holzhaus mit dem Dach aus nassem, grauem Stroh und steckte seinen Kopf zur Tür herein.

Seine Mutter saß mit Dajan am Feuer und hob den Blick. „Wo warst du?“, fragte sie scharf.

„Wir haben Besuch!“, rief Karan bloß und trat wieder nach draußen, um dem Fremden, der ihm langsam hinterhergetrottet war, die Türvorhänge aufzuhalten.

Der Mann mit dem Rabenfederumhang betrat die Hütte. Über seine niedrige Schulter hinweg sah Karan, wie seine Mutter aufsprang. Ihre Züge verwandelten sich in eine verzerrte Fratze, eine Mischung aus Furcht und Wut spiegelte sich in ihnen. Sein kleiner Bruder versteckte sich hinter Rajkas Rücken. Sie funkelte den Besucher herausfordernd an. „Was willst du hier, Schamane?“, knurrte sie.

Schamane? Wieder erfasste Karan dieses merkwürdige Prickeln. Er runzelte die Stirn.

Rajkas Augen richteten sich auf ihn. „Karan!“, rief sie schrill. „Komm her!“

Nicht sein Gehorsam, sondern die Verwunderung über die Panik in der Stimme seiner Mutter brachte ihn dazu, ihrem Befehl Folge zu leisten. Er schlüpfte an dem Schamanen vorbei, stellte sich neben Rajka und drehte sich zu dem Mann um. Seine Mutter griff nach seinen Schultern und zog ihn an sich, bis sein Rücken an ihrem Körper lehnte.

„Halt dich von meinen Kindern fern!“

Der Schamane lächelte kalt. „Ich bin nicht wegen deiner Kinder hier. Ich möchte mit Dusan sprechen.“

„Er hat dir gesagt, dass du nicht herkommen sollst“, zischte Rajka.

„Ich habe ihm einen Vorschlag zu machen. Er könnte mich wenigstens anhören … nach allem, was ich für ihn getan habe.“

Karans Mutter schnaubte. „Er schuldet dir nichts. Er hat den Preis bezahlt, oder etwa nicht?“

Der Schamane nickte, dann seufzte er betont laut. „So ist es“, gab er zu und wandte sich halb um. „Dann werde ich gehen. Ich hoffe, dass dein Starrsinn Dusan nicht teuer zu stehen kommen wird, Frau.“

Der Schamane kehrte ihnen den Rücken zu, schob die Türvorhänge auf und wollte gerade hinausgehen, als Karan ihn zurückhielt.

„Was willst du von meinem Vater?“ Er spürte, wie sich seine Mutter versteifte. Ihre Hände gruben sich schmerzhaft in seine Schultern.

„Ich wollte ihm nur meine Hilfe anbieten.“

Bevor Karan noch etwas fragen konnte, rief seine Mutter: „Geh, Schamane, geh! Meinen Jungen bekommst du nicht!“

Der Mann lachte und hinter ihm klatschten die nassen Ledervorhänge zu.

Karans Herz pochte laut. Der Junge hielt den Atem an. Er straffte die Schultern und wirbelte zu seiner Mutter herum. „Vater muss das wissen! Schick mich zu ihm.“

2. Kapitel

Warmes, dämmriges Licht schien durch die ledernen Zeltwände. Ein dünner Schweißfilm benetzte die Glieder des Jungen. Die feinen Haare der Felldecke kitzelten seine nackte Haut. Tarin gähnte satt und zufrieden, streckte sich auf seiner Bettstatt und machte Anstalten, die Lider zu senken, um den nahenden Schlaf willkommen zu heißen. Er spürte, wie sich die Frau an seiner Seite bewegte, sich herumdrehte und ihren Kopf auf seine schmale, haarlose Brust bettete. Ohne die Augen zu öffnen, seufzte sie leise, bevor sie wieder still lag.

Tarins Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Die Frau mochte fünf oder sechs Jahre älter sein als er und sie war hübsch. Es störte den Jungen wenig, dass sie seine Sprache nicht verstand, denn für das, was sie miteinander taten, brauchten sie keine Worte. Sie war Tarins erste Frau gewesen, eine Sklavin, die laut Darko aus der Tundra im Osten stammte und weitergetauscht worden war, bis sie im Herbst beim Schwarzen Clan gelandet war.

Sein Vetter und zwei andere Jäger waren früh am Morgen fortgeritten, und obwohl es mittlerweile Abend sein musste, war noch keiner der Männer, mit denen sich der Junge das runde Zelt, das aus langen Holzstangen bestand, die mit einer einfachen Lederplane bespannt waren, zurückgekehrt. Der Platz war begrenzt, aber weil es keine Feuerstelle gab und sie nachts auf die Wärme des anderen angewiesen waren, störte es niemanden, dass Tarin die Frau in sein Schlaffell geholt hatte.

Vor einem halben Mond waren die Reiter im Sommerlager angekommen. Es war Tarin nicht schwer gefallen, sich einzugewöhnen. Tagsüber trieb er mit vier anderen Jungen in seinem Alter die Pferde auf die saftige Weide auf der anderen Seite des Flusses, die durch eine breite Furt zu erreichen war. Er passte auf, dass keines der kostbaren Tiere verloren ging, und solange die Herde zusammenblieb, war es unwahrscheinlich, dass sich Raubtiere näherten. Für alle Fälle waren die Jungen mit schweren Speeren mit langen Knochenspitzen bewaffnet. Abends brachten sie die Pferde zurück zu dem Korral aus jung geschlagenen, armdicken Bäumchen, die man in den Boden getrieben hatte. Während die Männer fischten, jagten, schlachteten und die Sklavinnen das Fleisch dörrten, Beeren sammelten und Schilfgras am Flussufer schnitten, um daraus Körbe zu flechten, lagen Tarin und die anderen die meiste Zeit im Gras und ließen sich die Haut von der Frühsommersonne bräunen.

Noch wenigstens zwei Monde würden vergehen, bis die Frauen und Jungen mit Sicheln aus Eibenholz, in deren Krümmung scharfe Feuersteineinsätze mit Birkenpech geklebt waren, auf den umliegenden Weiden die Halme von wildem Emmer, Einkorn und Gerste abschneiden konnten, um sie in großen Beuteln vor der Brust zu sammeln. Erst im Hauptlager sollte die wertvolle Saat entspelzt und zu Schrot und Mehl weiterverarbeitet werden. Die Halme dienten als Futter für die Tiere und zum Erneuern der Hausdächer. Die Getreideernte war eine anstrengende und wenig ertragreiche Arbeit, und Tarin fragte sich nicht zum ersten Mal, wie sich ein großer Stamm wie der Graslandclan fast ausschließlich vom Ackerbau ernähren konnte.

Der Junge seufzte. Morgen wollte Dusan seinen Sohn mit auf die Hyänenjagd nehmen. Am Vortag hatten zwei Jäger ein Rudel östlich von hier entdeckt. Hyänen ließen sich oft in der Nähe von Jagdlagern nieder, um sich einen Anteil der Beute zu sichern, und der Stammesfürst wollte die Aasfresser loswerden, bevor sie lästig wurden.

Tarin war froh, dass das Liebesspiel ihn schläfrig gemacht hatte, sonst würde er vor Aufregung die ganze Nacht nicht schlafen können. Langsam dämmerte er weg und bemerkte erst, dass er tief und fest geschlafen hatte, als er jäh von einem schrillen Schrei geweckt wurde. Er vibrierte durch die Lederhaut des Zelts und klang in seinem Schädel nach.

Ruckartig setzte sich Tarin auf. Es war stockfinstere Nacht und er konnte kaum die Umrisse seiner eigenen Hand sehen, mit der er die kalte Stelle neben sich auf der Bettstatt absuchte. Die Frau war fort. Er hörte ein Keuchen hinter sich und wirbelte herum.

„Hast du das gehört?“, fragte der Mann auf der anderen Seite des Zelts.

Tarin erkannte die Stimme seines Zeltgefährten und beruhigte sich etwas. Er hörte leises Rascheln, als der andere aus seiner Schlafrolle kroch. Der Junge nickte heftig, dann kam er sich dumm vor, weil ihn sein Mitbewohner gar nicht sehen konnte und antwortete: „Ja.“ Mit Entsetzen bemerkte Tarin, wie dünn seine Stimme klang.

„Wir sehen nach“, bestimmte der Mann. „Nimm deinen Speer mit.“

Hastig schlüpfte Tarin in seine Beinlinge und zog sich das Hemd über den Kopf. Noch bevor er seine Schuhe gefunden und angezogen hatte, war der andere schon aus dem Eingang des Zelts gekrochen. Mit pochendem Herzen nahm der Junge seinen Speer und folgte ihm. Draußen ertönte ein weiterer Schrei, fuhr ihm durch Mark und Bein. Kalter Schweiß brach in seinem Nacken aus.

Die Sonne zeigte sich im Osten als schmaler heller Streifen am weiten Horizont. In unmittelbarer Umgebung färbten sich die Wolken grau, aber der Rest des Himmels war dunkel. Eine Frau stolperte an Tarin vorbei, fiel hin, rappelte sich wieder auf und rannte weiter. Er drehte den Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen war, verengte die Augen und sah Gestalten, oder vielmehr erahnte er sie. Wütendes Brüllen war von dort zu hören, das Wiehern von verängstigten Pferden und dann wieder ein erschrockener Schrei. Tarin umfasste den glatten Schaft seines Speers fester, den der Schweiß ganz rutschig machte. Sein Mitbewohner war fort, dafür kamen weitere Frauen aus der Dunkelheit auf ihn zu. Eine war verletzt, humpelte mehr, als dass sie lief.

Tarin öffnete im stummen Entsetzen den Mund. Endlich begriff er, dass das Sommerlager überfallen wurde. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr und wirbelte herum. Eine kleine Gruppe von Jägern, Männer seines Stammes, liefen mit gezückten Waffen auf den noch unsichtbaren Feind zu. Tarin schluckte. Er löste seine schweren Beine vom Boden und folgte ihnen. „Was ist los?“, schrie er.

Einer warf im Lauf den Kopf zurück. „Ich weiß nicht. Wir sind eben erst zurück.“ Es war Darko. „Hau ab, Tarin! Sofort!“, bellte er und richtete seinen Blick nach vorne.

„Ich werde nicht fliehen!“, erwiderte Tarin beleidigt. „Ich kämpfe mit dir.“

„Dann bleib dicht bei mir!“, hörte er Darko rufen, auch wenn seine Stimme fast in dem Gemisch aus panischem Kreischen und schmerzerfülltem Heulen unterging. Irgendwo kläffte ein Hund.

Tarin fuhr zusammen. Der Schwarze Clan hielt keine Hunde. Welcher Stamm züchtete welche? Sein Verstand suchte rasend schnell nach möglichen Antworten. Die Steppenreiter besaßen keine, der Flussfischerstamm schon. Er biss sich auf die Lippe. Wer noch?

Der Himmel wurde von blutig roten Lichtbändern durchzogen und offenbarte allmählich einen Teil des Geschehens. Frauen und unbewaffnete Männer rannten den Kämpfern entgegen, wurden von fremden Reitern vor sich hergetrieben. Die Pferdehufe brachten die Erde zum Beben. Das Dröhnen stieg von Tarins Füßen bis in seine Beine hinauf und erschwerte sein Vorankommen. Ein Reiter preschte mit seinem Pferd auf Darko und die anderen zu.

„Los!“, schrie dieser und fuchtelte wild mit dem freien Arm.

Augenblicklich blieben die Männer stehen, stießen ihre Speere vor und stemmten sich mit einem Fuß in den festen Sand. Tarin tat es ihnen gleich. Der Reiter riss sein Pferd zurück, aber er war schon zu nah. Darkos Speer bohrte sich tief in die ungeschützte Brust der hellen Stute. Sie stieß einen schrecklichen Todesschrei aus, der laut in Tarins Ohren schrillte, und bäumte sich ein letztes Mal auf. Darko zog den Kopf ein, bevor er von einem niederschlagenden Huf getroffen wurde, dann stürzte das Tier mitsamt seinem Besitzer zu Boden. Als der Angreifer von zwei Männern unter dem sterbenden Pferdekörper hervorgezerrt wurde, schlug er wütend um sich. Seine Schreie verstummten, als beide Speere seine Brust durchdrangen.

Tarin starrte, seine Waffe fest umklammernd, in die weit aufgerissenen, schwarzen Augen des Mannes, der sich krümmte und gurgelte und zuckte. Ein eisigkalter Schauer rauschte dem Jungen den Rücken hinunter. Es war das erste Mal, dass er einen Menschen gewaltsam sterben sah. Der Mann war tot und rührte sich nicht mehr.

Durch das laute Rauschen in seinem Kopf hörte Tarin seinen Vetter brüllen: „Weiter. Findet Dusan!“ Der Junge schaute hastig hin und her, um den Schrecken, der ihn gefangen hielt, von sich abzuschütteln.

Als die Männer gerade den nächsten Reiter von seinem Pferd ziehen wollten, kam ein zweiter hinzu. Ehe sie dessen Stute außer Gefecht setzen konnten, war er schon von ihrem Rücken gesprungen und stürzte auf das schwächste Mitglied der Truppe zu: Tarin. Die anderen waren noch mit dem ersten Reiter beschäftigt, der plötzlich Unterstützung durch zwei Speerkämpfer erhielt, als der Angreifer den Jungen zu Boden warf und ihn unter seinem Gewicht begrub.

Tarin keuchte. Beim Sturz war ihm der Speer entglitten. Er stemmte sich mit einer Hand gegen den schweren, muskulösen Mann und versuchte gleichzeitig mit der anderen nach dem Speerschaft zu fassen, der nicht weit entfernt lag. Harte, schwielige Finger spannten sich um seinen Hals, Schweiß tropfte von den Wangen des Fremden auf Tarins Gesicht. Alle Luft wurde aus seinen Lungen gedrückt. Er gab es auf, den Speer mit den Fingern erreichen zu wollen, und hämmerte stattdessen mit seinen Fäusten auf den breiten Rücken des Mannes ein. Verzweiflung stieg in ihm auf und staute sich ebenso wie das Blut in seinem Schädel, das seine Schläfen schmerzhaft pochen ließ. Schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen.

Tarin bekam den Gürtel seines Gegners zu fassen, zerrte halbherzig daran, um ihn von sich herunterzuziehen, als er plötzlich das Heft eines Spandolchs erwischte. Instinktiv riss er die Feuersteinklinge aus der Lederscheide, drehte sie in der Hand herum und stieß sie seitlich in die Taille des Fremden. Das Messer fuhr mühelos durch das Leder und in weiches Fleisch. Erschrocken starrte ihn der Angreifer an und lockerte den Würgegriff um seinen Hals. Tarin sog geräuschvoll Luft in seine Lunge, dann drehte er die scharfe Klinge in den Eingeweiden seines Gegners herum und hörte, wie dem Mann ein ungläubiges Stöhnen über die Lippen glitt. Er zog den Spandolch heraus und stieß ihn in einer schnellen Bewegung in den Hals. Das Gesicht seines Widersachers wirkte nun nicht mehr überrascht – jeglicher Ausdruck war daraus verschwunden.

Tarin riss das Messer aus der Kehle und ein warmer Blutschwall ergoss sich über seine Schulter und seinen Arm. Spritzer landeten auf seiner Unterlippe. Unwillkürlich leckte seine Zunge den Geschmack auf und seine Nase nahm den süßlichen Geruch wahr, der ihm sofort die saure Galle in den Rachen steigen ließ. In demselben Moment sackte der Tote zusammen und begrub den Jungen unter sich. Von Panik und Brechreiz getrieben kämpfte sich Tarin unter dem Leichnam hervor, kam taumelnd auf die Beine und erbrach sich. Seine Finger zitterten so heftig, dass ihm das blutige Messer entglitt, das klappernd auf dem festgestampften Sandweg landete. Eine schwere Hand packte Tarins Schulter und schüttelte ihn.

„Schon gut“, murmelte Darko. „Schon gut.“

Der Junge nickte, wischte sich mit dem Handrücken das Erbrochene weg und schmierte dabei mehr fremdes Blut an seinen Mund. Der Ekel wollte ihn erneut übermannen, aber er straffte die Schultern. Er rieb sich die Hände an den Beinlingen trocken, dann bückte er sich, um seinen Speer und das Messer aufzuheben, und folgte seinem Vetter.

Immer mehr Reiter kamen. Sie umstellten das Lager und trieben die Menschen zusammen. Den Weg zu den Pferden des Schwarzen Clans hatten sie versperrt. Wo war sein Vater? Er musste die Männer um sich versammeln und die Verteidigung anführen. Plötzlich wurden Darkos Schritte schneller, zielsicherer. Über seine Schulter hinweg konnte Tarin Dusan sehen – Angesicht zu Angesicht mit einem der Angreifer, der hoch oben auf dem Rücken eines sandfarbenen Pferdes saß, während die roten Sonnenstrahlen seinen dichten Grasumhang wie einen Mantel aus Flammen zum Leuchten brachten. Tarin stockte der Atem.

 *** 

Dusans Worte klangen, als spuckte er sie dem anderen Mann ins Gesicht. Seine Hände hielten den Speerschaft so fest, dass die Knöchel seiner breiten, behaarten Hand weiß hervortraten. Die gelblichschwarze Knochenspitze von der Länge einer Frauenhand zielte auf die Kehle des Reiters.

Darko stellte sich an die Seite seines Onkels und richtete seinen Speer ebenfalls auf den Reiter des gedrungenen, sandfarbenen Pferds. Die Morgenröte glänzte kupfern auf den hellbraunen, im Nacken zu einem Zopf zusammengefassten Locken des Fremden. Er war jünger als Dusan, hatte wie er ein breites Gesicht, aber mit feineren Zügen. Der rötliche Bart war kurzgeschnitten. Der Reiter blickte Dusan streng an. Aus den Augenwinkeln bemerkte Darko, wie sein Vetter neben ihm zum Stehen kam.

„Wer ist das?“, fragte Tarin außer Atem. Sein Vater antwortete nicht und Darko wusste es nicht.

Weitere Männer, gehüllt in knielange, aus trockenem Gras geflochtene Umhänge und bewaffnet mit Speeren und kurzen Bögen, sammelten sich um den Reiter mit dem roten Bart. Er schien Tarins Frage vernommen zu haben. „Mein Name ist Ando. Ich bin der Sippenführer des Graslandclans.“ Er ließ seinen Blick über die Männer und Frauen des Schwarzen Clans schweifen, die von den Angreifern und ihren bellenden Hunden immer dichter auf dem Platz um Dusan zusammengedrängt wurden.

„Ah, du bist das“, knurrte Dusan.

„Du verstehst bestimmt, dass ich deine Spielchen in der Vergangenheit als Drohung aufgefasst habe“, sagte Ando hart. Die winzigen Sommersprossen auf seinem Nasenrücken ließen ihn sanft erscheinen, aber Darko wusste, dass ein Mann, der das Sommerlager eines verwandten Stammes angreifen ließ, während alle schliefen, nicht gütig sein konnte.

Dusan zuckte mit den Achseln. Seine Miene wirkte plötzlich unbekümmert.

Augenblicklich versteifte sich der Reiter. „Ihr habt unsere Pferde gestohlen und unsere Äcker verbrannt! Einer meiner Männer ist tot“, zischte Ando. „Was ist mit den Mädchen passiert?“

Dusan lachte leise und hob erneut die Schultern.

Andos Gesicht färbte sich dunkel. Der Anführer des Graslandclans schnaufte vor Zorn. „Wie kannst du über so etwas lachen?“

„Was sind schon ein Menschenleben oder eine Handvoll Stuten?“, erwiderte Dusan betont gleichgültig. Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das war eine Notwendigkeit.“

„Eine Notwendigkeit?“ Andos Stimme überschlug sich. „Wofür?“

Der Stammesfürst des Schwarzen Clans deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. „Jetzt bist du bereit, mit mir zu verhandeln.“

Darko zuckte zusammen. Hatte sein Onkel das etwa geplant? Was war mit den Verletzten, mit den Toten? Was war schon ein Menschenleben? Darko leckte sich über die Lippen und versuchte sich auf den Reiter zu konzentrieren.

„Ich will nicht mit dir verhandeln!“

„Was willst du dann hier?“ Dusan kratzte sich mit der Linken den struppigen, grauen Bart, während er mit der Rechten weiterhin die Waffe auf sein Gegenüber gerichtet hielt.

Ando lehnte sich vor. „Ihr sollt uns in Ruhe lassen. Der Graslandclan will kein Bündnis mit euch. Wir werden nicht eure Sklaven sein, eher werden wir euch alle töten!“ Mit einer energischen Geste rief er: „Siehst du nicht, dass wir es ernst meinen?“

Dusans Mundwinkel fielen herunter. „Ich werde den Graslandclan so lange angreifen, bis du aufgibst.“

Ando lächelte. „Du bist umzingelt. Deine Männer sitzen in der Falle. Was willst du tun?“ Er wurde ernst. „Du bist nicht in der Lage, Forderungen zu stellen.“

„Wenn du uns tötest, wird der Schwarze Clan grausame Vergeltung an deinem Stamm üben. Und wenn wir dir zusichern, dass wir euch in Ruhe lassen, und du uns gehen lässt, dann verspreche ich dir, dass es eine Lüge sein wird. Ich werde zu dir kommen und dich aufschlitzen, Ando“, zischte Darkos Onkel.

„Dir scheint nicht viel an deinem Leben zu liegen“, knurrte der Reiter. „Warum sollte ich dich nicht gleich töten?“

Dusan schnaubte verächtlich. „Viel zu lange habt ihr den Schwarzen Clan belächelt. Ich werde dafür sorgen, dass ihr seinen Namen mit Ehrfurcht aussprecht.“ Sanfter fügte er hinzu: „Ich schlage dir vor, dich mit uns zu verbünden. Dann wird dir nichts geschehen.“

„Wie viele Männer hast du noch, Dusan? Vielleicht zwei Dutzend?“ Ando lächelte freudlos. „Genauer gesagt sind es zweiundzwanzig in eurem Dorf, wenn ich alle hier töten lasse.“

Das Zittern eines Muskels an seiner Wange verriet Dusan. „Woher weißt du das?“

Der andere Mann zuckte ungerührt mit den Achseln, so wie Dusan es zuvor getan hatte.

Der Stammesfürst des Schwarzen Clans fletschte die Zähne. „Ich ergebe mich nicht!“ Er spuckte vor den Hufen von Andos Stute aus.

„Dann sprichst du den Tod über alle deine Leute aus.“ Ando hob den Arm. „Nehmt alle gefangen! Wer sich wehrt, wird getötet!“, rief er und einer seiner Männer ging mit gezückter Waffe auf Tarin los.

Darko schnitt ihm mit einem lauten „Nein!“ den Weg ab. Sofort drängten ihn zwei andere Krieger zur Seite. Das Ende einer Speerstange bohrte sich dumpf in seinen Magen, nahm ihm die Luft, und er krümmte sich stöhnend zusammen. Noch bevor er sich aufrichten konnte, traf ihn ein harter Schlag an der Schläfe und er ging in die Knie. Sein Schädel dröhnte. Schwarze Fetzen glitten durch sein Sichtfeld. Er blinzelte. Jemand trat hinter ihn und im nächsten Moment berührte eine kühle Messerklinge die Haut an seiner Kehle. Intuitiv legte er den Kopf in den Nacken.

Ando musterte ihn nachdenklich. „Ich glaube, ihr versteht den Ernst der Lage immer noch immer nicht. Was muss ich tun, dass ihr mir glaubt?“

Alle Farbe wich aus Darkos Gesicht. Er schluckte hart.

Plötzlich sah Ando zu Tarin. „Packt den Jungen!“

 *** 

„Das wagst du nicht!“, schrie Dusan, sein Gesicht eine wutverzerrte, rote Fratze, die auch das fahle Licht des Sonnenaufgangs nicht weichzeichnen konnte.

Der Sippenführer des Graslandclans atmete tief ein und seufzte. „Haltet ihn fest.“

Seine Männer griffen nach dem Jungen und drehten ihm die Arme auf den Rücken.

Ando rutschte von seiner sandfarbenen Stute und streckte die Hand nach dem Speer aus, den einer seiner Begleiter auf Dusan gerichtet hatte, um ihn zurückzuhalten. Zögernd übergab der Mann die Waffe seinem Anführer. Mit dem Speer in der Hand schritt Ando auf Dusans Jungen zu. Er wusste, dass dies sein Sohn war, sogar sein erstgeborener. Andos Magen klumpte sich zusammen wie ein kaltes Stück Kupfer.

„Ando, du mieses Stück Pferdescheiße!“, brüllte Dusan und wollte losstürmen, aber er kam nicht weit. Eine lange, grauschimmernde Silexspitze zielte auf den Punkt zwischen seinen Augen. „Feigling!“, bellte er. „Feigling, dass du einen Jungen tötest, obwohl du seinen Vater haben willst!“

Ando blieb stehen und drehte sich zu Dusan um. Er zog seine dichten Augenbrauen hoch. „Du wirst auch sterben, aber der Junge kommt als Erster dran“, antwortete er kalt.

Dusan riss seinen Mund auf, aber scheinbar fehlten ihm die Worte, denn kein Laut kam über seine Lippen. Erst als sich der Sippenführer wieder seinem Jungen zuwandte, schrie er weiter. „Ich bring dich um, Ando!“

Ando seufzte erneut und trat vor Dusans Sohn. Die riesigen schwarzen Augen starrten ihn ängstlich an. Seine Unterlippe zitterte. Feiner Schweiß glänzte auf den aschfahlen Wangen. Wieder spürte Ando das unangenehme Ziehen in seiner Magengegend. Er wollte den Jungen nicht töten, aber Dusan ließ ihm keine Wahl. Selbst jetzt, da sein eigener Sohn vor seinen Augen hingerichtet werden sollte, kam er nicht zur Besinnung. Dusan musste doch einsehen, dass er verloren hatte!

Andos Zähne gruben sich in seine Zunge. Aber wenn er nicht Wort hielt, den Jungen am Leben ließ und sie alle zurück in die Berge schickte, würde er sein Gesicht verlieren. Er musste Dusans Treiben hier und heute ein Ende setzen. Sonst musste er Rache am Graslandclan und an seiner Familie fürchten. Ljuba. Sie war noch so klein. Wenn er sich vorstellte, dass jemand ihr ein Haar krümmte … er brach den Gedanken ab.

„Dusan“, wagte er einen letzten Versuch. „Wenn du nicht aufgibst, wird deine Blutlinie heute enden, und ich brauche keine Blutrache zu fürchten.“

Dusan schnaufte heftig. Es klang, als lachte er!

Ando fuhr herum. Tatsächlich, ein breites Grinsen entblößte gelbe Zähne.

Dusans Augen leuchteten. „Keine Blutrache?“ Er kicherte. „Ich habe noch zwei Söhne.“ Dusan senkte seine Stimme. „Sie werden dir im Schlaf die Kehle aufschlitzen. Und deine beiden Töchter – es waren doch zwei?“ Er verstummte, aber sein boshaftes Lächeln sagte mehr, als jedes Wort es vermocht hätte.

Andos Muskeln spannten sich an, bebten von der Kraft, die plötzlich durch sie floss und danach lechzte, sich in einem Akt schierer Gewalt aufzulösen. Dusans Junge japste und er wandte sich wieder ihm zu. Er sah das Entsetzen, die Ungläubigkeit in seinen Augen, über das, was sein Vater gesagt hatte. Ando verspürte Bedauern, fasste den Speer fester. „Eine Notwendigkeit, Dusan. Was ist schon ein Menschenleben?“

Er nickte den beiden Männern knapp zu, die die Schultern des Jungen hart nach unten drückten, bis er vor dem Sippenführer des Graslandclans kniete. „Nimm den Kopf runter.“

Dusans Sohn neigte das Haupt, bis sich seine glatten, dunklen Haare im Nacken teilten und die empfindliche Stelle darunter freilegten. Geräuschlose Tränen tropften in den Sand und hinterließen dunkle Flecken.

Um den Jungen tat es Ando leid. Er hob den Speer, zielte mit der Spitze auf das zerbrechliche Genick, schluckte und stieß zu. In demselben Moment gellte Dusans ohrenbetäubender Schrei durch die Luft. Die Klinge aus totem, geschnitztem Knochen schrammte über lebendigen, hielt der Übermacht des Drucks nicht stand und brach, aber Andos Kraft war zu groß. Er trieb den kaputten Speer tiefer, bis die Wirbel mit einem schauerlichen Knacken auseinanderbrachen. Sehnen wurden durchtrennt, dann bohrte sich der Speer in die Luftröhre und trat knapp unterhalb des Kinns wieder hinaus.

Ando schmeckte Magensaft in seinem Mund und würgte ihn hinunter. Er hatte all seine Wut, all seinen Hass an dem armen Jungen ausgelassen. Immer noch kreischte Dusan, als sollte es der Totengesang seines Sohnes sein.

Der Junge war sofort tot, er hatte nicht einmal mehr Zeit, Blut zu spucken und zu röcheln, verzweifelt nach Atem zu ringen oder sich vor Angst anzupinkeln. Ein guter Tod. Die Männer ließen den Leichnam los und er kippte mit dem Speer im Leib vornüber, landete mit einem dumpfen Geräusch mit dem Gesicht im Sand. Staub wirbelte auf. Eine dunkle Blutlache, erstaunlich klein, breitete sich auf dem Boden um seinen Hals aus und versickerte. Ando drehte sich weg.

Dusan fletschte die Zähne. Zornige Tränen standen in seinen Augen. „Ich verfluche dich, Ando, dich und deine Familie! Die Rache meines Stammes wird furchtbar sein!“

„Tötet ihn“, befahl der Sippenführer müde und ging auf seine Falbstute zu. Er spürte die Erschöpfung und das Entsetzen über seine Tat tief in seinen Knochen und zog sich schwerfällig auf den Rücken des Pferdes. Er lenkte das Tier herum. „Tötet sie alle.“ Und während er langsam davonritt und hinter sich den durchdringenden Todesschrei seines Feindes hörte, dachte er darüber nach, dass dieser zwei weitere Söhne hatte. Aber was waren schon zwei kleine Kinder?

3. Kapitel

Ein dröhnender Schmerz pochte unerbittlich in Darkos Kopf und er wäre am liebsten zurück in die süße Bewusstlosigkeit gesunken, aber sengende Hitze schnitt wie ein Messer in seine Fußsohlen.

Schlagartig riss Darko die Augen auf und fuhr hoch. Heiße Flammen streckten ihre gierigen Zungen nach ihm aus, aber noch hatten sie ihn nicht erreicht. Mit einem Satz sprang er auf die Füße, drehte sich panisch in alle Richtungen. Der Qualm biss in seinen Augen, die Tränen verschleierten seine Sicht, die aufgrund der Rauchfetzen und der zuckenden Flammenblitze ohnehin schlecht war. Aber es war weniger die nebelhafte Konsistenz, die Darko störte, als der unangenehme süßliche Gestank, der den natürlichen Rauchgeruch des Feuers überlagerte und ihn zum Würgen brachte.

Hinter Flammen und Rauch konnte Darko hohe Wände erkennen. Der Nachthimmel über ihm war finster, kein Stern war zu sehen. Er senkte den Blick auf den Boden und erstarrte. Schwarze, geschmolzene Fratzen starrten ihn an. Jäh wich er einen Schritt zurück, stieß mit dem Fuß an und wirbelte erschrocken herum. Er stand mitten in einem Haufen kokelnder Leichen. Überall lagen sie – hingeworfen wie Abfall. Darko schob sich die Hand vor Mund und Nase, um nicht noch mehr von dem widerlichen Geruch seiner toten Familienmitglieder einzuatmen, die bei der Hitze langsam verschmorten. Dies war eine Todesgrube, er befand sich in einem Grab!

Anscheinend hatte Ando befohlen, das riesige Loch im Erdboden auszuheben, um die Toten zu verbrennen, bevor der Leichengeruch die Aasfresser anlockte. Ob sie ihn für tot gehalten hatten? Oder war es ihnen gleich, dass er bei lebendigem Leib verbrannte?

Ein scharfer Schmerz durchzuckte Darkos linke Ferse und er zog hastig das Bein an – sein Lederschuh war angesengt. Die heißen Flammen rückten näher und Darko hustete heiser. Schweiß drang aus jeder seiner Poren. Er stakste vorwärts, bemüht, nicht in die Glut zu treten. Oder auf den Körper eines Toten. Darkos Magen zog sich krampfhaft zusammen. Alle waren tot. Nur er hatte überlebt.

Bevor man ihn niedergeschlagen hatte, hatte er noch gesehen, wie sein Onkel gestorben war. Er schüttelte die Erinnerung ab. Für Trauer hatte er keine Zeit, sonst wäre er bald genauso tot wie die anderen. Darko musste hier raus und so schnell wie möglich ins Dorf zurück, damit Rajka erfuhr, was geschehen war! Er hoffte, dass Ando nicht denselben Plan verfolgte und bereits auf dem Weg dorthin war.