Relevanz - Lara Huber - E-Book

Relevanz E-Book

Lara Huber

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Beschreibung

Relevanz ist ein Kernkriterium für die Bewertung von Forschungsansätzen wie auch von Forschungsergebnissen: Meteorologische Vorhersagen sollen über das Erscheinen eines Wetterphänomens zuverlässig Auskunft geben, Daten, die auf der Basis biomedizinischer Modelle erbracht wurden, sollen ein Krankheitsbild erklären helfen. Aber ist durch das gewählte Verfahren das Forschungsziel überhaupt erreichbar? Stehen andere Verfahren zur Verfügung und was leisten diese im Hinblick auf unsere Erkenntnisziele? Letzteres wird unter Umständen nicht nur durch die Frage mitentschieden, wozu, sondern eben auch, woran geforscht wird, das heißt, anhand welcher Ressourcen wir forschen oder auch auf welche Datengrundlage sich unser methodisches Vorgehen stützt. Lara Huber untersucht die Relevanzfrage in ihrer gesamten Breite: von der Begriffsgeschichte von »Relevanz« über die binnenwissenschaftliche Perspektive (wie bilden sich Relevanzkriterien in der Wissenschaft selbst?) bis hin zum politischen Diskurs über die Bewertung von Wissenschaft und Forschung.

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Lara Huber

Relevanz

Über den Erkenntniswertwissenschaftlicher Forschung

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischeDaten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

ISBN 978-3-7873-3797-2ISBN eBook 978-3-7873-3798-9

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2020. Alle Rechte vorbehalten. Diesgilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungenund die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen,soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten.Konvertierung: Bookwire GmbH

Inhalt

Einleitung

Was ist »Relevanz«? Zwei perspektivische Annäherungen

1.Relevanz versus Redundanz

2.Relevanz als Bedeutungs- und Deutungszusammenhang

Relevanz als Kriterium wissenschaftlicher Forschung

1.Erkenntnisleistung oder Erkenntniswert?

2.Zur Erkenntnisleistung wissenschaftlicher Forschung und ihrem Erkenntniswert für Anwendungsfelder

2.1Relevante Faktoren:Zur Konzeption von Forschung

2.2Relevante Ähnlichkeit:Zur Durchführung von Forschung

2.3Relevanz für Entscheidungen:Zur Anwendung von Forschung

3.Wissenschaftliche Forschung im Widerstreit:Zweckfreiheit versus Zweckorientierung

Zur Brisanz der Relevanz

Literatur

Personen- und Sachregister

Einleitung

Oftmals wird über den Erkenntniswert wissenschaftlicher Forschung eher abstrakt gesprochen oder dieser in der Regel aufgrund von standardisierten Erhebungs- und Prüfungsverfahren, die die wissenschaftliche Praxis heute prägen, pauschal unterstellt. In praktischer Hinsicht ist der Erkenntniswert das sprichwörtliche Zünglein an der Waage, das im Einzelnen darüber entscheidet, ob ein Forschungsansatz weiter verfolgt wird oder aber aufgegeben werden muss, wenn seine Relevanz im Hinblick auf die hiermit verfolgten Ziele nicht nachgewiesen werden kann.

Relevanz ist ein Kernkriterium für die Bewertung von Forschungsansätzen wie auch von Ergebnissen wissenschaftlicher Verfahren: Meteorologische Vorhersagen sollen über das Erscheinen eines Wetterphänomens zuverlässig Auskunft geben, Daten, die auf der Basis biomedizinischer Modelle erbracht wurden, sollen ein Krankheitsbild erklären helfen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass nicht nur die Modelle, die diese Erkenntnisleistung nicht erbringen, sondern auch wissenschaftliche Ansätze, die sich auf diese stützen, streitbar werden: zum Beispiel wenn Ergebnisse, die im Tierversuch erzielt wurden, durch klinische Studien an Patienten nicht repliziert werden können. In Bezug auf die leitenden Ziele, allen voran, Patienten eine Therapie anbieten zu können, entfaltet der besagte Forschungsansatz folglich keinen Erkenntniswert, in anderen Worten: keine klinische Relevanz. Selbstverständlich gilt dies nicht nur für den Bereich der Biomedizin. Nehmen wir etwa den Fall geowissenschaftlicher Forschung, und zwar im Speziellen das Vorhaben, anhand eines Klimamodells zuverlässige Vorhersagen über bevorstehende Ereignisse zu treffen: Genau sollen diese Vorhersagen sein und belastbar. Sie sollen aber vor allem anderen eines tun: über relevante Ereignisse berichten.

Schon bevor Forschung beginnt, stellt sich die Frage nach der Relevanz: Was sind die Ziele von Forschung, sprich: Wozu wird im Einzelnen geforscht? Hinzu tritt die Frage, wie angesichts dieser Ziele zu forschen sei, also welche Methoden sich besonders gut eignen, um sie in den Blick zu nehmen. Sowie nicht zuletzt, welche Ergebnisse auf dieser Grundlage erwartbar sind: Erlauben sie, einen Sachverhalt zu erklären, liefern sie genauere Modelle, erhöhen sie die Zuverlässigkeit von Vorhersagen?

Dem Ideal nach schreitet Wissenschaft im Wissen voran – das schließt die Präzision theoretischer Modelle ebenso ein wie die Gewinnung methodischen Know-hows und nicht zuletzt – auch wenn dies oftmals vergessen wird – die kritische Reflexion der eigenen Deutungsmuster und der zur Wahl stehenden Verfahren, die diese zu explizieren erlauben (Theorie- und Methodenkritik). Die Frage nach dem Erkenntniswert ist, wie sich hier bereits andeutet, kaum von der Ermittlung der Erkenntnisleistung von Wissenschaft und ihren Methoden zu lösen. Forschung als wissenschaftsimmanente Praxis adressiert stets beides: ihre Relevanz und ihre sachliche Richtigkeit, auch: Adäquatheit oder neudeutsch: Signifikanz.

Die Frage nach der Erkenntnisleistung setzt wiederum die Beschäftigung mit den prinzipiellen wie auch den je spezifischen, methodischen Erkenntnisgrenzen wissenschaftlicher Forschung voraus: Ist durch das gewählte Verfahren das Forschungsziel erreichbar? Stehen andere Verfahren zur Verfügung und was leisten diese im Hinblick auf unsere Erkenntnisziele? Letzteres wird unter Umständen nicht nur dadurch mitentschieden, wozu, sondern eben auch woran geforscht wird, das heißt, anhand welcher Ressourcen wir forschen oder auch auf welche Datengrundlage sich unsere Untersuchung stützt. Davon abhängig ist nicht zuletzt die Frage, welchen Gesichtspunkten hierbei besondere Aufmerksamkeit zukommt: Die erste Frage betrifft das Thema oder das Ziel des Forschungsvorhabens, die zweite die materielle Grundlage wissenschaftlicher Forschung, sprich: welche konkreten Forschungsressourcen zum Einsatz kommen und ob hinreichend Ressourcen verfügbar sind. Die dritte Frage konkretisiert – basierend auf den gewählten materiellen und verfahrenstechnischen Grundlagen –, welche Gesichtspunkte im Rahmen des Forschungsdesigns im Einzelnen berücksichtigt werden können und welche, aufgrund des methodischen Zugriffs, aus der Untersuchung herausfallen. Man könnte auch vom spezifischen Fokus des Forschungsansatzes sprechen.

Illustrieren lässt sich dies beispielhaft an der Ausrichtung medizinischer Forschung: Um grundlegende Kenntnisse über ein Tumorleiden zu erhalten, wird heute etwa an humanen Zellkulturen geforscht. Der erste Halbsatz benennt die Frage, wozu geforscht wird, also das Ziel der Forschung, der zweite die materielle Grundlage, woran geforscht wird. Welche Gesichtspunkte erhalten hierbei besondere Beachtung? Der spezifische Fokus des Vorhabens kann etwa darin bestehen, die genetische Krankheitsverursachung zu untersuchen, das heißt den Anteil der genetischen Disposition an der Krankheitsentstehung (Tumorwachstum) zu bestimmen. Gehen wir im nächsten Schritt davon aus, dass durch diesen und andere Forschungsansätze erste vielversprechende Ergebnisse erbracht wurden und nun die Wirksamkeit eines neuartigen Therapeutikums ermittelt werden soll. Wir bleiben innerhalb der Biomedizin. Als materielle Grundlage wählen wir dieses Mal keine humanen Zellkulturen, sondern ausgewählte experimentelle Organismen, zum Beispiel Mäuse, die zuvor gezielt gentechnisch verändert wurden: Sie tragen jenen genetischen Marker, der nachweislich beim Menschen das Tumorleiden mitbedingt. Welche Gesichtspunkte erhalten nun besondere Beachtung? Im Einzelnen soll geprüft werden, ob der Antagonist auf die Pathogenese einwirken kann, ob er sie gar unterbindet. Ermittelt werden soll außerdem, ob er mit weiteren Wirkungen einhergeht, die den Gesundheitszustand oder auch das Wohlbefinden negativ beeinträchtigen können (»Nebenwirkungen«). Diese beiden hier recht grob skizzierten Beispiele werden als relevante Forschungsszenarien in der Krebsmedizin (Onkologie) gehandelt. Zusammengenommen werfen sie immer noch ein recht unvollständiges Schlaglicht auf reale Forschungs-zusammenhänge, die sich zwischen biomedizinischer Forschung einerseits und klinischer Forschung andererseits ausweisen lassen. Hierauf wird noch näher einzugehen sein. Gleichfalls deutet sich in den gewählten Beispielen bereits an, innerhalb welcher Zusammenhänge Relevanz im Forschungsalltag zum Thema werden kann.

Im alltäglichen Sprachgebrauch bezeichnet das Adjektiv relevant denjenigen Gesichtspunkt oder dasjenige Argument, dem wir zur Beantwortung einer Frage ein besonderes Gewicht, kurz Bedeutung, zumessen. Übertragen auf den wissenschaftlichen Kontext lässt sich diese Beobachtung zuspitzen: Als relevant gilt derjenige Gesichtspunkt, der sich aus der Masse aller übrigen Gesichtspunkte heraushebt. So wird etwa festgestellt, dass ein Sachverhalt »a« relevant sei für die Beantwortung der Frage »x«. Getragen wird diese Bewertung durch den jeweiligen fachwissenschaftlichen Hintergrund, den wir als Forschende mitbringen, indem wir das Phänomen aus der Warte eines bestimmten theoretischen Modells (Krankheitstheorie) und geleitet durch unser Erfahrungswissen im praktischen Sinne betrachten. Die Relevanz selbst zum Thema zu machen, in anderen Worten: die Relevanzfrage zu stellen, heißt also nicht zuletzt Muster oder Schemata der Deutung dezidiert zu würdigen und damit – im konsequentesten Fall – deren Aktualität und Geltung kritisch zu befragen. Ziel der Untersuchung ist es, anhand ausgewählter Beispiele wissenschaftlicher Forschung zu erläutern, wann Relevanz als Kriterium der Bewertung von Forschungsdesigns und ihren Hintergrundannahmen wie auch von Ergebnissen der Forschung, um mit Alfred Schütz zu sprechen, »thematisch« wird und sich in der Folge als Problem der Relevanzermittlung darstellt. Entsprechend vielschichtig wird sich das Konzept der Relevanz und die hiermit assoziierten praktischen Probleme der Relevanzermittlung im Kontext wissenschaftlicher Forschung erweisen.

Der erste Teil der Untersuchung führt in die Begriffsgeschichte ein und stellt zwei Perspektiven, die für das Verständnis des Relevanzproblems im wissenschaftlichen Kontext und darüber hinaus leitend sind, näher vor.

Hieran schließt mit dem zweiten Teil die eigentliche Analyse erkenntnistheoretischer und wissenschaftsphilosophischer Grundlagen zeitgenössischer Forschung an. Sie würdigt grundsätzliche Gesichtspunkte, die bei der Konzeption, bei der Durchführung sowie bei der Anwendung von Forschung eine maßgebliche Rolle spielen. Veranschaulicht werden diese anhand von ausgewählten Fallbeispielen. Im Einzelnen wird es um Forschungsdesiderate der Krebsforschung und der Klimaforschung gehen. Beide Bereiche eignen sich besonders gut, das Spannungsfeld zwischen Konzeption und Durchführung einerseits und Konzeption und Anwendung andererseits facettenreich darzulegen. Deutlich werden wird auch, dass die thematische und auch die methodisch-technische Ausrichtung von anwendungsorientierten Forschungsbereichen nicht zuletzt auf Desiderate der Grundlagenwissenschaften zurückwirken kann. Die Analyse wird folglich auch den Diskurs um »Transformative« in Wissenschaft und Forschung streifen: Wie ist es um die Forschung im Widerstreit übergeordneter Ziele wissenschaftlicher Praxis bestellt? Welchen Anteil haben diese Ziele (Zweckfreiheit versus Zweckorientierung) daran, wie Forschung bewertet wird? Ist der Erkenntniswert wissenschaftlicher Forschung notwendig an Anwendungs- und Verwertungsregimen zu konkretisieren (Nützlichkeit, Relevanz für außerwissenschaftliche Zwecke)?

Im Fokus der Untersuchung steht bewusst die binnenwissenschaftliche Sicht auf Forschung: Kurz gesagt, geht es mir darum, die Auslotung des Relevanten aus der Perspektive derjenigen, die Wissenschaften betreiben, erkenntnistheoretisch zu würdigen und zugleich einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für die Analyse? Erstens ist nachzuzeichnen, welche Rolle dem Erkenntniswert zugesprochen wird, sprich: wann Relevanz im Forschungskontext zum Thema wird, auf welcher Grundlage im Einzelnen über das in epistemischer Hinsicht Beredte entschieden wird und was dies für den Fortgang des Forschens bedeutet. Zweitens ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sich Wissenschaft nichts jenseits, sondern als spezifischer Ausdruck gesellschaftlichen Lebens realisiert: Als Forschende sind wir immer auch mit wirtschaftlichen, politischen oder im weitesten Sinne gesellschaftlichen Interessen, die an Wissenschaft herangetragen werden, konfrontiert. Wie begegnen wir diesen Interessen? Lassen sie sich gegebenenfalls mit generischen Fragen des Forschungsfeldes, in dem wir uns bewegen, in Beziehung setzen oder werden sie als ›Problem‹ erfahren, lassen sich gar als unrechtmäßige Vereinnahmung von Forschung kritisch explizieren? Mit diesem Untersuchungsschritt verbindet sich ein doppelter Blick: nach innen wie nach außen. Der Blick nach innen adressiert die Art und Weise, wie wir als wissenschaftlich Tätige Relevanz selbst zum Thema machen, indem wir ganz bestimmten Gesichtspunkten den Vorrang geben oder auf der Basis von Publikationen den Erkenntniswert unserer Ergebnisse für weiterführende Forschungsdesiderate ausweisen. Der Blick nach außen fragt nach unserer Beteiligung an der Bewertung von Wissenschaft und Forschung, namentlich der diskursiven Teilhabe durch die kritische Prüfung ihrer Ziele.

Was ist »Relevanz«?Zwei perspektivische Annäherungen

Die Frage nach dem Wert der Wissenschaft, ob sie, wie Max Weber unterschieden hat, nicht nur »logisch und sachlich gewertet richtige«, sondern »im Sinne des wissenschaftlichen Interesses wichtige Resultate zu erzielen« vermag,1 lässt sich als diejenige nach der Relevanz wissenschaftlicher Forschung fassen.

Inwiefern sich Relevanz ausweisen lässt und worin sie konkret besteht, diese doppelte Frage stellt sich in beiden, klassischerweise voneinander geschiedenen Bereichen wissenschaftlicher Praxis – in den angewandten Forschungsbereichen (»applied science«) und denen der Grundlagenwissenschaften (»pure« oder »basic science«). Sie wird, wenn man so will, lediglich aus unterschiedlicher Perspektive gestellt und folglich auch beantwortbar: Während bei der Grundlagenforschung eher pauschal angenommen wird, gewissermaßen unterstellt wird, dass sie Relevanz besitzt, nämlich durch die Erlangung von Erkenntnissen über fundamentale Zusammenhänge der Welt, stellt sich die Situation für die angewandten Bereiche anders dar. Hierunter werden in der Regel all jene Forschungsfelder gefasst, deren Erkenntnisziele auf Anwendung ausgerichtet sind, wie etwa die Entwicklung potenter Therapeutika durch Verfahren der medizinischen Forschung oder die Gewährleistung belastbarer Prognosen durch Modelle der Klimaforschung. Im Fall der angewandten Forschung wird besonders deutlich, dass der Ausweis oder auch nur die Antizipation möglicher Zwecke wissenschaftlicher Forschung mit darüber entscheiden kann, inwiefern diese als besonders aussichtsreich erachtet wird. Tatsächlich sieht sich Forschung heute in der Regel mit der faktischen Anforderung konfrontiert, dass aus ihr ein konkreter Nutzen resultieren müsse, das heißt für Anwendungsziele verwertbar zu sein – etwa im Hinblick auf klimapolitische Entscheidungen oder das ärztliche Handeln am Krankenbett. Die genuin wissenschaftliche Orientierungsnorm, dem Gemeinwohl zu dienen, konkretisiert sich in der angewandten Forschung eben gerade durch die Verwertung ihrer Ergebnisse oder die Anwendung ihrer Produkte – unter der Maßgabe, dass zuvor ausgewiesene Methoden entwickelt wurden, die die Validität ihrer Ergebnisse und die Sicherheit ihrer Produkte gewährleisten. Wird Forschung dem Nutzenkalkül, wie in den genannten Fällen, unterworfen, ist es um die Zweckfreiheit von Forschung im Sinne der Wissensgenerierung um des Wissens willen schlecht bestellt. Dies ist auch deshalb bedenkenswert, da die gemeinhin unterstellte klare Scheidung zwischen grundlagen- bzw. anwendungsorientierten Wissenschaften ein vereinfachtes Bild der Forschung unter Realisierungsbedingungen zeichnet. Zuspitzend lässt sich davon sprechen, dass die auf Anwendung zielenden Forschungsdesigns in der Regel die Tendenz haben, weit in jene der Grundlagenwissenschaften hinein zu reichen: Als Forschungsfeld sind weder die Biomedizin noch die Klimaforschung per se von der Grundlagenforschung abgekoppelt, sondern nehmen in vielfacher Hinsicht darauf Einfluss, worüber grundlegendes Wissen erworben wird. Dies ist insofern beachtenswert, als Fragen der Rentabilität über die Desiderate der Anwendungsorientierung Anreize für bestimmte Forschungsthemen oder die Priorisierung bestimmter Forschungsziele in den Grundlagenwissenschaften setzen können. Um dies an einem Beispiel zu erläutern: Als angewandte Forschung konkretisiert die Biomedizin mit ihren Mitteln Forschungsdesiderate der Klinik. Ihre Angewandtheit zeigt sich darin, dass Forschungsziele, also die Frage, wozu geforscht werden soll, danach priorisiert werden, ob sie sich für klinische Desiderate (Diagnose- und Therapieoptionen) verwerten lassen. Gleichzeitig operiert sie als Biomedizin auf der Basis ihrer fachspezifischen Grundlagen. Hier entscheidet sich, woran und wie geforscht wird, zum Beispiel welche Gesichtspunkte anhand der gewählten Methode besondere Beachtung finden können (Forschungsfokus). Gegebenenfalls müssen geeignete Methoden oder Ressourcen erst entwickelt werden. Dies schließt mitunter weitergehende, namentlich grundlegende Forschung an ihnen ein, um zu ermitteln, ob sie für Forschungszwecke nutzbar sind und sich als wissenschaftlich adäquate und handhabbare Ressourcen einsetzen lassen. Die Grenzen zwischen angewandten Bereichen der Forschung und dezidierter Grundlagenforschung verlaufen folglich unter Umständen nicht zwischen Forschungsfeldern wie der Biomedizin und anderen Bereichen der medizinischen Forschung, sondern vielfach innerhalb dieser Felder. Im Fall der Biomedizin bedeutet dies, dass sie ihre Relevanz für Desiderate der Medizin immer wieder neu auszuweisen, oder besser: nachzuweisen hat. Ich werde deshalb hier in der Regel von der Anwendungsorientierung von Forschung sprechen und auf den engeren Begriff der angewandten Forschung weitgehend verzichten.2 Auf die im Widerstreit stehende Orientierung an Zweckfreiheit respektive Zweckorientierung von wissenschaftlicher Forschung im Allgemeinen komme ich in einem späteren Kapitel ausführlich zurück.

Wann wird Relevanz in Wissenschaft und Forschung zum Thema? Lässt sich dies – bezogen auf die spezifischen Zusammenhänge – in erkenntnistheoretischer Hinsicht bewerten? Welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für den Fortgang des Forschens? Wie wird der Erkenntniswert wissenschaftlicher Forschung ausgewiesen, wie die Relevanz von wissenschaftlichen Ergebnissen – für Anwendungskontexte – bestimmt? Bevor ich diese Analyse im Hinblick auf die Konkretisierung von Forschungsfragen und die Bewertung von Ergebnissen aufnehme, möchte ich in die Bedeutungsgeschichte des Begriffes einführen. Dies geschieht in Gestalt zweier systematischer Annäherungen, die unterschiedliche Perspektiven auf den Begriff der »Relevanz« eröffnen.

1. Relevanz versus Redundanz

Im Alltag tritt der Begriff »Relevanz« gemeinhin als Kernkriterium für Suchanfragen, zum Beispiel im Internet, bei der Datenbank- oder Literaturrecherche, in Erscheinung. Als solcher zielt er nicht auf Sensitivität, also Vollständigkeit, sondern auf Spezifität. Im Umkehrschluss heißt dies, es werden nur ganz bestimmte, ausgewählte Ergebnisse angezeigt, die sich in Beziehung zur Suchanfrage setzen lassen. Voraussetzung für die Güte von Datenbanken ist vor diesem Hintergrund erstens, dass sie möglichst umfassend Ressourcen erschließen, die folglich im Rahmen der Suchanfrage (Stichwortanalyse) auch ausgewertet werden können, und zweitens, dass die Verschlagwortung stichhaltige Auskunft über die Beredtheit der Ressourcen gibt. Insofern erstaunt es nicht, dass aktuelle Forschungsbeiträge den Diskurs um Relevanz mit dem ausdrücklichen Bezug auf den Zugang, die Interpretation respektive den Gebrauch von Informationen führen.3

Sprachgeschichtlich geht der Begriff der Relevanz auf die Fügung »relevantis articuli« zurück, die jene Argumente bezeichnet, die im Rechtsstreit als berechtigt und beweiskräftig gelten.4 Das Adjektiv »relevant«, das im 17. Jahrhundert Eingang in den juristischen Sprachgebrauch findet, wird anfangs synonym zu »schlüssig« oder »richtig« verwandt, später auch als »bedeutungsvoll«, »wesentlich« und »(ge)wichtig«.5 Aus dem lateinischen Verb »relevare« für »in die Höhe heben, aufheben« bildet sich der Begriff »Relief«, womit ein plastisches Bildwerk bezeichnet wird, das aus der Flächigkeit des Untergrunds heraustritt.6 In Analogie zum Relief tritt bekanntlich auch das Relevante aus einer Menge von Fragen hervor oder wird als »Problem« sichtbar respektive fassbar. Im 19. Jahrhundert kommt die substantivische Ableitung »Relevanz« in der Verwendung »Wichtigkeit, Belang« auf, Einzug in den allgemeinen Sprachgebrauch hält der Begriff aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.7 Mit dem Begriff wird unter Umständen gar ein semantischer Mehrwert verbunden: So hält etwa die Sprachforschung fest, dass mit der »modewortartigen Verwendung von relevant der Eindruck zu erwecken versucht werde, daß der entsprechenden Einstufung ein besonderes Gewicht zukomme und dass sie auf wohlüberlegten Gründen beruhe.«8 Dies sei bei der Verwendung bedeutungsgleicher Wörter, zum Beispiel »wichtig« oder »ausschlaggebend«, nicht der Fall.

In der Bemühung, das Relevante positiv zu bestimmen, wird meist auf die spezifische Gewichtigkeit (»als Zünglein an der Waage«) abgehoben, indem auf die herausragende Bedeutung eines Sachverhalts verwiesen wird: »a« ist maßgeblich für »x«, oder auch: »a« ist das Zünglein an der Waage, um zu ermitteln, was »x« bezeichnet. Im engeren funktionalistischen Sinne wird auch von der Sachdienlichkeit gesprochen: »a« weist »x« adäquat aus. Bisweilen verbinden sich mit dem Verweis auf die Relevanz eines Arguments auch andere Leistungsmerkmale, zum Beispiel dann, wenn das Relevante mit dem Einschlägigen gleichgesetzt wird: »a« weist »x« notwendig und hinreichend aus. Gewichtigkeit, Sachdienlichkeit oder Einschlägigkeit: stets kann dieses nur in Bezug auf eine konkrete Referenz, für die eine Theorie oder Modell als relevant gelten kann, bestimmt werden.

Für das Verständnis des Relevanten darf freilich dessen Profilierung ex negativo nicht unterschlagen werden: Als Gegenbegriff zu »relevant« wird im 19. Jahrhundert »irrelevant« neugebildet und in der Bedeutung »unerheblich, geringfügig« etabliert.9 Hiermit werden Faktoren bezeichnet, die für die Bearbeitung einer Fragestellung als vernachlässigbar gelten, weil sie als unwichtig oder bedeutungslos betrachtet werden. Als zweiter Gegenbegriff, der aus der englischen Sprache Einzug ins Deutsche hält, positioniert sich »redundant« (mehrfach, überflüssig).10 Zwei Beispiele aus dem Bereich der philosophischen Forschung erläutern dies:

In einem nichtklassischen Zweig der Logik, der sogenannten »Relevanzlogik«, stellt sich der Vorrang der Relevanz ganz praktisch dar: Eine Implikation soll nur dann gelten, wenn die Prämisse A für den Schluss B tatsächlich benötigt wird, das heißt nicht redundant, sondern relevant ist. Die Relevanzlogik setzt sich kritisch mit bestimmten Implikationsparadoxen und mit Schlüssen auseinander, die nach der klassischen Logik gültig sind, für Relevanzlogiker hingegen als »Fehlschlüsse der Relevanz« gelten müssen. Betrachten wir etwa den Fall der materialen Implikation »Wenn p, so q«. Die Prämisse »p« ist in diesem Fall »Hamburg ist ein Stadtstaat«, die Prämisse »q« ist »Die Elbe ist ein Fluss«. Der Satz »Wenn Hamburg ein Stadtstaat ist, ist die Elbe ein Fluss« bezeichnet nach der klassischen Aussagelogik eine wahre materiale Implikation, denn »p« ist wahr und »q« ist nicht falsch. Im Gegensatz zu logischen Implikationen besteht im Fall von materialen Implikationen weder die Notwendigkeit, dass ein inhaltlicher, noch dass ein logischer Zusammenhang zwischen »p« und »q« besteht. Kurz, es besteht keine Möglichkeit, von der Wahrheit der Prämisse »p« auf die Wahrheit der Prämisse »q« zu schließen. Der Satz »Wenn Hamburg ein Stadtstaat ist, ist die Elbe ein Fluss« ist gleichwohl eine wahre materiale Implikation, weil beide Teilsätze wahr sind. 11

Das zweite Beispiel ist dem Bereich der Wissenschaftstheorie entnommen: Hierbei geht es um die Struktur von Erklärungen: Die Eigenschaft »F« ist für das Erscheinen von »G« explanatorisch relevant, wenn eine kausale Beziehung zwischen »F« und »G« besteht.12 Deduktive Modelle kausaler Erklärungen, wie das Hempel-Oppenheimer Modell (Deduktiv-Nomologisches-Modell, kurz: »DN«-Modell), beschreiben Erklärungen als kausalen Zusammenhang zwischen demjenigen Phänomen, das erklärt werden soll (»Explanandum«), und den Eigenschaften, die zur kausalen Erklärung des Phänomens herangezogen werden (»Explanans«). Ein Satz, der die Eigenschaft (»F«) beschreibt, muss wahr sein. Idealerweise fußt die Erklärung auf mindestens einem Naturgesetz. Große Bedeutung kommt folglich vor allem deterministischen Gesetzen zu. Hinsichtlich des DN-Modells stellt sich ferner die Frage, welchen Erklärungswert statistische Gesetze haben, das heißt inwiefern sie zur Erklärung von Phänomenen herangezogen werden können. Weitere Unterscheidungen, die in diesem Zusammenhang gemacht werden, betreffen die explanatorische oder prädiktive Kraft wissenschaftlicher Aussagen, genauer: ob kausale oder statistische Zusammenhänge behauptet werden. In beiden Fällen wird davon ausgegangen, dass jene Eigenschaften, die zur kausalen Erklärung respektive statistischen Ermittlung von Zusammenhängen herangezogen werden, nicht redundant, sondern relevant sind.13

In beiden Ansätzen der systematischen Philosophie bleibt Relevanz als Phänomen bezeichnenderweise theoretisch unterdeterminiert.14 In der Wissenschaftstheorie etwa dient Relevanz bis dato primär als ein spezifisches, wenn auch in systematischer Hinsicht nicht eigens bestimmtes Abgrenzungskriterium gegenüber Eigenschaften oder Prozessen, die sich bei näherer Analyse als nur vermeintlich explanatorisch relevante Eigenschaften oder als nur vermeintlich kausale Prozesse herausstellen. Sie können folglich nicht zur Begründung einer wissenschaftlichen Aussage herangezogen werden. Angesichts seines Stellenwerts für die Bewertung von Prämissen oder Aussagen im wissenschaftlichen Diskurs muss nicht eigens herausgestellt werden, dass die systematische Erschließung des Relevanzbegriffs eine wissenschaftliche Leerstelle bezeichnet. Welche Gesichtspunkte hierfür im Einzelnen leitend sein könnten, zeigt der folgende Abschnitt.

2. Relevanz als Bedeutungs- und Deutungszusammenhang

Dass das Problem der Relevanz überhaupt von systematischem Interesse ist, wurde erstmals am Schnittfeld von Philosophie und Soziologie zum Thema: Relevanz wurde als Bedeutungs- und Deutungszusammenhang vorgestellt. Die von Alfred Schütz als philosophische Grundlegung lebensweltlichen Wissens und Handelns in Angriff genommene systematische Auseinandersetzung mit dem »Problem der Relevanz« blieb faktisch unvollendet und wäre in dieser Form wohl nie zur Veröffentlichung gekommen. Das in seiner Gesamtheit aus dem Nachlass edierte Werk stellt gleichfalls die bis dato umfangreichste Analyse zum Problemfeld in der Philosophie dar.15 Bekanntermaßen war es Schütz, der sich um die philosophische Fundierung der »verstehenden Soziologie« Max Webers bemühte, einer auf die Aufdeckung des Sinnzusammenhangs zwischen Handlungsgründen und Verhalten zielenden Sozialwissenschaft. Schütz gilt auch als Begründer der »phänomenologischen Soziologie«. Hier sei vor allem auf Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt von 1932 verwiesen16 sowie ferner auf jenen Werkteil, der, ediert von Thomas Luckmann, 1959 unter dem Titel Strukturen der Lebenswelt erschien und zum soziologischen Standardwerk avancierte. Das Kriterium der Relevanz beschäftigte Schütz, wie die Notizen aus dem Nachlass zeigen, schon früh: Bereits im Sinnhaften Aufbau bezeichnet er die Relevanz als wichtiges Problem, das es für die Sozialwissenschaften und darüber hinaus zu klären gelte.17 Es überrascht also nicht, wenn Elisabeth List, eine der Herausgeberinnen des nachgelassenen Werkteils, meint, dass es sich bei der Relevanz um einen »Grundbegriff« seiner Erkenntnistheorie handle: »Warum handeln wir in bestimmten Situationen so und nicht anders«, frage Schütz etwa, »warum werden unsere Erfahrungen nur durch bestimmte Themen geprägt und nicht andere, warum beschäftigen wir uns mit diesen Fragen und machen nicht andere zum Thema?«18

Schütz unterscheidet in Das Problem der Relevanz zunächst drei »Kategorien« von Relevanz und setzt sich dann ausführlich mit der Interdependenz dieser differenten und doch vielfach miteinander verknüpften »Relevanzsysteme« auseinander.19 Im Einzelnen spricht er von der »thematischen Relevanz«, der »Auslegungsrelevanz« und der »Motivationsrelevanz«: Als thematisch tritt die Relevanz nach Schütz in Erscheinung, wenn etwas »aus dem Hintergrund der fraglosen und unbefragten Vertrautheit« heraustrete.20 Kurz: wenn ein Gegenstand »zum Problem«, wenn ein Sachverhalt »zum Thema oder zur Aufgabe unseres Denkens« werde.21 Dass dies geschieht, dafür kann es, wie Schütz detailliert schildert, unterschiedliche Anlässe geben, zum Beispiel eine »unvertraute Erfahrung«, die wir ohne eigenes Zutun machen und die sich aufgrund ihrer »Unvertrautheit« somit als Thema aufdrängt, das heißt bedeutsam wird.22 Schütz bezeichnet diese Art der thematischen Relevanz deshalb auch als »auferlegte Relevanz« und unterscheidet sie von Anlässen, in denen etwas aus freien Stücken zum Thema, zum Beispiel einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung, gemacht wird.23 Erst wenn etwas thematisch ist, kann es nach Schütz auch Objekt der Auslegung sein. Man könnte auch sagen, erst wenn etwas in unser Blickfeld rückt oder als »Problem« Anlass zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung gibt, können wir dieses unter bestimmten Gesichtspunkten analysieren und der Bewertung oder Interpretation zuführen. Die Auslegungsrelevanz adressiert in der Konsequenz den Umstand, dass nur bestimmte Gesichtspunkte oder Kriterien überhaupt für die Auslegung eines Themas relevant sind und somit als »Schema« der Analyse zugrunde gelegt werden können bzw. die Interpretation informieren.24 Die dritte Kategorie, die Schütz einführt, stellt den Zusammenhang zwischen Relevanz und Handeln her. Die Motivationsrelevanz entscheide darüber, dass etwas für einen bestimmten Schritt, ein konkretes Verhalten oder Handeln wichtig, das heißt kausal relevant sei.25 Schütz spricht deshalb auch von »Um-zu-« oder »Weil-Motiven« des Menschen:

»Er wird seine Entscheidung, wie zu handeln sei, auf die Auslegungsentscheidung gründen, und somit wird die letztere die erstere bestimmen. Die ›Wichtigkeit‹, richtig (– und das heißt hier: bis zu einem plausiblen Grad –) auszulegen, besteht in der Tatsache, daß nicht nur die zu wählenden Mittel, sondern auch die zu erreichenden Ziele von einer solchen Diagnose abhängen.«26

Schütz macht anhand seiner differenzierten Untersuchung zu »Relevanzsystemen« und ihrer Interdependenz anschaulich, dass es sich lohnt, die philosophisch-systematische Analyse nicht auf die Bestimmung relevanter Gesichtspunkte zu beschränken, sondern auf das jeweilige Auslegungs- oder Deutungsschema und hiermit korrespondierenden Handlungsschritten auszudehnen: Das Thema sei, wie Schütz betont, »stets Thema innerhalb eines Feldes und Thema mit einem Horizont«.27 Die Besonderheit seines Ansatzes besteht somit darin, die Frage, worauf sich Relevanz gründet, selbst zum Thema einer systematischen Untersuchung zu machen. Schütz spricht auch von der »Interessenlage«, die ein »Bezugssystem« der Relevanz etabliere, mit dem wir bestimmte Bedeutungen assoziieren, und erläutert hierzu wie folgt:

»Immer ist Relevanz Produkt der Reflexion[,] d.h. sie steht für soeben Gewesenes (Retention) modo imperfecti, für Abgelaufenes modo plusquamperfecti, für Gegenwärtiges modo futuri exacti. Sie bezieht sich also immer auf Entwordenes, abgeschlossenes Erleben als ihren Gegenstand. Was aber an diesem Entwordenen als relevant ausgewählt wird, ist abhängig von der jeweiligen Interessenlage.«28

Das Problem der Relevanz lässt sich folglich als Analyse zum Bedeutungs- und Deutungszusammenhang verstehen, die an die Untersuchungen zur »Konstitution des sinnhaften Erlebnisses«, die Schütz im Frühwerk angestellt hat, anschließt.29 Der Fokus liegt hierbei auf der grundsätzlichen Frage, wann einem Gegenstand oder einem Sachverhalt Relevanz (»Bedeutung«) – im alltagsweltlichen wie im wissenschaftlichen Zusammenhang – zugesprochen wird, warum etwas als »Thema« oder »Problem« in Erscheinung tritt und wie sich die Auseinandersetzung mit ihm nach relevanten Gesichtspunkten gestaltet, kurz: auf welcher Grundlage sich dieses im Einzelnen erschließen lässt (»Deutung«). Schütz stellt Relevanz zudem als doppelte Handlungsmotivation vor: Einerseits macht er auf den differenzierenden Einfluss aufmerksam, dem die Handlung für die Bewertung eines Themas zugeschrieben wird, andererseits auf die Wirklichkeit der Relevanz erfahrung, die sich erst im Handeln konkretisiert:

»Wenn wir in unserer Handlung aufgehen, haben wir ein anderes Interesse an deren motivationsmäßig relevanten Momenten, als wenn wir eine solche Handlung bloß entwerfen oder wenn wir, nachdem wir eine der Handlungen ausgeführt haben, auf ihr Ergebnis, die einzelnen Schritte, durch die sie aktualisiert wurde, und den vorangegangenen Entwurf zurückblicken.«30

Auf das erkenntnistheoretische Potenzial dieser Beobachtung werde ich noch einmal ausführlich zu sprechen kommen. Zunächst wird es darum gehen, anhand ausgewählter Beispiele der Frage nachzugehen, wann Relevanz als Kriterium der Forschung in Erscheinung tritt, welche Konsequenzen sich hieraus für den Fortgang des Forschens ergeben und schließlich woran der Erkenntnis wert von Theorien oder Ergebnissen in Anbetracht von Anwendungsfragen etwa im Einzelnen festgemacht wird.

Relevanz als Kriterium wissenschaftlicher Forschung

Wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von relevanten Ergebnissen einer Untersuchung sprechen oder die wissenschaftliche Bedeutung eines Modells gegenüber anderen Erklärungsansätzen hervorheben, bezeichnen sie einen bestimmten Mehrwert, der allein durch diese Untersuchung oder durch diesen Erklärungsansatz möglich wird. Gleichzeitig ist »Relevanz« nicht das alleinige Kriterium, anhand dessen wissenschaftliche Studien oder Modelle bewertet werden. Erinnert sei an die eingangs skizzierte epistemische Qualität von Vorhersagen: Vor dem Hintergrund, dass Modelle Auskunft über relevante Ereignisse geben, wird die Güte der aus ihnen resultierenden Prognosen daran erhoben, wie verlässlich diese sind, aber auch wie es um den Abbildungsgrad relevanter Ereignisse bestellt ist. Hier wäre auf Kriterien wie »Evidenz« oder »Signifikanz« zu verweisen und auf damit korrespondierende Erhebungs- oder Nachweisverfahren. Wie lässt sich das Kriterium der Relevanz in diesem Reigen verorten? Oder umgekehrt: Wann tritt Relevanz bei der Bewertung von Forschung als spezifisches Problem in Erscheinung? Hierzu möchte ich einige grundsätzliche Bemerkungen vorausschicken.

1. Erkenntnisleistung oder Erkenntniswert?

Paul Feyerabends Schrift Wider den Methodenzwang benennt zwei Fragen, die eine kritische Untersuchung der Wissenschaft zu beantworten habe: »(1) Was ist die Wissenschaft – wie geht sie vor, was sind ihre Ergebnisse? (2) Was ist die Wissenschaft wert? Ist sie besser als die Kosmologie der Hopi, die Wissenschaft und Philosophie des Aristoteles, die Lehre vom Tao? Oder ist sie ein Mythos unter vielen, entstanden unter besonderen historischen Bedingungen?«31

Die erste Frage lässt sich als Frage nach der spezifischen Erkenntnisleistung von Wissenschaft würdigen: »Evidenz« und »Signifikanz« stellen hierbei gemeinhin leitende Kriterien dar. In der Erkenntnistheorie seit Immanuel Kant wird Evidenz als eine (voraussetzungslose) Einsicht in Sachverhalte verstanden, die aufgrund ihrer Klarheit oder Deutlichkeit »anschauende Gewißheit« bringt.32 Im Fokus der theoretischen Auseinandersetzung – der Methodenkritik wie der Wissenschaftsphilosophie – stehen heute vor allem grundlegende Probleme der Evidenzermittlung, zum Beispiel, welche Bedingungen bei Beobachtungs- oder Messverfahren erfüllt sein müssen, damit von der Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Ergebnisse (»Validität«) gesprochen werden kann. Auf diese Strategien komme ich noch einmal ausführlich zurück. Großen Einfluss auf zeitgenössische Diskurse hat auch das statistische Konzept der »Signifikanz«, wonach ein messbarer Effekt nicht zufällig, sondern beredt, sprich: bedeutungsvoll ist. Die statistische Lesart dominiert das konzeptuelle Verständnis des »Signifikanten« namentlich in der Wissenschaftsphilosophie.33 Philip Kitcher sprich gar davon, dass Wissenschaft danach strebe, »signifikante Wahrheiten« (significant truths) zu finden.34

Die zweite Frage Feyerabends lässt sich als jene nach dem Erkenntniswert wissenschaftlicher Ergebnisse fassen. Es geht, in anderen Worten, um ihre Relevanz für konkrete Fragestellungen in Forschung und Anwendung, etwa im Vergleich zu anderen nicht- oder schlichtweg außerwissenschaftlichen Wissensformen. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisanspruch verhandelt Michael Polanyi drei Kriterien, anhand derer der »wissenschaftliche Wert« von Erklärungen gemeinhin festgemacht werde: Diese seien Genauigkeit (»certainty/accuracy«), systematische Relevanz (»systematic relevance/profundity«) sowie intrinsisches Interesse (»intrinsic interest«).35 Bei den beiden erstgenannten Kriterien handle es sich um genuin wissenschaftliche Kriterien, beim dritten um ein außerwissenschaftliches Kriterium.36

Das Verhältnis zwischen Erkenntnisleistung und Erkenntniswert spielt, das wird im Folgenden zu sehen sein, sowohl in Bezug auf die Konzeption, die Durchführung als auch die Anwendung von Forschung eine maßgebliche Rolle. Ausgewählte Beispiele werden zeigen, dass der Nachweis von »Evidenz« einerseits und die Ermittlung von »Relevanz« andererseits in enger, oftmals konstitutiver Beziehung zueinander stehen. Ferner wird deutlich werden, dass nicht allein forschungsinterne Prozesse über die Erkenntnisleistung und den Erkenntniswert wissenschaftlicher Resultate entscheiden, sondern auch Desiderate von außen an die Forschung – im Sinne der Anwendungsorientierung – herangetragen werden: Inwiefern begegnen Forschungsresultate den bestehenden Anwendungszielen? Lassen sich die Ergebnisse faktisch umsetzen? Welche Rolle spielen Handlungsdruck und Nutzbarkeitserwägungen bei der Gewichtung von Forschungszielen?

2. Zur Erkenntnisleistung wissenschaftlicher Forschung und ihrem Erkenntniswert für Anwendungsfelder

Festgestellt werden kann, dass Relevanzurteile (»x hat Relevanz für y«) stets an einen bestimmten Kontext gebunden sind. Hier ließe sich im Anschluss an Schütz auch von einem »System« des Bezuges sprechen.37 Die Frage, ob es sich bei einer Beobachtung, die im Zuge einer wissenschaftlichen Erhebung gemacht wird, um eine relevante Beobachtung handelt, kann folglich stets nur vor dem Hintergrund einer bestimmten theoretischen Vorannahme getroffen werden (»x hat Relevanz für y, unter der Bedingung, dass z«). Es wird also wichtig sein, sich dem Bezugsrahmen (»z«), der bestimmt, was als relevant gewertet wird, selbst zuzuwenden.

Was als relevante Forschung gefasst wird, lässt sich selbst im engeren Kontext der Forschung nicht pauschal bestimmen. Ich werde dies im Folgenden anhand von Beispielen aus zwei wissenschaftlichen Forschungsbereichen näher erläutern. Es wird sich einerseits um Forschungsansätze und -ziele der Medizin, mit dem Schwerpunkt auf die Krebsforschung, handeln und andererseits um jene der Klimawissenschaften, einem Amalgam aus Geo- und Ingenieurswissenschaften. Beiden Forschungsbereichen ist gemein, dass sie anwendungsnah sind. Die Krebsforschung zielt nicht allein darauf ab, die Genese von Tumorleiden besser zu verstehen, sondern auch darauf, zuverlässige Strategien der frühzeitigen Diagnostik respektive zielgenauen Therapie zu entwickeln. Ähnlich ließe sich dies für die Klimawissenschaften sagen: Im Kern geht es zunächst einmal darum, das Phänomen selbst wissenschaftlich greifbar zu machen, indem man Kernelemente identifizieren, systemische Zusammenhänge aufzeigen und nicht zuletzt Einflussfaktoren benennen kann, die Fehlentwicklungen zeitigen. In diesem Zuge entstehen sogenannte Klimamodelle, auf deren Grundlage Klimaänderungen präzise prognostizierbar werden, um idealerweise vor dem Eintritt dieser Änderungen durch Gegenmaßnahmen in das Geschehen eingreifen zu können. Bei genauerer Betrachtung erweist sich diese Charakterisierung freilich als recht holzschnittartig. Nehmen wir etwa das Beispiel der Medizin: Der Handlungsdruck, möglichst zeitnah diagnostische und therapeutische Optionen zu entwickeln, kennzeichnet die medizinische Forschung – von den klinischen Studien bis hin zur Biomedizin, in der auf Anwendung zielende Forschung und Grundlagenforschung oftmals zusammengehen. Um nur ein Beispiel zu nennen: 2017 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstmals eine Liste mit antibiotikaresistenten Bakterienstämmen veröffentlicht und die Dringlichkeit grundlegender Forschung in diesem Bereich angemahnt.38