Religion unterrichten - Bernd Schröder - E-Book

Religion unterrichten E-Book

Bernd Schröder

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Beschreibung

Dieses Buch lädt dazu ein, Religion in der Schule zu unterrichten. Was bedeutet es aber, heutzutage Religionslehrer:in zu sein? Bernd Schröder skizziert gegenwärtige Herausforderungen von Schule und Religionsunterricht ebenso wie aktuelle Entwicklungen der Religionsdidaktik. Zahlreiche Anregungen für die Unterrichtspraxis sowie die schulseelsorgliche Arbeit und eine enge Verzahnung von Theorie und Anwendungsbezug zeichnen dieses Buch aus. Es leitet Leser:innen dazu an, "reflective practitioners" zu werden. Sie erfahren, worauf es bei gutem Religionsunterricht wirklich ankommt. Auch "besondere Fälle" werden in den Blick genommen, beispielsweise Hochbegabung oder sonderpädagogischer Förderbedarf.

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Bernd Schröder

Religion unterrichten

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit einer Abbildung und 2 Tabellen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress.

Umschlagabbildung: © AdobeStock/Jacob Lund

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99386-7

Inhalt

Vorwort der Herausgeber

Vorwort des Autors

1 Situation

1.1 Schule als Teil des staatlichen Bildungssystems

1.2 Einzelne Schulen als Handlungseinheiten

1.3 Schüler:innen als Individuen in heterogenen Lerngruppen

1.4 Schüler:innen in ihren Lebensphasen

1.5 Religionsunterricht als Fach der staatlichen Schule

1.6 Rolle und Aufgaben der Religionslehrer:innen

1.7 Dynamiken und Herausforderungen des Religionsunterrichts

2 Update – aktuelle Ansätze

2.1 Kompetenzorientierung

2.2 Inklusion und Heterogenitätsmoderation

2.3 Intra- und interreligiöses Lernen

2.4 Kinder- und Jugendtheologie

2.5 Performative Didaktik und Religion im Schulleben

2.6 Konkurrenz und Kooperation zwischen Religions- und Ethikunterricht

2.7 Digitalität

2.8 Globales ökumenisches Lernen

2.9 Religionsunterricht als Element einer regionalen religionsbezogenen Bildungslandschaft

2.10 Professionalität, Positionalität und Theologie der Religionslehrer:innen

3 Essentials

3.1 Aufgaben: religiös belangvolle Lernprozesse anbahnen, begleiten und auswerten

3.2 Bildung als regulative Idee, Förderung von Subjektwerdung als Maxime: »Hilf mir, es selbst zu tun!«

3.3 Grundlagen: fachdidaktisches Wissen, Fachwissen und die Unverzichtbarkeit von Theologie

3.4 Horizonte: Zeitgenoss:innenschaft – Religionsexpertise – Anwaltschaft für Erinnerungskultur

3.5 Wertschätzung des Plurals: didaktische Konzeptionen – methodischer Werkzeugkasten – Stile von Schüler:innen und Kolleg:innen

3.6 Haltung: Beziehung – Kreativität – Neugierde – Spiritualität

3.7 Ziel: »Reflective Practitioner«

4 Anregungen für die Praxis

4.1 Pädagogische Beziehung zu den Schüler:innen aufbauen

4.2 Schuleigenes Curriculum und Jahresunterricht planen

4.3 Kompetenzorientierten Unterricht vorbereiten

4.4 Unterricht strukturieren

4.5 Einen didaktisch-methodischen Werkzeugkasten aufbauen

4.6 Kompetenzaufbau von Schüler:innen fördern

4.7 Binnendifferenziert unterrichten

4.8 Unterrichtsgespräche führen

4.9 Texte weiterführend einsetzen

4.10 Bilder und visuelle Medien einbeziehen

4.11 Bibel thematisieren

4.12 Fragen der Lebensführung und -deutung theologisch bearbeiten

4.13 Zeichen und deren religiösen Gebrauch verstehen lehren

4.14 Rituale gestalten

4.15 Schulgottesdienst vorbereiten und feiern

4.16 Gespräche mit Schüler:innen zwischen Tür und Angel führen

5 »Goldene Regeln«

6 Besondere Fälle

6.1 Religionsunterricht im allgemein- und im berufsbildenden Schulwesen

6.2 Schüler:innen mit Hochbegabung und Förderbedarf im Religionsunterricht

6.3 Konfessionslose Schüler:innen im Religionsunterricht

6.4 Störungen

6.5 Religionslehrer:innen im Kreis der Kolleg:innen und gemeindepädagogischen Akteur:innen

6.6 Religionslehrer:innen als Krisenmanager:innen

6.7 Religionslehrer:in sein an einer Schule in kirchlicher Trägerschaft

7 Literatur

8 Materialien

8.1 Anleitung zur Vorbereitung von Religionsunterricht

8.2 Vorschläge für eine religionspädagogische Bibliothek

8.3 »Grundsätze der Religionsgemeinschaften« nach evangelischem Verständnis

8.4 Impulse zur transparenten Positionalität von Religionslehrer:innen

8.5 Anregungen zur Reflexion des eigenen Unterrichts und Arbeitsumfelds

Vorwort der Herausgeber

Die Reihe »Praktische Theologie konkret« will Pfarrer:innen sowie Mitarbeitende in Kirche und Gemeinde mit interessanten und innovativen Ansätzen in kirchlich-gemeindlichen Handlungsfeldern bekannt machen und konkrete Anregungen zu guter Alltagspraxis geben.

Der vorliegende Band adressiert insbesondere diejenigen unter ihnen, die Religionsunterricht in der Schule erteilen wollen oder beginnen dies zu tun – und darüber hinaus Religionslehrer:innen, die ein »Update« suchen.

Die Bedingungen kirchlicher wie schulischer Arbeit haben sich in den letzten Jahren zum Teil erheblich verändert. Auf viele heutige Herausforderungen ist man in Studium und Vikariat bzw. Referendariat nicht vorbereitet worden und in einer oft belastenden Arbeitssituation fehlt meist die Zeit zum Studium aktueller Veröffentlichungen. So sind interessante neuere Ansätze und Diskussionen in Praktischer Theologie und Religionspädagogik in der Praxis oft kaum bekannt.

Der Schwerpunkt der Reihe liegt nicht auf der Reflexion und Diskussion von Grundlagen und Konzepten, sondern auf konkreten Impulsen zur Gestaltungpastoraler und schulischer Praxis:

–praktisch-theologisch auf dem neuesten Stand,

–mit Informationen zu wichtigen neueren Fragestellungen,

–als Vergewisserung über bewährte »Basics«

–und mit einem deutlichen Akzent auf der Praxisorientierung.

Die einzelnen Bände sind von Fachleuten geschrieben, die praktisch-theologische Expertise mit gegenwärtiger Erfahrung von konkreter kirchlicher Praxis verbinden. Wir erhoffen uns von der Reihe einen hilfreichen Beitrag zu einem wirksamen Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis kirchlicher Arbeit.

Dortmund/Göttingen Hans-Martin Lübking und Bernd Schröder

Vorwort des Autors

Dieser Band der Reihe »Praktische Theologie konkret« wendet sich in erster Linie an Student:innen der Theologie bzw. (evangelischen) Religion, an Vikar:innen und Referendar:innen, an Pfarrer:innen oder andere kirchliche Mitarbeiter:innen, die im Begriff sind, Religionsunterricht in der Schule zu erteilen. Das Buch möchte dazu ermutigen, sich dieser Aufgabe zu stellen und die darin liegenden Gestaltungsspielräume wahrzunehmen und zu nutzen.

Schulischen Religionsunterricht zu erteilen, ist allerorten vor allem die Aufgabe grundständig ausgebildeter Lehrer:innen, die neben Religion ein weiteres Fach unterrichten. Der vorliegende Band soll ihnen Eigenarten des Faches »(Evangelische) Religion« in Erinnerung rufen und Anregungen für den Unterricht geben. Doch schulischer Religionsunterricht ist in einigen Bundesländern bzw. Landeskirchen auch Teil des regulären Dienstauftrages von Pfarrer:innen einer Kirchengemeinde, von Katechet:innen oder Religionspädagog:innen, die sonst im kirchlichen Binnenraum tätig sind. Sie beginnen aufgrund individueller Schwerpunktsetzungen oder auch aufgrund finanzieller Notwendigkeiten bzw. struktureller Entscheidungen von Gemeinden in der Schule zu arbeiten. Gelegentlich nehmen Pfarrer:innen ein Schulpfarramt wahr, das nicht nur darauf zielt, Religionsunterricht zu erteilen, sondern auch darauf, Religion im Schulleben bzw. Schulseelsorge zu betreiben. Sie soll dieses Buch auf die Eigenarten von Schule und schulischem Unterricht einstimmen.

Angesichts dieser Adressat:innen werden im Buch folgende Akzente gesetzt:

Heterogenität als Grundsignatur

–Religionsunterricht hat es, ganz gleich im Rahmen welcher Schulform er durch wen erteilt wird, mit Schüler:innen zu tun, die in religiös-weltanschaulicher Hinsicht heterogen sind – etwa was ihre Interessen und (impliziten) Fragen, ihre Erfahrungen mit gelebter Religion oder ihre Überzeugungen angeht. Gewiss kann diese Buntheit auch in der gemeindlichen Praxis, etwa bei Kasualien und anderen öffentlichen Aktivitäten, begegnen, doch im Religionsunterricht stellt sie die Grundsignatur dar, auf die sich Lehrende einstellen müssen. Denn in dieser Heterogenität liegt eine der Chancen des schulischen Religionsunterrichts, der (bezogen auf den jeweiligen Jahrgang) eine um ein Vielfaches höhere Reichweite hat als die meisten kirchengemeindlichen Bildungsangebote. Religionsunterricht, gegebenenfalls Religionsunterricht unterschiedlicher Konfessionen, gilt allen Schüler:innen eines Jahrgangs, sofern sie sich nicht abmelden.

Fokus: Religions-unterricht, aber auch Religion im Schulleben

–Religion begegnet in der Schule in verschiedener Weise. Sie ist präsent, insofern Schüler:innen oder Lehrer:innen Religionen angehören und insofern Religion Themen setzt (sei es durch die Feste des Jahreskreises, durch gesellschaftliche oder politische Ereignisse u. a. m.). Deshalb kann und soll sie bei verschiedenen Gelegenheiten in fachlich kundiger Weise in der Schule aufgegriffen werden: zum einen im Religionsunterricht (sowie, unter anderen Vorzeichen, im Ethikunterricht), zum anderen in Gestalt von Religion im Schulleben, also von Seelsorge, Gottesdiensten, Freizeitangeboten kirchlicher Träger sowie diakonischen und sozialen Unterstützungsangeboten vor allem für Schüler:innen, gegebenenfalls auch für Lehrer:innen. Hier kommt Religionsunterricht als Standbein, Religion im Schulleben als Spielbein von religiöser Bildung in der Schule in den Blick – unbeschadet dessen liegt der Fokus auf der unterrichtlichen Behandlung von Religion.

Religionspädagogisches Profil und didaktischmethodisches Know-how

–Ohne jeden Zweifel ist für die Erteilung von Religionsunterricht eine gute Kenntnis seiner theologischen und religionsbezogenen Inhalte unerlässlich. Und nicht nur das: Je vielfältiger die Ausgangslagen und Haltungen der Schüler:innen sind, desto wichtiger wird ein gewandter, hermeneutisch reflektierter und schüler:innenorientierter Umgang mit diesen Inhalten. Doch einerseits gibt es eine Fülle an Literatur und Erschließungshilfen (etwa die Buchreihe »Theologie für Lehrerinnen und Lehrer«) und andererseits verfügen gerade gymnasiale Religionslehrende und (angehende) Pfarrer:innen bereits über bemerkenswerte theologische Kenntnisse. Vor diesem Hintergrund geht es hier vor allem um das (religions-)pädagogische Profil der Tätigkeit in der Schule, die dafür erforderliche kritisch-konstruktive Initiativkraft und das wünschenswerte Ethos und nicht zuletzt, um das didaktisch-methodisches Know-how für den Religionsunterricht.

Wer dieses Buch liest, wird hoffentlich sensibel für die vielen Möglichkeiten, die der Modus des Lernens (und Lehrens) für den Umgang mit Religion eröffnet, für die Bereicherung, die fragende und neugierige Schüler:innen einbringen, und für die besondere – von derjenigen der Pfarrerin:des Pfarrers im innerkirchlichen Dienst unterscheidbare – Rolle, die ein:e Lehrer:in spielt: Sie erschließt jungen Menschen (christliche) Religion und so die Möglichkeiten, die eine religiöse Perspektive auf die Deutung und Führung des eigenen Lebens eröffnet.

Mehr zu wissen, zu verstehen oder ins Handlungsrepertoire aufzunehmen, gibt es selbstredend immer. Um dahin Wege zu weisen, findet sich am Ende des Buches nicht nur ein Literaturverzeichnis, sondern der Vorschlag einer religionspädagogischen Bibliothek (Kap. 8.2). Wer besonders an Begründungs- und Theoriezusammenhängen interessiert ist, sei zudem an mein Lehrbuch zur »Religionspädagogik« (Tübingen 22021) verwiesen.

Gern schließe ich dieses Vorwort mit einem Wort des Dankes – zunächst an drei Menschen, die das Manuskript im Vorfeld gelesen und kritisch kommentiert haben: Dr. Florian Dinger, didaktischer Leiter der »Neuen IGS« in Göttingen, Dr. Moritz Emmelmann, nach kürzlich erfolgreich absolviertem Referendariat wissenschaftlicher Assistent an meinem Lehrstuhl für Religionspädagogik, und Dr. Anna-Maria Klassen, Berufsschulpastorin an der BBS I: Arnoldi-Schule in Göttingen. Mein nicht minder herzlicher Dank gebührt Jana Harle vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für ihre sorgfältige Lektorierung des Bandes und Hans-Martin Lübking sowohl für seine Ermutigung zu diesem Buch als auch für die schöne Zusammenarbeit im Blick auf »Praktische Theologie konkret«.

Göttingen/Hildesheim, im März 2022

Bernd Schröder

1 Situation

Wer derzeit studiert oder das Studium der Theologie bzw. der Religionslehre soeben abgeschlossen hat, hat sich weitaus länger und intensiver als die meisten Menschen, Kirchenmitglieder eingeschlossen, mit theologischen Fragen beschäftigt. Sie:er hat dies zusammen mit anderen jungen Erwachsenen getan, die sich freiwillig für dieses Studienfach entschieden haben und damit ein selbstgesetztes Ziel verfolgen: das spätere Tätigwerden in einem theologischen Beruf, zumeist als Pfarrer:in oder Religionslehrer:in.

Am schulischen Religionsunterricht nehmen demgegenüber Kinder und Jugendliche teil, die keineswegs immer Erfahrungen mit der Praxis einer Religion, etwa des evangelischen Christentums, mitbringen – und oft genug kaum Kenntnisse. Für sie ist Religionsunterricht ein Fach wie jedes andere, das ihr Interesse erst einmal wecken muss – durch eine:n gewinnende:n Religionslehrer:in, durch ungewohnte Herangehensweisen oder durch Themen und Fragestellungen. Schüler:innen nehmen am Religionsunterricht nicht durchweg intrinsisch motiviert teil, sie können zudem auf den Ethikunterricht als Alternative oder Ersatz ausweichen. Allerdings: Immer wieder begegnen im Religionsunterricht auch Schüler:innen, die mit »ihrer« Religion gut vertraut sind, zudem aufgeschlossen und klug – sie erwarten und erhoffen weiterführende Antworten auf Fragen, die sie existenziell beschäftigen: Wie kann man überhaupt etwas von »Gott« sagen? »Gibt« es ihn:sie? Widersprechen Religionen einander? Was heißt es eigentlich, »religiös« oder »gläubig« zu sein? Was hat das alles mit mir zu tun?

Wer derzeit als Pfarrer:in in einer Kirchengemeinde oder einer anderen kirchlichen Einrichtung tätig ist, wechselt, wenn er:sie schulischen Religionsunterricht erteilt, das Bezugssystem: Nicht die Institution Kirche und ihr Ethos, ihre Regeln und ihre »impliziten Axiome« (Dietrich Ritschl) geben den Ton an, sondern die staatliche Schule als Institution mit ihrem Rechtsrahmen, ihrer Hierarchie und ihren Zielsetzungen.

In beiden Fällen lohnt es, sich vor der Befassung mit didaktisch-methodischen Fragen des Religionsunterrichts mit den Besonderheiten der Schule und der dort gegebenen Situation vertraut zu machen. Die beiden exemplarisch genannten Szenarien erfassen nur Fragmente dessen. Mit der Schule betreten Menschen »eine eigene Welt«.

1.1 Schule als Teil des staatlichen Bildungssystems

Schule als staatliche Einrichtung

Seit dem 18. Jahrhundert ist die Schule in Deutschland in der Regel eine staatliche Einrichtung. Unbeschadet dessen gibt es in Deutschland auch Schulen in nicht staatlicher bzw. privater Trägerschaft (Art. 7.4 GG), darunter nicht zuletzt solche in kirchlicher oder religionsgemeinschaftlicher Trägerschaft – auch sie stehen jedoch »unter Aufsicht des Staates« (Art. 7.1 GG). Dieser sogenannte Trägerpluralismus ist politisch-gesellschaftlich erwünscht. Er soll eine Art Wettbewerb um die bestmögliche Realisierung der Aufgaben von Schulen bzw. von Bildung ermöglichen.

Föderalismus

Der Staat, der die »Aufsicht« und auch die Richtlinienkompetenz für Schule und Unterricht wahrnimmt, wird nicht durch die Bundesregierung vertreten, sondern durch die Regierung des jeweiligen Bundeslandes und ihre Schuladministration. Denn im Schulwesen greift das föderale Prinzip der Bundesrepublik (Art. 30 und 70 GG), salopp formuliert: Bildung ist Ländersache. Bekanntlich ergeben sich daraus erhebliche Unterschiede zwischen den Schulwesen der Bundesländer: etwa unterschiedliche Schularten, unterschiedliche Lehrpläne bzw. Kerncurricula, unterschiedliche Ferientermine u. v. m.

Schulrecht

Auch wenn diese Unterschiede häufig im Fokus stehen, sind die meisten rechtlichen Regelungen der Schule über die Bundeslandgrenzen hinweg dieselben oder zumindest sehr ähnlich – etwa solche, die die Aufsichtspflicht über Schüler:innen, Regeln der Notenvergabe oder die Aufgaben von Lehrer:innen betreffen. Schulrecht ist für Lehrende nicht das wichtigste Wissensfeld, darf aber auch nicht außer Acht gelassen werden (vgl. Avenarius/Heckel 2000 und Schröder 2021, § 3), denn in der Schule gilt, was die Landesparlamente oder die Schuladministrationen beschließen oder anordnen. In jedem Fall ist das System Schule hierarchisch geordnet: Das Schulministerium entscheidet, die Regierungspräsidien ordnen an, die Schulleitung setzt um – Lehrer:innen finden somit Weisungsberechtigte und einen rechtlich normierten Rahmen ihrer Tätigkeiten vor, innerhalb dessen sie ihre pädagogische Aufgabe eigenverantwortlich wahrnehmen.

Bildungspolitische Dynamik

Während rechtlichen Regelungen eine gewisse Verlässlichkeit und zeitliche Stabilität eigen ist, lässt die Bildungs- und Schulpolitik seit vielen Jahren eine hohe Dynamik erkennen – nicht zuletzt dadurch bedingt, dass »Schule« im Fokus von Schüler:innen, Eltern (und Großeltern) und Lehrer:innenverbänden steht. Sie ist von öffentlichem Interesse und muss sich so nahezu durchweg einem hohen Optimierungs- oder Reformdruck stellen.

Die politischen Maßgaben suchen gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung zu tragen und das – in der Vergangenheit bisweilen starr wirkende – System Schule zu flexibilisieren. Zu den wichtigsten Akzentsetzungen der jüngeren Vergangenheit, die durchaus auch den Religionsunterricht betreffen, gehören die folgenden:

Schulautonomie und Schulprofil

–(seit den 1990er-Jahren) Verselbstständigung der einzelnen Schule hin zur »eigenverantwortlichen Schule«, vor allem durch Gewährung einer erhöhten Autonomie beim Umgang mit finanziellen Ressourcen, bei der Einstellung von Lehrkräften und bei der Entwicklung des jeweiligen Schulprofils und -programms,

Output- und Kompetenzorientierung

–(seit den 2000er-Jahren) Output-Orientierung schulischen Handelns in dem Sinne, dass die Schul- und Unterrichtsqualität am Lernfortschritt bzw. am Kompetenzgewinn der Schüler:innen erkennbar bzw. messbar sein soll und außerdem, keineswegs unwichtig, die Zahl der Schulabgänger:innen ohne Schulabschluss, die 2020 bei knapp 7 % lag, verringert werden soll,

Ganztagsschule

–(seit den 2000er-Jahren) Ausbau von Schulen zur Ganztagsschule mit einem entsprechenden Betreuungsangebot, mit einer Spreizung des Unterrichts sowie mit Verpflegungsmöglichkeiten,

Inklusion

–(seit den 2010er-Jahren) Förderung von Inklusion im Sinne des 2008 in Kraft getretenen, 2009 von der Bundesrepublik Deutschland ratifizierten »Übereinkommens« der Vereinten Nationen »für die Rechte von Menschen mit Behinderungen«,

Abkehr vom dreigliedrigen Schulsystem

–(seit der Wiedervereinigung Deutschlands sukzessive) Umbau des allgemeinbildenden Schulwesens in Richtung eines Zwei-Säulen-Modells, also hin zu einem gymnasialen und einem nicht gymnasialen Schulbereich. Daneben besteht mit den berufsbildenden Schulen ein weiteres, in sich hoch differenziertes Schulwesen, das Hauptschulabschluss und Abitur ebenso ermöglicht wie Teil- oder Vollzeit-Berufsbildung.

Digitalisierung

–(seit den 2010er-Jahren) Digitalisierung der schulischen Infrastruktur, der schulinternen Kommunikationswege und – nicht zuletzt forciert durch die Erfordernisse der Corona-Pandemie, die Deutschland seit März 2020 erfasst hat – auch des Unterrichts.

Jede einzelne dieser Reformen hat weitreichende Wirkungen, die z. B. über die seit 2006 erarbeiteten nationalen Bildungsberichte erkennbar werden (vgl. www.bildungsbericht.de bzw. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020), und fordert von den Lehrer:innen eigene Expertise sowie Engagement bei der Realisierung »vor Ort«. Ihr Zusammentreffen – und der Umstand, dass keiner dieser Veränderungsprozesse als abgeschlossen gelten kann – hat das Schulsystem und jede einzelne Schule verändert und versetzt sie in einen dauerhaften Schulentwicklungsprozess. Neben den eigenen Unterricht tritt so für Lehrer:innen als stetige Aufgabe die Mitwirkung an solchen Reformen – nicht selten verbunden mit neuen Formen der Evaluation und der Infragestellung ihrer bisherigen Arbeitsweisen. Derlei Reformen nehmen Lehrer:innen in der Regel als Vorgaben eines Upside-down-Prozesses wahr; weitgehend unabhängig davon, wie sie persönlich etwa zur Inklusion stehen, sind sie aufgefordert, dem in ihrem pädagogischen Handeln so gut wie möglich Rechnung zu tragen, oder schlicht verpflichtet, die Vorgaben – schuladministrativ betrachtet – »umzusetzen«.

Schule – Lebensraum für Kinder und Jugendliche

Nicht zu vergessen ist darüber hinaus, dass sich die Schule und ihre Bedeutung auch für Kinder und Jugendliche verändert: Sie halten sich heute pro Tag (und häufig auch: bezogen auf ihre Lebensspanne) länger in der Schule auf als vor 25 Jahren. Schule ist für sie ein Lebensraum, der nicht nur ein ausdifferenziertes Angebot an Lern- und Entfaltungsmöglichkeiten bzw. Pflichten bereithält, sondern ihre Tagesstruktur bestimmt, soziale Bezüge unter Peers schafft, Selbstbewusstsein und Resilienz fördert (oder durch Mobbing u. Ä. gefährdet) – und durch die im Unterricht erschlossenen Weltzugänge, zumeist aber durch ihr »hidden curriculum« (etwa ihre Ordnung und ihre Leistungsorientierung), Weltanschauung, Plausibilitätsmuster und Verhalten prägt.

Kriterien guter Schule

Zur Frage, was angesichts all dessen eine »gute Schule« ausmacht, gibt es klare und hilfreiche Auskünfte (siehe EKD 2016, und die Kriterien, die dem »Deutschen Schulpreis« zugrunde liegen [https://www.deutscher-schulpreis.de/was-macht-eine-gute-schule-aus sowie Beutel u. a. 2016], vgl. auch z. B. Hentig 2003). Die Juror:innen des Schulpreises etwa achten auf »Leistung«, »Umgang mit Vielfalt«, »Unterrichtsqualität«, »Verantwortung«, »Schulklima, Schulleben und außerschulische Partner« sowie »Schule als lernende Institution«. Die Impulse der EKD nehmen dergleichen auf, betonen zudem: »Die Schule ist für Kinder und Jugendliche da« (EKD 2016, 12).

1.2 Einzelne Schulen als Handlungseinheiten

Vier Komponenten der Schulentwicklung

Bereits seit den 1980er-Jahren kann als allgemein anerkannte Einsicht gelten, dass Schulen nicht allein »von oben« gesteuert werden (können). Ganz gleich, welche Säule der Schulentwicklung in den Blick kommt – sei es die Organisations-, die Personal- und die Programmentwicklung oder die Qualitätssicherung –, ist der Prozess in jedem Fall auf Unterstützung, Initiative und Engagement »von unten« angewiesen, also auf die einzelne Schule und vor allem ihre professionellen Angehörigen, die Lehrer:innen und die Schulleitung. Der Erziehungswissenschaftler Helmut Fend (1986) hat dies mit der Rede von der »Schule als pädagogischer Handlungseinheit« auf den Punkt gebracht.

Lehrer:innen als Mitgestaltende von Schule

Diese Einsicht der Schultheorie hat nicht nur schulpolitische Konsequenzen, sondern auch unmittelbar Auswirkungen auf die Lehrer:innen und ihr Aufgabenportfolio. Denn ihnen fällt nun nicht mehr nur die Gestaltung des Unterrichts als Aufgabe – und darin die zentrale Rolle (!) – zu (vgl. Hattie 2013 und 2016 sowie Zierer 2017), sondern die Mitgestaltung ihrer Schule.

Aufgaben von Lehrer:innen

Im Jahr 2000 ist dies in das Spektrum der »Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern heute« eingegangen, das seinerzeit Kultusministerkonferenz und Lehrer:innengewerkschaften identifiziert haben – allerdings kommt die Mitwirkung an der Schulentwicklung in den kurz darauf (2004) vorgelegten bildungswissenschaftlichen »Standards« für die Lehrer:innenbildung schon wieder zu kurz. In der Berufsbildbeschreibung aus dem Jahr 2000 werden fünf »Aufgaben« hervorgehoben (KMK 2000, hier mit Zitaten aus KMK 2004):

–Kompetenzbereich: Unterrichten

»Lehrkräfte sind Fachleute für das Lehren und Lernen«,

–Kompetenzbereich: Erziehen

Lehrkräfte üben ihre Erziehungsaufgabe aus. »Lehrerinnen und Lehrer sind sich bewusst, dass die Erziehungsaufgabe in der Schule eng mit dem Unterricht und dem Schulleben verknüpft ist«,

–Kompetenzbereich: Beurteilen

Lehrkräfte beraten sach- und adressatenorientiert und üben ihre Beurteilungsaufgabe gerecht und verantwortungsbewusst aus.

–Kompetenzbereich: Innovieren

»Lehrerinnen und Lehrer entwickeln ihre Kompetenzen ständig weiter«,

–Kompetenzbereich: Schule entwickeln

»Lehrerinnen und Lehrer beteiligen sich an der Schulentwicklung, an der Gestaltung einer lernförderlichen Schulkultur und eines motivierenden Schulklimas«.

Fachwissen und fachdidaktisches Wissen

… und mehr

Im Diskurs der Bildungswissenschaften werden üblicherweise zwei Komponenten der Kompetenz von Lehrer:innen betont und als für den Unterricht zentral ausgewiesen, nämlich »Fachwissen« und »fachdidaktisches Wissen« (dazu vor allem die sogenannte COACTIV-Studie von Kunter u. a. 2011 sowie Riegel/Leven 2018). Doch insbesondere die Mitwirkung an der Erziehung von Schüler:innen und die Entwicklung der je eigenen Schule als pädagogischer Handlungseinheit verlangen von Lehrer:innen einiges, das darin nicht impliziert ist: etwa Einblick in staatliche und kommunale Bildungspolitik, eine gewisse Vertrautheit mit Schulen, Arbeitgebern und zivilgesellschaftlichen Akteuren in der Nachbarschaft ihrer eigenen Schule bzw. in der regionalen »Bildungslandschaft«, das Interesse an der und die Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit Kolleg:innen sowie mit einschlägigen Personen außerhalb der Schule, ein pädagogisches Ethos und eine pädagogische Beziehung zu den konkreten Schüler:innen am Ort.

1.3 Schüler:innen als Individuen in heterogenen Lerngruppen

Pädagogische Beziehung

Dass eine pädagogische Beziehung zu den Schüler:innen für die Tätigkeit von Lehrer:innen unerlässlich ist, gehört zu den Grundideen pädagogischen Nachdenkens (vgl. Krautz/Schieren 2013 und Boschki 2003). (Religions-)Lehrer:in zu sein, heißt in erster Linie: in Beziehung treten – und erst dann: fachbezogen unterrichten. Um diese Beziehung aufzubauen und zu pflegen, bedarf es eines Sensoriums für soziale Prozesse, eines gewissen Maßes an pädagogisch angeleiteter sozialer Interaktion innerhalb der Lerngruppe und eines Interesses an den je einzelnen Schüler:innen. Dieses Interesse ist allerdings von »pädagogischem Takt« (Johann Friedrich Herbart; vgl. Burghard/Zirfas 2019) zu begrenzen und darf nichts mit Grenzverletzungen den Schüler:innen gegenüber oder mit Diskriminierungen gemein haben.

Kindeswohl und Subjektorientierung

Das Interesse an den Schüler:innen hat ohnehin weniger mit Sympathien oder Antipathien zu tun als vielmehr mit dem pädagogischen Leitinteresse am Kindeswohl und dem (religions-)pädagogischen Grundsatz der Subjektorientierung. Anders gewendet: Unterrichtliche Lehr-Lern-Prozesse, die zugleich der Förderung von Kindern und Jugendlichen als Personen dienen, erfordern eine Kenntnis der pädagogischen Entwicklungsstände und Leistungsmöglichkeiten der Schüler:innen im Klassenzimmer – hierfür stellt die pädagogische Diagnostik mittlerweile eine Menge an Hilfestellungen bereit (vgl. etwa Hesse/Latzko 2017). Sie erfordern zudem die Wahrnehmung der Schüler:innen als Individuen – erst recht in einer Gesellschaft, deren Dynamik insgesamt von Individualisierung und Pluralisierung geprägt und vorangetrieben wird sowie beispielsweise als »Gesellschaft der Singularitäten« (Andreas Reckwitz) beschreibbar ist, können und müssen die Schüler:innen in dieser Weise in den Blick rücken.

Pädagogische Diagnostik und individuelle Wahrnehmung

Dies geschieht notwendigerweise einerseits durch Beobachtung der Kinder und Jugendlichen sowie durch die Interaktion mit ihnen im pädagogisch bestimmten Setting der konkreten Lerngruppe und andererseits durch Interpretation solcher Beobachtungen im Licht von Theorien oder gesellschaftlichen Diskursen.

Pluralisierungsmarker

Als Pluralisierungsmarker, die auch empirisch und theoretisch vielfach analysiert werden, verdienen – neben schulbezogenen Einstellungen und kognitiven Fähigkeiten der Schüler:innen – etwa Beachtung:

–familiäre Konstellationen,

–individuelle Bildungsbiografien,

–Migrationserfahrungen,

–soziale Distinktionen etwa durch Kleidung, Ausstattung und Stile,

–Gender-(Selbst-)Zuschreibungen,

–körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen,

–Selbstinszenierungen in leibhaftiger Gestalt oder in sozialen Medien,

–und – für den Religionsunterricht in besonderem Maße relevant – religiös-weltanschauliche Zugehörigkeiten und Einstellungen.

Im Blick auf Religion und Weltanschauung lässt sich das Feld mithilfe von Religionssoziologie und Kinder- bzw. Jugendstudien facettenreich beschreiben. Dabei sind (mindestens) drei Ebenen unterscheidbar, die im Folgenden kurz beschrieben werden:

Mehrung der Religionen

Erstens gehören Kinder und Jugendliche in Deutschland (aber auch in Österreich, der Schweiz und vielen anderen Ländern) einer wachsenden Zahl unterschiedlicher Religionsgemeinschaften an. Der Proporz unter diesen Religionen verschiebt sich unter Kindern und Jugendlichen, die ihnen angehören, in etwa so wie in der Gesamtbevölkerung: Während am Vorabend der Wiedervereinigung Deutschlands noch ca. 85 % der Bevölkerung der alten Bundesrepublik Mitglieder einer evangelischen oder der römisch-katholischen Kirche waren, sind es im Jahr 2021 in Gesamtdeutschland erstmals weniger als 50 %: Der katholischen Kirche gehören etwa 22 Millionen, den evangelischen Kirchen ca. 20 Millionen Menschen an. Die drittgrößte Religionsgemeinschaft ist der Islam mit geschätzt 5 Millionen Angehörigen (6–7 % der Bevölkerung, die nur zum Teil in Moscheegemeinden organisiert sind). Die viertgrößte Gruppe bildet das orthodoxe Christentum in all seinen Affiliationen (einschließlich der sogenannten non-chalcedonensischen Kirchen) mit ca. 1,5 Millionen Kirchenmitgliedern (ca. 2 % der Bevölkerung). Alevitismus, Buddhismus, Judentum, christliche Freikirchen u. a. machen jeweils einen deutlich geringeren Anteil an der Bevölkerung aus; sie liegen jeweils deutlich unterhalb der 0,5 %-Marke. Doch die größte »weltanschauliche« Gruppe stellen die sogenannten Konfessionslosen dar – geschätzt ca. ein Drittel der Bevölkerung und im Detail von unterschiedlichen Lebenseinstellungen und Haltungen gegenüber Religion geprägt (EKD 2020, 24–26).

Pluralität innerhalb der Religionsgemeinschaften

Zweitens zeichnet sich innerhalb der einzelnen Religionsgemeinschaften eine Pluralität der Praktiken, Kenntnisse und Einstellungen ab. Evangelische:r Christ:in zu sein, bedeutet also keineswegs einheitlich, dies oder das zu glauben, in diesem oder jenem Maße über die Bibel Bescheid zu wissen und in einer bestimmten Frequenz am Gottesdienst teilzunehmen. Vielmehr kommen empirische Untersuchungen vielgestaltigen individuellen Handlungslogiken und Einstellungen auf die Spur, etwa derjenigen eines »okkasionell-sozialen Modus der Aneignung von Sinn« (Dietlind Fischer/Albrecht Schöll). Demnach übernehmen (junge) Menschen die Grundsätze und Verhaltensvorstellungen ihrer Herkunftsreligion nicht linear und vollständig, sondern sie prüfen bei Gelegenheit, z. B. anlässlich eines Todesfalls (»okkasionell«), und im Gespräch mit den alltäglich für sie relevanten Peers (»sozial«), ob die – von ihnen wahrgenommenen (!) – Antworten der Religion sinnhaft und tragfähig sind. Das Ergebnis ist eher ein Patchwork von Einsichten unterschiedlicher Provenienz als die Adaption einer schlüssigen Laiendogmatik – aber eben ein Patchwork, das als das Eigene und als derzeit schlüssig empfunden wird.

Am besten untersucht ist dieses Phänomen intrareligiöser Vielfalt anhand der Mitglieder der evangelischen Kirchen. Alle zehn Jahre werfen beispielsweise die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD ein Licht darauf. Grob zeichnet sich darin ab, dass etwa zwei Fünftel der jugendlichen evangelischen Kirchenmitglieder als »nicht religiös« zu verstehen sind, ein Drittel als »indifferent« und etwa ein Viertel als »religiös musikalisch« oder sogar »hochverbunden« (vgl. etwa Schröder u. a. 2017, 90, vgl. 69 u. ö.). Mit anderen Ausprägungen ist eine ähnliche Vielfalt der Selbstverständnisse und Praktiken auch unter Katholik:innen, Juden und Jüdinnen, Muslim:innen und unter Konfessionslosen anzunehmen.

Drittens verschieben sich die religiös-weltanschaulichen Orientierungspunkte der Individuen: Sie folgen

Selbstbestimmung und -ermächtigung in religiösen Angelegenheiten

»in der Praxis ihrer Religiosität und in der religiösen Deutung ihres Lebens nicht länger selbstverständlich der Tradition, der theologischen Norm, der Autorität der Gemeinschaftsleitung […], sondern [suchen] eine ihnen plausibel, praktikabel und hilfreich erscheinende, von ihnen selbst zu verantwortende Gestalt von Religiosität« (Schröder 2021a, 28).

Auch wenn sich in der faktisch gelebten Religiosität und in den artikulierten Überzeugungen durchaus überindividuelle Muster und nicht selten auch Prägungen im Sinne der Tradition erkennen lassen, so schreiben sich viele Einzelne – und unter ihnen auch die Mehrzahl der Jugendlichen – Selbstbestimmung in Sachen Religion zu: »Der Wunsch, den eigenen Glauben selbst zu gestalten und in Glaubensfragen frei und individuell entscheiden zu können, ist […] sehr ausgeprägt« (Schweitzer u. a. 2018, 20).

Für die Gestaltung religiöser Lehr-Lern-Prozesse ist beides wichtig: solche Entwicklungen im Licht entsprechender Literatur wahrzunehmen und solche – notwendigerweise – allgemeinen Theorien an den Individuen der je eigenen Lerngruppe zu prüfen. Schließlich gilt es sich immer wieder vor Augen zu führen, dass es im Blick auf Unterricht nicht um Eingruppierung oder gar Beurteilung von Kindern und Jugendlichen geht, sondern um angemessenes Verstehen derer, an denen jeder Lernprozess anknüpfen muss und auf deren Entwicklung bzw. Förderung er zielt. Es geht um die Identifikation von Anknüpfungspunkten und Lernchancen, kurz: um die Gewinnung der Voraussetzungen dafür, »religiöse Bildungsbiografien [zu] ermöglichen« (EKD 2022b).

1.4 Schüler:innen in ihren Lebensphasen

Unbeschadet individueller Eigenarten und Entwicklungen von Kindern und Jugendlichen lassen sich Strukturen und Gemeinsamkeiten von Alters- oder Personengruppen identifizieren, deren Kenntnis helfen kann, die je eigene Lerngruppe besser zu verstehen. Sie betreffen insbesondere die Entwicklungsphase, die Generationenlage und sozialisatorische Einflüsse.

Entwicklungspsychologie

Eines der bedeutsamsten Hilfsmittel, um strukturelle Merkmale einer Personengruppe zu erkennen, stellen entwicklungspsychologische Theorien bereit. Unter diesen stechen seit Längerem die sogenannten kognitionspsychologischen Theorien hervor, denen zufolge Entwicklung vom Streben nach Passung (Jean Piaget: »Äquilibration«) zwischen innerer Disposition, äußeren Umständen bzw. Anforderungen und kognitiven Ordnungsmustern initiiert und gesteuert wird. Im Laufe der Entwicklung setzen sich diejenigen Muster durch, die geeignet sind, mit dem je eigenen Innenleben und der Umwelt möglichst gut zurechtzukommen. Deutet man Selbstauskünfte von Proband:innen im Licht dieser konzeptionellen Vorstellung von Entwicklung, lässt sich eine gute Hand voller Stufen erkennen, die sich in der Regel im Kindes- und Jugendalter in besonderer Dichte ablösen – ganz gleich, ob man sich auf die Entwicklung logischen Denkens (Jean Piaget), moralischer Vorstellungen (Lawrence Kohlberg) oder religiöser Urteile (Fritz Oser) konzentriert (Darstellungen bei Schröder 2021a, 49–68, sowie ausführlicher etwa Büttner/Dieterich 2016).

Eine der für religiöse Bildung bedeutsamsten kognitionspsychologischen Entwicklungstheorien gilt der Fähigkeit zu komplementärem Denken, genauer: der Fähigkeit, Konzepte und Theorien aus verschiedenen Wissensbereichen konstruktiv aufeinander zu beziehen (K. Helmut Reich). Während in der Kindheit noch nicht mit dieser Fähigkeit zu rechnen ist, entwickelt sie sich – entsprechende Stimulation vorausgesetzt (!) – in der Regel im jungen Erwachsenenalter. Menschen lernen so beispiels- weise, die biblischen Schöpfungsberichte (und deren Erzählintentionen) und naturwissenschaftliche Weltentstehungstheorien (und deren Erklärungsanspruch) sowohl voneinander zu unterscheiden als auch aufeinander zu beziehen bzw. ihnen einen Geltungsbereich zuzugestehen.

Neben diese klassisch zu nennenden Theorien ist in den letzten Jahren unter anderem ein Konzept getreten, das auf der Grundlage biografischer »Faith Development Interviews« bestimmte, dauerhaft vorhandene und strukturell wirksame »religiöse Stile« und »Typen« unterscheidet, namentlich den »substantially ethnocentric«, den »predominantly conventional«, den »predominantly individuative-reflective« und den »emerging dialogical-xenosophic type« (vgl. Streib 2020).

Generationenlagen

Generationen – hebräisch: toledot – kennen schon die Erzählungen der Genesis (Gen 5 u. ö.) und die Geburtsgeschichten Jesu (Mt 1) als Strukturierung von Zeitläufen – seinerzeit allerdings allein im Sinne einer