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Ein facettenreicher Blick auf zentrale Fragen zum letzten Abschnitt des Lebens. Immer wieder wird die Religion herangezogen, wenn der Mensch Antworten auf existentielle Fragen sucht: Vom Rätsel unserer Existenz oder dem Ursprung des Kosmos bis hin zu letzten Fragen nach dem individuellen Tod oder dem Ende der Geschichte. Wir setzen uns mit Erzählungen über unsere Geburt und der eigenen Vergänglichkeit auseinander und schauen auf Religionen, die uns vermitteln, wie ein gutes Leben im Alter aussehen könnte. Helmut Bachmaier und Bernd Seeberger versammeln Positionen aus Forschung und Praxis wie Philosophie, Theologie, Soziologie und Ethik. Die Autor:innen skizzieren Altersbilder aus z. B. christlicher, jüdischer und islamischer Perspektive, die kulturelle Unterschiede und die jeweiligen gerontologischen Aspekte dokumentieren. Ebenso beleuchten sie Themen wie spirituelle Bedürfnisse von Demenzkranken, das aktuelle Gemeindeleben und das Altern im Gefängnis. Darüber hinaus werden die Rolle der Neurowissenschaften und das Verhältnis von Wissenschaft und Glauben (bei Darwin, Einstein u. a.) diskutiert, sodass ein umfassendes Panorama an Zusammenhängen zwischen Religiosität und Alter entsteht.
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Seitenzahl: 465
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Religiosität im Alter
Herausgegeben von Helmut Bachmaierund Bernd Seeberger
Die Herausgeber danken für die Förderung der Publikation:
Viventis-Stiftung Zürich
Otto und Stilla Schüller, Herrieden
AFI: Akademie für Informatik (Prof. Schneider), Nürnberg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2022
www.wallstein-verlag.de
Umschlaggestaltung: Marion Wiebel, Wallstein Verlag
ISBN (Print) 978-3-8353-5137-0
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4818-9
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4817-2
HELMUT BACHMAIER / BERND SEEBERGEREinleitung
PETER GROSSWiederkehr der Religion? Verlängerte Lebenszeit – Verlust der Ewigkeit
Philosophische Perspektiven
THOMAS RENTSCHTranszendenz in der Immanenz. Vernunftaspekte religiöser Praxis im Alter aus philosophischer Sicht
HELMUT BACHMAIERDie Transzendenz des Lebens. Ein Rekurs auf Georg Simmel
ESFANDIAR TABARIEntwurf einer agnostischen Ethik
DOROTHEE VÖGELILudwig Feuerbachs Atheismus. Kritik am Christentum als Grundlage für ein neues Verständnis von Religion
Altersbilder in Religionen
HEINZ RÜEGGERAlter in christlicher Perspektive
MICHEL BOLLAGDer alte Mensch im Spiegel des jüdischen Menschenbildes
RIFA’AT LENZINDas Menschenbild im Koran
Religion, Gerontologie und Gemeindeleben
RALPH KUNZSpirituelle und religiöse Begleitung im Alter
BERND SEEBERGER / MARTIN PALLAUFReligiöse Praxis älterer Menschen heute
GERD SCHUSTERKirchlich geprägtes Gemeindeleben: Chancen durch und für ältere Menschen
FRANK STÜFEN / CHRISTOPH ROTTLERReligiosität im Alter im Gefängnis. Anmerkungen aus der Perspektive der Gefängnisseelsorge
Religion und Demenz
RALPH KUNZErinnerungen des Stofflichen im Land des Vergessens. Von der spirituellen Substanz dementiell erkrankter Menschen
CHRISTIAN MÜLLER-HERGLSpirituelle Bedürfnisse von Menschen mit Demenz. Religion als geistiges Erbe
CHRISTIAN MÜLLER-HERGLDemenz als Herausforderung der Theologie
Glaube und Wissenschaften
BRIGITTE STEMMERReligion und Religiosität aus neurowissenschaftlicher Sicht
ERNST PETER FISCHER»Hin zu Gott!« Religiosität bei Wissenschaftlern
BERND SEEBERGERLiteraturauswahl
Die Autorinnen und Autoren
Anmerkungen
Religion betrifft die ersten und die letzten Fragen, die nicht immer in einer eindeutigen Sprache ausgedrückt werden können, weil Wissen und Reflexion an ihre Grenzen kommen. Erste Fragen beziehen sich auf den Anfang unserer Existenz oder auf den Ursprung des Kosmos, und die letzten Fragen gelten dem individuellen Tod oder dem Ende der Geschichte oder apokalyptischem Geschehen. Uns selbst sind der eigene Anfang und das eigene Ende entzogen, d. h., erst aus Erzählungen der Anderen (etwa der Eltern) erfahren wir etwas über unseren Eintritt in die Zeit und ins Leben, und das Ende unseres letzten Tages und das Ereignis unserer Todesstunde wird auch nicht von uns erzählt, sondern wiederum von Anderen (Familie, Freunde), oft am Grab, bei der Bestattung. Es sind stets die Erzählungen Dritter, in denen der Anfang und das Ende eines Lebens aufgehen. Der eigene Anfang wie das eigene Ende können also keine Gegebenheiten für Erinnerungen sein wie Erlebnisse im Lebenslauf. Deshalb vollendet sich ein Leben nicht in sich selbst, sondern im Gedächtnis der Anderen (manche sagen: in Gott).[1]
Diese Lage wird in der »Antigone« des Sophokles in die Weltliteratur eingeführt. Die Schwester muss den Bruder bestatten und ihm ein Andenken stiften, da Kreon, der Vertreter der Staatsmacht in der Polis, dieses Begräbnis verweigert. Er hält den Bruder der Antigone für einen Hochverräter. Hier treffen die individuellen-familialen und die staatlichen-machtpolitischen Ansprüche aufeinander. Zuletzt müssen beide Exponenten, Antigone und Kreon, als Vertreter einseitiger Ansprüche untergehen, so dass sich in ihrer Negation im tragischen Finale der sittliche Geist, der beiden Ansprüchen genügen muss, hervortritt. Es ist demnach die klassische Aufgabe von Familie – nicht biologisch, sondern kulturell betrachtet –, für das Andenken Verstorbener zu sorgen, um nach dem physischen Tod ihre Auslöschung aus dem Gedächtnis zu verhindern. Dieser Deutung der Tragödie hat Hegel in seiner »Ästhetik« und indirekt in der »Phänomenologie des Geistes« gute Gründe geliefert.
Man kann sich auf die Zeit zwischen Anfang und Ende, den Lebensprozess, konzentrieren und dessen Sinnhaftigkeit durch Religion oder andere Deutungssysteme zu verstehen versuchen. »Die religiöse Sinndeutung ist […] eine mögliche Deutungspraxis für die eigene Lebensführung, wobei damit bereits gesagt ist, dass Religion als Sinndeutungssystem für die je eigene Lebensführung, als Deutungspraxis menschlicher Existenz verstanden werden kann.«[2]
Sinn-Fragen und Sinn-Deutungen sind wiederum problematisch, wie Einreden aus verschiedenen Disziplinen geltend gemacht haben.[3] Denn die Sinn-Frage schließt noch nicht den Sinn dieser Frage überhaupt ein. Bevor aber nicht sicher ist, dass die Sinn-Frage Sinn macht, können alle Antworten auf diese Frage sinnlos sein. Oder man unterstellt, dass es einen Sinn gibt oder geben müsste, dann ist es bei einer solchen Präsupposition überflüssig, die Sinn-Frage überhaupt noch zu stellen. Die Sinn-Frage ist unter diesen Voraussetzungen sinn-los.[4]
Wenn nach dem Sinn der Sinn-Frage gefragt wird, dann kann diese Frage auch wieder befragt werden usw. Man gerät damit in eine Iteration oder einen Zirkel oder muss einfach den Fragereigen abbrechen (oder etwas als Gesetztes annehmen). Und genau dies ist das Münchhausen-Trilemma, das der Kritische Rationalismus gegen alle Begründungsbegründungen oder Letztbegründungen geltend macht.[5]
Möglicherweise kann das Trilemma fürs Erste umgangen werden, wenn die Situation von Entscheidungen (für die eine oder andere Religion) in den Reflexionsprozess einbezogen wird.[6] Allerdings können Begründungen für eine Entscheidung wieder in den Erklärungsnotstand münden. Deshalb wird eine Apriorität bei Religiosität verschiedentlich angenommen (Georg Simmel, William James).
In der Religionsphilosophie gibt es verschiedene Ansätze, Religion zu begründen und ihre individuellen, gemeinschaftsbildenden und zeremoniellen Auswirkungen zu erhellen.
Bei der substantiellen Religionsauffassung stehen konkrete Glaubensinhalte im Zentrum: die Beziehung auf ein Unendliches und das Gefühl »schlechthinniger Abhängigkeit« (Schleiermacher); die Erfahrung des Numinosen als ambivalente Form des Heiligen (Otto) oder eines Unbedingten, das uns betrifft (Tillich). Transzendenz und Immanenz, das Absolute und das Kontingente (Kontingenzbewältigung) werden hier analysiert.
Der funktionale Religionsbegriff definiert Religion mit Blick auf ihre Aufgaben für den Einzelnen und für die Gemeinschaft. Die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft wird durch Religion gefördert. Durch ein solidarisches System von Werten, Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige Überlieferungen als leitende Normen stützen und in einer moralischen Gemeinschaft, der Kirche, von all ihren Mitgliedern praktiziert werden, wird die Integration als soziale Aufgabe verwirklicht. (Durkheim). Dieses Verständnis hat besondere Bedeutung für das Gemeindeleben.[7]
Schließlich sei noch die Verortung der Religion in Dieter Henrichs Bewusstseinstheorie erwähnt. Sie hat folgende Voraussetzung: Religiosität hat ihren Grund in der Transzendierung des Selbstbewusstseins. Das Selbstbewusstsein als selbstreferenzieller Akt oder als absolute Setzung in der Philosophie des Deutschen Idealismus führt in die Schwierigkeit, die Einheit des Selbstbewusstseins (Ich = Ich) und im reflexiven Akt die Trennung von Subjekt und Objekt (Ich ≠ Ich) zusammen zu denken. Hierbei wird für den reflexiven Akt die Einheit des Selbstbewusstseins vorausgesetzt. Oder aus der Differenz entsteht die Entzweiung des Subjekts.[8] Um diese gleichsam aporetische Lage zu umgehen, hat Dieter Henrich Selbstbewusstsein als eine präreflexive Vertrautheit mit sich selbst bestimmt.[9]
Selbstbewusstheit und Selbstgewissheit gründen demnach nicht in einem reflexiven Akt, sondern liegen jenseits davon in einem vorgängigen Bewusstsein, das unmittelbar gegeben und einem vertraut ist. Der Ursprung dieses Bewusstseins ist und bleibt dem Denken entzogen, so dass ein opaker Rest zurückbleiben muss. Das bedeutet, dass wir keine adäquate Erkenntnis dafür besitzen, was wir als bewusste oder selbstbewusste Subjekte sind. Eine Folge dieser Annahme ist, dass wir einer elementaren Kontingenzerfahrung ausgesetzt sind. Da Herkunft (und Zukunft) des Selbstbewusstseins verborgen bleiben, wird eine Grenze des Verstehens gesetzt. Uns ist es trotzdem aufgegeben, unser Dasein zu deuten und unserem Leben einen Zweck zu geben.
Unsere Selbstgewissheit ist ein stabiles Wissen infolge einer unmittelbaren Selbstvertrautheit, ohne den Grund – wie bereits ausgeführt – dafür genau zu kennen. Deshalb kommt es zu einer Selbsttranszendierung des Daseins auf einen Grund hin, durch den ein Selbstbewusstsein überhaupt erst gegeben ist: Das Selbstbewusstsein verdankt sich also einem Grund, der ihm transzendent ist. Es kommt zu einem Gefühl der Dankbarkeit für das eigene Dasein, für alles, für Andere, auch für die Verdanktheit selbst. So dass die Frage, »saget, wie bringe ich den Dank?« (Hölderlin), sich auf das bezieht, was der Grund von allem ist.
In West-Europa sprechen wir von einer systematischen Gerontologie seit den beginnenden 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Die Alternsforschung ist jedoch immer noch ein Neuland. Zugleich gibt es kaum ein Forschungsfeld, das von so vielen Einzeldisziplinen bearbeitet wird. Um das Altern in seiner Multidimensionalität (Gesundheit, Kognition, Interessen etc.) und Multidirektionalität (verschiedene Verfahrenswege im Alterungsprozess) aufzuzeigen, unterscheiden wir heute folgende Disziplinen: eine biomedizinische Alternsforschung, die Psycho-Gerontologie, die Sozial- und Wirtschaftsgerontologie, die Geriatrie, das Feld der Alternsmedizin, die Geragogik, also die Lehre von den Lernprozessen bei älteren Menschen; neuerdings sprechen wir von einer Kulturgerontologie.[10] Die Bedeutung von Kultur und kulturellen Gegebenheiten für den Alterungsverlauf ist von der Gerontologie bisher wenig erforscht. Es bedarf einer multi- und interdisziplinären Betrachtung, um auf die Fragen des Alterns eine umfassende Antwort zu geben, die der Lebensgestaltung des Menschen entspricht.
Die Gerontologie versteht sich demnach als ein interdisziplinäres Forschungsfeld. Dazu hat sie verschiedene Theorieansätze entwickelt, die sich teilweise überschneiden. Das Aktivitätsmodell: möglichst lange aktiv, tätig bleiben bei freier Wahl der Aufgaben, keinen »Ruhestand« (ein Unwort für Gerontologen). Das Chancenmodell: die Möglichkeiten des Alters erkunden, sich danach entscheiden. Das Kompetenzmodell: dem Alter angepasste, zusätzliche Kompetenzen erwerben. Das Ressourcenmodell: Erhaltung und Förderung der körperlichen und geistigen Ressourcen. Diese positiv ausgerichteten Modelle orientieren sich an den Entwicklungsmöglichkeiten des alten Menschen.[11]
Die Verbindungen zwischen Gerontologie und Theologie oder Religionssoziologie wurden bislang selten intensiv behandelt, und wissenschaftliche Aussagen dazu sind zumeist rudimentär, so auch die Fragen zur Bedeutung des Glaubens für ältere Menschen oder die Hinwendung zum Religiösen oder Spirituellen mit steigendem Lebensalter. Die Herausgeber wollen mit ihrer interreligiösen und interdisziplinären Themenstellung einen Beitrag leisten zur Überwindung dieses Desiderats.
Der Mensch scheint das einzige Lebewesen zu sein, das sich mit dem Phänomen der Vergänglichkeit, mit seiner Endlichkeit auseinandersetzt. Kann der Mensch deshalb ohne Glauben und Religion leben? Dazu werden in den verschiedenen Beiträgen Antworten unterschiedlichster Art gegeben.
»Man muss sich sein ganzes Leben lang um sich selbst kümmern, vor allem aber in dem entscheidend wichtigen Alter der Reife. Das Alter, das vor allem die Sorge um sich selbst erfordert, ist also nicht mehr die ausgehende Adoleszenz, sondern das reife Alter. […] Es bereitet die Vollendung des Lebens in jenem Alter vor, in dem das Leben selbst zu Ende geht und sich gleichsam in der Schwebe befindet, nämlich im hohen Alter. Die Sorge um sich als Vorbereitung auf das Alter unterscheidet sich hier ganz klar von der Sorge um sich als Ersatz für die Erziehung, als pädagogische Ergänzung zur Vorbereitung auf das Leben.«[12]
Die Kunst des Lebens hat nach Odo Marquard zum Ziel, die eigenen Möglichkeiten zu entdecken und diese maßvoll zu nutzen. Dabei ist die Endlichkeit anzuerkennen und die Lebensführung darauf auszurichten. Vor allem sieht Marquard im Alter die Befreiung von Illusionen übers Dasein, was zur richtigen Schau der Dinge befähigt: zur Theoriefähigkeit des Alters. Und darauf kommt es an: »Es zeugt wohl von Altersklugheit, wenn man seine Erwartungen an seine kurze Zukunft anzupassen weiß.«[13]
Neben einer Jugendkultur bedarf es einer eigenen Alterskultur, die dem demographischen Wandel Rechnung trägt. Alter kann nicht allein unter medizinischen oder sozialen Gesichtspunkten gesehen werden, denn Bewertung und Wertschätzung des Alters sind erheblich von kulturellen Zuschreibungen und Urteilen abhängig. »Der Kern einer modernen Alterskultur bedeutet […]: die Entwicklung der Persönlichkeit eines Menschen lebenslang zu fördern.«[14]
»Alterskultur« bezeichnet in verschiedenen Altersphasen (autonomes, fragiles und kuratives Alter) jeweils etwas anderes. Die unterschiedlichen Alterskulturen tragen – jede für sich – Wertvolles zur Lebensgestaltung der späteren Jahre bei. Heute orientiert man sich am Grad der Selbständigkeit des Einzelnen und an seinen sozialen Beziehungen. Es kann nicht nur eine Alterskultur geben, sondern mindestens drei Arten, damit auch verschiedene Formen von Religiosität. Das Ziel der Praxis einer heutigen Alterskultur kann so zusammengefasst werden: »Selbständigkeitsförderung durch Prävention und Bildung.«[15]
Wer verunsichert ist, wünscht sich mehr Sicherheit. Freiheit war bisher ein hoher Wert. Wichtiger und wertvoller erscheint derzeit oft Sicherheit (Sicherheit als eine Art Religionsersatz). Ein weiterer Grund für die Bedeutung von Religiosität im Alter ist die Angst vor dem Tod, weshalb die Menschen der Moderne und besonders auch Ältere ihre Erlebnisdichte steigern. Ganz nach dem Motto: Wenn die Lebenswege kürzer werden, dann sollte man sie vertiefen.
In den Beiträgen dieses Buches werden die Begriffe Religion, Religiosität, Frömmigkeit und Spiritualität jeweils anders semantisch profiliert. Dazu eine minimalistische Übersicht der Terminologie:
Religion: ein System von Glaubenssätzen, bezogen auf eine göttliche Instanz oder Gottheit, gesichert durch eine Institution oder Norm (Kirche, Dogma). Auch als Zeichen-, Symbol- und Sinndeutungssystem verstanden.[16]
Religiosität: eine Einstellung und Praxis, abgeleitet aus religiösen Glaubenssätzen, mit oder ohne Bezugnahme auf eine Institution. Eine Verschiebung vom objektiven Bestand an Glaubenssätzen in die subjektive Perspektive des handelnden Gläubigen.
Frömmigkeit: eine hybride Form aus religiösen Glaubensätzen, wie sie die Institution vorschreibt, und aus individuellen Grundsätzen, die oft durch die kulturelle Tradition (Brauchtum) geprägt werden.
Spiritualität: Ausdruck einer individuellen Daseinsorientierung und Lebenspraxis, ohne Bezug auf eine Institution oder göttliche Instanz, manches Mal bezogen auf ein transzendentes Prinzip.[17]
PETER GROSS geht in seinem Essay der Frage nach, ob mit der Wiederkehr der Religion die genuine Erlösungsvorstellung des Christentums gemeint ist, oder ob es das ist, was alle Religionen kennen: die Feststellung der Unverfügbarkeit und die Botschaft des Trostes. Nach christlicher Auffassung ist der Mensch verstrickt in Schuld, ohne sich daraus alleine befreien zu können. Deshalb bedarf er eines Erlösers, der die Sühne für Verfehlungen und die Leiden der Welt auf sich nimmt, der erlöst durch seinen Kreuzestod. Durch eine säkularisierte Heilsbotschaft wird heutzutage aus Theologie aber Teleologie, veranlasst durch Fortschrittsideen. Der Perfektionswahn greift heilsgeschichtliche Momente auf, und der Verkündigungsengel wird zum Markt. Der Mensch nimmt seine Erlösung selbst in die Hand, alles soll verfügbar werden, sogar der eigene Tod. Viele spirituelle und therapeutische Angebote sind lediglich Travestien religiöser Heilsvorstellungen.
Christus soll nicht als Triumphator eines mirakulösen Welttheaters dramatisiert, sondern als Mensch wahrgenommen werden: vor, im und nach dem Tod, der seine Wundmale und damit seine Unvollkommenheit zeigt. Diese Unvollkommenheit ist Offenheit, in der alle Möglichkeiten latent vorhanden sind und Kultur und Religionen entstehen. Erst das Unvollkommene veranlasst, die Welt erträglich zu machen. Im Schwanken zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit greift der Mensch zur Religion. Wenn aber die Mortalität die Finalität besiegt, dann verschwindet die Hoffnung auf ein gutes Ende im Jenseits.
THOMAS RENTSCH behandelt die Unverfügbarkeiten und Entzogenheit aller Anfänge sowohl des eigenen Lebens wie der Welt, die existentielle Negativität als Leiderfahrung und die vorgängigen Sinnhorizonte, ohne die menschliches Leben keinen Sinn hätte. Dabei werden neben philosophischen (Kant, Heidegger) auch psychoanalytische (Freud) Argumente in die systematische Behandlung einbezogen. Es wird gezeigt, dass Unverfügbarkeit, Negativität und Sinnhorizonte in der religiösen Praxis wie in vernunft-kritischen Diskursen und Handlungsweisen als fundamentale Kategorien dienen. Für ältere Personen ist die Auseinandersetzung damit für ein gutes Alter unverzichtbar. Der Titel »Transzendenz in der Immanenz« markiert diesen Sachverhalt präzise.
HELMUT BACHMAIER geht aus von Georg Simmels erkenntnistheoretischen Überlegungen zur Religion. Danach ist Religion eine fundamentale, formale Kategorie, näherhin die Beziehung eines Bewusstseins auf ein ihm entzogenes Transzendentes. Es ist eine reine Beziehung, vergleichbar dem Denkprozess, der von seinem Inhalt verschieden ist. Diese Relation muss tätig hergestellt werden und ist dann offen für verschiedene kulturelle Besetzungen. Religiosität ist wesentlich eine innere Bestimmtheit des Subjekts; verschiedene Religionen sind jeweils verschiedene innere Verfassungen von Menschen.
»Beziehung« ist in Simmels Philosophie ein zentraler Begriff, da sich sein Relationalismus gegen jegliches ontologische Substanzdenken richtet. Außer »Beziehung« ist die »Wechselwirkung« (als metaphysisches Prinzip) und für den in Rede stehenden Zusammenhang die Kategorie der »Grenze«, final oder dialektisch als Schranke oder Übergang, einschlägig. In seiner späteren Metaphysik der »Lebensanschauung« werden Grenzen und ihre Transgressionen zu prominenten Denkfiguren.
Leben hat (logisch gesehen) eine antinomische Struktur aus der Kontinuität der Lebensdynamik und ihrer Sistierung durch geformte Individualitäten: Das Leben gestaltet sich durch Grenzen und die daraus resultierenden Formen. Im Hinausgehen des Lebens über diese begrenzende Formierung, im Akt der Selbsttranszendenz, überschreitet es Grenzen, so dass Grenze in diesem Akt präsent wird. Leben ist die reale Einheit (damit Überwindung der logischen Antinomie) von Transgression und Limitation und Transgression ad infinitum.
Für das Leben ist das »Hinausgehen des Lebens über sich selbst« fundamental, so dass ihm »die Transzendenz immanent« ist. Dadurch erhält die Religion (ebenso etwa die Kunst) einen Ort direkt im Lebensprozess. Das Diktum von der »Transzendenz in der Immanenz« liefert bei Georg Simmel den Anlass, Religion als eine Form des Lebens selbst zu verstehen.
ESFANDIAR TABARI entwirft eine agnostische Ethik, die als eine Ethik der Bescheidenheit in dreifacher Ausformung, als negative, positive und kooperative Bescheidenheitsregel, konkretisiert wird. Er leitet aus dem Agnostizismus eine kognitive, praktische und moralische Selbstlimitierung ab. Dabei sind Grenzerfahrungen in theoretischer und praktischer Hinsicht die Basis seines Entwurfs, die in Verbindung mit Sorge und Begierde im Rahmen des höheren Alters diskutiert werden. Die agnostische Ethik versteht sich dabei als eine kritische Ethik der Grenzerfahrungen des Menschen.
DOROTHEE VÖGELI folgt den Spuren von Ludwig Feuerbachs vernunfts- und religionskritischem Denkweg. Bei ihm wird der Grund der Religion in den Menschen verlegt. Vorstellungen von Gott sind Projektionen des Menschen; Gott ist das vergöttlichte Wesen des Menschen selbst: Gottesbilder sind Selbstbilder. Wegen dieser Identität kann es keine transzendente Welt geben. Diese Positionen wurden als Projektionstheorie und Religion in diesem Sinne als Anthropologie rezipiert. Eine andere Funktion von Religion – mit theistischem bzw. pantheistischem Einschlag – wird mit der sinnlichen Präsenz Gottes in der Natur (und als Urheber der Welt) erklärt. Mit seinem Sensualismus, einer neuerlichen Emanzipation der Sinnlichkeit, stellt er sich gegen Hegels intellektuelle Begriffswelt und wird dadurch zu einem Wegbereiter des Materialismus im 19. Jahrhundert. Viele religiöse Ansichten, besonders der Jenseitsglauben, sind für Feuerbach lediglich Trostphilosophien angesichts des Leidens in der Welt. Einen eigenen Stellenwert besitzen Feuerbachs Thanatologie und seine Liebesphilosophie. Am Ende seines Denkweges steht die Versöhnung mit der Endlichkeit, die keiner Erlösung mehr bedarf.
HEINZ RÜEGGER verknüpft in seinem Beitrag über das Alter aus christlicher Sicht theologische und gerontologische Argumente. Ausgangspunkt für seine Überlegungen ist die im Glauben begründete Annahme, dass das Dasein des Menschen eine Gabe Gottes ist, die nehmend angenommen wird, um sich selbst und andere annehmen zu können. Da der Mensch als homo viator lebenslang unterwegs ist, hat er darauf zu achten, was Gott ihm zur eigenen Entfaltung mitgegeben hat. Eine Abhängigkeit im Alter oder ein undurchschaubares Schicksal können im Vertrauen auf Gott als ein individuelles Geschick empfunden werden: Man muss zulassen, was mit einem geschieht. Das Ziel eines Christenmenschen ist »lebenssatt« zu werden, also sich zu entwickeln, ohne sein Leben, das Fragment bleibt, vollenden zu können. Diese Vollendung wird Gott überlassen. Das glaubende Vertrauen schenkt ein Gefühl von Geborgenheit und die Sicherheit, nicht verloren, sondern in einen umfassenden Lebens-, Sinn- und Erfahrungszusammenhang eingebettet zu sein. Erfüllt kann ein Leben im Alter sein, wenn sich dieses Gefühl einstellt und der alte Mensch inter- oder intragenerativ wirksam bleiben kann. Dann kann er im wahrsten Sinne in Ruhe »abdanken«. Die Gabe Gottes ist offen für jede Entwicklung in jedem Alter und mit der verliehenen Freiheit kann die Grenze des Lebens selbst bestimmt werden, so, wenn es darauf ankommt, in der letzten Phase mit der Grenze des Todes verantwortlich umzugehen.
MICHAEL BOLLAG legt in seinem Beitrag den Schwerpunkt auf das Menschenbild im Judentum und auf die älteren Menschen. Es ist ein Menschenbild, das die Nichtigkeit wie die Größe des Menschen kennt. Die Bedeutung der Heiligkeit des Lebens und der Generationenfolge wird ebenso einlässlich behandelt wie die komplexe Präsens Gottes im Menschen. Aus verschiedenen zitierten Stellen leitet er ein Altersbild und eine entsprechende Ethik und Praxis ab. Insbesondere dem Respekt einem alten Menschen gegenüber wird ein hoher Wert zugeschrieben. Außerdem wird auf die Bedeutung und die Rituale der Endlichkeit im jüdischen Glauben verwiesen. Über schöpferische Gestaltungskraft, Gottesebenbildlichkeit und über Barmherzigkeit sowie über das »göttliche Erbarmen« (Tora) wird gehandelt. Und die Maxime: Wer eine Person tötet, der vernichtet die ganze Welt, ganz ähnlich im Koran, dokumentiert den Humanismus der Religion.
RIFA’AT LENZIN beschreibt das Menschenbild im Koran. Abgeleitet von dem islamischen Glaubensbekenntnis (Shahada), stellt sie die Frage nach der Zweckbestimmung des Menschen. Dieser kann Nachfolger von früheren Geschöpfen sein, jedoch nicht Gottes Nachfolge antreten. Geburt, Sterben und Tod, aber auch Krankheit und Leiden, sind Ausdruck des göttlichen Willens. Die Einstellung zum Alter wird im Koran in Anweisungen zum Umgang mit den altgewordenen Eltern veranschaulicht.
Es kann noch erwähnt werden, dass die fünf Säulen des Islams als Pflichten des islamischen Glaubens zu sehen sind. Diese sind: das Glaubensbekenntnis, das rituelle Gebet, die Armenspende, die Wallfahrt nach Mekka und das Fasten im Monat Ramadan. Die 114 Suren im Koran sind aufgeteilt nach der Offenbarung in der mekkanischen (in Mekka) und in der medinischen (in Medina) Dekade. Bis heute spricht Gott mit den Menschen und erläutert seinen Willen durch den Koran. Nur Gott ist im Koran heilig, sonst niemand. Die Muslime rezitieren 99 Namen, der hundertste Name Allah gilt als der schönste. Im Islam wird von Rechtleitung (»rechtes Geleit«) in Sure 1 gesprochen.[18] Dies hat nichts mit dem Rechtssystem der Scharia zu tun. Vielmehr ist die Rechtleitung ein zentraler Begriff der islamischen Lebensführung. An vielen Stellen im Koran wird auf die Rechtleitung Bezug genommen. Dies wird auch an der Alltagskultur orientalischer Länder deutlich, die mit vielen islamischen Regeln durchdrungen ist.
Ein bedeutender Punkt der islamischen Verkündigung wird in Sure 21 benannt: Mohammed wurde von Gott ausschließlich als Botschafter der Barmherzigkeit für alle Welten entsandt.[19] Weit über hundert Mal kommt das Wort Barmherzigkeit im Koran vor. Barmherzigkeit (arabisch: Rahma) ist das Einzige, worauf sich Gott im Koran (Sure 6) verpflichtet hat. Das Fundament der Barmherzigkeit beruht auf Vergebung und Gerechtigkeit. Gott tritt im Koran nicht als Bestrafender auf, sondern als Verzeihender und Barmherziger, als ein Gott, der auf Beziehung ausgerichtet ist. Von daher ist die Gott-Mensch-Beziehung im religiösen Sinne eine Liebesbeziehung.[20] Gerade dieser verzeihende Gott ist für ältere Muslime, die z. B. in Europa als Gastarbeiter begonnen haben und sich mit zunehmendem Alter wieder ihrem Glauben zuwenden, bedeutsam. Oftmals haben sie in jüngeren Jahren gegen Glaubensgrundsätze oder Speisevorschriften verstoßen und können bei Gott Gnade und Verzeihung erlangen. Denn im Islam gibt es nicht die Beichte wie in der christlichen Glaubenspraxis. Der islamische Theologe Khorchide (Universität Münster) fordert, dass das Konzept der Barmherzigkeit in drei Dimensionen zu entfalten sei: in einer theologischen, in einer zwischenmenschlichen und in einer politischen. Ein Beispiel für die politische Dimension: Gott ist auf den Menschen zugegangen und hatte ihm von seinem Geiste eingehaucht. Von daher darf die »Würde nicht angetastet werden, sie ist eine göttliche Auszeichnung«.[21] In der Sure 17 heißt es dazu: »Wir haben den Kindern Adams Würde verliehen.«
Noch einige Hinweise zu den Jenseitsvorstellungen, denn sie nehmen einen großen Teil in der Verkündigung Mohammeds ein. Weite Passagen des Korans beschäftigen sich mit Fragen um das Jüngste Gericht, auch Endgericht genannt. Die Glaubensvorstellung ist geprägt von der Furcht vor dem Gericht, denn der Mensch muss vor Gott Rechenschaft über seinen Glauben, seine guten und bösen Taten ablegen. Durch den Tod trennt sich der Körper von der Seele. Die Seele stirbt nicht, sondern sie lebt ewiglich. Die Schilderungen im Koran von Paradies und Hölle (die brennende Hölle, die einem Transformationsprozess gleichkommt) sind symbolisch zu verstehen. Jedoch gehören die Wiederauferstehung – oftmals auch als Rückkehr bezeichnet – und das Endgericht zu den Glaubensgrundsätzen des Islams.[22] (B. S.)
RALPH KUNZ bezieht sich in seiner poimenischen Studie »Spirituelle und religiöse Begleitung im Alter« auf einen umstrittenen Sachverhalt: Der schwedische Psychologe Lars Tornstam prägte den Begriff der »Gerotranszendenz« und verstand darunter eine mit dem Alter gesteigerte Sensibilität für das Transzendente. Ob es tatsächlich eine Art »Wiederkehr des Religiösen« im Lebenszyklus gibt, ist jedoch umstritten. Vielleicht wäre es zutreffender – so der Vorschlag –, von einer Rückkehr des Spirituellen zu sprechen.
Religiosität ist für Kunz die individuelle Bedeutung einer praktizierten Religion im Sinne eines geschichtlich manifesten, kulturellen Symbolsystems. Spiritualität ist dagegen weiter und viel offener. Sie lässt sich nicht an ein bestimmtes Zeichen- oder Symbolsystem anbinden und über Inhalte – wie die Gottesidee – definieren. Sie ist eine radikal individualisierte Form von Religiosität.
Die religiöse Begleitung soll möglichst Sache der christlichen Seelsorger und Seelsorgerinnen sein, und Seelsorge ist ein Auftrag der Kirche, nämlich das Evangelium von Jesus Christus auszurichten. Entsprechend versucht die seelsorgliche Begleitung eine Begegnung mit Gott zu stiften. Die strikte Ausrichtung auf das Göttliche kann als spirituelle Dimension der christlichen Religiosität bezeichnet werden. Die allgemeine Spiritualität hingegen sichert nur die radikale Ungebundenheit und ist zwar nicht inhaltsleer, aber inhaltsfrei. Beide Formen der Spiritualität sind in der Seelsorge zu beachten, um den richtigen Zugang zu älteren Menschen in ihrer kulturellen und lebenspraktischen Verschiedenheit zu finden.
BERND SEEBERGER und MARTIN PALLAUF stellen Daten und Ergebnisse einer eigens für diese Veröffentlichung durchgeführten empirischen Studie vor, die verschiedene Formen der Einstellung zur Religiosität und ihrer Praxis in der Gegenwart dokumentiert. Dafür wurden ein Mixed-method-Design entwickelt und ein qualitativer Kategorienansatz gewählt: Ergebnisse der Untersuchung wurden geordnet nach Kategorien und Subkategorien und mit Ankerbeispielen plausibilisiert. Einige der Kategorien sind: Bedeutung der Bergpredigt, Frequenz der Gottesdienstbesuche, Rolle des Elternhauses, Lebensstile, Glaubens- und Alltagspraktiken, spirituelle Aktivitäten, Skandale der kirchlichen Institutionen. Ein historischer Rückblick auf einstige öffentliche und private Rituale stellt die Privatisierung von Religion kritisch dar.
GERD SCHUSTER untersucht die hybriden Formen des neuen Gemeindelebens als eine Art Mischung aus traditioneller Religiosität mit ihren Imperativen und sozial überkommenen, profanen Solidaritätsveranstaltungen. Diese neue Rolle des Pfarramtes im Gemeindeleben nimmt diesem die ursprüngliche Wort-Gottes-Hermeneutik zugunsten einer alltagspraktischen Seelsorge. Die historische Semantik »Gemeinde« ist eine wichtige kulturelle Erinnerung in diesem Zusammenhang. Für ältere Personen sind Themen wie Aktivierung, Trauerarbeit und Trost im Rahmen der Seelsorge vordringlich. Toleranz und Anerkennung des Anderen als Person war immer ein religiöser und kultureller Auftrag der Kirchengemeinden.
Die Zürcher Gefängnispfarrer FRANK STÜFEN und CHRISTOPH ROTTLER behandeln ein wenig traktiertes Problemfeld: Religiosität bei älteren Strafgefangenen. Sie verbinden dabei allgemeine Fragen des Strafvollzugs mit seelsorgerischen Aufgaben. Sie bilanzieren aus ihrer Perspektive Religion und damit auch Seelsorge als »selbstbeschützende, impulskontrollierende, empathiefördernde und friedenssichernde Funktion in einem prekären sozialen Umfeld«.
RALPH KUNZ befasst sich in »Erinnerungen des Stofflichen im Land des Vergessens« mit der spirituellen Substanz von Menschen mit Demenz. Er plädiert für eine Verschränkung des Demenz- mit dem Behinderten-Diskurs. Seine Leitthese: An Demenz erkrankte Menschen sind wie Menschen mit einer Behinderung zu betrachten. Und: Behinderung ist keine Krankheit. Statt »Behandlung« ist gerade im Gottesdienst und im Gemeindeleben auf »Begegnung« zu setzen. Dem stehen oft Abwehr und Ausgrenzung als Stigmatisierung entgegen. Christliche Spiritualität betont dagegen die Verbundenheit und die Mitmenschlichkeit als kulturelles Erbe des Christentums.
Dieser Stoff des Glaubens bedarf einer besonderen Präsentation in Zeichen bzw. Symbolen (auch akustisch als Gesang, Musik) angesichts des Erinnerungsverlustes bei Demenz und weil die Sprache als religiöse Kommunikation nicht mehr oder nur noch eingeschränkt zur Verfügung steht. Begegnung wird erlebt bei gemeinsamen Feiern, wo etwas erfasst, berührt, bewegt – und damit erinnert wird, wie bei der sinnlichen Präsenz der Weihnacht. Sakramente sind eine Brücke zwischen der materiellen und der geistigen Welt, und Symbole wie Wasser, Brot, Wein oder Licht erinnern an den Glaubensinhalt. Wichtig ist der Zugang zum Innern des Menschen, zu seiner Seele. Die Bedürftigkeit im seelischen Erleben kann das Sehnen nach Gotteserfahrung auslösen.
Die biblische Spiritualität erfordert Inklusion, und das Heilige zeigt sich in der Anerkennung des Anderen, dass er Mitglied der Familie Gottes ist. Dies ist auch eine Erinnerung an den Austausch zwischen Gott und den Menschen, dass in der praktischen Humanität alle in die heilige Gemeinschaft einbezogen sind. Somit ist auch der Gottesdienst nicht bloßes Ritual, sondern eine gelebte, heilige Gemeinschaft aller, die besonders die Schwachen mit einschließt. Inklusion ist eine heilige Sache. Auch das ist Teil des kulturellen Gedächtnisses der christlichen Religion.
Spirituelle Wahrheit wird also nicht argumentativ, nicht verbal-begrifflich vermittelt, sondern handelnd emotional-sinnlich erlebbar gemacht. Dies ist der Kern ritueller Kommunikation. Das Stoffliche (Zeichen, Symbole) erweckt die Erinnerung an den Stoff der christlichen Erzählung, die Botschaft der Mitmenschlichkeit.
CHRISTIAN MÜLLER-HERGL stellt in seiner wissenschaftshistorischen Übersicht zur Bedeutung der Spiritualität bei dementiell erkrankten Menschen fest, dass in klinischen und pflegerischen Versorgungssettings religiöse und spirituelle Bedürfnisse wenig Beachtung gefunden hätten. Ein Muster ist die Orientierung am Rückgriff auf infantiles Bindungsverhalten, um Geborgenheit und Vertrauen sicherzustellen. Dieses Bindungsverhalten wird dann auf einer anderen existentiellen Ebene als spirituelle oder religiöse Form gedeutet. Wachsenden Bindungsbedürfnissen infolge von Dissoziation und Diskonnektivität bzw. wegen der fragmentierten Horizonte von Ich, Welt und Wertordnung kann durch transzendente Konstruktionen entsprochen werden.
Religiöse Bewältigungsstrategien (Coping) haben einen positiven Einfluss auf viele Aspekte der Gesundheit. 72 % aller Studien, die sich mit dieser Fragestellung beschäftigt haben, zeigen eine positive Wirkung beim Ausmaß an psychischen Erkrankungen.
Mit zunehmendem Alter stellen spirituelle Reminiszenzen eine Art Programm dar, um bei Krankheit, Depression oder Demenz so etwas wie eine entlastende Biographie zu entwickeln durch einen übergreifenden Verstehens- und Deutungshorizont, der durch Religion geliefert wird. Menschen, die vor ihrer Erkrankung nur ein geringes Interesse an Religion hatten, widmen sich in der Frühzeit der Demenz oft spirituellen Fragen. Einige finden Trost darin, dass ihr Schicksal Ausdruck göttlichen Willens sei. Umdeutungen der Demenz als Herausforderung oder Fügung sind nicht selten.
Es wird empfohlen, so etwas wie »Zeitkapseln« rechtzeitig zusammenzustellen, in denen für die Person wichtige Informationen, ihre Lebenserfahrung und Überzeugungen dokumentiert sind, die dann später Anhaltspunkte für die Kommunikation und Interaktion bilden. Die Spiritualität der Patienten ist zurückgebunden an die Spiritualität der begleitenden Person. Dieser ist es deshalb aufgegeben, ihre eigenen existentiellen Fragen zu klären.
Zu MÜLLER-HERGLS Essay: Demenz als Herausforderung der Theologie. Christlicher Glaube bezieht sich auf die Geschichte Gottes mit den Menschen und auf deren Aufgabe, sich dessen zu erinnern. Beide müssen einander eingedenk sein. Diese wechselseitige, dialogische Beziehung wird in Geschichten erzählt. Kann aber jemand mit Demenz und seinem Gedächtnisverlust überhaupt noch mit Gott in Beziehung treten?
Einmal ist es die religiöse Gemeinschaft, in der die Erinnerung aufrechterhalten wird, und dann ist es vor allem die Erinnerung Gottes an die Menschen, die bleibt und in der ein an Demenz Leidender aufgehoben ist. Gott bewahrt die Identität eines jeden Menschen, auch wenn jemand diese für sich selbst verloren hat. Die besondere Beziehung zwischen Gott und Mensch wird erst in einem christologischen Ansatz deutlich: In Christus erscheint Gott in seiner »bedingungslosen Zuwendung« zu allen Menschen. Und Gott schafft in sich einen Raum für alles Leid. Christus am Kreuz ist auch der Christus mit Demenz. Ein Mensch soll nie in seiner Gebunden- oder Begrenztheit, sondern in dem zu sehen sein, was er war und was er sein könnte. Er soll also in seinen Möglichkeiten bzw. in seiner Vollendungsperspektive gesehen werden. Dazu gibt der Glauben Anlass und Trost für alle Leidenden.
In ihrem Beitrag referiert BRIGITTE STEMMER verschiedene Studien zu Hirnaktivitäten, einschließlich Stimulationen, und Hirnstrukturen bei gesunden und kranken Probanden angesichts ihrer religiösen Einstellung und Praxis. Dabei werden die zuweilen unklaren Fragestellungen und die z. T. methodischen Mängel kritisiert. Es scheint so zu sein, dass die Neurowissenschaften beim Thema Religion und Religiosität nur zu quantitativen Ergebnissen kommen, die auch bei verschiedenen andersartigen sozialen Handlungen messbar wären. Vielfach werden nur einige Korrelationen notiert, aber keine Kausalitäten gefunden, so dass die Untersuchungen sehr vage bleiben.
ERNST PETER FISCHER gibt einen wissenschaftshistorischen Überblick über das Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Glauben anhand von religiösen Einstellungen bedeutender Naturwissenschaftler (Darwin, Planck, Einstein, Bohr, Pauli, Hawking und Dawkins). Der Reigen reicht von traditionellem, positivem Gottesglauben bis zu dessen forcierter Negation.
Im September 2021
Nicht ohne Grund wird von einer Wiederkehr der Religion im dritten Jahrtausend geredet. In schneller Folge werden Symposien veranstaltet, Buchreihen gegründet und interreligiöse Dialoge angestoßen. Religion füllt ganze Abteilungen in den Buchhandlungen, der emeritierte Papst Benedikt schreibt Bestseller, der Dalai Lama ziert Frontseiten. Und der Islam, der noch vor wenigen Jahrzehnten ein orientalisches Märchen war, ist buchstäblich unter uns gekommen.
Die Rede von einer Wiederkehr hat etwas Tröstliches. Etwas lange Zeit Verdrängtes und Überwundenes scheint den Platz wieder zu besetzen, den ein überforderter Mensch selber einzunehmen gewillt war. Gleichwohl ist die Rede von einer Wiederkunft seltsam ungenau. Was ist damit gemeint? Genügt es, von einer Wiederkehr zu reden, wenn der Papst Hunderttausende begeistert? Reicht es, wenn an überirdische Kräfte und kosmische Energien geglaubt wird und die naive Standardfrage der religionswissenschaftlichen Untersuchungen, ob es höhere Wesen gibt, von einer Mehrheit mit Ja beantwortet wird? Sind die Kreuzlein an den Hälsen der Popstars und Fussballer Ausdruck einer neuen Religiosität? Oder ist die Frage nach einer Wiederkehr nicht ernster, nüchterner und radikaler die Frage nach einer Wiederkehr jener Religion, die Europa 2000 Jahre lang geprägt hat, nach einer Wiederkehr der Inhalte und der Fundamente des Christentums? Und zwar bei uns, im alten Europa? Und scheint nicht, mit dem Älterwerden der Bevölkerung und dem Wegsterben jener Altersgruppen, die noch im streng religiösen, im christlichen Milieu groß geworden sind, die überkommene Religion, das Christentum, zu verblassen?
Im Zentrum der christlichen Religion steht die Erlösungsvorstellung. Die nicht enden wollenden Versuche, die Weltreligionen an einen Tisch zu bringen, sind Ausdruck von schwer zu vereinbarenden Eigenheiten der religiösen Bekenntnisse. Alle Religionen bearbeiten das dem Menschen Unverfügbare, insbesondere das Sterben und den Tod, und versehen es mit Trost. Vergegenwärtigen wir die christliche Heilsbotschaft, leuchtet in ihrer Mitte die Erlösungsvorstellung. Sie ist etwas ebenso Einzigartiges wie Eigentümliches. Sie ist, wie es Hans Urs von Balthasar genannt hat, das Blutzentrum der christlichen Botschaft. Ihr zufolge sind die Menschen in Schuld verstrickt und kämpfen mit ihrem am Ursprung der Menschheit selbsterzeugten Leid, ohne sich aus eigener Kraft davon befreien zu können. Sie brauchen einen Messias, der ihre Sünden sühnt, einen Erlöser, der ihnen hilft. Gott sendet seinen Sohn Jesus in die Welt, der stellvertretend die Leiden der Menschen auf sich nimmt und den Menschen durch seinen Kreuzestod erlöst. Das Kreuz, das hing noch in meiner Schulzeit in der Mitte des letzten Jahrhunderts in allen Schulstuben und war selbstverständlicher Bestandteil der Wohnkultur und Symbol der Erlösung.
Mit der Erlösungsvorstellung verknüpft waren im Kinderkopf auch angstmachende Implikate. Die Eschatologie, wie sie im letzten Buch der Bibel, in der Offenbarung des Johannes, aufgeschlagen wird, offenbart eine furchterregende letzte Zeit. Mit der Verfinsterung der Sonne und dem Untergang der Welt, mit sieben Siegeln und sieben Plagen und einem zum letzten Kampf im blutroten Gewand heranschreitenden Christkönig, der richtet und die Menschen errettet oder verwirft. Dieses alles Bisherige korrigierende und rächende Finale und das Schicksal der Menschen in ihm ist unverfügbar, endgültig, unbedingt, ohne Rekursmöglichkeit. Die Weltgeschichte spitzt sich auf diesen Moment hin zu. Sie bäumt sich gewissermaßen ein letztes Mal auf, entlässt die auferstehenden Menschen aus ihren Gräbern und unterwirft sie dem Richtspruch Gottes. Die Seele geht nach dem Einzelgericht ein in den Himmel, in die Hölle oder ins Fegefeuer, wo sie nach der Abrechnung ihres Lebens die endzeitliche Auferstehung erwartet. Eine Szene, die im Beichtstuhl gleichsam geübt worden ist mit der Aufzählung der Sünden, mit der Bitte um Vergebung und dem Empfang der Buße.
Kehrt Christus als Erlöser mit seiner Heilsbotschaft wieder? Das ist doch die Frage, die gestellt werden muss. Oder ist die heilsgeschichtliche Substanz des Christentums dem modernen Menschen fremd geworden? Stirbt sie aus mit den älter werdenden und von der Bühne des Lebens abtretenden Kirchgängern? Kein Geringerer als Joseph Ratzinger hat vor Jahrzehnten schon kritisch gefragt, ob Erlösung mehr als eine Phrase sei, wenn es selbst den Gläubigen schwerfalle, dahinter noch eine Wirklichkeit zu entdecken. Der Heilsglaube lässt sich schwer wiederbeleben. Die Erlösungsvorstellung ist so stumpf geworden, dass die Religionsforscher sich schwertun, Fragen dazu zu formulieren. Vieles gäbe es übrigens zur Erlösungsvorstellung zu sagen. Auch Gutes. Ein Gelassenwerden in einer Welt, der die Erlösungsvorstellung wie der Stachel im Fleisch gezogen ist! Der Mensch in seiner auf Gnade angewiesenen Ohnmächtigkeit! Und die dennoch gegenüber jeder tragischen Weltauffassung bleibende Hoffnung auf Erlösung.
In der modernen Welt lebt die christliche Heilsbotschaft in verweltlichter Form weiter. Wie immer die vom Apostel Johannes niedergeschriebene Offenbarung, das letzte Buch der Bibel, heute gedeutet wird, sie prägt die säkularisierte Moderne zutiefst. Aus Theologie wird Teleologie, und die Zukunft besetzt jenen Platz, der im christlichen Glauben dem Himmel vorbehalten war. Der moderne Vervollkommnungs- und Perfektionierungswahn, überhaupt die Fortschrittsvorstellung, zehrt vom Ferment einer christlichen Heilsgeschichte. Der westliche Progressismus, dessen Verkündigungsengel Markt und Demokratie sind, ist die strenge Fortführung des heilsgeschichtlichen Programms auf Erden. Die ungeheuren Energien, die in den letzten Jahrhunderten im westlichen Kulturkreis freigesetzt wurden, und das gewaltige, aber auch angstmachende Schauspiel der westlichen Zivilisation sind Resultat eines christlich geprägten Futurismus. Mit dem Unterschied allerdings, dass nun ein Jenseits im Diesseits in Aussicht genommen und die Menschen im Zeichen der in der Aufklärung gewonnenen Autonomie ihre Erlösung selber bewerkstelligen müssen. Jeder hat sein eigener Heiland zu sein. Der Mensch nimmt, wie Robert Musil den »Mann ohne Eigenschaften« zeichnet, den Ausbau seiner Persönlichkeit selber in die Hand. Wer in den Himmel will, will lebendigen Leibes in den Himmel. Alles Unverfügbare, das die Weltreligionen bearbeiten, will verfügbar gemacht werden.
Die Vorstellung eines Endes der Geschichte, eines Welt-Finales und die Hoffnung auf eine künftige irdische Weltgemeinschaft, in der alle ein Herz und eine Seele sind, ist nicht erloschen. Die Weltorganisationen legen Zeugnis davon ab. Die Welt will verbessert werden. Der Mensch nimmt sich selber in Angriff, will sich vervollkommnen, selbst erlösen und letztendlich den Tod überwinden. Er strebt eine irdische, ewige Seligkeit an. Die weltliche Unsterblichkeitshoffnung wird medizinisch genährt und spekulativ befeuert. Schon werden die ersten Toten eingefroren und für ein künftiges ewiges Leben auf dieser Welt vorbereitet. In der weltlich werdenden Heilsvorstellung erkennt man aber deren grausame Züge. Die erdrückende Überforderung der Menschen, den Perfektionierungswahn, die Zurichtungsprogramme, die genetischen Träume, den Transhumanismus. Die Fluchten in toxische und andere Selbsterregungspraktiken. Die gewaltsamen und kriegerischen Praktiken, die eigne Freiheit um jeden Preis durchzusetzen …
Die ins Weltliche abgesunkene Heilsvorstellung ist desavouiert durch die politischen Erweckungsbewegungen. In ihnen pervertiert die Erlösung zur Endlösung. »Die Leute glauben nicht mehr an Prinzipien, werden aber periodisch an Erlöser glauben«, so Jakob Burckhardt lange vor dem Nationalsozialismus, der die christliche Symbolik und Terminologie für seine Weltmachtsträume einsetzte. Weltliche Heilsbewegungen haben mit dem Ziel der Erlösung vor Augen im letzten Jahrhundert die Hölle auf Erden bereitet. Sie ersetzten Erlösung durch Endlösung. Wieder und wieder treten weltliche Messiasse auf, die das Blaue vom Himmel versprechen. Während die weltliche Heilsbotschaft der Geschichte noch Richtung und Ziel verleiht, ist die christliche Heilsbotschaft, wie sie sich verdichtet im Vater Unser und im Glaubensbekenntnis findet, erkaltet. Sie ruht tief in den Heiligen Büchern.
An ihrer Stelle breiten sich diesseitige Spiritualitäten aus. Insofern erleben wir eine Redivinisierung, eine Wiederverzauberung und Vergöttlichung von Welt und Natur. Religiosität kehrt nicht wieder als christliche Heilsbotschaft von Tod und Auferstehung, sondern als religiöse Travestie, als Wellness für die dem Christentum verlorengegangene Seele. Die Titel in den Buchhandlungen, die unter Esoterik und Lebenshilfe firmieren, demonstrieren das ganze Spektrum und umfassen die alternative Heilkunde gleichermaßen wie den achtfachen Pfad im Buddhismus.
Zweifellos befördert auch das Nachlassen der körperlichen Kräfte das Hervortreten einer wie immer gearteten Spiritualität. Nie gab es eine Zeit, so weit wir in die Geschichte zurückschauen, in der so viele Menschen so gut alt werden konnten. Innerhalb eines Jahrhunderts hat sich die Lebenserwartung mehr als verdoppelt und sind fast dreißig Jahre an Lebenszeit zugewonnen worden. Mehr als in den zehntausend Jahren vorher. Gleichzeitig hat sich freilich mit der Immanentisierung der Heilsgeschichte, der Entchristlichung und Erschöpfung des Jenseitsglaubens die Gesamtlebenszeit drastisch verkürzt. Die gewonnenen Jahre sind, wie der Sozialhistoriker Arthur E. Imhof anmerkt, gegen eine nie endende Ewigkeit eingetauscht worden. Damit wird, ein nicht zu unterschätzender Vorgang, das Altern und die letzte Phase des Lebens seiner Sinngebung beraubt. Eines Sinnes, der darin bestand, sich auf ein jenseitiges Leben vorzubereiten und in dessen Mitte die Rituale für den Übergang und den Eintritt ins ewige Leben standen. Ein angekündigter Tod mit dem Empfang der Sterbesakramente, letzter Ölung, Buße, Kommunion und dem Abschied von den Familienangehörigen war ein guter Tod.
Noch vor einem halben Jahrhundert hatten gläubige Katholiken Versehgarnituren und das Versehkreuzlein aus Metall in der Nachttischschublade. Heute sind es Tempo-Taschentücher und anderes. Und noch in den 60er und 70er Jahren konnte man auf dem Land den Versehgang sehen und hören, auf dem der Pfarrer oder der Kaplan mit Ministranten und dem Bimmeln einer Messglocke unterwegs zu einem Sterbenden waren. Wenn heute oft nur noch die Totenglocke als letztes Relikt einer alten Trauerkultur verbleibt, ansonsten aber meist nicht mehr zu Hause gestorben wird, der Sarg geschlossen bleibt und die Trauerzeremonie in zehn Minuten vorbei ist, dann sind das eigentlich Zeichen der oben geschilderten Zeit eines Verschwindens der jenseitigen Ewigkeit, eines Verblassens der überkommenen Vorstellungen vom Tod als einem Übergang in eine andere Welt. Die Frage ist, inwiefern der moderne Mensch mit einem Tod ohne Jenseits, ohne Übergang fertig wird und ob ihm die gewonnenen Jahre dazu verhelfen.
Dennoch: Die gewonnenen Jahre sind vermutlich ein Glücksfall nicht nur für das Altern, sondern auch für das Sterben. Empirische Studien dazu fehlen. Denn in der christlichen Vormoderne war der zu frühe Tod von der Säuglings- und Kindersterblichkeit bis zum frühen Tod der Eltern und Geschwister ein Problem, heute ist es nicht selten der zu späte. Das lange Leben birgt häufig auch ein langes Leiden in sich, ein Leiden, dem die Vorstellungen auf ein Recht der Selbstbestimmung über das eigene Ende zu genügen versuchen. Die gewonnenen Jahre bieten aber auch neue Möglichkeiten, in einer Art Lebensmoratorium über Vergangenheit und Zukunft nachzudenken. Damit verbunden ist eine Abkehr von Zukunftsillusionen und auch eine Annahme der Relativität und Endlichkeit. »Zum Alter – der Lebensperiode des Zukunftsschwundes – gehört, dass es uns – aus zunehmendem Mangel an Zukunft – immer schwerer fällt, Zukunftsillusionen zu entwickeln und aufrechtzuerhalten« (Odo Marquard). In der im Gleichschritt mit der Zunahme der Lebenserwartung anschwellenden Ratgeberliteratur enden die guten Ratschläge für ein gutes Altern regelmäßig in der Aufforderung, dieses zu akzeptieren und anzunehmen. In einer Welt- und Todesanschauung, in der der Tod der Sünde Sold ist, wie im Christentum (Röm. 6,23), und in der der Mensch erst nach dem leidvollen diesseitigen Leben einer ewigen Glückseligkeit teilhaftig wird (sofern er nicht dem ewigen Unheil verfällt), war das alles andere als einfach. Endlichkeit und Tod konnten nicht in dieser Weise angenommen werden. Der Tod war ein Todfeind, dem die christliche Feindesliebe verwehrt blieb.
Auch die postmoderne Pulverisierung der Jenseitsvorstellungen trägt wohl zu einem eher angstfreien Tod bei. Hatte doch die christliche Erlösungskonzeption Bestandteile, die, wie Hölle, Jüngstes Gericht oder die Plagen der Endzeit, dem Kind mehr Angst als Zuversicht bereiteten. Eine ungewisse Zukunft stimmt vermutlich tröstlicher als eine gewisse. Besonders, wenn diese zwar ein Jenseits vorsieht, das nicht nur Heil, sondern auch Unheil enthält. Inwiefern das Sterben, das sich immer noch ein Großteil der Bevölkerung aus Angst vor Schmerz und Leid als ein schnelles und unerwartetes wünscht, durch die segensreiche Tätigkeit der Hospizbewegung und der Palliativmedizin gelassener gesehen werden kann, wird sich weisen. Noch herrscht der paradoxe Widerspruch in der modernen Gesellschaft, dass die Menschen möglichst lang leben, aber möglichst schnell sterben wollen. Ob Alzheimer, wie es David Shenk in seinem Buch »The Forgetting« glaubt, den Sinn in der Verlangsamung des Sterbens und Abschiednehmens findet, bleibe dahingestellt. Alles hat, wie es der Prediger Kohelet formuliert, seine Stunde, und es gibt eine Zeit für jegliche Sache unter der Sonne: »Eine Zeit für die Geburt und eine Zeit für das Sterben, eine Zeit zu pflanzen und eine Zeit, das Gepflanzte auszureissen« (Prediger 3, 1,2). Heute haben wir mehr Zeit für das Leben. Und eigentlich auch für das Sterben.
Die sittliche Bewältigung des Lebens verlangt immer die Annahme der jeweiligen Phase, so der katholische Theologe Romano Guardini in seiner Schrift »Die menschlichen Lebensalter«. Der Mensch muss, so Guardini, wenn er noch in der Weisheitsreife des Alters steht, »den kommenden Tod annehmen, muss auf ihn zu leben und das, was ihm jeweils an Zeit, Kraft und Leistung gewährt ist, als Geschenk verstehen«. Gegenüber der Todfeindschaft der überkommenen christlichen Lehre ist diese Auffassung schon entschieden modern, ein Resultat einer bislang unvorstellbaren Alterung, einer Alterung, in der man in einer Art Moratorium Zeit findet, über die Jugendsünden nachzudenken. Der durch die christliche Heilsauffassung befeuerte Vollendungs- und Vervollkommnungsdrang, die Vorstellung einer jenseitigen Erfüllung der Geschichte, eine Vorstellung, die auch auf den Lebenslauf abgefärbt hat, ermattet.
Die Mortalität besiegt die Finalität, so auch der Philosoph Odo Marquard. Wer altert, muss angesichts seiner eigenen Person der Zukunftsillusion entsagen, wird illusionsresistent und beginnt, die Wirklichkeit so zu nehmen, wie sie ist, und nicht, wie sie sein müsste oder sein könnte. Man könnte vielleicht auch sagen, die überkommene jenseitsorientierte Religion war ein Trost für die Zumutung eines frühen und plötzlichen Todes, für den es keine irdische Entschuldigung zu geben schien, während dem Tod in der Moderne, der spät kommt und der, man wagt es kaum zu sagen, häufig erwartet und herbeigebetet wird, eher ein Freund ist, den man nicht besiegen, sondern höflich empfangen muss.
Das bedeutet keineswegs das Ende des Christentums. Sondern nur das Ende einer nicht mehr in den Herzen der Menschen verankerbaren Auslegung. Die Auferstehung lässt sich anders deuten. Auch die Bibel lässt Auslegungsspielräume zu. Christus nicht als übermächtiger Triumphator eines mirakulösen Weltgeschehens. Sondern Mensch vor, im und nach dem Tod. Wenn nicht der Karfreitag, sondern Ostern, nicht die Passion, sondern die Auferstehung in den Vordergrund gerückt wird, wird das auferstehende Leid gezeigt. Auf der 15., in den Stationswegen häufig unterschlagenen Tafel aufersteht Christus mit seinen Wundmalen. Er zeigt seine Verletzungen. Seine Stigmata und damit seine Unvollkommenheit.
Was, wenn der Mensch seine Unvollkommenheit, seine Endlichkeit akzeptieren würde, ohne fortwährende Endlosigkeits- und Erlösungsträume? Ist denn die Unvollkommenheit als Mangel an Gewissheiten nicht zugleich seine ihn aus dem Reich der Natur heraushebende Weltoffenheit? Und ist diese Weltoffenheit nicht ein Geschenk und keine Strafe? Und wäre Endgültigkeit und Vollkommenheit, ewiges Leben und Erlöstheit nicht Gleichgültigkeit? Ganz zu schweigen von den realen Folgen für die Weltbevölkerung. Die grandiose Vielfalt der Kulturen und Techniken, auch die Vielfalt der religiösen Bekenntnisse, ist Resultat der Unfertigkeit und der Unvollkommenheit der Menschen. Es gäbe keine Bach-Kantaten, keine Skulpturen Michelangelos, keine Bilder von Giotto, keine moderne Kunst. Es gäbe kein Leid und keine Freud. In einer erlösten, in einer vollkommenen Welt würde nicht geübt, geprobt, nicht versucht, das Unmögliche möglich zu machen. Es gäbe keine Geschichte nicht enden wollender Versuche, die Welt erträglich zu machen. Es gibt kein Glück ohne Leid, kein Leben ohne Tod, keine Geburt ohne Schmerz. Auch die Religionen sind Seufzer des Menschen.
Wir alle müssen sterben. Der Tod ist ein Ende, das alle trifft. Deshalb verlangt er wie keine andere Lebenstatsache nach einem Sinn. Dieser war in der christlichen Heilsbotschaft die entscheidende Zeit des Übergangs vom Diesseits ins Jenseits. Die Todesanschauung mit ihren Symbolen ist am Erlöschen. Der moderne Mensch lebt länger und verliert die Zukunftsillusionen. Nicht, wenn er seine Endlichkeit demütig als Geschenk Gottes deutet und annimmt, nicht als Strafe, und die eigene Schuldigkeit nicht in urvordenkliche Zeiten abschiebt. Für den, der das Imperfekte akzeptiert und das Totalitäre von Erlösungsträumen fürchtet, wird auch sein Verhältnis zum Tod ein anderes. Die Menschen, wie man es in radikaler Verkürzung sagen könnte, werden durch die Säkularisierung und das lange Leben gewissermaßen erlöst von der Erlösungsvorstellung. Der Mensch ist in den Mittelpunkt gerückt, der, seit es ihn gibt, mit seiner Fehlbarkeit und Vorläufigkeit ringt, ohne aufzugeben. Und ohne das Perfekte, Vollkommene und Endgültige zu träumen.
Das bedeutete keineswegs Weltabwendung und Weltaufgabe. Und, wie gesagt, keineswegs ein Ende christlicher Werte. Überall stellt die Gesellschaft Fragen, die wir zu beantworten haben. Überall gibt es Not und Leid. Aber die Antworten sind in einem christlichen Sinne vorläufig, bescheiden, demütig, nie endgültig und auch nie endgültig richtig. Dass wir unerlöst oszillieren zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit ist unser Vorteil. Und auch der Ursprung aller Religiosität. Wäre doch Erlösung von allem Übel das Ende einer Welt, wie wir sie kennen und in ihrer Unerschöpflichkeit, ihren Unterschieden und ihren Herausforderungen auch lieben.
Der Mensch der Vormoderne wurde vom Tod überrascht und unsanft ergriffen. Der Tod holt sich seine Opfer ohne Rücksicht auf Rang und Namen. Wie in den mittelalterlichen Darstellungen von Totentänzen greift er sich unschuldige Kinder, Arme und Reiche, Bettler und Könige gleichermaßen aus der Mitte des Lebens. In der Moderne mit ihrer unerhörten Steigerung der Lebenserwartung wird der Tod nicht mehr oder nicht mehr nur als Todfeind, als Strafe für eine urvordenkliche Sünde gesehen. Sondern nicht selten als Gast und als Erlöser. Die Dehnung des Alterns lässt den modernen Menschen ein anderes Verhältnis zum Sterben und zum Tod gewinnen. Der Tod steht irgendwie selbstverständlich am Ende eines heute meist, verglichen mit früher, langen oder sehr langen Lebens, er ist nicht mehr ein Feind, den es zu besiegen gilt, sondern ein, angesichts der eigenen Verfassung und – vielleicht auch – des Zustandes der Welt, Erlöser von unlösbaren Problemen.
Dass so viele Menschen in der modernen Gesellschaft so gut alt werden können, befördert somit eine gelassenere Einstellung zum Sterben, und eine neue Religiosität, die die Endlichkeit nicht zu überwinden sucht, sondern sie annimmt, trägt ebenfalls dazu bei. Diese auch aus der demographischen Entwicklung herrührende Umdeutung des Sterbens und der Endlichkeit bleibt gewiss nicht ohne Folgen für die Substanz der christlichen Religion, für ihre Welt- und Todesanschauung. Jedenfalls in den säkularisierten Ländern des Westens. Denn der Großteil der christlichen Gläubigen befindet sich noch am Anfang einer demographischen Evolution, die von Bevölkerungen mit hohen Geburtenraten und niedriger Lebenserwartung zu solchen mit niedrigen Geburtenraten und hoher Lebenserwartung führt. Für die Bewohner der Moderne gilt der eigentümlich moderne, freilich mittelalterliche Sinnspruch »Ich komm, weiss nit woher; ich geh, weiss nit wohin, mich wundert, dass ich fröhlich bin«. Denn je freiheitlicher und ungebundener Menschen handeln, und je mehr die überkommenen Gewissheiten im Säurebad der Moderne schmelzen, desto ungewisser wird die Zukunft. Das ist, was das Sterben und den Tod betrifft, auch tröstlich.
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Im Folgenden will ich aus philosophischer und vernunftkritischer Sicht nicht die Lehren und Praxen spezifischer Religionen, des katholischen und evangelischen Christentums, des Islams, des Judentums, des Buddhismus, des Taoismus, oder die der großen mystischen Traditionen im einzelnen thematisieren, sondern es sollen Grundformen religiöser Praxen ohne spezifische traditionelle Bezüge freigelegt und in ihrer sinnvollen, für das Altern tragfähigen Bedeutung und Funktion analysiert werden.
Im Kern der religiösen Traditionen lässt sich ein Bewusstsein der Endlichkeit unseres natürlichen Lebens, seiner Kürze und Zeitlichkeit und der Unverfügbarkeit aller seiner Sinnbedingungen freilegen. Wir sind ohne unser Zutun auf diese Welt gekommen. Weder konnten wir entscheiden, wo dies geschah, noch, wann und unter welchen Umständen. Weder konnten wir uns Mutter und Vater aussuchen noch all die Lebensumstände, mit denen wir dann von Anfang an jeden Tag konfrontiert sind und bleiben. Und dennoch gilt bereits für den Anfang unseres Lebens, was in allen Religionen auf vielfältige Weise kulturell, sprachlich, kultisch, musikalisch und zeremoniell vergegenwärtigt wird: Dieses unverfügbare Geschehen ist Basis, Grundlage, Fundament, Voraussetzung schlechthin für alles, was wir später sinnlich erfahren, erleben, fühlen, begreifen und denken können. Ohne das – religiös gesprochen – Wunder unserer eigenen, individuellen Existenz gäbe es – für uns – schlechthin nichts. Unsere uns vorgängig selbst ermöglichende Existenz ist die fundamentale Basis für alles, was wir dann erleben, erfahren und tun können. Wir können daher aus philosophischer Sicht den berühmten Satz des Descartes, »ich denke, also bin ich« (»Cogito, ergo sum.«) umkehren: Sum, ergo cogito, ich bin, also denke ich. Meine Existenz ist die Voraussetzung schlechthin für alles, was ich dann denke, erfahre, fühle und erlebe. In den Religionen ist daher zu Recht und nachvollziehbar von der Schöpfung, ja von der Schöpfung aus dem Nichts – creatio ex nihilo – wiederum auf vielfältige Weise die Rede: in Sprachen der Verkündigung, des Lobens und des Preisens des Wunders der Schöpfung als Geschenk, ja als Gnade.
Doch damit keineswegs genug: Indem wir geboren werden, kommen wir ja, jeder von uns als ein einmaliges, einzigartiges Individuum – wohin? Ja, auf die Welt. Und hier setzen die großen religiösen Traditionen wiederum an mit der Akzentuierung des allem anderen vorgängigen, unableitbaren Wunders des Seins, mit Heidegger formuliert: des Seins des Seienden. Denn das Wunder der Schöpfung, das Urphänomen, dass überhaupt etwas ist, lässt sich nicht erklären, ableiten oder durch welche Forschungen auch immer herausfinden. Wir wissen nicht, woher das All, das Universum mit all seinen Galaxien kommt, wir wissen nicht, wann es entstanden ist, oder ob es überhaupt nicht entstanden ist, sondern immer schon da war. Unerklärlich bleibt schlechthin, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts, das Sein des Seienden (Heidegger). Dieses Unableitbare ist und bleibt auch die Voraussetzung für all unser Denken und Handeln, für alles, was immer auch geschehen mag.
Nun lässt sich, auch aus vernunftkritischer Perspektive, diese unableitbare Dimension zwar nicht bezweifeln, jedoch lässt sie sich ignorieren. Wir vollziehen, durchaus sinnvoll, unsere menschliche Lebenspraxis, ohne uns auf diese unerklärliche Dimension überhaupt zu beziehen. Wenn wir jedoch auf irgendeine Weise in einer der religiösen Sinntraditionen leben und denken, dann vermögen wir es, uns zu dieser Dimension bewusst und explizit zu verhalten, existentiell-praktisch, kulturell, sprachlich, auch in und durch Formen der Kunst. Denn dann können wir danken, dass wir geboren wurden, dass es uns gibt, wir können der Freude Ausdruck geben, dass wir leben und handeln können, wir können im Stillen oder im gemeinschaftlichen Gebet dieses Glück der Schöpfung preisen, ja wir vermögen es in unseren großen kulturellen Traditionen, diese unableitbare Sinndimension in der bildenden Kunst zu vergegenwärtigen und in den selbst so eindrücklichen Gestaltungen der Musik, des Gesangs zum Erklingen zu bringen. Auch diese Modi finden wir in allen Hochkulturen der Geschichte, ebenso wie die vielen Formen der meditativen Praxis, die der Vergegenwärtigung des uns unverfügbaren und doch stets gegenwärtigen Sinns des Seins dienen. Religionen lassen sich als Aufklärungsversuche über das Unverfügbare in allen Lebensbereichen charakterisieren.
In diesem Kontext sei darauf hingewiesen, dass diese religiösen Sinndimensionen durchaus auch eine Nähe zur Philosophie und insbesondere zu ihren Ursprüngen im antiken Griechenland aufweisen. Ihre Ursprünge liegen im Staunen über die Welt, den Kosmos mit seinen unfassbar komplexen Formen und insbesondere bei ihrem Urvater Sokrates im Nichtwissen und im Nichtwissenkönnen. Sein legendärerer Grundsatz »Ich weiß, dass ich nichts weiß« bezeugt dies. Es ist dieser Ort des Nichtwissens über die Grundlagen unseres Seins wie auch des Alls des Seienden, des Kosmos, an dem die philosophische Reflexion beginnt. Und dieser Ort prägt eindeutig auch das gesamte philosophische Denken und seine Grundlagenreflexion von Sokrates bis zu Heidegger und Derrida in der Moderne.