Religiosität in säkularen Gesellschaften - Gesine Domröse - E-Book

Religiosität in säkularen Gesellschaften E-Book

Gesine Domröse

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Beschreibung

Freiheit und Religion sind keine Gegenspieler. Historisch eng miteinander verwoben, prägen sie unser Verständnis davon, was ein selbstbestimmtes Leben ausmacht, wie kaum zwei andere Konzepte. Beide Begriffe sind politisch brisant und müssen doch scharf von der Sphäre der Politik abgegrenzt werden, um ihre Reichweite zu ermessen. In ihrem Buch wirft Gesine Domröse einen frischen Blick auf freiheitliche Religiosität und ihre Bedeutung für die liberale Demokratie im 21. Jahrhundert. Sie zeigt darin, inwiefern die Säkularisierung der europäischen Gesellschaften für eine Revitalisierung des Religiösen steht anstelle dafür, die Religion gänzlich aus der Öffentlichkeit ins Private zu verbannen.

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Gesine Domröse

Religiosität in säkularen Gesellschaften

Zur Synthese von Freiheit und Religion in Europa

Campus Verlag Frankfurt/New York

Über das Buch

Freiheit und Religion sind keine Gegenspieler. Historisch eng miteinander verwoben, prägen sie unser Verständnis davon, was ein selbstbestimmtes Leben ausmacht, wie kaum zwei andere Konzepte. Beide Begriffe sind politisch brisant und müssen doch scharf von der Sphäre der Politik abgegrenzt werden, um ihre Reichweite zu ermessen. In ihrem Buch wirft Gesine Domröse einen frischen Blick auf freiheitliche Religiosität und ihre Bedeutung für die liberale Demokratie im 21. Jahrhundert. Sie zeigt darin, inwiefern die Säkularisierung der europäischen Gesellschaften für eine Revitalisierung des Religiösen steht anstelle dafür, die Religion gänzlich aus der Öffentlichkeit ins Private zu verbannen.

Vita

Gesine Domröse ist freiberufliche Autorin, Texterin und Philosophin. Sie promovierte am Institut für Philosophie und Politikwissenschaft der Technischen Universität Dortmund.

Für Sabine und Frank Kurth, Elisabeth Sanftenberg und Gerhard Bromann

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Dank

1.

Einleitung

2.

Zur Säkularisierung Europas

2.1

Das politische Prinzip der Säkularität

2.2

Säkulare Weltanschauungen

2.2.1

Zur Geschichte des Weltanschauungsbegriffs

2.2.2

Kritik am Konzept der Weltanschauung

2.2.3

Rehabilitierung des Weltanschauungsbegriffs

2.3

Säkulare Gesellschaften

2.3.1

Säkularisierungstheorien

2.3.2

Religiöse Vitalität

3.

Zur Transformation des Religiösen

3.1

Das Heilige als Essenz des Religiösen

3.2

Die Sakralisierung des Profanen

3.2.1

Das Internet als ein immanent Heiliges

3.2.2

Die technologische Singularität als immanent Numinoses

3.2.3

Zur Sakralisierung von Technik: Transhumanismus

3.3

Religiosität und Transzendenz

4.

Zur Synthese von Freiheit und Religion

4.1

Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit

4.1.1

Negative und positive Religionsfreiheit

4.1.2

Grenzen der Religionsfreiheit

4.2

Zur Interdependenz von Säkularisierung, Individualisierung und Pluralisierung

4.3

Die Liberalisierung des Religiösen

5.

Zum Paradox der liberalen Selbstabschaffung

5.1

Zu den Grenzen der Toleranz

5.1.1

Gesellschaftliche Grenzziehung

5.1.2

Staatliche Grenzziehung

5.1.3

Politische und religiöse Extremisten

5.2

Zur Reichweite der Meinungsfreiheit

5.2.1

Meinung, Sagbares, Hass

5.2.2

Zersetzung liberaler Demokratien

5.3

Zur Basis säkularer Gesellschaften

6.

Resümee

Literatur

Buchquellen

Internetquellen

Dank

Ich danke Prof. Dr. Christian Neuhäuser und Prof. Dr. med. et phil. Gerhard Danzer sowohl für die geduldige Betreuung meiner Arbeit als auch für ihre richtungsprägenden Impulse ebenso wie für ihre vielfältige Kritik zu den Entwürfen der Kapitel. Ganz herzlich danken möchte ich auch Gudrun Altfeld für das Lektorat der Arbeit und für die vielen inspirierenden Gespräche in den vergangenen Jahren. Mein Dank gilt außerdem Sandra Schmidt, Karen Koch, Ronja Hildebrandt, Johanna Privitera und Julia Walter für die kritischen Diskussionen von ersten Textentwürfen und dazugehörigen Vorträgen. Auch dem Dortmunder Kolloquium des Lehrstuhls für Praktische Philosophie gebührt diesbezüglich mein Dank. Die Arbeit wurde von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mit den Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert. Ich danke Henning Moritz und Prof. Dr. Andreas Hetzel für ihre Unterstützung bei der Bewerbung um das Stipendium. Ganz besonders möchte ich mich schließlich auch bei meiner Familie bedanken. Sie hat mir im übertragenen und im buchstäblichen Sinne die Zeit geschenkt, dieses Buch fertig zu stellen.

1.Einleitung

Es ist nicht lange her, dass der Untergang der Religion verkündet wurde, weil sie vorgeblich in einem Spannungsverhältnis zur Moderne stehe und schließlich dem Primat der Vernunft und der Freiheit weiche, der sich nicht nur in den bahnbrechenden Entdeckungen und Erfindungen der Naturwissenschaften widerspiegele, sondern auch in den modernen Staatsauffassungen und den gesellschaftlichen Diskursen Europas. Die Diskreditierung religiöser Weltanschauungen und Argumente insbesondere in der politischen wie akademischen Öffentlichkeit reicht bis zu der Forderung, die religiöse Sprache in eine säkulare zu übersetzen, um eine gemeinsame Basis des Austausches zu schaffen, der andernfalls nicht gelingen könne. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass mit religiöser Sprache keine vernünftigen, für alle Dialogteilnehmer1 begründbaren und damit rational akzeptablen Argumente hervorgebracht werden können. Deshalb seien religiöse Argumente aus dem Diskurs auszuschließen, sofern sie nicht in die säkulare Sprache übersetzt werden können. Für eine solche Übersetzung plädiert zum Beispiel Jürgen Habermas, wobei er alle Diskursteilnehmer in die Pflicht nimmt, durch Übersetzungsleistungen zur gegenseitigen Verständigung beizutragen.2 Die »öffentlich zugängliche Sprache« ist demnach die des Wissens, das heißt der »rational akzeptablen Begründung« gesellschaftlicher und staatlicher Grundsätze.3 Religiöse Überzeugungen hingegen gründen in subjektiver Gewissheit und nicht in Wissen.

Diese Denkweise hat dazu beigetragen, Religion bzw. Glaube als Gegenteil zur Rationalität und somit als Verkörperung des Irrationalen aus der Öffentlichkeit säkularer Gesellschaften zu verdrängen. Es gelte gerade, sich durch den Gebrauch von Rationalität frei zu machen vom irrationalen Religiösen, um die Menschheit voranzubringen. So bezeichnete etwa der Gründer der Psychoanalyse Sigmund Freud als ein Motiv für Religiosität die Vatersehnsucht, die durch ein kindliches Gefühl der Hilflosigkeit hervorgerufen werde.4 Doch der Mensch dürfe nicht »ewig Kind bleiben«, schreibt Freud, sondern müsse »hinaus ins feindliche Leben«.5 Kurzum, im Namen des menschheitlichen Fortschritts gelte es, den »Infantilismus«,6 aus dem sich die Religion speise, zu überwinden, und damit auch die Religion selbst.

Diese Sichtweise, welche die Religion der Vernunft und der Freiheit gegenübergestellt, Rationalität den unbedingten Vorrang einräumt und Religion einer Verfallsgeschichte überantwortet bzw. das Religiöse ausnahmslos ins Privatleben verbannen möchte, ist Ausdruck einer säkularistischen Weltanschauung.7

Zugegebenermaßen findet sich der Säkularismus in der oben beschriebenen Form nur noch selten, und auch die These vom Verschwinden der Religion gilt inzwischen als widerlegt. Die dahinterstehenden säkularistischen Denkfiguren aber sind weiterhin gesellschaftswirksam8 und haben mich zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema bewegt, deren Kern in der Argumentation für geradezu die gegenteiligen Thesen besteht: Zwar mögen tradierte Religionen und religiöse Institutionen an Bedeutung verloren haben. Dies hat jedoch keinesfalls zu einer Einschränkung von Religiosität geführt. Vielmehr unterlag das Religiöse einer epochalen Transformation, die mit der Säkularisierung der europäischen Staaten und Gesellschaften einherging und mit ihr innig verflochten ist. Sie schließt nicht nur die Sakralisierung von Profanem ein, sondern steht auch in einem produktiven Wechselverhältnis mit dem Siegeszug moderner Freiheitsrechte. Freiheit und Religion bzw. Religiosität stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern beziehen sich aufeinander und hängen voneinander ab – dies ist meine zentrale These von der »Synthese von Freiheit und Religion«, um die es in dieser Arbeit gehen soll. Eine säkulare Gesellschaft, in deren Zentrum das Recht auf Freiheit steht, ist – unter einem zeitgenössischen Verständnis von Religiosität, das über das tradiert Religiöse hinausreicht – auch eine religiös vitale.

Die angesprochene Transformation des Religiösen geht auf eine ganze Reihe historischer Entwicklungen zurück, die im 20. Jahrhundert auf besondere Weise zusammenwirken konnten. Im Zuge dessen hat sich die politische Gestalt Europas stark verändert. Aus einem Kontinent kriegerischer Nationen wurde ein Verbund europäischer Staaten mit nachbarschaftlichen Beziehungen, offenen Grenzen und kulturellem Austausch. Eine zentrale Rolle dafür spielt unter anderem die Verwirklichung des Menschenrechts auf Religionsfreiheit. Als unmittelbarer Ausdruck der Synthese von Freiheit und Religion geht sie Hand in Hand mit der Transformation des Religiösen und einem neuen, vom tradiert Religiösen gelösten Verständnis von Religiosität. Der Kern der damit verbundenen gesellschaftlich-kulturellen Veränderungen besteht in der Liberalisierung des Religiösen, das heißt in einer freiheitlichen Interpretation tradiert religiöser Dogmen und der individuellen Kombination ganz verschiedener religiöser Traditionen und Konzepte. Ebenso liegt er darin, Religiosität aus der Sakralisierung von Profanem zu schöpfen, ohne den Bezug auf etwas außerweltlich Transzendentes. In der vorliegenden Arbeit möchte ich diese Thesen entfalten und plausibilisieren.

Freiheit und Religion in konzeptioneller Verbundenheit zu denken anstatt in starker Opposition zueinander, ist angesichts der Komplexität und Geschichte sowie der politischen Bedeutung beider Konzepte ein kritisches Unterfangen. Es ist vor allem die immer wiederkehrende Nähe zur Politik, die das Religiöse als Gegenspieler zur Freiheit in Szene setzt. Die Säkularisierung der europäischen Staaten und Gesellschaften im vergangenen Jahrhundert hat dem Bündnis aus Religion und Politik allerdings Grenzen gesetzt. Als eine Bedingung der Möglichkeit der Synthese von Freiheit und Religion steht sie im Zentrum des ersten Teils der Arbeit, in welchem ich drei Dimensionen der Säkularisierung diskutieren möchte. Denn die Säkularisierung Europas besteht nicht nur in dem Auseinandertreten von Religion bzw. religiösen Institutionen und Staat, das in der Etablierung des politischen Prinzips der religiös-weltanschaulichen Neutralität und der religiös-weltanschaulich neutralen Legitimation des modernen Staats mündete, wie ich im ersten Abschnitt des Kapitels darlegen werde. Sondern die Säkularisierung hat darüber hinaus auch selber eine weltanschauliche Dimension, die im zweiten Abschnitt des Kapitels erläutert wird. Der Begriff der Weltanschauung ist philosophisch allerdings umstritten. Ich werde deshalb in einem ersten Schritt seine Geschichte darlegen, mich in einem zweiten Schritt der Kritik an ihm zuwenden, um in einem dritten Schritt für seine Rehabilitierung zu argumentieren. Schließlich erlaubt er uns eine Systematisierung, die zu einem besseren Verständnis gegenwärtiger religiöser bzw. weltanschaulicher Phänomene beitragen kann, insbesondere mit Blick auf die Verschmelzung von Religion und Politik. Die darauffolgende Charakterisierung der »säkularen Weltanschauung« leitet schließlich über zur gesellschaftlichen Dimension der Säkularisierung Europas, die im dritten Abschnitt des Kapitels erörtert wird. Ich werde im Zuge dessen dafür argumentieren, dass nicht nur der säkulare Staat, sondern vor allem auch die säkulare Gesellschaft ein Grundpfeiler der Verwirklichung von Religionsfreiheit ist. Mithilfe einer Darlegung der Säkularisierungstheorien aus der Soziologie des 20. Jahrhunderts – und ihrer Kritik – möchte ich zunächst die Bedeutung der gesellschaftlichen Säkularisierung ausbuchstabieren. Anschließend werde ich verdeutlichen, inwiefern die Säkularisierung trotz eines enormen Bedeutungsverlusts tradiert religiöser Institutionen und Akteure gleichzeitig zu einer Revitalisierung des Religiösen beigetragen hat.

Die religiöse Vitalität der europäischen Gesellschaften spiegelt sich in der Transformation des Religiösen wider, die auf einem durch die Säkularisierung angestoßenen veränderten Verständnis von Religiosität gründet. Ihr ist der zweite Teil der Arbeit gewidmet, in welchem ich die konkrete Gestalt der Transformation des Religiösen erörtern möchte. Das Besondere an dieser Transformation ist, dass sie neben der Loslösung von tradiert religiösen Autoritäten und der freiheitlichen Kombination verschiedener religiöser Traditionen die Sakralisierung von Profanem beinhaltet, die in den Kulturwissenschaften bislang unter dem Signum der »Ersatzreligion« analysiert wurde. Ich dagegen möchte zeigen, dass es sich auch bei der Sakralisierung von Profanem um etwas genuin Religiöses handelt, das keinesfalls einen Ersatz darstellt. Was Religiosität in erster Linie kennzeichnet, ist die Bezugnahme auf etwas Heiliges. Mit der Untersuchung der Sakralisierung von Profanem möchte ich zur Diskussion stellen, inwiefern ein Heiliges notwendig ein Transzendentes ist. Im ersten Abschnitt des dritten Kapitels werde ich mich deshalb dem Heiligen als Charakteristikum des Religiösen zuwenden und die Gemeinsamkeiten sowie die Unterschiede von einem durch Sakralisierungsprozesse geschaffenen immanent Heiligen und einem transzendent Heiligen ausgewählter tradierter Religionen herausarbeiten. Anschließend werde ich erörtern, was unter der Sakralisierung von Profanem zu verstehen ist, das heißt unter der Erschaffung eines immanent Heiligen. Dafür habe ich drei miteinander verbundene Beispiele gewählt: Zuerst werde ich prüfen, ob sich das Internet als ein immanent Heiliges qualifiziert. Denn obgleich es als Erfindung des Menschen ganz von dieser Welt ist, so scheint es doch, als würde das Internet unsere Welt übersteigen. Das Gleiche kann von der sogenannten starken künstlichen Intelligenz behauptet werden, die ich im Anschluss daran untersuchen werde. Dabei zeigt sich, dass es sich bei der starken künstlichen Intelligenz nicht nur um ein immanent Heiliges, sondern sogar um ein immanent Numinoses handelt, das dem transzendenzbezogenen Heiligen des tradiert Religiösen in signifikanter Hinsicht gleicht. Eine Bewegung, die nach der Verwirklichung einer starken künstlichen Intelligenz strebt, die unsere Welt transzendiert, ist der Transhumanismus, an welchem ich deshalb erläutern möchte, was Religiosität im Kontext der Sakralisierung von Profanem bedeutet. Als eine auf Wissenschaft gründende Bewegung steht sie auf den ersten Blick in Opposition zu allem, was mit dem Religiösen verbunden ist. Das macht den Transhumanismus als Beispiel für die Sakralisierung von Profanem, nämlich von Technik, meines Erachtens besonders interessant. Abschließend werde ich nochmals auf die Frage zurückkommen, inwiefern Religiosität eines Transzendenzbezugs bedarf, um zu zeigen, warum es sich bei der Sakralisierung von Profanem genuin um Religiosität handelt.

Auf die Erörterung der Säkularisierung Europas als Voraussetzung für die umfassende Verwirklichung von Religionsfreiheit sowie auf die Erläuterung der mit ihr einhergehenden Transformation des Religiösen folgt im dritten Teil der Arbeit die Entfaltung der These, dass es sich bei diesen Entwicklungen um eine Synthese von Freiheit und Religion handelt, deren Kern in der Liberalisierung des Religiösen besteht. Das heißt, ich werde den konzeptionellen Zusammenhang von Religion und Freiheit herausarbeiten, der sich in zweierlei Hinsichten zeigt, und zwar in einer rechtlich-moralischen in Form des Menschenrechts auf Religionsfreiheit sowie in einer gesellschaftlich-kulturellen in Gestalt der Transformation des Religiösen. Ich werde im Zuge dessen dafür argumentieren, dass beide Dimensionen der Synthese von Freiheit und Religion auf der Säkularisierung Europas beruhen, die in einem interdependenten Verhältnis zu Prozessen der Individualisierung und Pluralisierung steht. Sie bilden zusammen die Basis der Synthese. Historisch hat die Individualisierung eine ebenso lange Geschichte wie die Säkularisierung. Doch erst mit der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte«, die das Individuum als Rechtssubjekt ins Zentrum staatlichen Handelns und des gesellschaftlichen Interesses setzte sowie Religionsfreiheit zu einem Menschenrecht erklärte, konnte das Zusammenspiel aus Säkularisierung und Individualisierung, das immer auch Pluralisierung bedeutet, die umfassende Verwirklichung von Religionsfreiheit ebenso wie eine Transformation des Religiösen bewirken, deren Kern in der Liberalisierung des Religiösen besteht. Aus diesem Grund widme ich mich im ersten Abschnitt des Kapitels dem Menschenrecht auf Religionsfreiheit als rechtlich-moralischer Dimension der Synthese von Freiheit und Religion. Die Unterscheidung zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit betont die verschiedenen Aspekte dieses Rechts und zeigt die Schwierigkeiten auf, die mit seiner Verwirklichung verbunden sein können. In einem zweiten Schritt werde ich deshalb anhand dreier Beispiele die Grenzen der Religionsfreiheit diskutieren, und zwar mithilfe des Streits um das Kruzifix in Klassenzimmern, bezüglich der rituellen Beschneidung von Jungen sowie anhand der Kopftuchdebatte. Hieran wird bereits erkennbar, welche Bedeutung das Zusammenspiel aus Säkularisierung, Individualisierung und Pluralisierung für die Verwirklichung von Religionsfreiheit hat. Allerdings trägt der Prozess der Individualisierung zwei Früchte: die der Anerkennung des Einzelnen als Rechtssubjekt und die des Werts der Selbstbestimmung und freien Entfaltung der Persönlichkeit. Dies ist ausschlaggebend für die Herausbildung der gesellschaftlich-kulturellen Dimension der Synthese von Freiheit und Religion. Daher stehen die Individualisierungsprozesse in ihrem Wechselverhältnis zur Säkularisierung und Pluralisierung im Zentrum des zweiten Abschnitts des Kapitels. Im Anschluss daran werde ich auf die gesellschaftlich-kulturelle Dimension der Synthese eingehen und dafür argumentieren, dass sie in einer Liberalisierung des Religiösen besteht, welche zugleich ein Charakteristikum der säkularen Gesellschaft darstellt, die eine freiheitsfokussierte Gesellschaft ist. Das heißt, die säkulare Gesellschaft ist zugleich eine liberale, die das gleiche Recht auf Freiheit jedes Einzelnen ins Zentrum ihrer Politik stellt. Verwirklicht wird Freiheit, insbesondere Religionsfreiheit, zum einen staatlich durch Recht und Gesetz. Gesellschaftlich aber beruht ihre Verwirklichung auf Toleranz. Als Schlüssel zur umfassenden Verwirklichung von Religionsfreiheit ist diese der Grund, warum der säkulare Staat zwar förderlich, die säkulare Gesellschaft jedoch notwendig für Religionsfreiheit ist.

Genauso wie die Freiheit kann auch die Toleranz einer liberalen Gesellschaft nicht grenzenlos sein. Die Freiheit der Einzelnen findet ihre Grenzen in der Freiheit ihrer Mitmenschen. Toleranz wiederum wird durch das Intolerante begrenzt. Diesen Gedanken möchte ich im vierten Teil der Arbeit erläutern. Der Fokus auf die Freiheiten des Einzelnen verpflichtet die säkulare Gesellschaft nämlich keineswegs zu grenzenloser Toleranz, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Im Gegenteil, er verpflichtet sie dazu, ihrer Toleranz Grenzen zu setzen, um Freiheiten gewährleisten zu können. Dies möchte ich in zwei Hinsichten plausibilisieren: Toleranz stößt zum einen bezüglich extremistischer Weltanschauungen und Bewegungen an ihre Grenzen. Zum anderen werden ihre Grenzen an der Diskussion um das Recht auf Meinungsfreiheit und seine Bedeutung verständlich. Würde die säkulare Gesellschaft extremistische Haltungen ebenso wie das missbräuchliche Verständnis von Meinungsfreiheit als ein Recht, alles Mögliche sagen zu dürfen, tolerieren, würde sie sich selbst massiv gefährden.

In einem Resümee zeichne ich schließlich die Gedankengänge der Arbeit nach und zeige die Bedeutung der Synthese von Freiheit und Religion für säkulare Gesellschaften liberaler Demokratien auf. Diese liegt nicht nur in der Transformation und der Liberalisierung des Religiösen, sondern auch in der umfassenden Verwirklichung von Religionsfreiheit.

Methodisch ist meine Arbeit in der Philosophie verortet. Über die Analyse der zentralen Begriffe und Begriffspaare »Säkularisierung«, »Weltanschauung«, »Religiosität«, »heilig – profan«, »immanent – transzendent«, »Religionsfreiheit«, »Individualisierung«, »Pluralisierung« und »Toleranz« möchte ich systematisch den konzeptionellen Zusammenhang zwischen Freiheit und Religion herausarbeiten, der ab der Mitte des 20. Jahrhunderts in Europa auf besondere Weise zur Geltung kommen kann. Das Thema dieser Arbeit verbindet allerdings viele kulturwissenschaftliche Disziplinen, sodass neben philosophischen auch soziologische, psychologische, juristische und politische Perspektiven einbezogen werden. Von Bedeutung ist außerdem die historische Einordnung der Entwicklungen. Zu den Eckpfeilern der Säkularisierung etwa zählen die Reformation und Gegenreformation, ebenso wie der 30-jährige Krieg, aber auch die Epoche der Aufklärung und schließlich die Etablierung des politischen Prinzips der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Individualisierungsprozesse werden maßgeblich durch die Gedankenwelt der Aufklärer, aber auch durch die Deklaration von Menschenrechten beeinflusst. Der Horror des Zweiten Weltkriegs führte schließlich zu dem Willen der bewussten Umgestaltung der Strukturen der europäischen Gesellschaften, um die nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Kräfte, die Europa und die ganze Welt terrorisiert hatten, einzudämmen. Die historische Kontextualisierung der zentralen Konzepte dieser Arbeit soll unterstreichen, dass die freiheitliche Religiosität in den säkularen Gesellschaften Europas keine Selbstverständlichkeit ist, sondern auf einer ganzen Reihe bedeutender historischer Entwicklungen und auf vielen politischen Kämpfen beruht, welche die Synthese von Freiheit und Religion stützen. Letztlich waren es die historischen Entscheidungen für die Trennung von Religion und Staat, für Religionsfreiheit, für die gleiche Würde aller Menschen, für den hohen Stellenwert des Individuums gegenüber dem Kollektiv sowie für religiös-weltanschauliche Vielfalt und ein tolerantes Miteinander, welche die Religiosität der Gegenwart zu einer befreiten und freiheitsorientierten gemacht haben.9 Diese Entscheidungen können jedoch rückgängig gemacht werden, und seit Jahren beobachten wir in Europa das Erstarken politischer Bewegungen und Haltungen, die genau dies, nämlich eine Überwindung des derzeitigen liberalen Systems, anstreben. Neben meinem philosophischen Erkenntnisinteresse am Phänomen der Religiosität und dem Bestreben, seine heutige Gestalt durch seine Analyse zu verstehen, möchte ich mit meiner Arbeit deshalb auch einen Beitrag dazu leisten, die gesellschaftlichen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte als solche zu untermauern und ihre Stärken hervorzuheben. Ich möchte aufzeigen, wie viel auf dem Spiel steht, wenn wir das Modell der säkularen Gesellschaft aufgeben. Denn wir können die Früchte der Synthese von Freiheit und Religion – Religionsfreiheit und die Transformation des Religiösen – nur genießen, solange wir den Wert des Individuums und die Gleichheit aller Menschen, Toleranz und die religiös-weltanschauliche Vielfalt innerhalb unserer Gesellschaften mit Nachdruck verteidigen.

2.Zur Säkularisierung Europas

Das Konzept der Säkularisierung ist ein komplexes und schillerndes Gefüge, dessen Anfänge in der Neuzeit liegen und dessen Bedeutung sich seitdem stark gewandelt hat. Das liegt zum einen an der Herkunft des Begriffs und zum anderen daran, dass die Säkularisierung Europas auf mehreren Ebenen stattgefunden hat. Das Begriffsverständnis von heute wurde von der Soziologie des 20. Jahrhunderts geprägt, vornehmlich durch die Säkularisierungstheorien, die vor allem den gesamtgesellschaftlichen Bedeutungsverlust von Religion ins Zentrum rückten. Allerdings sind die ihnen zugrunde liegenden soziologischen Studien nahezu ausschließlich dem Christentum und der Entkirchlichung der Gesellschaften gewidmet.10 Ursprünglich war das Attribut »säkular« jedoch ein Ausdruck, der ausschließlich christlichen Mönchen zugeschrieben wurde, die außerhalb ihrer Klostermauern lebten, um das religiöse Leben in die Welt hinauszutragen, wie José Casanova mit Verweis auf die Arbeiten von Charles Taylor hervorhebt:

Wie Charles Taylor klar gezeigt hat, beginnt der historische Prozess der modernen Säkularisierung als ein Prozess der inneren säkularen Reform innerhalb des lateinischen Christentums, als ein Versuch, das Zeitliche zu ›spiritualisieren‹ und das perfekte religiöse Leben aus den Klöstern in das Säkulum hinauszutragen, also buchstäblich als ein Versuch, das Religiöse zu säkularisieren.11

Der Ausdruck »säkular« wird vom lateinischen Wort »saeculum«, dem »Weltlichen«, abgeleitet. »Säkularisierung« steht anfänglich für einen Prozess der Verweltlichung im Sinne der innerchristlichen Entwicklung, das Religiöse der außerklösterlichen Welt zugänglich zu machen.

Es ist bereits anhand der Wurzel des Begriffs ersichtlich, dass die gängige, polarisierende Gegenüberstellung der Ausdrücke »religiös« und »säkular« irreführend ist – eine These, die ich im Laufe dieses Kapitels weiter untermauern werde. Denn nicht nur Mönche der Neuzeit, sondern auch Menschen der Gegenwart können sowohl religiös als auch säkular sein, ohne eine selbstwidersprüchliche Haltung einzunehmen. Es ist zu bestreiten, dass die Moderne jedweder Religion bzw. Religiosität als solcher unvereinbar gegenübersteht.12 Mein Anliegen, das Religiöse zu bestimmen und neu zu verorten, geht schließlich auf die Beobachtung zurück, dass sich die Religiosität der Menschen der Gegenwart in den letzten 70 Jahren stark gewandelt hat, sowohl qualitativ als auch quantitativ, und zwar aufgrund der voranschreitenden Säkularisierung der europäischen Gesellschaften, wie ich später aufzeigen möchte. Wenden wir uns nun aber erst einmal der weiteren Entwicklung der Begriffsgeschichte zu.

Erst während der Zeit der europäischen Religionskriege (1618–1648) bekam der Begriff der Säkularisierung seine heute dominierende politische Konnotation, wonach er das Auseinandertreten13 von kirchlicher und staatlicher Hoheit in einem Staatsgebiet bezeichnet. Allerdings ging aus diesen Kriegen weder der säkulare Staat noch Religionsfreiheit im heutigen Verständnis hervor, wie es der europäische Mythos von der Säkularisierung unseres Kontinents glauben macht.14 Das Auseinandertreten von Kirche und Staat bewirkte zunächst lediglich die Stärkung der weltlichen Macht, wenn auch unter Einbeziehung der religiösen Kräfte der Zeit. Denn der Staat bedurfte der Kirche aufgrund ihrer Integrationsleistungen weiterhin:

Die religiösen Praktiken, die vormals den Sinn der Gesellschaft definierten und ausdrückten, sind zum Mittel für eine anderswo, das heißt außerhalb ihrer selbst beheimateten Sinnproduktion geworden. Der Hausherr wird nach seiner Vertreibung wieder eingeladen: Unter der Logik ›sozialer Zweckdienlichkeit‹ ist er als gut zahlender Dauermieter im Haus der Staates durchaus willkommen!15

Nicht Säkularisierung, sondern Konfessionalisierung und Territorialisierung folgten aus dem Westfälischen Frieden.16 Andersgläubigen wurde im Zuge dessen die Wahl zwischen Konversion und Emigration gelassen,17 denn ethno-religiöse Säuberungen waren das Ergebnis des neuen Verhältnisses zwischen Staat und Kirche innerhalb der konfessionellen Territorialstaaten, wie die Historikerin Susanne Lachenicht analysiert:

Mit der Reformation nahm die Verfolgung und Flucht Andersgläubiger in Europa bislang unbekannte Ausmaße an. Die Angst vor Häresien und ihren Auswirkungen nicht nur auf die ›Rechtgläubigen‹ und ihre Kirchen, sondern auch auf frühneuzeitliche Staaten und ihre Herrscher führte dazu, dass zwischen dem frühen 16. und dem späten 18. Jahrhundert Tausende von Menschen vertrieben wurden bzw. vor Verfolgung flohen[.]18

Lediglich Minderheiten, deren Existenz im wirtschaftlichen Interesse der jeweiligen Staaten lag, wurden geduldet.19 Toleranz, Religionsfreiheit und religiös-weltanschauliche Neutralität kennzeichnen das zeitgenössische politische Verständnis von »Säkularisierung« im Sinne eines politischen Prinzips, das ich in Anlehnung an Heiner Bielefeldt im Folgenden »Säkularität« nenne.20

Säkularität als politisches Prinzip beinhaltet laut Bielefeldt zum einen die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates, das heißt dessen »respektvolle Nicht-Identifikation« mit irgendeiner Religion oder Weltanschauung.21 Sie spiegelt ihm zufolge den »Respekt [des Staates] vor der religiös-weltanschaulichen Mündigkeit des Menschen« wider und stellt auf diese Weise einen »normativen Anspruch« dar.22 Zum anderen soll der Staat gemäß dem Prinzip der Säkularität nicht nur neutral agieren, sondern auch seine Legitimation muss religiös-weltanschaulich neutral sein, das heißt seine Begründung darf nicht auf einem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis ruhen.23 Das politische Prinzip der Säkularität wird im ersten Abschnitt dieses Kapitels genauer erläutert, um zu zeigen, dass es sich nicht um ein starres Gebot, sondern um eine Richtlinie bzw. eine Norm handelt, die auf unterschiedliche Weise erfüllt werden kann, ohne ihren Sinn einzubüßen.

Das Konzept der Säkularisierung hat also mehrere Dimensionen, die aus seiner historisch-begrifflichen Entwicklung hervorgegangen sind. So haben zum Beispiel auch die reformatorischen und gegenreformatorischen Bewegungen des 16. Jahrhunderts einen bedeutenden Einfluss auf das Auseinandertreten von kirchlicher und weltlicher Herrschaft sowie auf die Konfessionalisierung der Staaten gehabt,24 was bis heute die verschiedenartigen Säkularitäten der europäischen Staaten prägt.25 Anders als die Religionskriege bewirkte die Reformation – aber auch die Gegenreformation, wie Charles Taylor hervorhebt – die europäische Säkularisierung vornehmlich auf kulturell-gesellschaftlicher Ebene.26 So führte die Kirchenspaltung unter anderem zu einer ersten Pluralisierung der Weltdeutungs- und Erklärungsmuster (ein bedeutender Faktor der Säkularisierung, wie ich später noch genauer zeigen werde), wodurch die christliche Religion in Europa laut Bogner …

… ihren Status als Einheitsband ein[büßt], das notwendigerweise alle umfasst und außerhalb dessen zu existieren schlechterdings unvorstellbar ist. […] Die Kirche als eine Aufgespaltene verliert ihren Platz als glaubwürdige und letztgültige ›Übersetzerin‹ von Welt und Existenz. Diese interpretatorische Wirkmächtigkeit hat sie nur ›im Singular‹ inne: Bei mehreren Heilsorten mit einer Vielzahl an Wahrheitsmöglichkeiten schwindet die Gewissheit, die sie einstmals verbürgen konnte. Das Unerhörte ist also die Möglichkeit einer ›Außenperspektive‹ auf die Religion.27

Säkularisierung bedeutet während und nach der Reformation auf kulturell-gesellschaftlicher Ebene also den Verlust des Interpretationsmonopols der Kirche durch die ausdrückliche Pluralisierung der christlichen Religion, wodurch ein externer Blick, eine »Außenperspektive« auf die Kirche als etwas »Unerhörtes«, ermöglicht wurde, wie Bogner es pointiert ausdrückt.28

Eine weitere bedeutende Folge der reformatorischen Bewegungen ist laut Bogner die »Unterteilung der Religion in praktizierten Glaubensakt und definierten Glaubensinhalt«, wodurch sich »die christliche Praxis […] folglich mehr und mehr in Verinnerlichung und Privatisierung [verflüchtigt]«.29 Damit wurde die Verantwortung für den Glauben an den Einzelnen übertragen und zugleich mit den Hierarchien der katholischen Kirche gebrochen. Taylor spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Menschen »dazu gedrängt wurden, ›ihre Religion ernst zu nehmen‹«.30 Auf William James’ Religionsverständnis Bezug nehmend expliziert er diesen Gedanken folgendermaßen:

Meine Religion ernst nehmen heißt, sie persönlich zu nehmen, insgesamt hingebungsvoller, innerlicher, verpflichteter zu ihr zu stehen. Dieses Verständnis entwertet die bloße Teilnahme an äußerlichen Ritualen, die kein persönliches Engagement von der Art verlangen, wie sie beispielsweise die geheime Beichte mit ihrer Selbstprüfung und ihren Versprechen künftiger Besserung mit sich bringt. Der Ritus ist nicht das, worum es in der Religion wirklich geht.31

Die Verinnerlichung, das heißt Privatisierung, des Glaubens und die Verantwortungsverlagerung sind Teil eines Wertschöpfungsprozesses, der die Individualisierung ins Zentrum rückt – ein Ideal, das ich später als wichtigen Faktor der Liberalisierung von Religiosität stark machen möchte. Hier nur so viel dazu: Die Bedeutung des Individuums und die Legitimität persönlicher Entscheidungen werden über die Zeit derart gestärkt, dass der Fokus der Gesellschaft sich verändert. Der Soziologe und Philosoph Hans Joas erläutert diese Entwicklung in Bezug auf die Entstehung der Ideen von Menschenwürde und Menschenrechten. Demnach hat eine Sakralisierung der Person, also des Einzelnen, dazu geführt, dass die Menschenwürde den heutigen europäischen Wertekanon anführt.32 Neben der Begünstigung einer Individualisierung stellt auch die religiöse Pluralisierung einen bedeutenden Faktor der Liberalisierung des Religiösen dar. Die Säkularisierung auf kulturell-gesellschaftlicher Ebene mag in der Zeit der reformatorischen Bewegungen ihren Anfang genommen haben, sie wurde zu späterer Zeit jedoch potenziert und diversifiziert, was ich im Verlaufe des drittens Abschnitts erläutern werde.

Letztlich verblieben die meisten Europäer bis ins 20. Jahrhundert hinein im tradiert religiösen Kontext. Zwar mag es hier und da Atheisten oder Agnostiker gegeben haben, doch diese waren in der Minderheit. Auch die Religionskritik der Aufklärung – ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zum säkularen Staat – war nicht die Arbeit von Atheisten, sondern verdankte sich der Leidenschaft kritischer Denker, deren Glaube in der Regel die Voraussetzung für ihren Zweifel und ihre Argumentation war. Nichtsdestotrotz verbinden die geistigen Umbrüche der Aufklärung die Säkularisierung auf kulturell-gesellschaftlicher Ebene mit einer weiteren Dimension des Konzepts, denn sie bahnte den Weg für die Herausbildung der säkularen Weltanschauung, die im Europa des 20. und 21. Jahrhunderts zu ihrer Blüte kam. Kern dieser Weltanschauung ist ein Vertrauen in die menschliche Vernunft, auf der die wissenschaftlichen Methoden beruhen, die uns helfen, die Welt auch ohne die Hypothese einer Transzendenz zu ergründen und zu erklären. Worauf die säkulare Weltanschauung gründet und wodurch sie charakterisiert ist, werde ich im zweiten Abschnitt dieses Kapitels erläutern. Denn anders, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, steht die säkulare Weltanschauung transzendenten Weltanschauungen nicht unversöhnlich gegenüber, sondern beide können in ein Wechselverhältnis zueinander treten und sich auf diese Weise beeinflussen. Das setzt allerdings voraus, dass weder auf der säkularen noch auf der transzendenten Seite Dogmatismus im Spiel ist.

Ziel dieses Kapitels ist es, zunächst die verschiedenen Dimensionen der Säkularisierung Europas darzulegen. Dabei wird sich zeigen, dass der Antagonismus »religiös« - »säkular« nur in einer Hinsicht sinnvoll ist: nämlich, wenn er auf ein religiöses oder weltanschauliches Bekenntnis zielt, das dogmatisch ist. Der fundamentalistisch Religiöse und der »aggressive Säkularist«33 stehen einander tatsächlich gegenüber, ohne dass eine Lösung für die Überquerung der Schlucht in Aussicht wäre. In Bezug auf alle anderen Dimensionen des Säkularisierungskonzepts wurden in den vergangenen Jahrzehnten jedoch einige Brücken geschlagen, die erstaunliche Tragkraft beweisen und die Menschen miteinander verbinden. Diese Brücken haben Namen: zum Beispiel der säkulare Staat (Säkularität), Religionsfreiheit, Individualismus, Pluralismus, Toleranz und Liberalismus. Auf diesen Brücken tummeln sich Menschen, die beides sein können: religiös und säkular zugleich. Sie sind weder ganz das eine noch ganz das andere, denn sie vereinen beides auf für das europäische 21. Jahrhundert spezifische Weise. Nicht nur hat die Religion die Säkularisierung Europas beeinflusst, die Säkularisierung beeinflusst auch die Religiosität der Europäer. Der erste Aspekt steht im Zentrum der folgenden Abschnitte, der zweite wird im anschließenden Kapitel erörtert. Die Überlegungen zur Synthese beider im vierten Kapitel bilden schließlich das Herzstück meiner Arbeit.

2.1Das politische Prinzip der Säkularität

In diesem Abschnitt möchte ich das politische Prinzip der Säkularität thematisieren, das im Allgemeinen das Auseinandertreten von Kirche und Staat zugunsten der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates fordert ebenso wie seine bekenntnisfreie Legitimation, um seinen Bürgern Religionsfreiheit zu gewährleisten. Innerhalb Europas wird dieses Prinzip jedoch unterschiedlich gehandhabt. Das ist möglich, weil es das Verhältnis von Staat und Religion nicht starr regelt, sondern den einzelnen historisch unterschiedlich geprägten Gesellschaften Spielraum zur Umsetzung lässt. Dabei muss der Staat der Religion nicht abweisend gegenüberstehen, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, sondern vielmehr bloß distanziert, denn Neutralität bedeutet, sich einer Wertung zu enthalten. Generell kann gesagt werden, dass sich mit der politischen Säkularisierung der europäischen Staaten die Befugnisse ebenso wie die Zuständigkeiten der religiösen und staatlichen Institutionen verändert haben. Der Staat hat sowohl mehr Zuständigkeiten als auch mehr Befugnisse erhalten, wohingegen sie den religiösen Institutionen entzogen wurden. übrig geblieben sind mal mehr, mal weniger Privilegien auf Seiten der religiösen Institutionen, die staatlich gewährt bzw. versagt werden. Gleichzeitig behalten die religiösen (und weltanschaulichen) Institutionen einen hohen Grad an Autonomie, insofern sich der säkulare Staat hinsichtlich religiöser und weltanschaulicher Fragen als unbefugt definiert. Religiösen und weltanschaulichen Institutionen Autonomie in organisatorischen und doktrinalen Fragen zu gewähren, gehört auch zur Religionsfreiheit, welche nicht nur Individuen, sondern auch ihren Vereinigungen gewährt werden muss.

Innerhalb Europas gibt es Ralph Ghadban zufolge zwei Modelle der Säkularität: das separatistische System (Laizismus), das zum Beispiel in Frankreich, Irland, Belgien und den Niederlanden etabliert ist, und das kooperative System (Vertragssystem), das zum Beispiel Deutschland, Spanien und Italien eingerichtet haben. Daneben gibt es aber auch Gesellschaften, die als säkular bzw. säkularisiert gelten, ohne das Prinzip der Säkularität anzuwenden, das heißt, in deren Staaten weiterhin eine Staatskirche existiert (Einheitsmodell) wie etwa in Großbritannien, Norwegen und Dänemark.34 Das wirft folgende Fragen auf: Welche Bedeutung hat das politische Prinzip der Säkularität überhaupt, wenn der Grad der Säkularisierung einer Gesellschaft davon losgelöst zu sein scheint? Ist die staatliche Säkularität eine notwendige Bedingung für ein hohes Maß an gelebter Religionsfreiheit, oder bedarf es dafür vor allem einer säkularen Gesellschaft? Fördert die Säkularität des Staates die Säkularisierung der Gesellschaft besonders gut? Kurzum: Was leistet staatliche Neutralität gegenüber Religionen und Weltanschauungen eigentlich?

Eine Antwort auf die letzte Frage scheint leicht gefunden: Die staatliche Neutralität sorgt idealerweise für die Gleichberechtigung und Gleichbehandlung religiös und weltanschaulich institutionalisierter Akteure. Wenn der Staat gezwungen ist, neutral zu agieren, das heißt, wenn es ihm verboten ist, eine bestimmte Religion oder Weltanschauung zu bevorzugen, dann muss er allen Akteuren dieselben Güter und denselben Umgang zuteilwerden lassen. Das separatistische System versucht dieses Kriterium zu erfüllen, indem es allen Akteuren gleich wenig zukommen lässt: Weder gibt es staatliche Subventionen für religiös-weltanschaulich institutionalisierte Akteure noch sind diese grundsätzlich im Bildungssystem vertreten. Es herrscht eine strikte Trennung von Staat und Religion bzw. Weltanschauung. Das bedeutet auch, dass der Staat sich nicht in innere Angelegenheiten der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften einmischt und ihnen organisatorische sowie doktrinale Freiheiten gewährt.35 Im Vertragssystem hingegen werden Gleichberechtigung und Gleichbehandlung dadurch zu erreichen versucht, dass allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gleich viel gegeben wird, das heißt dieselben Privilegien zugestanden werden. Zwar respektiert der Staat die Autonomie der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, das heißt, er gewährt ihnen ebenfalls organisatorische und doktrinale Freiheiten. Doch zusätzlich unterstützt er sie finanziell, er fördert Bekenntnisunterricht an öffentlichen Schulen und darüber hinaus erhalten religiöse und weltanschauliche Akteure Zugang zu den staatlichen Medien.36

Es ist allerdings umstritten, welches der beiden Modelle tatsächlich gerecht ist im Sinne der Gleichbehandlung und Gleichberechtigung. Historische Kontingenzen beeinflussen die Stringenz bzw. Flexibilität ihrer konkreten Ausgestaltung. Ein laizistischer Staat wie Frankreich etwa ist nicht stringent, wenn noch heute die »katholischen Kultstätten, die vor 1905 im Besitz des Staates waren«, weiterhin »sein Eigentum bleiben und von ihm instand gehalten werden«, wie Ghadban schreibt.37 Ein kooperativer Staat wie Deutschland hingegen versucht alle Religionen und Weltanschauungen in ein bestimmtes rechtliches Muster zu zwängen, und wer dies nicht erfüllt, wie etwa die muslimischen Vereinigungen, der erlangt den Status als Religionsgemeinschaft/-gesellschaft nicht und hat damit nicht dieselben Privilegien wie diejenigen, die diesen Status seit jeher erfüllen und überhaupt erst definiert haben, also die christlichen Kirchen. Freilich sollten uns diese Streitpunkte hinsichtlich seiner Umsetzung nicht davon abhalten, die grundsätzlichen Grenzen des Prinzips der Säkularität auszuloten. Dass es Staaten mit Staatskirchen gibt, deren Gesellschaften trotzdem als säkular gelten, insofern sich der Stellenwert der Religion innerhalb dieser Gesellschaften stark verändert und sich die Religiosität der Menschen diversifiziert hat, zeigt letztlich, dass die Säkularität des Staates keine notwendige Bedingung für gelebte Religionsfreiheit ist. Ebenso wenig kommt dem Prinzip der Säkularität ein intrinsischer Wert zu, wie Casanova argumentiert. Vielmehr hat es bloß einen instrumentellen Wert, insofern es Religionsfreiheit nachhaltig stützen kann:

Die Trennung von Kirche und Staat wird für eine Demokratie dann notwendig, wenn eine etablierte Religion ein Monopol auf dem Territorium des Staats beansprucht, die freie Ausübung der Religion behindert und die Gleichberechtigung aller Bürger untergräbt.38

Die kulturell-gesellschaftlichen Säkularisierungsprozessen haben besonders im 20. und 21. Jahrhundert große Wirkkraft bewiesen. Deshalb sollte es nicht überraschen, dass es Gesellschaften gibt, in denen trotz der Existenz einer Staatskirche die säkulare Weltanschauung weit verbreitet ist und Religionsfreiheit gelebt werden kann. das heißt letztlich aber auch, dass eine säkulare Gesellschaft das Fundament für gelebte Religionsfreiheit zu sein scheint und nicht notwendigerweise der säkulare Staat.39 Um diese These zu untermauern, möchte ich im nächsten Abschnitt den Prozess der kulturell-gesellschaftlichen Säkularisierung darlegen, der zur Entstehung der säkularen Weltanschauung geführt hat.

2.2Säkulare Weltanschauungen

Heute leben die Europäer überwiegend in säkularen Gesellschaften, die auf Toleranz gründen und deren unverzichtbarer Ausgangspunkt die Anerkennung eines religiösen und weltanschaulichen Pluralismus bildet. Diese Vielfalt wurde von unseren europäischen Vorfahren in grausamen Kriegen erkämpft und von Philosophen und anderen Denkern in mühsamer Überlegung begründet. Wie es zu den pluralistischen Gesellschaften gekommen ist, die durch die Herausforderung geprägt sind, mit moralischer und religiöser Vielfalt umzugehen,40 kann anhand des Begriffs der Weltanschauung aufgezeigt werden. Der Bedeutungswandel dieses im späten 18. Jahrhundert erstmals in der Philosophie aufkommenden und im 21. Jahrhundert endgültig alltagssprachlich verwendeten Begriffs wirft einiges Licht auf die historischen Geschehnisse der vergangenen und gegenwärtigen Zeit. Seine vermeintliche Sinnentleerung im 19. und 20. Jahrhundert und seine Vereinnahmung durch politische Ideologien, insbesondere durch den Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert, hat den Begriff für die Philosophie lange Zeit unfruchtbar, gar verloren erscheinen lassen.41 Ich möchte im Folgenden dafür argumentieren, dass der Begriff der Weltanschauung – insbesondere in seiner heutigen Bedeutung – eine philosophische Rehabilitierung erfahren sollte. Erstens, weil er sich dazu eignet, ein existentiell-menschliches Bedürfnis zu beschreiben und zu analysieren. Es handelt sich um das Bedürfnis, die Welt – oder, wie Holm Tetens formuliert, »das Ganze der Wirklichkeit«42 – zu begreifen und sich als Mensch darin zu verorten. Auch Hellmuth Benesch sieht in der Beantwortung der Fragen nach dem Ursprung und dem Sein der Welt sowie des Verhältnisses des Menschen zu ihnen ein grundlegendes menschliches Bedürfnis.43 Zweitens vermögen wir mit dem Begriff der Weltanschauung politische Entwicklungen wie das Aufkommen von Ideologien oder des heute so brisanten religiös motivierten Terrorismus näher zu beschreiben sowie verschiedene weltanschauliche Phänomene voneinander abzugrenzen. Drittens schließlich würde es ohne das Nachdenken über das Konzept der Weltanschauung – und ohne die Anerkennung der Vielfalt an legitimen Weisen, über Welt und Mensch zu denken – vermutlich keinen politisch durchgesetzten religiösen und weltanschaulichen Pluralismus in Europa geben.

Bevor die Merkmale einer säkularen Weltanschauung erläutert werden können, bedarf es allerdings einer kurzen Darlegung der Geschichte des Weltanschauungsbegriffs. Nachdem ich danach für die Rehabilitierung des Begriffs argumentiert habe, möchte ich einen zeitgenössischen Definitionsvorschlag anbieten sowie eine mögliche Systematisierung verschiedener Weltanschauungstypen aufzeigen, die dazu beitragen soll, weltanschauliche Phänomene der Gegenwart besser zu verstehen.

2.2.1Zur Geschichte des Weltanschauungsbegriffs

Der Begriff der Weltanschauung wurde erstmals in der Philosophie verwendet und hat erkenntnistheoretische Wurzeln, denn es handelt sich ursprünglich um einen philosophischen Fachbegriff der Transzendentalphilosophie und des Deutschen Idealismus,44 also eines Philosophierens, »dem es um die im Erkenntnisvermögen selbst liegenden apriorischen Bedingungen des Erkennens geht«.45